Cover

Nachtschwärmer

titel
titel
image

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.


© Moira Frank 2019
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Michael Gaeb.
© 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, Katharina Fusseder
Umschlagillustration: © Shutterstock
(EvaHeaven2018, Ryan Michael Wilson)
MI · Herstellung: UK
Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-21869-0
V001

www.cbj-verlag.de

· 1 ·

ALS MEIN HALBBRUDER STARB, kauerte ich neunzig Kilometer entfernt vor dem Klo und wartete darauf, mich endlich zu übergeben. Ich war schon im Bett gewesen und dann doch noch mal aufgestanden, ungefähr in dem Moment, als Lukas am anderen Ende von Brandenburg den Reißverschluss seiner Jacke zuzog, die Tür des Gartenhäuschens schloss und seinem Tod entgegenging.

Es war nach Mitternacht und niemand außer mir wach. Sogar mein Vater, der oft noch um drei Uhr morgens an seinem Manuskript arbeitete, war früh ins Bett gegangen. Meine Stiefmutter hatte einen tiefen Schlaf, und Lily war auch kein Kindergartenkind mehr. Ich konnte ungestört vor dem Klo darauf warten, dass mein Magen die pürierte Gemüsesuppe vom Abendessen hergab.

Ich hatte mich auch nach sechs Jahren nicht dran gewöhnt, wie still der Neubau war. Der Boiler pochte nicht, die Dielen ächzten nicht unter unsichtbaren Schritten, und wenn jemand auf unserer gepflegten Straße gegrölt hätte, hätte ich es durch die doppelt verglasten Fenster nicht mitgekriegt. Ich hörte nur mich selbst ab und an vor Übelkeit stöhnen. In unserer alten Wohnung hätten meine Zähne geklappert, aber die Fußbodenheizung wärmte mir angenehm die Knie durch den Pyjama. Auf den gepflegten Rasenflächen vor dem Badezimmerfenster lag eine weiße Schicht Märzfrost. Die Rosenbeete meiner Stiefmutter waren mit Tannenschnitt bedeckt und die Büsche mit Vlies aus dem Baumarkt umwickelt.

In dieser Nacht waren die Straßen im ganzen deutschen Nordosten vereist. Ich wäre gestorben, wenn ich jetzt ohne warme Leggings und Strickpullover vor die Tür gegangen wäre. Mein Kreislauf kriegte es im Winter kaum hin, meine langen Arme und Beine zuverlässig mit Körperwärme zu versorgen. Lukas hingegen war einer dieser Jungen, die nie frieren. Er hatte zum Beispiel betrunken eine Wette eingehen können, bei der er den ganzen Winter über nur Shorts trug, vom Oktober bis in den Februar, ohne sich eine einzige Erkältung zu holen. In dieser Nacht im März trug er, weil die Wette gewonnen war, lange Jeans, einen dünnen Windbreaker über einem Sweatshirt und Chucks, dunkelgrün und mit zu wenig Profil für den gefrorenen Boden auf den Sohlen. Wahrscheinlich zitterte er nicht mal.

Vor drei Wochen hatte ich auf Facebook eine Nachricht von einem wildfremden Typen geöffnet, der wissen wollte, ob ich zufällig an der rechten Hand nur vier Finger hätte. Was er natürlich absolut unmöglich wissen konnte. Er war achtzehn, ging in Prenzlau zur Schule und spielte Fußball in irgendeinem Dorfverein. Sein Profilbild zeigte einen großen, schlaksigen, attraktiven Jungen, der in der verschneiten ostdeutschen Pampa lässig an einem mit Eiszapfen gespickten Brückengeländer lehnte und mir mit einer Dose Vanillecola zuprostete. Blonde Locken, breites Grinsen. Er trug einen dicken Hoodie und Shorts, die knapp auf seine vor Kälte geröteten Knie reichten und vom letzten Sommer braun gebrannte Schienbeine bis an den Bildrand zeigten. Kein superseriöser erster Eindruck. Aber ich hatte mich drauf eingelassen, und der wildfremde Typ hatte sich als mein Halbbruder rausgestellt. Siebzehn Jahre Leben mit minimaler Verwandtschaft und null Ahnung, und plötzlich hatte ich einen Bruder, ich selbst, nicht irgendein Mensch mit einer total rührenden Story im Internet.

Während ich in der Wärme unseres energieeffizienten Neubaus hockte, mein Haar mit einer Hand im Nacken hielt und müde Speichel ins Klo spuckte, ging Lukas in der Kälte den Weg nach Hause. Er war ihn schon hundertmal gelaufen. Er war nicht besoffen genug, um sich zu verirren, und außerdem war es gar nicht stockdunkel. In der Uckermark lag die gleiche weiße Frostschicht wie in Berlin und ließ die hart gefrorenen, blanken Felder und die Straße zwischen ihnen schimmern. Er war der letzte Mensch auf dieser Straße. Vielleicht auf der Welt. Er hatte ja keine Ahnung, dass ich auch noch wach war. Dass wir zwei waren. Dass wir es noch ungefähr zehn Minuten sein würden.

Meine Augen fielen zu, irgendwann um diesen Dreh. Mein Kopf nickte schmerzhaft nach vorn. Mein Genick knackte leise, und ich zuckte zusammen und blinzelte in die leere Kloschüssel. Dann rappelte ich mich auf taube Beine auf, spülte, wusch mir den Mund aus und schlurfte auf mein dunkles Zimmer, an meinem mit Übungsklausuren und Lernheften bedeckten Schreibtisch und der mit sorgfältigen Notizen gefüllten Pinnwand vorbei. Kroch schwerfällig wie eine Sterbenskranke unter die Decke. Lauschte. Alles um mich herum war immer noch völlig still.

Angeblich spüren es ja manche Leute – Mütter, eineiige Zwillinge, Menschen, die ihr ganzes Leben tief verbunden sind. Es trifft sie auf der Arbeit und auf der Straße und schreckt sie in Schweiß gebadet aus dem Schlaf. Stunden, bevor der Anruf aus dem Krankenhaus kommt oder zwei müde Streifenpolizisten an ihrer Haustür klingeln, und obwohl sie Hunderte oder manchmal Tausende Kilometer weit vom Unfallort entfernt waren, wissen sie es schon.

Aber ich ahnte nichts. Ich fühlte keine wissenschaftlich unerklärliche kosmische Verbindung zwischen uns reißen. Dabei überfiel es mich seit drei Wochen ständig unpassend aus heiterem Himmel, die stromschlagartige Erkenntnis, dass ich jetzt einen Bruder hatte, dieser absolute helle Wahnsinn, und dass ich ihn treffen würde und mein ganzes Leben sich dadurch ändern würde. Mein erster Gedanke nach dem Aufwachen war an meinen Bruder, und mein letzter, bevor ich einschlief, auch. Außer diesmal. In fünf Stunden würde ich aufstehen und die Matheklausur schreiben müssen, von der meine Zulassung zum Abitur abhing. Das nahm mich langsam, aber sicher komplett in Beschlag. Während ich in meinem stillen Zimmer endlich in unruhigen Schlaf wegdämmerte, dachte ich nicht an Lukas, sondern nur daran, dass ich morgen versagen würde.

