Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit zwanzig Jahren Theaterstücke und Kurzfilme. Als Schauspieler war er an den großen deutschsprachigen Bühnen (Staatstheater Stuttgart, Schauspielhaus Zürich, Burgtheater Wien) engagiert, im Fernsehen gibt er meist den Bösewicht und den üblichen Verdächtigen (»Tatort«, »SOKO Köln«, »Die Sitte«, »Postmortem«). Am Max Reinhardt Seminar und am Konservatorium der Stadt Wien unterrichtet er Schauspiel. Im Emons Verlag erschienen »Tod in der Rheinaue«, »Roter Regen«, »Weinselig«, »Lost Place Vienna«, »Zürcher Verschwörung« und »Tod im Theaterhaus«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © mauritius images/age
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-228-9
Der Badische Krimi
Originalausgabe

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»Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie.«

Otto von Bismarck

EINS

»Wer macht denn so was?«, fragte Belledin und starrte in das gehäutete Gesicht der Leiche. Das blutrote Fleisch stach sich empfindlich mit dem Gelb der Löwenzahndolden.

»Professor Hagen«, sagte Dr. Selinger.

»Was?«

»Körperwelten, noch nie gehört? Interessante Ausstellung.«

»Bewahren Sie sich Ihre Scherze für die Toten auf Ihrem Seziertisch auf. Ich finde keinen Geschmack daran.«

Belledin kannte die Ausstellungen des Präparationskünstlers Hagen von Fotos, das genügte ihm. Er konnte darin keine Ästhetik entdecken. Ein Stück Fleisch, englisch, von Biggi gebraten, schlicht mit Pfeffer und Salz gewürzt, das hatte etwas; alles andere verbuchte er als Effekthascherei.

Auch hier wollte jemand mit einem widerlichen Effekt auf sich aufmerksam machen. Wieso tötete man einen Menschen nicht einfach, indem man ihm ein Messer ins Herz rammte? Wieso musste man ihm mit einem Schlagbolzenschuss die Stirn eindrücken und ihm anschließend die Gesichtshaut abziehen? Damit er nicht gleich erkannt wurde? Dann hätte der Täter auch die Dokumente des Opfers mitnehmen müssen. So zeigte der Personalausweis, den Belledin in Händen hielt, einen gut aussehenden Mann von fünfunddreißig Jahren.

»Erik Schwarz, wohnt in Breisach«, las er ab.

»Wohnte«, sagte Selinger und winkte zwei Sanitätern, die den Toten auf eine Bahre luden und mit ihm davongingen.

Belledin sah ihnen nach.

»Wie weit ist es von hier bis zum Schlachthof? Anderthalb Kilometer?«, fragte er.

»Kommt hin.«

»Kann ein Mensch von dort unter diesen Umständen bis hierher laufen?«

»Vom Schlachthof?«

»Ja. Der sieht doch aus wie tranchiert. Liegt doch nah, oder?«

»Das schafft keiner. Allein der Bolzenschlag haut einen um. Und wenn er nicht betäubt war, dann haben ihm die Schmerzen der abgezogenen Haut den Kreislauf gekappt.«

Belledin drehte sich von Selinger weg und passte einen jungen Mann ab, der in einer Plastiktüte Fundstücke am Tatort einsammelte.

»Irgendwas Auffälliges dabei?«

»Ist schwer hier. Die Wiese gehört gemäht. Bisher nur üblicher Müll. Pappbecher, Coladosen, ein vergammelter Schuh.«

»Spuren von Autoreifen?«

»Fehlanzeige. Nur von dem blauen Toyota am Weg. Dafür Abdrücke von Gummistiefeln in der Nähe des Opfers. Größe fünfundvierzig.«

»Das ist doch schon mal ein Anfang.«

Belledin ließ den Spurensicherer weiterarbeiten und sah sich nach seiner neuen Kollegin um. Sie stand am Wegesrand und unterhielt sich mit dem Hundebesitzer, der Erik Schwarz auf seinem Morgenspaziergang gefunden hatte.

Belledin stapfte auf die beiden zu. Seine hellbraunen Wildlederschuhe trieften vom Morgentau, er fühlte die Nässe durch die Socken kriechen.

Der Hund knurrte, als Belledin den ersten Schritt aus dem Gras auf den Schotter des Weges setzte. Dann sprang der Köter an ihm hoch. Belledin versetzte ihm einen Schlag gegen den Brustkorb und raunzte:

»Nehmen Sie das Tier an die Leine oder ich erschieß es!«

»Der will doch nur spielen«, sagte der Besitzer mit dem lichten Haarschopf und zog den Hund am Halsband zu sich.

»Aber ich nicht. Ich spiele weder mit Hunden noch Räuber und Gendarm. Das hier ist blutiger Ernst, kapiert?«

»Schon gut. Mach Platz, Braveheart.«

»Anleinen, hab ich gesagt!« Belledin verspürte Lust, seine Walther zu zücken. Aber die Autorität seines Wortes musste genügen, er wollte sich vor der neuen Kollegin nicht kleinmachen.

Der Mann gehorchte und nahm Braveheart an die Leine.

Belledin sah auf die Gummistiefel des Hundehalters. »Und wie heißen Sie?«, fragte er.

»Seibert. Horst Seibert. Aber das habe ich Ihrer Kollegin alles schon gesagt.«

»Welche Schuhgröße haben Sie, Herr Seibert?«

»Fünfundvierzig.«

»Perfekt. Abführen.«

»Was? Aber ich hab ihn doch nur gefunden. Ich würde doch nicht die Polizei anrufen, wenn ich das getan hätte!«

»Ihrer Töle traue ich zu, dass sie einen Menschen umwirft und ihm dann das Gesicht zerfleischt. So, wie die mich angegangen ist.«

»Aber das ist doch Unsinn. Braveheart ist ordentlich erzogen. Wir machen sogar Hundeschule.«

»Haben wir seine Personalien, Frau Stark?«

Stark nickte.

