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Kristina Ohlsson

Kristina Ohlsson:Himmelschlüssel

Thriller

Deutsch von Susanne Dahmann

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
»Paradisoffer« bei Piratförlaget, Stockholm.
Copyright © 2012 der Originalausgabe by Kristina Ohlsson
Published by agreement with Salomonsson Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Limes Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Leena Flegler
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Mauritius Images/Trigger/Leslie Ann O'Dell
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-12466-3
V004
www.limes-verlag.de

Washington, D.C., USA

Als Flug 573 den amerikanischen Luftraum erreicht, ist es früher Abend. Unterhalb des Towers, in dem Bruce Johnson sich befindet, sehen die Landebahnen endlos aus. Es ist mucksmäuschenstill um ihn herum, und ohne es zu merken, hält er die Luft an. Noch haben sie keinen Bescheid bekommen. Noch wissen sie nicht, ob das Flugzeug landen darf.

Entlang einer Landebahn sieht Bruce Einsatzfahrzeuge stehen: Polizei-, Krankenwagen und Feuerwehrautos. Niemand weiß, wie das Drama ausgehen wird. Ob womöglich alles schiefgehen wird. Er kann die schwarz gekleideten Spezialeinsatzkräfte nirgends entdecken, doch Bruce weiß, dass sie mit geladenen Waffen dort draußen in der Dämmerung warten. Ein Gedanke schießt ihm durch den Kopf: Regel Nummer eins. Wir töten die Geiseln.

Er weiß nicht, warum er das denkt. Das hat noch nie den Regeln entsprochen. Niemand beim FBI würde so destruktiv denken oder handeln. Regel Nummer eins besagt vielmehr, niemals – unter keinen Umständen – mit Terroristen zu verhandeln.

Und das tun sie auch jetzt nicht. Kompromisslosigkeit hat ihr Handeln bestimmt, seit das Flugzeug am Flughafen Arlanda vor den Toren Stockholms gestartet ist. Stockholm, eine Stadt, die Bruce schon lange einmal besuchen will, was aber wahrscheinlich nie geschehen wird. Warum sollte jemand wie er nach Schweden reisen?

Bei dem Flugzeug handelt es sich um einen Jumbojet des Baujahrs 1989. An Bord befinden sich mehr als vierhundert Passagiere. Mittlerweile sind die Treibstofftanks leer, und der Pilot fleht darum, landen zu dürfen.

Bruce ist sich nicht sicher, was geschehen wird. Er wartet immer noch auf Anweisungen seines Chefs. In Schweden muss es jetzt auf 23.30 Uhr zugehen. Bruce weiß, was Schlaflosigkeit bei einem Menschen anrichten kann, und er wappnet sich dagegen. Seine Kollegen in Stockholm denken bestimmt genauso. Doch sie hatten keine Wahl. Während all der vergangenen Stunden hatte er mit ein und denselben Personen Kontakt. Was gerade geschieht, ist zu dramatisch, um den regulären Schichtbetrieb und seine Wechsel beizubehalten. Irgendjemand hat ihm mal von dem schwedischen Licht erzählt und dass die Sonne im Sommer länger am Himmel steht und dass die Schweden deshalb selbst im Herbst, so wie jetzt, weniger schlafen. Vielleicht ist das ja wahr.

Rings um den Flugplatz befindet sich kein einziges weiteres Flugzeug mehr in der Luft. Sie alle sind in andere Städte umgeleitet worden, und die Starts der abgehenden Flüge wurden verschoben. Die Medienvertreter wurden aus der Umgebung verbannt, doch Bruce weiß, dass sie trotzdem da draußen sind. Weit entfernt, jenseits der Absperrungen, mit Teleobjektiven, mit denen sie bis nach China sehen können, und sie schießen ein verschwommenes Bild nach dem anderen.

Als das Telefon klingelt, zuckt er zusammen. Es ist sein Chef. »Sie haben sich entschieden. Für das Schlimmste.«

Bruce legt das Telefon zur Seite und greift nach einem anderen. Einen kurzen Moment hält er es regungslos in der Hand, dann wählt er die Nummer, die er inzwischen auswendig kann, und wartet darauf, dass Eden den Anruf entgegennimmt.

Das Urteil steht fest – das Flugzeug wird sein Ziel nicht erreichen.

Sie haben sich für die Regel entschieden, die es nicht gibt.

Die Geiseln werden sterben.

Am Tag zuvor – Montag, 10. Oktober 2011

1

Stockholm, 12.27 Uhr

Die Zeit der Unschuld war vorbei, und man konnte die Uhr nicht wieder zurückstellen. Das hatte er schon etliche Male gedacht. Was Schweden betraf, so hatte es mit dem Anschlag an der Stockholmer Drottninggatan mitten im turbulentesten Weihnachtsgeschäft angefangen. Schweden hatte seinen ersten Selbstmordattentäter erlebt, und eine Schockwelle war über die gesamte Gesellschaft hinweggerollt. Was würde jetzt geschehen? Würde Schweden eines derjenigen Länder werden, in denen die Menschen aus Angst vor Terroranschlägen nicht mehr wagten, das Haus zu verlassen?

Niemand war darüber besorgter gewesen als der Ministerpräsident. »Wie sollen wir nur lernen, damit zu leben?«, hatte er eines Abends gefragt, als sie im Regierungssitz Rosenbad, wo die meisten Lichter mittlerweile gelöscht worden waren, gemeinsam einen späten Cognac zu sich genommen hatten.

Was sollte man darauf antworten?

Die Folgen waren schrecklich gewesen. Nicht die materiellen Dinge konnte man reparieren. Doch auch emotionale, moralische Werte waren in Stücke geschlagen worden. Als frischgebackener Justizminister war er mit Entsetzen all den verstörten Menschen begegnet, die nun eine Gesetzgebung forderten, die ihre Gesellschaft sicherer machen sollte – Wasser auf die Mühlen der fremdenfeindlichen Partei im Reichstag, die jetzt einen Stich nach dem anderen machte.