· 2 ·

EIN SPAZIERGÄNGER UND sein Hund fanden Lukas, noch ehe am Montagmorgen die Klausur auf allen Tischen lag. Das konnte ich mir später ausrechnen, weil es in der Zeitung stand. Wahrscheinlich hatte ich gerade mit zitternder Hand den soeben ausgeteilten Arbeitsbogen umgedreht.

Mathe und ich standen auf dem Kriegsfuß, seit wir in der ersten Stunde in der Grundschule im Chor einen Abzählreim aufsagen und dabei unsere Finger zählen sollten. Daran scheiterte ich, weil ich an einer Hand nur vier Finger hatte. Was ich dann meiner Klasse und der Lehrerin erst mal erklären musste. Und ab dann ging es nur noch abwärts. Mit Mathe und meinem Sozialstatus.

Ich kannte eine Menge Leute, die behaupteten, sie wären richtig schlecht in Mathe, aber keiner war so schlecht wie ich. Wenn mir jemand mit Kurven und Variablen und Prozenten kam, fror mir das Hirn ein. Ich hatte ein Riesenglück, dass die Kasse im Supermarkt, in dem ich jede Woche zehn Stunden aushalf, mir das Wechselgeld vorrechnete. Oder dass ich nicht im Kurs vom Jamek saß, der die Marker aus der Whiteboard-Ablage nach einem warf, wenn man sich zu dumm bei ihm anstellte. Selbst Ole hatte trotz aller Liebe aufgegeben, mir zu helfen.

Beim Durchlesen meiner in Hieroglyphen abgefassten Aufgabenblätter – Die Zufallsvariable X ist binomialverteilt mit den Parametern n = 30 und p = 0,25. Berechne a) P (X = 10) b) P (X10) c) P (X > 5) d) P (15X25) – hatte ich mein erstes Blackout. Im letzten Jahr waren es bloß diese kurzen, panischen Aussetzer gewesen, die jeder in der Schule mal hat, sogar Maren, die überall genial war außer in Sport. Der Schulstress, sagten alle, auch meine Hausärztin, die Menschen hasste und die ich deshalb möglichst selten aufsuchte. Gehen Sie raus an die frische Luft, schlafen Sie regelmäßig, ernähren Sie sich ausgewogen, die ganze Leier.

Doch seit die Klausurphase angefangen hatte, fuhr ich länger runter. Es war keine Ohnmacht, eher wie ein Roboter, dem der Saft aus ist. Ich fiel auch nicht vom Stuhl oder so, und wenn ich über meine Arbeit gebeugt saß, sah es so aus, als würde ich einfach sehr gründlich nachdenken.

Es hatte bislang noch keiner was gemerkt. Auch diesmal nicht, als ich wieder zu mir kam. Alle waren sehr beschäftigt mit Rechnern und Kugelschreibern und Handys unterm Tisch, und mir fehlten bloß sechs Minuten. Ich machte mich daran, auswendig gelernte Formeln hinzuschreiben. Da kamen manchmal ein, zwei Punkte bei zustande. Bei neuen Mathelehrern fügte ich eine Entschuldigung an, aber bei der Rehmann, die mich seit drei Jahren hatte, konnte ich mir das sparen. Dann wartete ich, bis Jana und Tarik abgegeben hatten, und brachte meine Klausur auch nach vorn. Rehmann kniff die Lippen zusammen und sagte nichts. Brauchte sie auch nicht, denn das war’s für mich gewesen.

Immerhin, sagte ich mir, wie man sich das eben einredet, wenn gerade alles den Bach runtergeht, hatte ich es jetzt hinter mir. Vielleicht konnte ich heute Abend wieder was essen, ohne danach zu kotzen. Ich hängte mir meinen Rucksack um, verzog mich aus dem Klassenzimmer und setzte mich mit meinem Handy ins kühle, stille Treppenhaus.

Ich hatte gehofft, Lukas hätte mir geschrieben. Er wusste, dass heute die Klausur war. Ich hatte ihm schließlich genug damit in den Ohren gelegen. Er war der einzige Mensch, der von meinem Gejammer und meiner Mathedummheit noch nicht genug hatte, und das wahrscheinlich bloß, weil er mich noch nicht lang genug kannte. Er war selbst nicht besonders gut und hatte vorgeschlagen, eine Freundin von sich zu fragen, die da hochbegabt wäre. Aber mir hätte Laplace selbst nicht helfen können, und der hatte einen Teil von dem Mist erfunden, also hatte ich ihn bloß gebeten, mir die Daumen zu drücken.

Ich hatte keine Nachricht von ihm. Was aber okay war, immerhin schrieb er bald Abitur, und ich konnte ja nicht verlangen, dass er rund um die Uhr am Handy hing, nur weil ich Redebedarf hatte.

Ich schrieb: Ich hab’s vergeigt. Kann ich dich später anrufen? Dann wartete ich, ob er die Nachricht jetzt gleich sah und mich anrief, und als er es nicht tat, weinte ich im Treppenhaus noch ein wenig um mein Abitur. Ich hatte früh abgegeben und jede Menge Zeit.

Abends rief ich ihn dann selbst an. Wir hatten schon viermal telefoniert, immer mehrere Stunden. Beim letzten Mal hatte er etwas von einem Projekt für den Sommer angedeutet, etwas, das mit Verschwörungstheorien zu tun hatte. Er stand auf so was – nicht, weil er es wirklich glaubte, sondern weil ihn faszinierte, dass andere es taten. Wie Menschen überzeugt sein konnten, dass die Erde in Wirklichkeit flach ist, weil man ja die Erdkrümmung nicht mit dem Auge sehen kann und weil das Wasser in den Weltmeeren drin bleibt statt wie an einem Ball runterzulaufen. Oder dass es in den USA keine Amokläufe gibt, sondern die von der Anti-Waffen-Lobby inszeniert werden und die trauernden Angehörigen bloß Schauspieler sind. Er hatte mir die wichtigsten Dokus für Einsteiger empfohlen, aber so was war mir selbst aus wissenschaftlicher Sicht zu abgefahren. Das war eher was für Spinner wie Isi, wo man nie so genau wusste, ob sie das ironisch glaubte oder ein bisschen in echt.