»Sie können gehen. Aber vorher sagen Sie mir noch, was Sie heute Nacht getan haben. Und ob das jemand bezeugen kann.«

»Ich lebe allein. Aber Braveheart hatte eine Kolik. Er hat gejault wie am Spieß. Das können bestimmt einige Nachbarn bezeugen.«

»Hat einer der Nachbarn angeklingelt?«

»Nein, die kennen das schon und haben Verständnis. Aber sie wissen auch, dass ich Braveheart in einer solchen Situation nie allein lassen würde.«

»Auch nicht, um einen Menschen zu töten?« Belledin sah ihn eindringlich an.

»Warum sollte ich einen Menschen töten?«

»Sagen Sie es mir. Nur Maigret und Columbo erklären den Mördern, warum sie getan haben, was sie taten. Ich höre es gerne von den Tätern selbst. Das spart Zeit.«

»Ich habe diesen Toten nie zuvor gesehen. Ich habe ihn lediglich gefunden und die Polizei alarmiert. Wenn ich es gewesen wäre, hätte ich mich aus dem Staub gemacht. Glauben Sie nicht?«

Belledin brummte etwas in seinen Schnäuzer. »Sie können gehen. Aber Sie hören bestimmt noch mal von uns.«

»Komm, Braveheart.« Seibert nickte devot und ging.

»Ich bin nicht immer so, Frau Stark. Nicht dass Sie einen falschen Eindruck von mir bekommen. Aber ich hasse nasse Füße, sabbernde Köter und Leute, denen das Tier wichtiger ist als der Mensch. Außerdem waren die Gummistiefel der einzige Anhaltspunkt auf einen möglichen Täter. Und jetzt sind es bloß die Latschen von dem Typen. Mist. Wir sind bei null.«

»Vielleicht ergeben die Untersuchungen der Spurensicherer im Labor noch etwas«, sagte Stark.

»Wird uns in dem Fall wenig bringen. Er wird sagen, dass er den Hund zurückhalten musste und deswegen nah an das Opfer kam. Wir bleiben trotzdem an ihm dran. Besser gesagt: Sie bleiben an ihm dran. Kriegen Sie raus, was der Kerl macht und wo er wohnt und zwingen Sie ihn zum Geständnis.«

Stark sah ihn irritiert an.

»War ein Scherz. Das mit dem Geständnis.«

Er war, wie er war. Sie war neu und eine Frau, aber verbiegen würde er sich deswegen nicht. Je früher sie wusste, woran sie mit ihm war, umso besser. Dann konnte sie rechtzeitig um Versetzung bitten. Er hatte Stark nicht angefordert. Es war Wagners Schuld, dass die Stelle frei geworden war. Nach seinem zweiten Entzug hatte er sich geweigert, wieder im Außendienst zu arbeiten. Nun saß er im Archiv und schichtete Ordner. Trocken war es dort allemal. Vielleicht würde Wagner es dann auch bleiben.

»Gibt’s noch was?«, fragte er.

»Der blaue Toyota dort vorne gehörte dem Toten. Wir haben das Nummernschild überprüft. Die Spurensicherer sind im Wagen«, sagte Stark.

»Also ist er selbst hierhergefahren. Hat er sich hier mit jemandem getroffen?«

»Vielleicht ist er sogar mit seinem Mörder gemeinsam hierhergefahren?«

»Mit einem Bolzenschussgerät und Sezierbesteck im Gepäck. Romantisch. Was wissen wir über Schwarz? Außer dass er in Breisach wohnt.«

»Er war dort Lehrer, am Martin-Schongauer-Gymnasium. Geschichte und Deutsch.«

»Das sind mir die Liebsten.«

»Wie bitte?«

»Nichts. Nur Erinnerungen an die Schulzeit. Hatte er Familie?«

»Nein. Ledig. Eltern wohnen in Flensburg. Eine Schwester lebt in München.«

»Ist doch mal positiv. Muss man schon nicht hinfahren, um die Hiobsbotschaft zu verkünden. Apropos. Ich fahre nach Breisach und gucke mir seine Wohnung an. Dann werde ich ins Gymnasium gehen und den Lehrern ein paar Fragen stellen. Das wollte ich schon immer.«

»Und was mache ich?«

»Bericht schreiben. Frauen sind Sekretärinnen, keine Bullen.«

Stark fiel die Kinnlade nach unten.

»Sie werden meinen Humor schon noch verstehen lernen.«

»Hoffentlich.« Stark hatte sich gefangen.

Er gefiel sich in seinem Witz und sah sie schelmisch an. »Sie fahren zum Schlachthof und fragen da mal nach, ob zufällig ein Bolzenschussgerät vermisst wird.«

* * *

Der ICE fuhr im Freiburger Hauptbahnhof ein. Erst hatte sich Killian überlegt, ob er von Frankfurt aus den Zug nach Berlin nehmen sollte. Aber bestimmt wäre er ungelegen gekommen. Er selbst mochte auch keine Überraschungsbesuche. Swintha hätte sich zwar sicher gefreut, dass er sie endlich mal in der Hauptstadt besuchte, aber ungelegen wäre er ihr dennoch gewesen. Wenn man studierte, hatte man seine eigene Welt, da störten Anhängsel aus der Heimat den Rhythmus.