»Wir müssen in der Terrorfrage radikal umdenken«, hatte die Außenministerin bei einer der ersten Regierungszusammenkünfte nach dem Attentat gesagt.

Als wäre sie die Einzige, die das erkannt hatte.

Sie alle hatten verstohlen zu dem neuen Justizminister hinübergeblickt – zu ihm, der nur wenige Wochen nach dem Terroranschlag in Stockholm sein Amt angetreten hatte.

Muhammed Haddad.

Er hatte sich schon manches Mal gefragt, ob sie alle gewusst hatten, was sich da zusammenbraute, und ob er nur deshalb für den Posten vorgeschlagen worden war. Sozusagen als Alibi – als Einziger, der bestimmte Entscheidungen treffen durfte, ohne dass ihn jemand einen Rassisten schimpfen konnte. Schwedens erster muslimischer Justizminister: ein Parteineuling, der während seiner bisherigen kurzen Karriere noch kein einziges Mal auf Widerstand gestoßen war. Manchmal ekelte ihn das geradezu an. Er wusste, dass er aufgrund seines ethnischen und religiösen Hintergrundes Vorteile genoss. Das hieß jedoch nicht, dass er seine Erfolge nicht verdient hätte. Er war ein brillanter Jurist und hatte sich schon früh auf Strafrecht spezialisiert. Seine Klienten hatten ihn einen Zauberer genannt, der sich nicht damit begnügte zu gewinnen, sondern der auch auf Rehabilitierung bestand. Als er nach Schweden gekommen war, war er fünfzehn Jahre alt gewesen. Mittlerweile war er fünfundvierzig und wusste, dass er nie wieder in sein Heimatland, den Libanon, zurückkehren würde.

Seine Sekretärin klopfte an und steckte den Kopf durch die Tür. »Die Säpo hat angerufen. Sie kommen in einer halben Stunde.«

Damit hatte er gerechnet. Die Leute vom Staatssicherheitsdienst wollten über die Ausweisung eines vermeintlichen Straftäters sprechen, und Muhammed hatte ihnen deutlich zu verstehen gegeben, dass er an der Besprechung persönlich teilnehmen wolle, auch wenn dies nicht gerade üblich war.

»Zu wievielt sind sie?«

»Zu dritt.«

»Ist Eden Lundell dabei?«

»Ja.«

Muhammed lehnte sich zurück. »Bringen Sie sie in den großen Konferenzraum. Und geben Sie den anderen Bescheid, dass wir uns fünf Minuten vor Beginn dort treffen.«

2

12.32 Uhr

Fredrika Bergman sah auf die Uhr und dann zu ihrem ehemaligen Chef auf der anderen Seite des Tisches. »Ich muss gleich los zu einer Besprechung.«

Alex Recht zuckte mit den Schultern. »Kein Problem, wir können uns ja an einem anderen Tag mal länger sehen.«

Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Sehr gern.«

Einer der Nachteile daran, nicht mehr auf Kungsholmen zu arbeiten, war der Mangel an guten Mittagslokalen. Heute saßen sie in einem mittelmäßigen asiatischen Restaurant auf der Drottninggatan, das Alex vorgeschlagen hatte. »Nächstes Mal bestimmst du, wo wir uns treffen«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen.

Was er manchmal wirklich konnte. Sie war nicht gut darin, ihre Gefühle zu verbergen. »Hier in der Gegend ist die Auswahl nicht allzu groß.«

Sie schob den Teller von sich weg. In einer halben Stunde würde die Besprechung beginnen, und sie wollte eine Viertelstunde früher da sein. Sie versuchte, die Stille zu ergründen, die sich an ihrem Tisch ausgebreitet hatte. Hatten sie bereits alles besprochen, was zu besprechen gewesen war? Einfache Dinge, die zu keinen unnötig schmerzhaften Diskussionen führten. Sie hatten über Alex’ neuen Job bei der Landeskriminalpolizei gesprochen und darüber, wie es ihr auf ihrer Assistenzstelle im Justizministerium erging. Über ihr Jahr Elternzeit mit Kind Nummer zwei, Isak, in New York, wo ihr Mann Spencer eine Gastprofessur innegehabt hatte.

»Du hättest mir erzählen sollen, dass ihr heiratet, dann hätten wir euch an eurem Jubeltag besucht«, sagte Alex jetzt bereits zum zweiten oder dritten Mal.

Fredrika wand sich innerlich. »Wir haben heimlich geheiratet. Nicht einmal meine Eltern waren dabei.«

Und ihre Mutter hatte ihr das immer noch nicht verziehen.

»Haben sie in den USA gar nicht versucht, dich anzuwerben?«, fragte Alex und lächelte schief.

»Wer denn? Das NYPD

Er nickte.

»Nein, leider nicht. Das wäre allerdings eine Herausforderung gewesen.«

»Ich war dort mal auf einem Lehrgang. Die Yankees sind wie alle anderen auch. Manche Dinge können sie gut, andere nicht so sehr.«

Dazu konnte Fredrika nichts sagen. Während ihrer Zeit in New York hatte sie nicht eine einzige Stunde gearbeitet. Ihr ganzes Dasein war um die beiden Kinder gekreist und darum, Spencer wieder auf die Beine zu bekommen. Seit eine Studentin ihn vor zwei Jahren der Vergewaltigung bezichtigt hatte, war mit einem Mal alles anders geworden. Als sie dann auch noch festgestellt hatten, dass Fredrika mit dem zweiten Kind schwanger war, waren sie sich zunächst über eine Abtreibung einig gewesen.

»Noch ein Kind schaffen wir nicht«, hatte Spencer gesagt.

»Es kommt zum falschen Zeitpunkt«, hatte Fredrika hinzugefügt.

Dann hatten sie einander lange angesehen.