Er hatte mir nicht verraten, was genau er da anstellen wollte. Ich sollte es einfach abwarten, hatte er gemeint. Im Sommer würde ich das schon herausfinden, jedenfalls, wenn ich ihn wirklich besuchen käme. Er wohnte in einem kleinen Dorf mitten in der Pampa mit einem Badesee und Campingplatz um die Ecke. Auf den Fotos, die er mir geschickt hatte, war alles trist und graubraun in der leeren Jahreszeit zwischen Winter und Frühling. Im Sommer aber sehr schön. Eine Reise aus Berlin wert, meinte er.

Ich hätte nach diesem missratenen Tag nichts lieber getan, als mit Lukas den Sommer zu planen, doch er ging nicht ans Handy. Ich dachte an ihn, ehe ich einschlief. Nur war es natürlich schon zu spät. Ich hatte ihn eine Nacht vergessen, und er war gleich aus der Welt gefallen.

Am nächsten Tag war sein Profil verschwunden. Ich starrte lange auf den anonymisierten Account. Ich war kein Soziophobiker oder so. Ich hatte kein Problem mit Telefonaten. Hotline-Anrufe machte bei uns im Haus grundsätzlich ich. Im November hatte ich für meinen vor Stress fast weinenden Vater sogar seine Agentin angerufen, um seine Deadline zu verschieben. Aber jetzt begannen meine Hände zu schwitzen, und mir wurde flau. Ich wählte in WhatsApp, wo er zum Glück noch war, seine Nummer, holte tief Luft und hielt das Handy ans Ohr. Die Mailbox sprang direkt an. Ich hinterließ ihm eine kurze und bemüht lässige Nachricht.

Da hätte ich es natürlich ahnen können. Ich weiß es im Nachhinein nicht. Vielleicht dachte ich bloß, er wäre von mir genervt, und Facebook konnte er einfach gelöscht haben, um seine Ruhe beim Lernen zu haben, oder weil heutzutage eh kaum einer, der nicht im Alter unserer Eltern war, noch auf Facebook herumhing.

Am Freitag übernachtete ich bei Ole. Zu dem Zeitpunkt machte ich mir schon solche Sorgen, dass ich abgesagt hätte, wenn ich ihn in den letzten Wochen nicht viel zu sehr vernachlässigt hätte. Es war unsere letzte Möglichkeit für ein gemeinsames Wochenende im März. Er fuhr gerade ständig mit dem Verein weg. Sie hatten es bis in die nächste Liga geschafft und repräsentierten jetzt ganz Berlin, und das machte mich natürlich auch stolz. Da hatten wir uns verliebt, beim Basketball. Ich hatte in der Oberstufenmannschaft der Mädchen gespielt, er bei den Jungs. Er war immer noch dabei, aber ich kam mit dem ganzen Stoff fürs Abitur einfach nicht hinterher, um auch noch Zeit für Sport zu haben. Seit den Weihnachtsferien machte ich jetzt Pause. Ich war ohnehin kein Überflieger wie Ole.

Wir waren in den Winterferien zusammengekommen, kurz nach Neujahr. Eigentlich war es an Silvester schon klar gewesen. Maren, Katta, Isi und ich hatten Sekt getrunken, einen Haufen Raketen und Knallfrösche in die Nacht geschickt und waren weiter durchs Viertel zu Friedrichs Party gezogen, und am Ende der Nacht hatte Ole mich auf der von geschwärzten Böllerresten übersäten Straße geküsst.

Heute waren seine Eltern im Theater und wir hatten das Haus für uns. Statt Pizza zu bestellen, hatte er vegetarische Carbonara mit Erbsen und Spinat für mich gekocht. Wenn er wollte, konnte er gut kochen, aber ich bekam nicht viel runter. Es war wie vor der Klausur, nur schlimmer.

Wir stritten uns deswegen, oder eher er mit mir. Ich müsse endlich aufhören, mich wegen Mathe fertigzumachen. Als wir schließlich schlecht gelaunt vorm Fernseher saßen und durch Netflix blätterten, stand er seufzend noch mal auf, ging in die Küche und machte mir einen der fürchterlich riechenden entschlackenden Kräutertees, auf die seine Mutter schwor. Er stellte ihn mir hin und küsste mich, und da hätte ich es ihm fast gesagt. Aber ich hätte ihm auch erklären müssen, warum ich das nicht schon vor drei Wochen getan hatte, und da beschäftigte ich mich lieber damit, meinen Tee in kleinen Schlucken runterzuwürgen.

Es war nicht nur Ole, der nichts von Lukas wusste. Ich hatte es niemandem erzählt. Nicht mal meinen besten Freundinnen, und schon gar nicht meinem Vater. Seit drei Wochen kein Wort. Was für andere sicher komplett verrückt klingt. Ist doch absolut fantastisch, plötzlich einen Bruder haben. Das muss man doch groß feiern. Das muss man allen sagen.

Natürlich hätte ich ihnen gleich die erste Nachricht von ihm vorlesen können, aber das war einfach nicht meine Art. Klar, ich wollte es ihnen sagen. Bald sogar. Aber erst mal wollte ich ihn in Ruhe kennenlernen. Siebzehn Jahre aufholen und dann weitersehen. Und wenn mich im Februar Leute fragten, warum ich so gut drauf war, sagte ich ihnen, dass es keinen bestimmten Grund hätte, und Ole sagte ich, dass ich ihn einfach liebte. Warum es mir jetzt so schlecht ging, fragte keiner. Dass jeder Grundschüler in Mathe besser war als ich, war ja allgemein bekannt.

Am Wochenende wurde es deutlich wärmer. Julia holte die Tannenzweige von den Beeten und wickelte das Vlies von den Büschen. Am Samstag war ich in dünner Jacke statt Winterparka unterwegs, und an den Hecken im Neubaugebiet zeigte sich jetzt das erste zarte Grün, das am Montag noch der Frost versteckt hatte. Als wir am Sonntag zusammen am Frühstückstisch saßen, schien die Sonne frühlingswarm in den Garten.

Das gemeinsame Frühstück stand so auf der Familienagenda. Julia sorgte dafür, dass mein Vater und ich uns nicht davor drückten, was mein Vater meist wegen dem Schreiben tat – wenn er einmal richtig dabei war, hörte er nur wieder auf, wenn es wirklich lebensnotwendig war – und ich, weil ich Teenager war und Besseres zu tun hatte. Heute war die halbe Stunde, die wir mindestens gemeinsam verbringen mussten, besonders zäh. Julia filterte Lily, die neun war und immer noch kein Fruchtfleisch mochte, den Orangensaft durch ein Teesieb und zog nebenbei meinem Vater Details über sein Manuskript aus der Nase, zu dem er dringend zurückwollte. Ich sah ihn unterm Tisch nervös mit den Knien zucken, als stünde ihm die Deadline genauso im Nacken wie mir der Gedanke an Lukas. Ich versuchte mich derweil lustlos an einem Croissant und fuhr erst hoch, als mein Handy klingelte.