Es würde gleich niemand am Bahnsteig stehen und auf ihn warten. Wer auch? Er war es gewohnt, alleine zu reisen, alleine zu arbeiten und alleine anzukommen. Nur in Tel Aviv wurde er stets abgeholt. Nicht immer offiziell. Aber er konnte davon ausgehen, dass mindestens der Taxifahrer ein Freund von Moshe war. Moshe ließ ihn nicht unbewacht, dafür war er ihm zu wertvoll. Killian hatte diesmal auch wieder besonders hübsche Fotos geschossen, die es wert gewesen wären, einen Bildband zu schmücken. Aber Moshe würde sie mit Sicherheit nicht auf Hochglanz veröffentlichen. Erst Tunesien, dann Kairo, Libyen und Syrien. Es geschah gerade viel im arabischen Raum. Der Sturz der Militärdiktaturen würde einiges umwälzen, da wollten die Nachbarn aus Israel auf dem Laufenden sein. Vor allem wollten sie wissen, wer wen wo traf. Und es hatte einige Begegnungen gegeben, die in den Medien nicht auftauchten. Diese Treffen konnten das weitere Schicksal der Region bestimmen. Dass dies auch Auswirkungen auf die gesamte Welt haben konnte, war längst klar; es gab kein Verstecken mehr, auch nicht im Kaiserstuhl. Die ganze Welt kam nicht nur durch die Medien ins letzte Schlupfloch – auch jede Handlung im Orient konnte wirtschaftliche Auswirkungen für einen Hof in Bickensohl haben.

Killian schulterte den Armeesack und die Kameratasche und schlenderte zum Bahnsteig fünf, an dem die Regio-Bahn in Richtung Kaiserstuhl startete. Es waren noch zehn Minuten, bis der Zug einfuhr. Er suchte die Raucherzone, um sich einen von den kubanischen Zigarillos anzustecken, die ihm Moshe zum Abschied geschenkt hatte.

Ein Mann neben ihm kramte in seiner Tasche nach einer Zigarettenpackung und stellte fest, dass sie leer war. Killian bot ihm einen Zigarillo an. Der Mann starrte ihn mit großen Augen an.

»Killian!«, rief er plötzlich und griff munter nach dem Zigarillo.

Killian hob fragend die Brauen.

»Häsch au Feuer?«

Killian schnippte an seinem Zippo und ließ den Bärtigen paffen.

»Erkennsch mich nimmer? Wegem Bart? Arno Zimmermann. Metzgerei Bötzinge. Ich hab ä Wett verlore, kurz nach Silveschter. Jetzt därf ich mich erscht wieder Ende Mai rasiere. Negscht Woch also. Bin ich froh, wenn des Kraut wieder wegkummt. Aber des Kraut schmeckt au nit schlecht.« Er hob anerkennend den Zigarillo in die Höhe und paffte genüsslich.

»Kuba«, sagte Killian.

»Kummsch grad vu dert? Bisch viel unterwegs, gell? Ich kumm nur im Winter mol weg. A Woch Skiurlaub, sonscht geht nix. Wenn du ä Gschäft häsch, musch halt do sie. Do gibt’s nur eins: schaffe. Wenn nit, wirsch gfresse vu dä Große. Un du musch dir immer ebis eifalle lo: Hausschlachtung, artgerechte Haltung, Bio. Weisch, ’s isch nimmi so eifach mit Fleisch und Wurscht. Die Vegetarier, des werre immer mehr. Jetzt fangt sogar die jüngscht Tochter scho mit dem Seich a. Die losst kei Mode us. Topmodel, Superstar und jetzt Vegetarier. Hejo, sie sehn halt nix anders im Fernseh. Solang sie keine Droge nehme, isch mir’s noch recht.« Arno aschte auf den Bahnsteig. »Und du kummsch also vu Kuba? Wenn du ä Päckle übrig häsch, ich kauf dir’s ab. Oder mir tausche. Ich schlacht morge ä Sau. Des gibt ä Schwarzwurscht vum Feinschte.«

Killian reichte Arno die kleine Schachtel mit den Zigarillos.

»Häsch nur die? Henei, denn nit.«

»Doch. Nimm nur. Ich wollte sowieso mit dem Rauchen aufhören.«

»Des hab ich au welle. An Silveschter. Keine zwei Tag hab ich’s usghalte. Deshalb hab ich doch au den Bart im Gsicht. Zum Glück häsch du keiner. Sonscht wäre ma nebeneinandergstande und hätte uns nit emol kennt.« Arno lachte und nahm die Schachtel entgegen. »Pünktlich. Kannsch nit meckere.«

Er deutete mit dem Kinn in Richtung einfahrenden Zug. Killian warf den Zigarillo auf den Boden und drückte ihn mit dem Schuh aus. Er wusste, dass er auf der Fahrt bis Bötzingen ein geduldiges Ohr brauchen würde.

* * *

Belledin war über die March nach Bötzingen gefahren. Jetzt wartete er an der Kreuzung der Hauptstraße, dass die Ampel auf Grün sprang. Dabei fiel ihm ein, dass er noch beim Metzger Zimmermann vorbeiwollte, um Steaks und Würste abzuholen, die er bestellt hatte. Er würde es auf den Nachmittag verschieben. Fürs Erste hatte er genug rohes Fleisch gesehen. Selbst im Rotlicht der Ampel glaubte er das blutige Gesicht des toten Erik Schwarz zu erkennen.

Endlich zeigte die Ampel Grün, und Schwarz verschwand. Belledin fuhr viel zu schnell an, die Reifen seines Audis quietschten und schwängerten die Kreuzung mit verbranntem Gummigeruch.

Rasch hatte er das Dorf verlassen und fuhr nun auf der kurvenreichen Landstraße auf Wasenweiler zu. Belledin liebte den Frühling. Strotzte er das ganze Jahr über schon von männlichen Hormonen, gab ihm der Frühling noch mal eine ordentliche Überdosis. Er öffnete das Fenster und röhrte wie ein Brunfthirsch in die Natur. Einmal, zweimal – dreimal! Das tat gut. Er lachte und dachte an Biggi. Heute war Mittwoch, heute war sie dran. In seiner Hose wurde es eng bei dem Gedanken. Er röhrte noch ein weiteres Mal. Als er in Ihringen einfuhr, überlegte er kurz, ob er nicht erst nach Merdingen abbiegen sollte, um mit Biggi Frühling zu feiern. Aber er blieb auf der Hauptstraße und hielt in Richtung Breisach, wie es sein Fall verlangte.