»Wir behalten es«, hatte Spencer gesagt.

»Das finde ich auch«, hatte Fredrika den Entschluss bekräftigt.

Alex klapperte mit seiner Kaffeetasse. »Ich habe gehofft, du würdest zurückkommen«, sagte er. »Zur Polizei.«

»Du meinst, als New York vorbei war?«

»Ja.«

Mit einem Mal strengte sie der Lärm der anderen Restaurantgäste an.

Tut mir leid, wollte sie gerne sagen. Tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen, obwohl ich längst wusste, dass ich nicht wiederkommen würde.

Doch kein Wort kam über ihre Lippen.

»Auf der anderen Seite verstehe ich, dass du diesen Justizjob nicht ablehnen konntest«, fuhr Alex fort. »So ein Angebot bekommt man schließlich nicht alle Tage.«

Es war kein Angebot. Ich habe mich um den verdammten Job beworben, weil ich wusste, dass ich verkümmern würde, wenn ich je zu euch nach Kungsholmen zurückkehren müsste.

Fredrika strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das stimmt.«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Nach ihrem letzten Fall – die verstummte Kinderbuchautorin und das Grab in Midsommarkransen – war allmählich alles auseinandergebrochen. Als die Personalchefin Margareta Berlin eines Tages Alex in ihr Büro zitiert und ihm eröffnet hatte, dass das Ermittlerteam, das er in den vergangenen Jahren geleitet hatte, aufgelöst werden sollte, war diese Nachricht nicht unerwartet eingetroffen. Die Gruppe war leergelaufen, und Alex hatte all seine Energie auf seine neue Liebe Diana Trolle konzentriert, während Fredrika in ihrer Schwangerschaft aufgegangen war.

»Hast du mal wieder was von Peder gehört?«

Alex zuckte zusammen, als er Peders Namen hörte. »Nein. Du?«

Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Nicht, seit er die Kartons aus seinem Büro getragen hat. Aber ich habe gehört … dass es ihm nicht besonders gut gehen soll.«

»Ich auch.« Alex räusperte sich. »Letzte Woche bin ich Ylva, seiner Frau, begegnet. Sie hat ein paar Andeutungen gemacht, wie es ihnen beiden ergangen ist.«

Fredrika versuchte, sich die Hölle vorzustellen, in die Peder hinabgesunken war, doch es gelang ihr nicht. Sie konnte nicht mehr sagen, wie oft sie es bereits versucht hatte, doch es war ihr immer gleichermaßen schwergefallen.

Manche Wunden heilen nicht. Ganz gleich, wie sehr wir uns darum bemühen.

Sie wusste, dass Alex das anders sah. Er fand, Peder solle sich zusammenreißen und endlich wieder in die Zukunft blicken. Deshalb hatte sie das Thema bislang auch vermieden.

»Er muss aufhören, sich zu benehmen, als hätte er ein Trauermonopol«, brummelte er und wiederholte damit, was er immer sagte, wenn sie versuchten, über Peder zu sprechen. »Er ist nicht der Einzige, der einen Menschen verloren hat, der ihm nahestand.«

Alex selbst hatte seine Ehefrau Lena an den Krebs verloren und kannte die finsteren Abgründe der Trauer. Doch Fredrika fand, dass es da einen entscheidenden Unterschied gab, ob ein Angehöriger dem Krebs erlag oder von einem skrupellosen Mörder ums Leben gebracht wurde.

»Ich glaube nicht, dass Peder noch in der Lage ist, selbst zu bestimmen, wie es ihm geht«, sagte sie, wobei sie ihre Worte sorgfältig wählte. »Die Trauer ist für ihn zu einer Krankheit geworden.«

»Aber er hat doch Hilfe bekommen – und trotzdem geht es ihm nicht besser.«

Sie verstummten, um die Diskussion nicht weiterzutreiben, die sonst enden würde wie immer: Sie würden sich streiten.

»Ich muss jetzt wirklich gehen.« Fredrika begann, ihre Sachen zusammenzusuchen. Handtasche, Schal, Jacke.

»Du weißt, dass unsere Türen für dich immer offen stehen.«

Sie hielt inne. Und dachte: Nein, das hatte sie nicht gewusst. »Danke.«

»Du warst eine der Besten, Fredrika.«

Ihre Wangen glühten, und ihr Blick verschwamm.

Alex sah aus, als wolle er noch etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor, indem sie aufstand. Gemeinsam verließen sie das Lokal, und dann breitete Alex mitten auf der Drottninggatan die Arme aus und drückte sie fest an sich.

»Du fehlst mir auch«, flüsterte Fredrika.

Und so trennten sie sich.

Kriminalkommissar Alex Recht konnte auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Er hatte viele Jahre bei der Polizei verbracht, und seine Erfolge waren beträchtlich gewesen. 2007 war seine Laufbahn gekrönt worden, indem man ihm die Aufgabe übertragen hatte, ein Spezialermittlerteam zusammenzustellen. Es hatte klein sein, aber die kompetentesten Mitarbeiter vereinen sollen. Zusätzliche Ressourcen wären, sofern erforderlich, kein Problem gewesen. Zuerst hatte Alex den relativ jungen, aber ehrgeizigen Peder Rydh berufen – einen Mann, der, wie sich zeigen sollte, ein ausnehmend tüchtiger Ermittler war, aber auch ein hitziges Temperament und zeitweilig mangelndes Einschätzungsvermögen an den Tag legen konnte. Im Nachhinein fragte sich Alex, ob er selbst zu der Tragödie beigetragen hatte, die vor zwei Jahren geschehen war und die darin geendet hatte, dass Peder den Polizeidienst hatte quittieren müssen. Er glaubte nicht. Es war ein verdammter harter Fall und der Preis für alle Beteiligten über alle Maßen hoch gewesen.

Doch niemand hatte einen höheren Preis bezahlen müssen als Peders Bruder Jimmy.