Julia bedachte mich quer über den Tisch mit einem tadelnden Blick, den sie als Richterin sauber draufhatte, weil ich es überhaupt in die medienfreie Zone mitgebracht hatte, und ich sprang so schnell auf, dass ich mein Croissant vom Teller warf und meinen Stuhl gegen die Kommode knallte. Meine Familie starrte mich an. Ich stammelte eine Entschuldigung und verschwand in den Flur. Dort nahm ich zittrig das Gespräch an. Ich hatte Herzrasen.

»Hey!«, keuchte ich ins Handy. »Ich dachte, dir ist was –«

»Hier ist Christoph Weber«, unterbrach mich eine fremde Männerstimme. Ruhig und müde. Die Tonlage allein – sie zog mir den Boden unter den Füßen weg. Und da wusste ich es. In dem Moment spürte ich es. »Lukas ist in der Nacht auf Montag tödlich verunglückt. Ich habe die Löschung dieser Nummer beantragt, und sie wird dann neu vergeben. Ruf also bitte nicht wieder an.«

Ich war auf der Treppe erstarrt, das Handy ans Ohr gedrückt, den Mund geöffnet. Die Welt um mich herum war weg. Als hätte irgendwo eine göttliche Hand die Stopptaste gedrückt.

»Ich habe eure Nachrichten gelesen«, sagte Lukas’ Vater. »Lösch sie bitte alle und nimm keinen Kontakt zu meiner Familie auf. Wir trauern.« Dann legte er auf.

Es war wie kurz bevor ich aus meinen Blackouts erwachte – oder bevor sie einsetzten. Julia kam nach mir sehen, und ich hörte mich erzählen, dass ich mich nicht gut fühlte und mich hinlegen würde. Sie dachte, glaube ich, dass irgendwas mit Ole war. Ich schloss mich auf meinem Zimmer ein und suchte mit meinem Handy im Internet. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich ständig daneben tippte.

Ich hätte ihn schon viel eher googeln sollen, weil er nämlich seit fast einer Woche durch die Lokalpresse gereicht wurde. Überall wurde das gleiche leicht unscharfe Bild von ihm verwendet: ein Ausschnitt aus einem Gruppenfoto, vielleicht ein Familienporträt, er, unsere Mutter und sein Vater auf einer Gartenparty, Lichter im Hintergrund. Lukas lächelt in die Kamera, sympathisch, freundlich, ein Junge mit Zukunft, nicht der Spinner, der mit nackten Beinen im Schnee steht und grinst.

Am dritten Tag hatten wir uns neunzig Kilometer voneinander entfernt vor eine weiße Wand gestellt, Selfies gemacht und sie verglichen. Er war eins neunzig und ich eins zweiundachtzig, die größte aus meiner kleinen Familie. Laut Isi zwei Meter ohne Arsch und Titten. Aber wir hatten auch die gleichen Augen. Weit auseinanderliegend und leicht länglich wie die unserer Mutter, als wären unsere Vorfahren irgendwo aus dem Osten. Seine waren grün. Auf dem Foto kamen sie selbst auf einem kleinen Handydisplay richtig gut zur Geltung.

Die Polizei hatte eine Fahndung ausgeschrieben und riet Radfahrern und Fußgängern zum Tragen von reflektierenden Schutzwesten nach Einbruch der Dunkelheit. Eine Bürgerinitiative aus dem Nachbarlandkreis verlangte den Bau von Fahrradwegen. Ich überflog das alles, während mein bewusstes Denken mich verließ: Fahrerflucht, 18-jähriger Schüler, Morgenstunden, fehlende Fußgängerwege, grüne Lacksplitter, sofort tot. Fast wie ein Gedicht. Ich stand auf, ging ins Bad, erbrach mich und hatte mein bisher längstes Blackout.

· 3 ·

OHNE MUTTER UND MIT nur drei Fingern und einem Daumen an der rechten Hand hätte ich exzentrisch sein können. Aber ich traf eine bewusste Entscheidung, es nicht zu sein, und das brachte nie etwas ins Wanken. Meine engsten Freundinnen nicht und mein erster Freund nicht und kein Lehrstück darüber, wie toll Besonderssein ist und dass unsere Einzigartigkeiten uns doch erst so richtig zum Menschen machten.

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Leute mir übel nahmen, dass ich meine fehlgebildete Hand nicht zu meinem Markenzeichen machte oder zum Party-Gag. Als hätten sie selbst dieses Defizit kreativer eingesetzt. Aber in meiner ersten Schulwoche hatte ein Junge herumerzählt, ich wäre ein Alien, bis einer noch kreativer war und meinte, ich hätte Lepra. Ich wusste nicht, was das hieß, nur, dass es wirklich schlimm war. Ich schlug es in einem Wörterbuch von meinem Vater nach, weil ich mich nicht traute, ihm davon zu erzählen. Nach den Ferien kam ein Mädchen in unsere Klasse, das mit ihrer Familie in Wohnwagen vor der Stadt lebte, bevor das Amt sie da wegjagte. Während sie die mobbten, vergaßen sie zum ersten Mal, bei meinem Anblick kreischend wegzurennen. Von wegen, Kindern wird so was irgendwann langweilig.

Als wir in Bio zum ersten Mal DNA drangenommen hatten, hatte mich Herr Römer nach vorn ans Pult kommen und meine Hände hochhalten lassen, um der Klasse zu zeigen, was ein winziger Genfehler auslösen konnte und was für Glück ich doch gehabt hatte. Ich hätte verkürzte Beine haben können oder überhaupt gar keine Finger, denn die Launen der Natur wären unergründlich und selbst die unter uns, die ganz normal aussahen, trügen vielleicht das Potenzial für deformierte Kinder mit sich. Dafür hätte er mir wenigstens eine Zwei geben können, fand ich.

Ich zeigte meine Hand nicht herum und ich erklärte sie niemandem, der nicht explizit danach fragte (O-li-go-dak-ty-lie, vererbt, sagte ich dann), und das tat zum Glück auch fast niemand. Es machte die Leute verlegen. Ole hatte mir versichert, dass er meine Hand toll fand, besonders, aber inzwischen hielt er trotzdem meine linke, weil er wusste, was mir lieber war.

Meine fehlende Mutter sah man mir wenigstens nicht an. Sie hieß Anja, und nach siebzehn Jahren kannte ich so viele Anjas, dass ich nicht mal zuerst an sie dachte, wenn ich den Namen hörte. Ich besaß nichts von ihr, keinen Brief, kein Foto. Sie hatte mir nichts mitgegeben außer meinen kleinen Genfehler und meine Größe, und ich hatte auch ihr Haar, glatt und hellbraun mit Rotstich, der im Sommer stärker wurde, als brenne die Sonne ihn hinein.