Der Gedanke an den Fall entspannte den Hosenstoff. Außerdem nervte ein Traktor, an dem Belledin gerne vorbeigezogen wäre. So tuckerte er mit Tempo zwanzig hinter dem Lahmarsch her und hoffte auf die nächste übersichtliche Stelle, während er das frische Grün in den Rebzeilen und Obstplantagen studierte. Dabei fiel sein Blick auf ein junges Pärchen, das sich umschlungen gegen einen Kirschbaum drückte. Er nestelte an ihrer Bluse, sie gurrte kokett.

Das war zu viel. Belledin setzte einen U-Turn und raste nach Merdingen. Er brauchte einen klaren Kopf, um den Fall zu lösen. Biggi würde ihm dabei helfen können.

* * *

Sandra Stark hasste Fleisch. Schon als Kind hatte sie sich übergeben, als sie Bratwürste essen musste. Stunden war sie bockig vor dem Teller gesessen, egal, was es an Verboten und Drohungen gehagelt hatte. Irgendetwas hatte sich verweigert, tief in ihr drin. Es hatte ihr gesagt, dass es falsch war, Tiere zu essen. Sie hatte dieser Stimme geglaubt, mehr als ihren Eltern. Und das hatte die am meisten geärgert. Was hatten sie ihr nicht alles erzählt. Warum der Mensch Eckzähne habe, dass er ein Raubtier sei, dass man ohne Fleisch keine Muskeln bekomme. Es hatte sie nicht gekümmert. Sie hieß Stark, und das war sie – auch ohne Fleisch.

Und jetzt sollte sie ins Schlachthaus. Zu ihrem persönlichen Antichrist.

Ein Transporter mit Rindern rollte auf den Hof. Stark blieb draußen stehen. Sie wollte die Tiere nicht sehen, die gleich auf die Schlachtbank geführt wurden. Sie würde warten, bis es geschehen war; erst dann würde sie auf den Hof treten.

Der Hänger öffnete sich. Schreie der Verunsicherung und der Ahnung drangen aus den Tierkehlen an ihr Ohr. Ihr war plötzlich, als könnte sie die Sprache des Rindviehs verstehen: Hilferufe, Flehen, Fragen, die immer wieder in einem großen »Warum?« mündeten.

Menschenstimmen mischten sich darunter. Unverständlich. Sie trieben das maulende Vieh in das Tor, aus dem es kein Zurück gab. Stark roch den Angstschweiß der Tiere, der aus dem Hof zu ihr herüberschwappte; ein Würgereiz überkam sie. Sie fand auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Grünstreifen und übergab sich.

Als sich ihr Magen beruhigt hatte, war auch das Geschrei der Tiere verstummt. Sie hatten bereits den Weg zum Schnitzel angetreten.

Stark riss sich zusammen. Den Anblick des gehäuteten Toten hatte sie schließlich auch ertragen. Aber ihn hatte sie auch nicht um Hilfe schreien gehört. Bei ihm stand sie vor Fakten. Bei den Rindern hätte sie noch etwas tun können. Aber was? Es war lächerlich, sich darüber Gedanken zu machen. Die meisten Menschen waren nun mal Fleischfresser. Und die wollten versorgt werden. Täglich. Auf der ganzen Welt. Und hier in der Gegend sowieso.

Ihr Blick fiel auf ein Ladenlokal, vor dem ein Hund angeleint auf sein Herrchen wartete. Es war Braveheart, der Hund des Leichenfinders Seibert.

Im Gegensatz zu Belledin mochte sie Hunde. Und ein Irischer Wolfshund war schon etwas Besonderes. Sie selbst hatte in Münster viel mit Polizeischäferhunden gearbeitet und sie oft als die besseren Kollegen empfunden.

Die Tür des Ladens öffnete sich, und Seibert kam heraus. Er erkannte sie und rief zu ihr hinüber: »Werde ich beschattet?«

Sie ging auf ihn zu. »Nein, nein. Ich habe im Schlachthof etwas zu erledigen. Was tun Sie hier? Kennen Sie hier jemanden?«

»Nein. Ich komme hier nur einmal die Woche her und kaufe für Braveheart ein. Ausgezeichnete Ware, alles vom Rind. Habe es wolfen lassen. Vielleicht etwas zu fein. Braveheart mag es gern, wenn er auch etwas zu kauen hat. Eins sechzig fürs Kilo, das geht. Knochen und Schlund hab ich auch noch gekauft. Fünfzig Cent fürs Kilo, da kann man nicht meckern. Mist, jetzt hab ich vergessen, nach grünem Pansen zu fragen. Und ich habe keine Zeit mehr. Artikel schreiben sich nicht von allein.«

Er löste Braveheart vom Geländer und raschelte mit der fleischgefüllten Plastiktüte vor der Hundeschnauze herum. »Gleich gibt’s Happihappi!« Braveheart wedelte so euphorisch mit dem Schwanz, als wäre er einem Disney-Cartoon entsprungen. Fehlte nur, dass er mit der Pfote ein Loch in die Tüte riss und dann mit einer Schnur Weißwürste um die Ecke flitzte.

»Sie sind Redakteur?«, fragte Stark.