Er sollte den Fall, der sie alle so viel gekostet hatte, nicht immer wieder aufkochen, das wusste Alex. Doch nach Peders Ausscheiden aus dem Ermittlerteam war alles ganz furchtbar aus dem Ruder gelaufen. Fredrika Bergman, die Einzige von ihnen allen, die Alex nicht selbst für die Gruppe ausgewählt hatte, hatte ihr Feuer verloren, und als sie schließlich mit ihrem zweiten Kind schwanger geworden war, war es Alex so vorgekommen, als hätte sie sich da schon von ihren Aufgaben zurückgezogen.

Er gestand nur zu gerne ein, dass er sie anfangs nicht gemocht hatte. Fredrika war Akademikerin, eine zivile Ermittlerin, die seiner Meinung nach weder das Interesse noch den Biss für den Job aufgewiesen hatte. Lange hatte er versucht, sie zu übergehen und mit so schlichten Arbeitsaufträgen wie möglich zu beschäftigen, bis er eines Tages begriffen hatte, dass er sich grundlegend in ihr getäuscht hatte. Ganz anders, als er zunächst angenommen hatte, verspürte sie nämlich eine starke Berufung zu ihrem Job. Das Problem lag eher in ihrer Abneigung gegen allzu unflexible Strukturen, doch die waren nun mal nicht zu ändern. Fredrika musste es schon selbst wollen, damit es gut würde. Und eines Tages kam tatsächlich die Wende. Als der Fall Rebecca Trolle auf Alex’ Tisch landete, brach Fredrika ihre Elternzeit ab und kehrte zurück an die Arbeit. In jenem Frühjahr waren sie auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, niemals waren sie besser gewesen.

Alex griff nach seiner Kaffeetasse und steuerte die Teeküche an, um sich frischen Kaffee zu holen. Er hatte eine neue Stelle bei der Landeskripo angetreten – einen guten Job in einer guten Truppe. Interessante Fälle aus dem Bereich des organisierten Verbrechens. Trotzdem vermisste er sein altes Leben, das er gehabt hatte, ehe alles in die Brüche gegangen war. Das Mittagessen mit Fredrika hatte ihn an all das erinnert, was er nicht mehr hatte.

Er war nicht so dumm zu verkennen, dass Fredrika sich um den Job beim Justizministerium beworben hatte, weil sie weggewollt hatte. Und das konnte er ihr nicht verdenken. Sie war tüchtig, und tüchtige Menschen waren rastlos. Was genau sie jetzt dort tat, war ihm allerdings nicht klar. Alex wusste, dass sie gewisse Kontakte zum Staatssicherheitsdienst hatte, doch er hatte das Thema nicht weiter vertiefen wollen.

Er musste an andere Dinge denken.

An Menschen, die er auf unterschiedliche Weise verloren hatte.

»Du darfst dich nicht in deiner Trauer verlieren«, hatte Diana erst tags zuvor zu ihm gesagt. »Du musst gewisse Geschehnisse hinter dir lassen.«

Diana.

Ohne sie wäre er verloren gewesen. Sie wusste ebenso gut wie er, wie sich tiefe Trauer anfühlte, wie weh sie tun konnte. Manchmal war er sich nicht einmal sicher, ob sie sich je ineinander verliebt hätten, wenn nicht das Gefühl der Verzweiflung sie vereint hätte.

Trauer.

Verlust.

Schmerz.

Natürlich hatte er gewusst, dass es das alles gab. Dass man früher oder später damit rechnen musste. Es gehörte zum Leben, am Boden zerstört zu sein. Oder nicht? Seine Gedanken wanderten zurück zu Peder, und wieder stieg der Zorn in ihm hoch. Verdammt, dass der sich aber auch nicht zusammenreißen konnte! Dass er seinen Schock nicht anders hatte verarbeiten können. Er hatte sich auf ewig unglücklich gemacht.

Wenn er das nicht getan hätte, könnte er heute noch zusammen mit Alex und Fredrika bei der Polizei arbeiten. Denn das war der eigentliche Punkt. Alex hatte mit ihm einen engen Kollegen verloren, mit dem er gern zusammengearbeitet hatte. Und obwohl er wusste, wie ungerecht er dabei war, fiel es ihm unendlich schwer, Peder zu verzeihen.

Alex wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als sein Chef den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Bombendrohung«, sagte er. »Eben reingekommen.«

»Ich übernehme.« Und schon war er auf den Beinen.

Eine Bombendrohung. Gebäude, die einstürzten, und Menschen, die in Stücke gesprengt wurden. Das Böse in Reinform.

Minuten später war er bereits in die Sache vertieft. Es handelte sich allerdings nicht um eine Bombendrohung, sondern um vier, die sich gegen unterschiedliche Ziele in Stockholm richteten – darunter auch der Regierungssitz Rosenbad.

Alex war wie erstarrt.

Vier Bomben? Was ging hier vor?

3

12.32 Uhr

Woher kam dieser Zorn?

Eden Lundell konnte es sich nicht erklären. Als oberste Führungskraft der Säpo-Antiterroreinheit erwartete man von ihr, dass sie in jedem einzelnen Fall, der über ihren Tisch wanderte, eine klare Vorstellung davon besaß, doch oft war es ihr schlicht unmöglich nachzuvollziehen, welche Kräfte manche Menschen antrieben.

Im Augenblick gab es gleich mehrere Themen, um die sie sich kümmern musste – und sie würde dabei Prioritäten setzen müssen. Die Ressourcen wurden knapper, und sie wollte endlich Ergebnisse sehen. Geduld hatte ihr im Leben immer schon gefehlt, und das war auch nicht besser geworden, seit sie bei der Säpo angefangen hatte.

Wenn sie nur den Ursprung des Zorns begreifen würde!