Solang ich denken konnte, bestand meine Familie aus mir, meinem Vater und seiner durchgeknallten Mutter, die wir einmal im Jahr in Kassel besuchen fuhren und die mir jedes Weihnachten einen zu einem Origami-Kranich gefalteten Zwanziger in einer weißen Pappkarte schickte. Ansonsten waren da noch ein paar entfernte Verwandte, die durch die halbe Welt verstreut wohnten. Ich wusste, dass es sie gab, aber das war’s dann auch.

Isi meinte, für Männer wäre es leicht, ein Kind zurückzulassen, denn sie gäben nur das Sperma und das Kind wuchs nicht in ihrem Körper und aus ihrem Fleisch und Schweiß. Dass es mehr Sinn machte, wenn Eva zuerst erschaffen und der Mann aus ihrer Rippe geschnitten worden war.

Aber meine Mutter hatte es auch hingekriegt. Sie war kurz nach meiner Geburt nach Berlin gekommen und hatte mich meinem Vater gegeben, weil sie mich nicht selbst großziehen konnte. Ich war ungelegen gekommen, wie ein Paket, während man unter der Dusche steht, oder die Periode im Schwimmunterricht. Oder auf der Party von Christine versehentlich die Tür ins Elternschlafzimmer öffnen und einen aus der Oberstufe zwischen Isis Beinen vergraben sehen. Ich hatte das nie ganz verstanden, aber ich hatte es akzeptiert. Denn logisch hatte ich lieber nur meinen Vater als Elternteil, der mich dafür wirklich wollte. Als der Vater von Vincent aus meiner ersten Gymnasialklasse gefeuert worden war – sein Chef hatte sich bei irgendwelchen Geschäften verzockt und Leute abgesägt, um die Firma zu retten –, hatte er eine Axt aus der Garage geholt und versucht, seine Frau und seinen Sohn zu erschlagen, statt sich einfach scheiden zu lassen. Das war wochenlang in allen Zeitungen gewesen. Reporter hatten vor unserer Schule gelauert, bis sogar die Polizei kam. Vincent hatte nach der Reha die Schule gewechselt. So was gibt einem Perspektive.

Mein Vater studierte im zweiten Semester Literatur und Psychologie und schrieb an seinem ersten Buch, als er ein Baby bekam. Seine Mitbewohner stimmten über meine Aufnahme in die WG ab, wie sie es auch über Partys oder Stromanbieterwechsel machten. Sie räumten ein Regal für Milchpulver und Brei frei und hängten einen Babysittingplan neben die Putzuhr. Sie entrümpelten die Abstellkammer, tapezierten die kaputten Wände neu und richteten mir darin ein Kinderzimmer ein. Zehn Jahre lang wohnte ich da, und es war ehrlich ein tolles Zimmer, Abstellkammer hin oder her.

Ich redete heute nie über meine WG-Kindheit, obwohl sie völlig in Ordnung gewesen war. Aber eben auch exzentrisch und schwer zu erklären. Ständig waren Leute in unser Leben und unsere Wohnung rein und wieder raus spaziert wie in einen Imbiss. Wenn es ihnen gut gefiel, blieben sie länger. Filipe zum Beispiel, der noch da wohnte, als wir nach zehn Jahren auszogen, und der mir am Kanal Angeln und in der WG-Küche Fische ausnehmen beigebracht hatte, oder Alina, in deren Zimmer es dick nach Patschuli und Salbei und angesengten Streichhölzern roch. Sie hatte mir aus Hühnerknochenresten einer Familienpackung Chicken Wings meine Vergangenheit gelesen (tragisch) und aus meinen Handflächen meine Zukunft (geheimnisvoll, aber vielversprechend). Die anderen gingen, wenn sie mit dem Studium fertig waren oder sich verliebt hatten oder sie einfach die Nase voll von der Wohnung mit ihren ganzen Macken hatten, und als mein Vater Julia traf, gingen auch wir.

Ich war gerade durch mit der Grundschule, als sie sich auf einer seiner Lesungen trafen. Mein Vater, der in zehn Jahren vier mäßig erfolgreiche Bücher veröffentlicht hatte und für ein Käseblatt Kolumnen schrieb, las an Wochenenden überall, wo man ihm ein paar Euros zahlte, Geschichten über drogenabhängige Privatdetektive und mordlüsterne Frauen. Ich saß dann immer in der letzten Reihe und lernte wichtige Dinge über das Leben aus Mädchenzeitschriften und wartete darauf, dass wir danach Falafel essen gingen.

An diesem Abend nahmen wir eine Frau mit zum Türken, und noch bevor ich trotz schlechter Mathenoten aufs Gymnasium kam, zogen wir zu Julia in das große Haus mit Garten am Stadtrand. Sie hatte eine kleine Tochter und ein Vermögen, war sechs Jahre älter als mein Vater und Richterin für Familienrecht, was ironisch war, denn ihr Mann hatte sie für seine Praktikantin verlassen und die Familienverhältnisse von mir und meinem Vater waren ja auch nicht gerade geordnet. Aber es machte ihr nichts aus.

Mein Zimmer in dem neuen Haus war so riesig, dass ich gar nicht wusste, was ich da alles reinstellen sollte. Wir hatten zum ersten Mal Geld. Auf der neuen Schule war niemand von meiner alten. Ich legte meine Kindheit ab wie ein ungeliebtes, aber wichtiges Kleidungsstück, das man nicht einfach wegschmeißen kann und deshalb ganz hinten in einer Tüte in den Schrank legt, und fing ganz neu an. Ich kriegte die Kurve, in der andere hängen blieben. Isi zum Beispiel mit ihren Bindungsängsten und ihren Lovern, von denen manche zehn Jahre älter waren als sie.

Ich war ganz normal geworden, allen Voraussetzungen zum Trotz. Ich kam mit meiner Familie klar, ich hatte meinen ersten richtigen Freund und ich war, von Mathe einmal abgesehen, ganz okay in der Schule. In Geschichte und Kunst zeigte ich sogar so was wie echte Begabung, auch wenn das natürlich Schwachsinnsfächer waren, die keinen interessierten. Was konnte ich mir davon kaufen, die Kursbeste in Geschichte zu sein? Und mein Vater war das beste Beispiel dafür, dass man, um von Kunst leben zu können, erstmal fünfzehn Jahre auf der Stelle treten muss. Dann schrieb Lukas Weber Nummer 61 von seiner Liste von Helenas aus Berlin: Hey, komische Frage von einem fremden Typ, aber hast du vielleicht nur neun Finger? Und selbst die Erkenntnis, dass meine Mutter fremdgegangen war und mich Kuckuckskind nicht haben wollte, traumatisierte mich nicht. Weil ich jetzt einen Bruder hatte. Bis ihn ein Autofahrer im Dunkeln übersah.