»Freier Journalist. Ich schreibe vor allem Reportagen. Steckenpferd: Enthüllungen.«

»Und was haben Sie bislang enthüllt?«

»Nichts, was man gerne gedruckt hätte.«

»Fehlten die Beweise?«

»Eher der Mut der Redaktion.«

»Marsmenschen oder Weltverschwörung?«

»Berufsgeheimnis. Sie werden es bald lesen. Ich werde es selbst verlegen, als E-Book. Schon gehört? Manche sind damit reich geworden.«

»Und wovon leben Sie bis dahin?«

»Von Reiseberichten, Werbetexten für Matratzen und verschollenen Rezepten der badischen Küche. Hin und wieder schreibe ich auch für ein Hundemagazin. Das aber eher aus Passion.« Er sah zu Braveheart, dann wieder zu Stark. »Wir müssen. Sonst stürmt er noch den Schlachthof.«

Stark stellte es sich bildhaft vor. Aber in ihrer Phantasie riss Braveheart nicht die geschlachteten Viecher, sondern die Gesichter der Metzger.

»Eine Frage habe ich noch«, sagte Stark und scrollte auf ihrem iPhone über die Stadtkarte Freiburgs. »Sie sagten, Sie wohnen in Zähringen, im Harbuckweg.«

»Ja. Und?«

»Das liegt direkt am Wald. Wieso gehen Sie nicht dort mit Ihrem Hund spazieren?«

»Normalerweise gehen wir dort. Aber wegen der Kolik gestern hat sich Bravehearts Rhythmus leicht verschoben. Deswegen sind wir hier gegangen.«

Stark musterte ihn. Entweder er war sehr abgebrüht, oder er hatte die Wahrheit gesagt.

»Können wir gehen?«

»Ja. Danke.«

Braveheart trottete artig mit Seibert davon, wohl wissend, dass er zu Hause gleich sein Mahl im silbernen Napf serviert bekam.

Stark sah den beiden hinterher. Für einen, der gerade eine entstellte Leiche gefunden hatte, wirkte Seibert sehr abgeklärt. Sie würde ihn auf dem Schirm haben. Wenn Dr. Selinger die Tatzeit ermittelt hatte, würde sie ihm noch mal auf die Zehen treten. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als den Schlachthof zu betreten.

* * *

»Also, für jedes Zigarillo kriegsch ä Schwarzwurscht. Am Samschtig wird gschlachtet. Ä Wahnsinnssau. Rein biologisch, weisch. Beschtes Futter, beschte Haltung. Und so, wie ich metzge, glaubt die, die lebt noch, wenn sie scho lang serviert wird.« Arno lachte. »Des kannsch glaube. Bi mir leidet kei Vieh. Des geht ganz schnell. Do gibts kei Übersäurung wege panischer Hormonausschüttung. Mei Fleisch isch mehr Medizin als jedes Antibiotika, was du bim Arzt kriegsch.« Er lachte wieder. »Hejo, so isch’s. Also, man sieht sich. Un wenn du kummsch, bringsch ä paar Fotos vu Kuba mit. Dort soll’s jo au netts Frischfleisch gebe.«

Ein tierisches Lachen legte seinen rechten Eckzahn frei, der aggressiv nach vorne stand. Arno streckte Killian die Hand entgegen. Er schlug ein und spürte den mächtigen Händedruck des Metzgers, dem er zutraute, dass er der Sau nur mit der Faust auf den Schädel hauen musste, damit sie bewusstlos auf die Schlachtbank sank.

Killian stieg aus dem Waggon und ließ Arno noch eine Station ohne ihn fahren. Dessen Metzgerei lag an der Bötzinger Hauptstraße, in der Nähe der Mühlgasse, der zweiten Haltestation des Dorfes.

Er war froh, wieder allein zu sein. Fleisch und Wurst waren nicht seine Lieblingsthemen, obwohl er nicht Nein sagte, wenn ein feines Medaillon vor ihm auf dem Teller lag. Bei dem Gedanken bekam er Appetit. Er überlegte, was er zu Hause wohl noch auf Vorrat hatte, und landete bei schlichten Spaghetti mit einer Tomatensoße. Ein guter Parmesan musste auch noch im Kühlschrank liegen. Und wenn das nicht sättigte, würde er statt einer Flasche Spätburgunder heute eben zwei trinken. Die hatte er sich verdient.

Er hatte lange nicht mehr so intensiv und so gefährlich für Moshe gearbeitet wie in den letzten beiden Monaten. Dabei hatte er doch gar nicht mehr an die Front gewollt. Aber das angesparte Geld, von dem er gedacht hatte, es würde ihn fünf Jahre lang über die Runden bringen, war schneller geschmolzen als erwartet. Hauptgrund war seine Tochter Swintha, von der er bis vor drei Jahren noch gar nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab. Jetzt gab es sie aber, und er war froh darüber. Aber sie studierte, und das kostete. Bärbel, Swinthas Mutter, hatte zwar erst gewollt, dass sie sich die Kosten teilten, da Killian aber zwanzig Jahre keinen Cent gezahlt hatte, sah er es als seine Pflicht an, die Ausbildung seiner Tochter ganz zu übernehmen.

Vermutlich war es nur eine willkommene Ausrede, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass er aus dem Karussell, in das er aus Abenteuerlust und Naivität geraten war, erst wieder herauskäme, wenn man ihn selbst zu Grabe trug. So wie Rohina. Sie war draußen. Aus allem. Vier Jahre waren es jetzt, auf den Tag genau. Die schlechten Träume waren weniger geworden, auch die Erinnerungen an ihren Tod verblassten. Die Rückkehr an den Kaiserstuhl hatte Killian geholfen. Jetzt aber war wieder alles präsent. Die Explosion, der Schrei, der zerfetzte Leib seiner großen Liebe.

Mit einem schweren Seufzer versuchte er die Erinnerung aus dem Körper zu pusten. Irgendwohin, auf den Asphalt, dort sollte die Schwere liegen bleiben und vom nächsten Zwillingsreifen eines Lkws in den Teer gepresst werden.