Der Zorn, der Menschen dazu brachte, einem geordneten Leben den Rücken zu kehren und sich der Gewalt zuzuwenden, um Veränderungen durchzusetzen, die sie für notwendig hielten. Schon oft hatte Eden sich gefragt, was sie selbst je über diese Grenze treiben würde. Wann würde sie zur Waffe greifen und sie auf Menschen richten, mit denen sie im selben Land gelebt und gegen die sie früher nie Antipathien gehegt hatte?

Was würde mich dazu bringen, die schlimmste aller Sünden zu begehen?

Sie war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Liebe zu ihrer Familie eine solche Sache wäre. Wenn ihre Familie bedroht oder von einem Unheil betroffen wäre.

Möge Gott verhindern, dass das je passiert. Denn dann lege ich die Häuser meiner Feinde in Schutt und Asche.

Doch der Zorn, dem Eden bei ihrem aktuellen Fall begegnet war, schien keinen persönlichen Hintergrund zu haben. In jungen Menschen wucherte der Hass aus völlig anderen Gründen. Doch es brachte sie nicht weiter, über einzelne Faktoren zu mutmaßen.

Eden ging systematisch das soeben eingetroffene Material zu ihrem jüngsten Fall durch. Die Beweisdecke war verdammt dünn. Die ursprünglichen Informationen waren eindeutig gewesen – diese Jungs hatten Terroranschläge in Kolumbien mit finanziert. Doch diese Informationen hatten sie vor Gericht nicht verwenden dürfen. Daher hatte die Säpo eigene Ermittlungsergebnisse vorweisen müssen, die bestätigen konnten, was sie bereits wussten, und die zu einem Gerichtsurteil zu führen vermochten.

Es geschah nur allzu oft, dass die Informationslage eine und die Beweislage eine gänzlich andere Sache war, und dies führte dann zum immer gleichen Ergebnis: Der Staatsanwalt verlor vor Gericht – oder schon früher. Es erweckte fast den Eindruck, als hätte man es mit einer schwachen, inkompetenten Staatsanwaltschaft zu tun, die wieder und wieder Menschen aufs Korn nahm, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen, was die Aufmerksamkeit der Säpo auch nur im Geringsten rechtfertigen würde.

Eden verstand es einfach nicht. Ihre Jahre bei der Landeskripo hatten ebenso wenig aus einer Reihe erfolgreicher Ermittlungen bestanden, und doch erregte man dort viel weniger Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und bei den Massenmedien. Allerdings hatte sich seit dem Stockholmer Anschlag einiges grundsätzlich verändert. Die Messlatte lag jetzt höher. Wenn sie ihren letzten Fall vor dem Landgericht nicht gewonnen hätten, dann wäre ihr Arbeitstag heute deutlich unerfreulicher verlaufen.

Es klopfte an der Tür.

»Herein«, rief sie, und Sebastian, der Chef der Fallanalytiker, trat ein. Eden schob die Papiere, die vor ihr lagen, in seine Richtung. »Und, was denkst du?«

»Was ich schon die ganze Zeit gesagt habe: Mehr finden wir bei diesen Jungs nicht. Lassen wir es bleiben.«

Sie nickte gedankenverloren. »Aber was ist mit dem Geld, das sie nach Südamerika verschoben haben?«

Sebastian zuckte mit den Schultern. »Wir können nicht jedes Mal gewinnen.«

Eden warf die Papiere in den Schrank und knallte die Tür zu. Sowie das Thema aus ihrem Blickfeld verschwand, war es Geschichte.

Stattdessen würde sie sich jetzt auf Zakaria Khelifi konzentrieren – den Mann, der vom Landgericht freigesprochen worden war, während man seine Komplizen verurteilt hatte. »Wann sollen wir im Ministerium sein?«

»In einer halben Stunde. Ich dachte, wir könnten zu Fuß hingehen.«

Das war eine gute Idee. Eden würde unterwegs eine Zigarette rauchen können und darüber nachdenken, was sie sagen würde, um dem Justizminister ein für alle Mal klarzumachen, dass er den Algerier ausweisen musste. Wenn man bedachte, über welche Informationen sie verfügten und dass das nächsthöhere Gericht bereits auf ihre Linie eingeschwenkt war, sollte das nicht sonderlich schwer werden. Wenn Khelifi erst einmal das Land verlassen hätte, dann würden sie endlich einen Schlussstrich ziehen können unter die Operation Himmelschlüssel.

Die Besprechung fand in einem der diskreteren Räume der Abteilung statt. Außer dem Justizminister nahmen der Staatssekretär, ein unabhängiger Sachverständiger und eine Handvoll Ministerialkräfte teil. Fredrika Bergman gehörte zu letzterer Gruppe. Die Säpo war nach Rosenbad gekommen, um in einem Fall von sogenannter Kann-Ausweisung zu entscheiden. Sie wollte, dass die Aufenthaltsgenehmigung eines ausländischen Mitbürgers eingezogen würde, da der Mann ihrer Ansicht nach ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko darstellte. Der Fall war schon von der Ausländerbehörde zu den Gerichten gegangen und lag jetzt der Regierung vor.

Fredrika konnte nicht umhin, darüber nachzudenken, wie sie um den Tisch platziert worden waren. Das Ministerium auf der einen, die Säpo auf der anderen Seite. Die Säpo-Kollegen hatten sich samt und sonders mit irgendeinem Cheftitel vorgestellt: Abteilungschef, Einheitschef, Analysechef. Die Chefin der Antiterroreinheit hieß Eden und roch nach Zigaretten. Sie musste rund eins achtzig groß sein und hatte derart auffällig honiggelbe Haare, dass Fredrika schlichtweg nicht glauben wollte, dass dies ihre natürliche Haarfarbe war. Der Zigarettengeruch indes verwunderte sie. Eden wirkte irgendwie zu frisch, um Raucherin zu sein.