Ich versuchte es echt. Ich versuchte es wochenlang. Aber ich fand nicht zurück in mein mühsam erkämpftes normales Leben. Nicht nach Lukas. Er hatte alles geändert. Er hatte mich geändert. Drei Wochen hatten genügt. Ich ging kaputt, und es war mir egal, wie das klang, denn es war die Wahrheit.

· 4 ·

REHMANN BEHIELT MICH in der nächsten Woche nach Mathe da. Ja, sie hätte sich meine Klausur als erste angeschaut. Ich hatte nicht bestanden und meine dummen Nachfragen im Unterricht reichten auch nicht für eine gute mündliche Note. Sie könne mich so ganz einfach nicht zum Abi zulassen, und ihrer Meinung nach täte es mir gut, ein Jahr zu wiederholen.

»Ihre gravierenden Defizite in Mathematik sind nicht innerhalb eines Jahres zu schließen«, hatte sie gesagt, als wäre ihr das genauso unangenehm wie mir. Ich konnte ihr ansehen, dass sie die ganze Zeit überlegte, ob sie über den Tisch greifen und meine Hand tätscheln sollte. Ich sah vielleicht aus wie ein Mädchen, das bei allem heult, aber ich tat das privat. Also nickte ich nur, als sie sagte: »Tun Sie sich den Gefallen und nehmen Sie sich noch ein Jahr Zeit.«

Alle schwirrten sie um mich rum und übertrafen sich mit ihrer Betroffenheit. Katta heulte sogar. Sie war so ein Mädchen. Maren schlug mir vor, die Note anzufechten. Isi wollte Rehmann die Reifen ihres Elektrobikes zerstechen, das sie immer mit zwei dicken Kettenschlössern am Lehrerparkplatz anschloss. Ole war bis zum Schluss der Meinung, dass Rehmann zwar eine alte Schlampe sei, aber mich nicht durchfallen lassen würde. Mein Vater, der seine Deadline wieder einmal verschoben hatte, tauchte aus seinem Arbeitszimmer auf, klopfte mir auf die Schulter und erzählte mir, wie er damals in der fünften Klasse sitzen geblieben war und wie viel entspannter danach alles gewesen sei. Lily, der ich im Alltag ziemlich egal war, wenn ich sie nicht gerade babysitten musste, malte mir ein Bild, auf dem ein sehr großes weinendes Mädchen mit lauter glitzernden Herzchen überhäuft wird. Ich hängte es innen an meine Schranktür.

Ich hörte mir das alles an, doch es war mir eigentlich fast egal. Dann würde ich eben meinen Freundinnen zusehen, wie sie Abi machten und zu Work and Travel nach Australien und dann ins Studium aufbrachen, während ich zwischen lauter Siebzehnjährigen hockte und versuchte, endlich Mathe zu verstehen. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle?

Lukas und ich hatten siebzehn Jahre gleichzeitig in dieser Welt existiert, ohne zu wissen, dass es den anderen gab, bloß neunzig Kilometer voneinander entfernt. Ich hätte ihm in Berlin über den Weg laufen können, ohne ihn zu erkennen. Vielleicht hatten wir die gleichen Festivals besucht. Wir konnten in den gleichen Clubs gewesen sein und im Morgengrauen betrunken lachend über die gleichen schäbigen Flohmärkte gelaufen sein, ich als Einheimische und er als Tourist, ohne dass einer von uns es je erfahren hatte.

Ich war eins dieser glücklichen Kinder gewesen, in dessen kleiner Familie nicht gestorben wurde. Der kosmische Ausgleich für meine durchgebrannte Mutter, hätte Isi gesagt. Bei Isi war alles kosmisch. Weil ich die Allergie meines Vaters geerbt hatte, hatten wir auch keine richtigen Haustiere, nur ein Aquarium in der WG-Küche, dessen Fische so häufig kamen und gingen, dass sie nicht richtig zählten. Vielleicht hätte ich damit umgehen können, wenn ich gelernt hätte zu trauern. Wenn ich mir unter dem Tod etwas Realeres hätte vorstellen können als in Papierservietten gewickelte tote Fischchen und das, was ich aus Büchern und Serien kannte.

Aber ich konnte mir ja kaum vorstellen, überhaupt einen Halbbruder gehabt zu haben. Dass es diesen Menschen wirklich gegeben hatte. Wenn er schon als Baby gestorben wäre oder am anderen Ende der Welt gewohnt hätte, dann hätte ich wenigstens überhaupt nicht die Möglichkeit gehabt, ihn kennenzulernen. Aber er war älter als ich gewesen. Er hatte es gerade eben bis ins Erwachsenenleben geschafft, und dann war er einfach so gestorben. Es braucht nichts Großes und Schreckliches wie Krebs oder einen Anschlag. Ein Reh vorm Auto reicht. Oder im Dunkeln übersehen werden.

Ich hatte es immer noch niemandem erzählt. Wahrscheinlich war sein Vater der einzig andere Mensch auf der Welt, der wusste, dass wir uns gekannt hatten. Anfangs hatte ich gedacht, ich bräuchte sicher nur eine Weile für mich. Zum Verarbeiten. Dann würde ich es Maren erzählen – Maren war die Vernünftige, die Realistin, die beste Trösterin – und dann Katta, weil die die Klappe besser halten konnte als Isi. Aber einen Monat später hatte ich es immer noch nicht getan. Und dann irgendwann war es einfach zu spät. Ich hatte zu tun, mit der Schule und so, und ich hoffte, dass das vielleicht alles doch nur ein Albtraum war, aus dem ich irgendwann aufwachen konnte. Der Gedanke an Lukas hing jeden Morgen über mir wie eine Regenwolke über einer depressiven Cartoonfigur, aber ich kriegte es nicht hin, darüber zu reden, und alle dachten, es wäre das in die Ferne rückende Abitur. Das war die beste Ausrede, die ich mir wünschen konnte. Helena hat keine Lust aufs Rumhängen? Klar, sie ist sitzen geblieben. Helena ist schon wieder krank gemeldet? Sie schafft ja das Abi nicht. Helena und Ole sind nicht mehr das Traumpaar? Logisch, schließlich haut er in einem Jahr ab.

Es wurde Sommer. Am letzten Tag vor den Ferien fiel ich dann auf dem Höhepunkt meiner Blackouts tatsächlich in Ohnmacht.

Wir bekamen unsere Zeugnisse im Theatersaal, der einzige Raum, wo die Oberstufe ganz reinpasste. Hundert schwitzende, zappelige Jugendliche, die in die Ferien wollen. Deo, Schweiß, Linoleumputzmittel. Und als Katalysator die Mittagssonne, die durch die hohen Fensterscheiben knallte. Irgendwer hatte die alle auf Kipp gestellt, aber es waren trotzdem die Tropen. Ich saugte mehr Feuchtigkeit als Luft in meine Lungen. Das Tanktop klebte mir am Rücken und unter den Armen, und meine nackten Oberschenkel schienen mit dem Stuhlrand zu verschmelzen.