Hilperts Autowerkstatt lag nur zweihundert Meter vom Bahnhof entfernt, auf der Gottenheimer Straße. Dort hatte Killian seinen Defender abgestellt, während er auf Fotojagd gewesen war. Das Rolltor stand offen. Hilpert war bereits im Rentenalter und hatte die Werkstatt verkauft, werkelte nur noch im Hinterhof zum Zeitvertreib und weil er es nicht ertragen konnte, seine Hände ohne Maschinenöl zu sehen. Killian hatte ihn gebeten, den Defender gründlich durchzuchecken.

Er hörte bereits die Klänge der Klarinette aus der Garage, klopfte an und trat ein. Hilpert bemerkte ihn nicht. Er pfiff zu Gershwins »Rhapsody in Blue«, die aus zwei verstaubten Boxen tönte, und fegte mit einem Schleifpapier über den Kotflügel eines Renault 5, das Gesicht weiß vom Schleifstaub. Killian pfiff einen Triller laut mit. Hilpert blickte auf und grinste. Er legte das Schleifpapier zur Seite, kam auf Killian zu und streckte ihm das Handgelenk entgegen. Die Angewohnheit des Mechanikers, der andere mit seinen schmutzigen Fingern nicht anstecken wollte. Killian griff dennoch Hilperts Hand und drückte sie.

»Was sagsch zu dem?« Hilpert deutete auf den Renault. »Der wird wie neu. Für mei Frau. Des war ihr erschtes Auto. R5, des ware noch Zeite.«

Killian erinnerte sich. Einige seiner Freunde hatten einen R5 gehabt. Das war Ende der Achtziger der Flitzer unter den kleinen Autos gewesen. Sexy und cool. Der Wagen gab einem das Gefühl von Bacardi Rum, Sandstrand und türkisfarbenem Meer. Killian hingegen hatte einen R4-Kastenwagen gefahren. Er hatte schon immer einen Hang zum Praktischen gepflegt.

»Weisch, dass die Hinterachse im Eimer war? Häsch Glück ghätt. Des Ding hätt dir ganz schön um d’ Ohre fliege könne«, sagte Hilpert und nickte beschwörend mit dem Kopf. Wenn er gewusst hätte, was Killian in den letzten acht Wochen so alles um die Ohren geflogen war. Eine angebrochene Hinterachse war da eine Schnake im Verhältnis zu einem Hornissenschwarm.

»Merci«, sagte Killian und packte den Wein aus, den er aus dem nördlichen Negev mitgebracht hatte.

Hilpert nahm die Flasche entgegen, sah sich das Etikett mit der hebräischen Schrift an und runzelte skeptisch die Stirn.

»Mach auf. Dann probiersch und sagsch erscht dann ebbis«, sagte Killian, der nur mit Hilpert auf Badisch schwätzte.

Hilpert zog ein Taschenmesser aus dem Blaumann, klappte den Korkenzieher auf und öffnete die Flasche. Er schnupperte am Korken und nickte. Dann ging er zu einem kleinen Schränkchen, nahm zwei Gläser heraus und goss ein. Er roch an dem Wein, schwenkte ihn im Glas, nahm einen Schluck, kaute und gurgelte. Endlich schluckte er ihn und schmeckte nach.

»Riesling.«

Killian lachte. »Richtig. Und?«

»Mir isch er ä wing zu süß.« Hilpert fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. »Aber mit enem Stückli Salami kannsch en gut trinke.«

Er ging wieder zu seinem Schrank und kam mit einem Holzbrett und einer Salami zurück. Der Korkenzieher verwandelte sich in ein scharfes Messer, die Rädchen fielen von der Wurst und landeten zwischen Hilperts Zähnen.

»Probier«, forderte er Killian auf. »Hausschlachtung. Vu Endinge, vum Gotthard. Mensch, wie heißt er noch? Hergott Sack Zement. Glaubsch, ich hab scho Alzheimer? Er schafft au beim Ginter aufm Schlachthof.«

Killian hatte keine Ahnung, wen Hilpert meinte.

»Ä hübsche Tochter hätt er. Hä, die kennsch. Wenn einer die hübsche Mädle kennt, bisch des doch du!« Er grinste.

Killian kannte wohl einige hübsche Mädchen. Aber eine Metzgerstochter aus Endingen? An die konnte er sich nicht erinnern. War wohl nach seiner Zeit gewesen.

»Isch egal. Wohlsein.« Hilpert hob das Glas und stieß mit Killian an. Dann streckte er ihm das Brettchen hin, von dem der sich ein Rädchen stibitzte. Schon nach wenigen Bissen atmete er durch. Die Salami war gut, aber verdammt scharf. Er trank einen Schluck Riesling. Es war klar, dass er nicht so schnell nach Hause kommen würde, wie er geplant hatte.

* * *

Belledin nahm einen kräftigen Bissen von dem mit Bierschinken und Essiggurke belegten Brot, das Biggi ihm mit auf die Fahrt gegeben hatte. Sie wusste, dass er nach dem Sex immer Hunger hatte.

Die Landstraße nach Breisach war jetzt leer, er konnte Gas geben. An der Art, wie er aufs Pedal trat, merkte er, dass die hormonelle Anspannung aus ihm gewichen war. Er raste nicht, er fuhr schnell. Und das mit Bedacht. Ebenso bedächtig würde er den brutalen Mord lösen.

Und er freute sich darauf, in seiner ehemaligen Schule zu ermitteln. Einmal dort Fragen zu stellen, wo man selbst gelöchert und an den Pranger gestellt worden war. Oh nein, die Schule war für ihn kein Spaß gewesen. Er hatte zu kämpfen gehabt, in allen Fächern. Aber zum Lernen war kaum Zeit gewesen. Direkt nach der Schule war es in die Reben oder aufs Feld gegangen. Dass er überhaupt aufs Gymnasium gehen durfte, war schon Gunst genug gewesen. Dass er dafür aber noch Extrazeit zum Lernen bekam – unmöglich. Er, der Nachzügler, hatte mit anpacken müssen. Auf dem Hof ging nichts von selbst. Die Natur war unerbittlich. Die Lehrer waren es ebenfalls. Aber er hatte sich durchgebissen und war Hauptkommissar der Freiburger Kripo geworden, während Mitschüler von damals, die bessere Noten und günstigere Voraussetzungen gehabt hatten, auf der Strecke geblieben waren.