»Dann legen wir mal los«, sagte der Minister. »Wir haben eine halbe Stunde.«

Der Fallanalytiker beugte sich zur Seite und zog eine Computertasche auf den Tisch. Mit einer einzigen routinierten Handbewegung öffnete er sie und holte einen Laptop daraus hervor, den er sogleich hochfuhr. Eden streckte die Hand aus und verband den Rechner mit einem Kabel auf dem Besprechungstisch.

»Können Sie bitte den Projektor anwerfen?«, fragte sie. Ihre Stimme war heiser, und sie sprach mit einem Akzent, den Fredrika nicht einzuordnen vermochte.

Edens Hände mündeten in lange, schmale Finger mit kurzen, unlackierten Fingernägeln. Wenn sie sie wachsen ließe und rot lackierte, könnte sie jeden beliebigen Kerl aus jedweder Kneipe abschleppen. Da erst bemerkte Fredrika den Ring an Edens linker Hand. Sie war entweder verheiratet oder verlobt. Das war ebenso unerwartet wie der Zigarettengeruch.

»Klar«, antwortete Fredrika und schaltete den Projektor mit zwei Handgriffen ein.

Der Analysechef begann mit seiner Präsentation. Das erste Bild tauchte auf dem Monitor auf. Blauer Hintergrund, rechts das Logo der Säpo. Kleine weiße Punkte in unterschiedlichen Formationen. Die Überschrift lautete schlicht »Der Fall Zakaria Khelifi«.

Dann das nächste Bild: »Background«.

Eden ergriff das Wort: »Wie Sie alle wissen, ist Zakaria Khelifi in den Fall verwickelt, in dem das Oberlandesgericht in der vergangenen Woche sein Urteil gefällt hat. Der Staatsanwalt hat zwar versucht, Khelifi wegen der Beteiligung an der Anschlagsplanung dranzukriegen, doch er wurde freigesprochen und wieder auf freien Fuß gesetzt.«

Der Abteilungschef, der neben Eden saß und offensichtlich ihr Vorgesetzter war, hustete in seine Armbeuge.

»Zumindest«, fuhr Eden fort, »konnten wir die beiden Haupttäter, zwei Mitbürger ebenfalls nordafrikanischer Herkunft, dingfest machen. Wir haben ihnen nachweisen können, dass sie, ehe sie aufgegriffen wurden, Monate darauf verwendet hatten, einen Anschlag vorzubereiten, der sich gegen den schwedischen Parlamentssitz richten sollte. Bei ihrer Festnahme fanden wir eine im Grunde fertig zusammengesetzte Sprengladung und hinreichend Chemikalien, um mindestens zwei weitere Bomben zu bauen. Wir glauben, dass die Tat zeitgleich zur großen Migrations- und Integrationsdebatte verübt werden sollte, über die schon im Vorfeld so viel gesprochen wurde.«

»Morgen«, sagte der Minister. »Sie ist für morgen Vormittag angesetzt.«

Fredrika wurde regelrecht kalt, als die Parlamentsdebatte zur Sprache kam – eine Debatte, die sich niemand mehr wünschte als die fremdenfeindlichen Kräfte. Sollte dies wirklich das Ziel der Männer gewesen sein, die jetzt wegen terroristischer Machenschaften verurteilt worden waren? Dann müssten sie bereitgestanden und auf die nächstbeste und spektakulärste Gelegenheit gewartet haben, um zuzuschlagen. Der Termin der Debatte stand schließlich erst seit wenigen Tagen fest.

»Wir glauben, dass die zwei Verurteilten die einzigen Täter waren. All unsere Analysen weisen in diese Richtung, und es gibt keinen Grund, diese Einschätzung infrage zu stellen. Deshalb haben wir auch keine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen um das Parlamentsgebäude angefordert, auch nicht für die morgige Veranstaltung. Also – nicht mehr, als ohnehin die Regel ist, versteht sich. Wir haben Kontakt mit den Kollegen vor Ort aufgenommen, und sie werden sicherstellen, dass die Debatte friedlich verlaufen kann.«

Natürlich, dachte Fredrika. Selbst wenn man die demokratischen Spielregeln dazu missbraucht, um selbige abschaffen zu wollen, kann man sich auf die Unterstützung der Ordnungshüter verlassen.

Der Abteilungsleiter unterbrach Edens Ausführungen. »Die Urteile des Landgerichts und des Oberlandesgerichts kamen uns, was diese beiden Männer anging, sehr gelegen. Es ist essenziell für die Säpo, allein schon die Vorbereitungen zu einem Terroranschlag frühzeitig zu vereiteln. Allzu oft bekommen wir zu hören, dass wir entweder zu viel oder zu wenig unternehmen und natürlich alles zu spät angehen.«

Fredrika wusste genau, was er meinte. Wenn die Säpo mit Fällen vor Gericht zog und unterlag, wog die Kritik gegen die Behörde oft bleischwer, vor allem in jenen Fällen, in denen eine Festnahme nicht einmal mehr zu einer Anklage führte. Schon mehr als ein Mal hatte Fredrika über den Balanceakt nachdenken müssen, den der schwedische Sicherheitsdienst leisten musste, und hatte sich gefragt, ob sie selbst wohl eine derart undankbare Aufgabe übernehmen wollte.

Doch dann war der Anschlag an der Drottninggatan gekommen, und das Blatt hatte sich gewendet. Dieselben Journalisten, die sich zuvor darüber beklagt hatten, dass der Staat zu hart vorgehe, bezichtigten ihn jetzt, zu wenig zu tun. Der Mann, der sich an der Drottninggatan in die Luft gesprengt hatte, sei schließlich sogar auf Facebook gewesen – wie könne es da sein, dass die Säpo ihn nicht längst im Visier gehabt hatte?

Aber wer wollte denn eine Gesellschaft, in der die Säpo einzelne Bürger auf Facebook überwachte?, hatte sich Fredrika gefragt.

Doch offensichtlich wollten das ziemlich viele.