Links neben mir hüpfte Isi auf ihrem Stuhl auf und ab, dass mir davon schlecht wurde. »Wird das heute noch was?«, zischte sie. Dass sie eigentlich Rücksicht auf meine schlechte Verfassung nehmen wollte, hatte sie schon wieder vergessen. »Ich hol mir das Scheißteil gleich selber. Spar ich mir das Gelaber.«

An unserer Schule muss man vor den Ferien eine Abschlussveranstaltung besuchen, nach dem Motto Wir legen hier Wert auf Gemeinschaft. Der Schulleiter und ein paar Lehrer redeten sich den Mund fusselig, dann wurden besondere Leistungen mit Rosen geehrt, die in einem billigen Strauß in einer Vase am Bühnenrand auf ihre Verteilung warteten, und dann konnte man sich endlich die Zeugnisse abholen.

In der Mittelstufe waren die Reden harmlos gewesen. Frau Ahlers, die wenigstens witzig war, ermunterte uns, gute Taten zu tun, als seien wir alle Pfadfinder, und Giese, der Alki, erklärte, dass uns die Schule mit frischer Begeisterung fürs Lernen zurückerwartete. Im letzten Jahr, als wir vor unserem ersten Jahr Oberstufe standen, war der Ton ernster geworden. Das folgende Jahr sei die Weichenstellung für unsere berufliche Karriere. Wir müssten selbst Verantwortung für unsere Zukunft übernehmen. Und tatsächlich waren wir alle nervös geworden. Weil das Abitur plötzlich zum Greifen nah war.

Vorn am Rednerpult schloss der stellvertretende Schulleiter das Mikro an, assistiert von einem hilflos dreinblickenden Schüler aus der ersten Reihe. Die Vase mit den Rosen, die dieses Jahr weiß statt rot waren, stand schon am Bühnenrand. Maren würde wie jedes Jahr eine für ihre Noten kriegen – alles 14 oder 15 Punkte, außer in Sport – und Katta eine für die Kreismeisterschaft im Basketball. Dafür hatte ich auch mal eine gekriegt, letztes Jahr, als ich den entscheidenden Korb im entscheidenden Spiel der Kreisliga gemacht hatte, ein Sprungwurf von ganz hinten kurz vor Abpfiff. Ich konnte mir noch das Brennen in meinen Armen und Händen von der Wucht des Wurfs vorstellen und das befriedigende, sichere Aufkommen meiner Turnschuhe auf dem Hallenboden, und ich sah den Ball immer noch – ich hatte gerade noch rechtzeitig hingesehen – perfekt ins Netz gehen. Er hatte nicht mal den Ring geschüttelt. Die Leute waren durchgedreht.

»Es ist erst Serienmord ab drei«, sagte Isi und boxte Katta, die ihr bestes öffentlichkeitswirksames oranges Shirt mit dem Aufdruck Kein Mensch ist illegal trug, in den Arm. »Komm, fünf Euro! Ich würd’s ja selbst machen, aber mich ehrt ja nie einer.«

Bei der letzten Verleihung war Katta, die bei so was immer in Panik geriet, filmreif gestolpert und hatte die Vase mit einem Tritt quer über die Bühne befördert. Daraufhin mussten dann erst mal zehn Minuten lang Scherben aufgesammelt und Wasser gewischt und Rosen gerettet werden.

»Für was denn auch?«, knurrte Katta zurück.

Ich hörte ihr Gekabbel kaum. Im Saal flimmerten winzige weiße Punkte. Mein Herz trommelte gegen die Rippen, dass ich es im ganzen Bauch fühlte. Bei jedem Atemzug bekam ich weniger Luft in meine Lungen. Ich holte dreimal mehr Luft und es half nichts. Als hätte ich das Atmen verlernt. Als hätten meine Mitschüler den ganzen Sauerstoff verbraucht.

Eine Rückkopplung kreischte durch den Saal. Alle fuhren erschrocken hoch. Maren, die auf Festivals Ohrstöpsel trug, hielt sich die Ohren zu, als würde es gleich noch mal lärmen. Isi buhte. Der Schulleiter lehnte sich übers Mikrofon, tippte entschuldigend ein paar Mal drauf, räusperte sich und fing an. Ich kriegte zum Glück nicht mehr als seine Begrüßung – »Liebe Schülerinnen und Schüler, liebes anwesendes Kollegium …« – mit, denn danach wurde mir tief und endgültig schwarz vor Augen.

· 5 ·

MEINE HAUSÄRZTIN WAR SO SCHLECHT gelaunt wie immer. Als kotze sie nichts mehr an, als einen Patienten behandeln zu müssen. Während sie mich an ein Gerät kabelte, das Herz und Puls aufzeichnete, meinen Blutdruck maß, mir mit einer Stiftlampe in die Augen leuchtete und mir Blut abnahm, ratterte sie ihren Fragebogen runter. Ob ich genug getrunken hatte? Medikamente nahm? Drogen? Ob ich Stress in der Schule hatte? Stress zu Hause? Stress mit meinem Freund?

Allein deswegen kann ich nicht empfehlen, ohnmächtig zu werden. In romantischen Filmen ist es elegant und dramatisch, aber im echten Leben wachst du mit einem Mordsschädel auf und hast dir, wenn du richtig Pech hast, auch noch in die Hose gemacht. Und das war auch das Einzige, vor dem ich bewahrt worden war.

Wenn ich nach links gekippt wäre, wäre ich auf Isis Schoß gelandet, der zwar knochiger als Kattas oder Marens war, aber definitiv nicht der Boden. Aber ich war nach rechts in den Gang gekracht und auf dem gummiartigen Linoleum zu mir gekommen, mit butterweichen Knien, staubtrockenem Mund und den widerwärtigsten Kopfschmerzen meines Lebens. Ich hätte nicht gedacht, dass irgendwas mal den Kater nach Isis Vierzehntem schlagen könnte (ich hatte fast eine ganze Flasche Malibu getrunken und ein ganzes Jahr lang nicht mal in Shampoo Kokosnuss riechen können, ohne dass mir speiübel wurde). Isi selbst kniete schon neben mir. Ole drängte sich durch die Reihen zu mir durch, und der ganze Rest machte die Hälse lang und stellte sich auf die Stühle, um zu glotzen, und irgendein Arsch hatte ziemlich sicher gefilmt.