Er überlegte, wer von den alten Paukern wohl noch im Schuldienst war. Mathelehrer Ripple würde er jetzt gerne in die Zange nehmen. Der Kerl, der ihn vor der ganzen Klasse bei komplexen Zahlen rundgemacht und ihm attestiert hatte, dass eher ein Huhn eine Kartoffel legen als Belledin das logische Denken erlernen würde. Das hatte ihn so beschäftigt, dass er tatsächlich hin und wieder auf dem Hof nachgesehen hatte, ob eines der Hühner nicht doch eine Kartoffel gelegt hatte.

Er sah auf seine Armbanduhr. Viertel vor zwölf. Die sechste Schulstunde war um eins aus, da gingen die meisten Schüler nach Hause. Es wäre ruhiger, wenn er erst dann in der Schule vorbeisah.

Er kramte den Ausweis des Opfers aus der Jackentasche und las die Adresse: Radbrunnenallee 13. Das war oben auf dem Münsterberg. Edle Alt-Breisacher Gegend. Sonst hatten die Lehrer eher ein Häuschen im Neubaugebiet.

Belledin steckte den Ausweis zurück und drosselte am Ortsschild Breisach das Tempo auf knapp sechzig. Der Kreisverkehr zwang ihn, weiter zu verlangsamen.

Der gehäutete Schädel von Erik Schwarz tauchte vor seinem inneren Auge auf, dann das Gesicht, wie er es auf dem Passfoto gesehen hatte. Was bedeutete es, wenn man jemandem die Haut vom Kopf zog? Verlor da einer sein Gesicht? Die Ehre? Oder hatte sich jemand den Skalp eines Menschen genommen? Aber der Skalp saß oben, das war die Kopfhaut. Die war unangetastet.

Belledin schlich über das Kopfsteinpflaster den Münsterberg hinauf. Er war lange nicht mehr im Breisacher Münster gewesen. Und auch heute würde er nicht hineingehen. Er hatte keine Zeit zur Andacht, für Gott opferte er allenfalls noch Weihnachten.

Er fand einen Parkplatz und ging auf das Fachwerkhaus zu, in dem Schwarz gelebt hatte. Der Glockenturm des Münsters schlug zu Mittag. Belledin genoss den scheinheiligen Frieden, den das Geläut im Duett mit der prächtigen Frühlingssonne gaukelte. Er wusste, dass die Idylle trügerisch war, und dennoch war er froh, dass die Öffentlichkeit nicht alles von den Untiefen wusste, denen er täglich begegnete. Er fühlte sich verantwortlich für den äußeren Putz, da war er dankbar für jede Unterstützung. Es fehlte nur noch das Summen der Bienen auf den gelben Köpfen des Löwenzahns.

Der Löwenzahn brachte Belledin wieder das blutige Antlitz des Toten in Erinnerung. Er kramte den Schlüsselbund, den man bei Erik Schwarz gefunden hatte, aus der Hosentasche und probierte zwei Schlüssel aus, ehe der dritte die Tür öffnete.

Er glaubte ein Geräusch aus dem Inneren des Hauses zu vernehmen und rief: »Hallo? Jemand da? Belledin, Kriminalpolizei.«

Aus dem Zimmer am Ende des Ganges wurde es jetzt lauter. Etwas war umgefallen.

Belledin zog seine Walther und entsicherte sie. Den Lauf zu Boden gerichtet, näherte er sich dem Zimmer.

Jemand schlug die Tür des Zimmers zu. Belledin hielt für einen Moment inne. Dann schlich er weiter in Richtung Unbekanntes. Er drückte die Klinke der Tür hinunter und überlegte kurz, ob man ihn durch das Holz hindurch abknallen konnte. Er verjagte den Gedanken und stieß die Tür auf. Mit einem Satz, den man seiner Körperfülle nicht zugetraut hätte, stand er im Raum und drückte sich sofort mit dem Rücken an die Wand neben der Tür, die Waffe fest in der Hand.

Eine graue Katze schlich um ein Bücherregal und schrie nach Fressen. Belledin entdeckte die Scherben einer Vase, die auf dem Boden lagen, setzte Katze und Scherben logisch zusammen und entspannte sich. Er sicherte die Walther und steckte sie ins Holster zurück. Er ging zwei Schritte auf die Katze zu und sagte: »Mikesch, wo waren Sie heute Nacht? Und was haben Sie hier zu suchen?« Er hatte keine Zeit mehr, über seinen kleinen Witz zu lachen. Ein stechender Schmerz, der sich über seinen Hinterkopf ausbreitete, tauchte sein Bewusstsein in tiefes Schwarz.

* * *

Stark war froh, dass sie den Schlachthof verlassen konnte. Der Geruch von Angstschweiß, Blut und Reinigungsmittel hatte ihren Magen in Aufruhr gebracht. Hätte sie sich nicht schon zuvor übergeben, jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen.

Schlachthofbesitzer Ginter war freundlich gewesen. Bislang habe man kein Bolzenschussgerät vermisst, aber er würde sich sofort melden, wenn Derartiges bekannt würde. Er schien nicht geschockt über die Schilderung von Schwarzens Leiche. Stark hatte gehofft, ihm durch den Horrorbericht des Gehäuteten eine mögliche verräterische Reaktion zu entlocken. Aber Ginter hatte es aufgenommen, als handle es sich um eine bockige Sau, die man hatte notschlachten müssen. Der brutale Tod war Alltag für ihn, da konnte man auch bei einem geschlachteten Menschen keine Hysterie erwarten.