Während Eden mit ihrem Vortrag fortfuhr, fragte Fredrika sich, welche Funktion eigentlich der Analysechef innehatte. Trug er ihr nur den Laptop hinterher?

»Die Täter, die in der vergangenen Woche verurteilt wurden, waren zwar nur zu zweit, doch in ihrem Umkreis konnten wir mehrere Helfer identifizieren«, erklärte Eden. »Zakaria Khelifi ist einer davon.« Sie zeigte auf Zakarias Foto auf dem Monitor. »Er war allerdings der Einzige, gegen den wir so viele Beweise zusammentragen konnten, dass es für die Untersuchungshaft und eine Anklageschrift reichte.«

Der Justizminister legte den Kopf schief. »Es gilt auch bei Terroranschlägen, dass man nicht nur wegen eines Verdachts vorverurteilt werden darf. Ich denke, das sollten wir als etwas Positives betrachten.«

»Selbstverständlich.«

Wieder Stille.

»Zakaria Khelifi«, schloss Eden. »Seinetwegen sind wir hier.«

Die Versammelten horchten auf.

4

13.12 Uhr

Zakaria Khelifi war 2008 aus Algerien nach Schweden gekommen. Als Grund für sein Asylgesuch hatte er angegeben, von einem entfernten Verwandten verfolgt worden zu sein, nachdem er eine Romanze mit der Tochter der Familie eingegangen war und sie noch vor der Hochzeit geschwängert hatte. Die Frau, so Khelifi, sei von ihren eigenen Angehörigen ermordet worden.

»Im Laufe des Frühjahrs erhielten wir mehrere Hinweise darauf, dass weitere Gruppen Anschläge auf Ziele in Schweden planten und dass diese mit vergleichbaren Fällen in anderen europäischen Ländern in Verbindung standen. Doch nur einer der schwedischen Verdachtsfälle war tatsächlich ernst zu nehmen.«

Ein neues Bild – drei kleinere Porträts von Männern, die Fredrika aus den Medien wiedererkannte. Zwei von ihnen waren vom Oberlandesgericht verurteilt worden, der dritte war der freigesprochene Algerier.

»Zakaria Khelifi trat bei unseren Ermittlungen zunächst nicht in Erscheinung, doch dann wurde er häufiger in Gesellschaft der Verdächtigen gesichtet. Wir hörten sein Telefon ab, und bei einer Gelegenheit hörten wir seinen Gesprächspartner zu ihm sagen: ›Es ist jetzt da. Du kannst es jetzt abholen gehen.‹ Khelifi fuhr los und holte ein Paket ab, das Substanzen enthielt, von denen wir später nachweisen konnten, dass sie die Sprengladung vervollständigten, die die Haupttäter bereits vorbereitet hatten.«

»Zakaria Khelifi sagte vor Gericht aus, er habe nicht gewusst, was in dem Paket steckte«, wandte der Staatssekretär ein.

»Sicher, das hat er. Aber auf den Bildern der Überwachungskameras sieht er sichtlich nervös aus, als er diesen Laden betritt, um das Paket in Empfang zu nehmen. Er sieht sich mehrere Male um, als er es zu seinem Auto trägt, und als er sich hinters Steuer setzt und davonfährt, ist er schweißgebadet. Außerdem hat einer der Haupttäter, Ellis, ihn während einer Vernehmung namentlich als Helfer genannt.«

»Was er dann später wieder zurückgenommen hat, nicht wahr?«, fragte der Justizminister.

»Ja, und das hat uns ehrlich gestanden stutzig gemacht. Vor der Gerichtsverhandlung war er, was die Rolle Khelifis anging, ziemlich deutlich geworden und hatte Khelifi als ›wichtige Stütze‹ bezeichnet. Warum Ellis später zurückruderte, als der Staatsanwalt ihn befragte, wissen wir ehrlich gesagt nicht. Wir haben versucht herauszubekommen, ob er bedroht wurde, aber er weigert sich, unsere Fragen zu beantworten. Er hat lediglich ausgesagt, er habe verschiedene Namen und Personen durcheinandergebracht und dabei leider den Falschen bezichtigt – was ihm aber keiner von uns glauben will. Ellis hat bei der Vernehmung die Wahrheit gesagt und vor Gericht gelogen.« Auch als Eden weitersprach, hörte der Justizminister schweigend zu. »Wie sich zeigte, war dies nicht das erste Mal, dass Khelifi Umgang mit Terrorverdächtigen hatte. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass Khelifi bereits 2009 in einem Ermittlungsverfahren auftauchte – im selben Jahr, als er seine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Wir ermittelten damals gegen ein paar Personen, die unter Verdacht standen, Terrornetzwerke im Ausland zu finanzieren. Leider mussten wir das Verfahren einstellen, weil wir keine stichhaltigen Beweise gegen sie hatten.«

Ein neues Bild auf dem Monitor. Fredrika und die übrigen sahen es sich aufmerksam an.

»Wir sind über die Telefonüberwachung auf Khelifi gestoßen. In unserem Ermittlungsmaterial gab es zwar noch mehrere Nummern, die wir noch nicht identifizieren konnten, doch eine von ihnen, so hat sich herausgestellt, gehörte Khelifi. Dieselbe Nummer tauchte bereits in einer anderen Ermittlung auf, die wir zu Beginn des Jahres nach den Terrordrohungen in Frankreich eingeleitet hatten.«

Der Justizminister sah besorgt aus. »War er denn in Frankreich beteiligt?«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Aber wir glauben zu wissen, dass er, ehe der Anschlag verübt wurde, engen Kontakt zu einem der Täter hatte, die in diesem Frühjahr in Frankreich verurteilt wurden. Leider hatten wir damals, wie gesagt, noch nicht herausgefunden, wem die Telefonnummer gehörte.«

Jetzt wurde Fredrika hellhörig. Eine Telefonüberwachung konnte eine Ermittlung weit bringen, das hatte sie selbst im Grunde bei allen Ermittlungen gesehen, an denen sie bei der Kripo beteiligt gewesen war. Man musste nur begreifen, wie die Informationen zusammenhingen. Aber das war nicht immer leicht.