Ole war im Saniraum bei mir geblieben, bis mein Vater gekommen war, um mich zum Arzt zu fahren. Ich hatte inständig gehofft, dass Julia mich vom Gericht abholen kam, denn bei ihr konnte man sich darauf verlassen, dass sie von Blinker und Bremse Gebrauch machte. Aber mein Vater stellte wenigstens nicht zu viele Fragen. Gerade hockte er im Wartezimmer und kritzelte in sein Notizbuch, weil mein Ohnmachtsanfall ihn so ungelegen aus seiner Schreibzeit gerissen hatte.

Meine Ärztin schrieb meinen Namen auf die Blutproben, verstaute sie im Mini-Kühlschrank, setzte sich hinter ihren Computer und blaffte mich über den Bildschirm an: »Kur.«

Ich: »Was?«

»Sie müssen auf Kur. Gute Luft. Vernünftiges Essen. Erholung. Sie haben jetzt Ferien?«

Ich nickte vorsichtig. Mein Kopf war das, was gerade am meisten wehtat. Ich hatte im Saniraum eins dieser blauen Kühlpacks dafür bekommen, aber das hatte längst Raumtemperatur.

»Verreisen Sie.« Ein mahnender Zeigefinger. »Innerhalb Deutschlands. Keine Flüge. Keine langen Busreisen. Sie sind zu dünn, Mädchen. Und zu blass. Es ist Sommer. Gehen Sie raus. Vermeiden Sie Stress. Eine Woche weder Fahrrad noch Fahrschule. Ich verschreib Ihnen Vitamine, etwas für den Kopf, was für den Blutdruck und außerdem Gesprächstherapie. Schauen Sie sich’s mal an. Jeder Bundesbürger sollte mindestens einmal die Couch aufsuchen. Mein Vorschlag für den innerdeutschen Frieden.«

Sie druckte mir einen Haufen Zettel aus, kabelte mich ab und entließ mich.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit verschreibungspflichtigen Schmerztabletten und einem Kühlpack zu Hause auf dem Bett. Ich faltete meine Hände auf dem Bauch und lag dann da wie aufgebahrt. Ich machte mir nicht mal Musik an oder ein Hörspiel oder so. Ich driftete einfach vor mich hin. Dachte an alles und an nichts. Die Tabletten waren echt heftig.

Ole kam um sieben von seinem Spiel zurück, wegen dem er mich nicht zum Arzt hatte begleiten können. Ich hörte ihn unten im Garten mit Julia reden, die in einem ihrer Beete grub. Ich hatte die Tür zu meinem winzigen Balkon geöffnet, auf dem ich im Sommer meine Sukkulenten zog. Inzwischen war die Luft abgekühlt. Es roch nach gemähtem Rasen und Grillkohle. In den Nachbargärten liefen die Sprinkler, und auf dem Feld hinterm Neubaugebiet kickten ein paar Kinder in der Dämmerung einen Fußball hin und her. Ihr Geschrei hallte bis zu uns hoch. Mein Vater war in sein Manuskript vertieft. Ab und an hörte ich Julia unten mit einer Schere knipsen und Erde mit der Handschaufel festklopfen. Ein schöner Sommerabend am Berliner Stadtrand. Ich hätte auch da draußen sein sollen.

Ole kam die Treppe raufgejoggt und klopfte an, bevor er reinkam. Ich sah ihm sofort an, dass sie gewonnen hatten, auch wenn er wegen mir besorgt guckte. Er hatte nach dem Spiel geduscht und ein frisches weißes T-Shirt angezogen, das seine Sonnenbräune betonte. Als wäre er schon im Urlaub gewesen. Nur sein unter dichtem blondem Haar frisch ausrasierter Nacken war noch blass. Auf seinem Schlüsselbein blitzte die Kette, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, kleine ineinander geflochtene Metallglieder, nicht assig, aber auch nicht schwul. Es ließ ihn irgendwie abgebrüht aussehen.

Er hatte mir von unten eine kalte Fruchtschorle mitgebracht. Das hatte ihm sicher Julia gesteckt. Sie hätte echt gern einen Sohn gehabt, und Lily war verknallt in ihn, seit ich ihn im Februar zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte. Mein Vater hatte die Stirn gerunzelt, als ich ihm gesagt hatte, dass Ole keine Bücher las, aber das war es auch gewesen. Er musste nicht wie Romeo bei Julia durchs Fenster reinklettern. Er hatte einen eigenen Becher mit Zahnbürste im Bad und eine Schublade in meiner Kommode. Inzwischen durfte er sogar bei mir schlafen. Nicht, dass wir oft hier Sex hatten. Ich hatte immer Angst, dass Lily was hörte. Aber ich hatte nie ein hochpeinliches Gespräch mit meinem Vater oder Julia führen müssen.

»Kur?«, wiederholte Ole, nachdem er mir von seinen drei Körben und ich ihm von meinem Arztbesuch erzählt hatte. Er nahm meine Hand, die linke. »Machen das nicht bloß überforderte Mütter?«

Ich zog eine Grimasse. »Sehr witzig.«

»Ich mach doch nur Spaß.«

Er hatte natürlich vollkommen recht. Ausgebrannte Mütter mit zappeligen Kindern und geschwächte Großeltern mit neuem Hüftgelenk schickte man auf Kur, nicht Teenager, die abgesehen von ein bisschen Kreislaufstörung kerngesund waren.

»Du musst ja nicht gleich in die Klapse. Bloß mal entspannen. Wir können ans Meer fahren oder so. Wind in den Haaren.« Er wickelte sich eine Strähne von meinem Haar um den Finger. Ich hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und genoss den frischen, maskulinen Duft seines Shampoos. »Gleich nach Paris, wenn du willst.«

Ich hatte mit den Mädels eine Städtetour machen wollen, erst mit dem Fernbus für zwei Tage nach Amsterdam, dann für zwei weitere Tage nach Paris. Ich hatte ein halbes Jahr dafür gespart, sogar mein jämmerliches Französisch aufgebessert, weil die Franzosen sich ja weigern, Englisch zu sprechen. Aber schon beim Gedanken an Stunden im stickigen, schaukelnden Fernbus, den wir Sonntag früh am ZOB besteigen wollten, wurde mir schlecht.

»Paris schaff ich nicht.«

»Wissen deine Mädels das schon?«, fragte er, ein bisschen scheinheilig.

Wahrscheinlich konnten sie es sich zusammenreimen. Wahrscheinlich waren sie froh, wenn sie mich nicht im Schlepptau hatten, links und rechts untergehakt, falls ich auf offener Straße aus den Latschen kippte.

»Ihr könnt das doch bestimmt verschieben.«

»Katta ist danach auf diesem Entwicklungsprogramm in Kenia.«

Ole nickte und rollte die Augen. Ich hatte ihm davon erzählt, dass ich mit Kattas vor nichts und niemandem Halt machenden Helfersyndrom, Veganismus, Flüchtlingsarbeit und jetzt Antifa langsam nicht mehr mitkam, aber jetzt ärgerte ich mich über sein Augenrollen.