»Was hat Zakaria Khelifi gesagt, als Sie ihn nach seinen Telefonkontakten gefragt haben?«, fragte sie. »Also denen, die mit der früheren Ermittlung zu tun hatten?«

»Er sagte, damals habe das Telefon jemand anderem gehört«, erklärte Eden. »Er habe es erst im Februar, März 2011 bekommen.«

»Können wir das widerlegen?«, fragte der Staatssekretär.

»Nein, aber das müssen wir auch gar nicht. Er konnte weder sagen, wann genau er das Telefon gekauft hatte, noch von wem oder wie viel er dafür bezahlt hatte. Er hat sich die Erklärung im Nachhinein zurechtgelegt.«

»Ah ja«, sagte der Justizminister, dem daran gelegen war weiterzukommen. »Zakaria Khelifi wurde also vor Gericht freigesprochen. Und jetzt wollen Sie seine Aufenthaltsgenehmigung widerrufen?«

»Ja, vor dem Hintergrund dessen, was wir Ihnen heute präsentieren, möchten wir, dass Sie beschließen, die permanente Aufenthaltsgenehmigung von Zakaria Khelifi aufzuheben, damit er in Gewahrsam genommen und zurück nach Algerien geschickt werden kann. Er hat in mehreren Ermittlungsverfahren eine Rolle gespielt. Er ist bei einer Vernehmung von einem der Haupttäter als Helfer bezeichnet worden. Ganz offensichtlich war er diesem bei den Vorbereitungen zu einem Terroranschlag behilflich.«

Der Justizminister lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Liegen Abschiebungshindernisse vor, oder wäre es für ihn möglich, nach Hause zurückzukehren?«

»Das Gericht war der Auffassung, es gebe keinerlei Hindernisse für eine Abschiebung. Die algerischen Behörden waren bislang nicht involviert und haben auch keine Überstellung beantragt. Ihm droht somit weder Folter noch die Todesstrafe.«

»Und die Drohung, die ursprünglich der Grund für sein Asylgesuch war?«, mischte sich der Staatssekretär ein.

»Hat sich erledigt«, sagte Eden. »Der Vater und der Bruder des Mädchens sind schon vor längerer Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Was von der Familie noch übrig ist, scheint nicht mehr daran interessiert zu sein, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.«

Fredrika saß schweigend da. Das hier war eine neue Welt für sie.

»Wovon lebt dieser Zakaria überhaupt?«, fragte der Minister.

»Er arbeitet als Jugendleiter.«

Fredrika erinnerte sich daran, wie Zakaria Khelifi in den Medien dargestellt worden war: als netter Typ, der mit Jugendlichen arbeitete, denen es schwerfiel, einen Weg in die schwedische Gesellschaft zu finden. Zakaria Khelifi hatte fließend Schwedisch gelernt und in vielerlei Hinsicht ein gutes Vorbild abgegeben. Aber ein Jugendleiter, der gleichzeitig mit Terroristen verkehrte? Fredrika wusste nicht, wie sie zwei derart widersprüchliche Bilder zusammenbringen sollte.

Der Stuhl des Ministers kratzte über das Parkett. »Und wie wird das in den Medien für unsere jeweiligen Behörden aussehen?«, fragte er. »Zakaria Khelifi, eben noch in zwei Instanzen freigesprochen, wird auf Wunsch der Säpo und der Regierung wieder nach Hause geschickt?«

»Welche Alternative haben wir?«, fragte Eden. »Sollen wir ihn hierbehalten? Sollen wir ihn unter Beobachtung stellen? Eine Situation riskieren, in der er zur Ikone für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in unseren Vororten werden könnte? Eine Ikone, die andere dazu inspiriert, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen? Klar, das könnten wir tun. Aber dann verstoßen sowohl Sie als auch wir gegen unsere Vorschriften, denn es ist unser Auftrag, dafür zu sorgen, dass Personen, die zu einer Sicherheitsbedrohung werden könnten, sich hierzulande nicht niederlassen.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr dann fort: »Diese Art von Dominoeffekt können wir uns nicht leisten, da müssen wir deutlich sein und ein Exempel statuieren. Und selbst wenn der eine oder andere negative Artikel darüber geschrieben würde, wird das Signal, das an die Milieus rausgeht, die hinter Leuten wie Zakaria Khelifi stehen, unmissverständlich lauten: Mit der schwedischen Demokratie wird nicht gespaßt.«

Der Justizminister sah aus, als wäre er tief in Gedanken versunken. Fredrika fragte sich, welchen Hintergrund Eden wohl hatte. Ihre Rhetorik klang nicht nach der einer Muttersprachlerin. Es sah sogar ein wenig so aus, als wäre dem Abteilungsleiter ihre Art zu sprechen peinlich.

Das Klingeln eines Handys unterbrach die Stille. »Entschuldigung, ich hab vergessen, es auszuschalten«, sagte Eden und zog ihr Telefon aus der Tasche.

Fredrika sah, wie ihre Kollegen Eden entsetzt anstarrten. Handys mussten bei Besprechungen dieser Art abgeschaltet werden. Doch Eden schien es egal zu sein, was die anderen dachten. Sie starrte auf das Handydisplay, überflog die Mitteilung, die sie bekommen hatte, und sagte dann: »Offensichtlich hat jemand mehrere Bombendrohungen gegen verschiedene Ziele in Stockholm ausgesprochen. Rosenbad ist eines davon.«

Weniger als eine Minute später war die Besprechung beendet, und nicht nur die Säpo verließ den Raum so schnell, dass es hinterher wirkte, als hätte man sie alle einfach fortgezaubert.