Stark sah auf die Liste der Arbeiter, die sich am Schussbolzen abwechselten. Mit ihnen würde sie noch reden müssen. Aber nicht während der Arbeitszeit. Die Leute schossen und stachen im Akkord, da würde wohl keiner gerne wegen einer Befragung auf Lohn verzichten wollen. Sie überlegte, ob sie deren Mittagspause zu einem Erstgespräch nutzen oder die Arbeiter nach Feierabend abfangen sollte. Männergebrüll lenkte sie von der Entscheidungsfindung ab.

Der Lärm kam vom Hof. Dort standen sich zwei Kerle in blutverschmierten weißen Schürzen gegenüber und fuchtelten mit Messer und Fleischerhaken durch die Luft. Sie verstand nicht, was die beiden sich entgegenschrien, aber ihre wutverzerrten Gesichter ließen ahnen, dass es um die Wurst ging. Ginter kam aus seinem Büro gerannt und brüllte ebenfalls Unverständliches, während er wild mit den Armen gestikulierte.

Jetzt war sie so nahe an die Streithähne herangekommen, dass sie etwas verstehen konnte.

»Komm scho, du feige Sau, ich schlacht dich ab und wirf dich zu deine Brüder!«

»Do müsse Metzger kumme, keine Würschtle!«, fauchte der andere und umkreiste seinen Gegner, jederzeit zum Angriff bereit.

»Schluss damit! Sonscht könnet ihr beide umgehend heimgehe!«, schrie Ginter dazwischen.

Keiner der Kämpfer schien ihn zu hören, beide waren ganz auf den jeweils anderen fixiert. Der mit dem Messer holte zum Stich aus und führte ihn durch. Der Angegriffene sprang zurück und wich einen Schritt zur Seite. Dadurch rannte der Messerstecher an ihm vorbei und zeigte Blöße. Der Angegriffene nutzte die Chance und versetzte dem Stecher mit dem Fleischerhaken einen Hieb auf den Rücken. Der Stecher stürzte ächzend zu Boden, das Messer schlitterte über den Asphalt. Mittlerweile hatte sich eine Gruppe von Schaulustigen um die Streithähne versammelt, ebenfalls in weißen blutverschmierten Schürzen. Sie ergriffen Partei und starteten Wetten auf den möglichen Sieger.

Der mit dem Fleischerhaken war momentan im Vorteil. Er holte zu einem weiteren Hieb aus, da fuhr ihm Ginter in den Arm und hielt ihn fest.

»Jetzt isch Schluss! Hän ihr verstande?«

Ginter senkte behutsam den Arm des Fleischers und nahm ihm den Haken ab. Der Mann ließ es geschehen und stierte schnaufend zu dem Stecher, der sich eben aufrappelte und sich die Schürze zurechtrückte.

»Was isch los?«, rief Ginter in die Runde. »Isch Betriebsversammlung? Meinet ihr, des Vieh schlachtet sich von allein?«

Die Schaulustigen trotteten in die Halle zurück. Ginter sah den beiden Streitern scharf in die Augen. »Mir berede des nach Feierabend. Jetzt wird gschafft.«

Er reichte dem Stecher das Messer und dem anderen den Fleischerhaken, und die beiden trotteten ab. Während der Stecher im Eingang mit der Aufschrift »Schwein« verschwand, nahm der andere das Tor für »Rinder«.

Ginter sah ihnen noch einen Moment nach, dann wollte er in sein Büro zurück.

Stark passte ihn ab. »Was war da los?«, fragte sie.

»Nix von Bedeutung. Das regle mir unter uns.«

»Ich würde trotzdem gerne wissen, wie die beiden heißen.«

»Spiegelhalter und Erdogan. Hitzköpf. Bei dene klöpfts immer mal wieder. Ich weiß gar nit, wie die des hinkriege. Die schaffe nämlich getrennt. Spiegelhalter sticht Säue, und Erdogan schießt Rinder. Anscheinend habe sie noch zu viel Zeit zwische de einzelne Tiere.«

Stark sah auf ihre Liste. Erdogan fehlte. »Hier steht kein Erdogan.«

»Der isch kein feschter Schießer. Der macht nur Springer. Brodbeck hat Urlaub, macht sich ä Lenz auf Thailand, und Saier hat sich heut Morge krankgmeldet.«

»Warum sagen Sie mir das jetzt erst?«

»So wichtig kann’s ja nit sein, sonscht hätte Sie mich danach gfragt. Ich muss jetzt arbeite. Schöne Tag noch.«

»Moment. Geben Sie mir bitte Adresse und Telefonnummer von dem, der sich krankgemeldet hat.«

»Saier. Hab ich nit im Kopf. Und wenn er noch länger schwächelt, brauch ich seine Nummer gar nimmer. Dann kann er bei Aldi Wurscht ins Kühlfach räume.«

»Die Nummer.« Stark blieb hartnäckig.

»Frage Sie Britta Vogt, meine Sekretärin. Ich muss nachgucke, was die beide Streithähn veranstalte.« Ginter ließ sie stehen und verschwand im Schlachthaus.

Stark ging in das Gebäude, in dem sich der Bürotrakt befand. Vorhin, als sie mit Ginter gesprochen hatte, war keine Sekretärin hinter dem Schreibtisch gesessen. Jetzt ordnete eine attraktive Frau in ihrem Alter Belege. Sie geizte nicht mit ihren weiblichen Reizen. Das Fleisch saß bei ihr dort, wo es sitzen musste. Gut im Futter, aber nicht fett.

»Frau Vogt. Ich bräuchte Adresse und Telefonnummer von Herrn Saier.«

»Moment. Das haben wir gleich.« Frau Vogt glitt mit der Computermaus über das Pad, klickte dreimal, sagte: »Hirschengarten 7« und nannte eine Telefonnummer.

Stark notierte sich die Daten, lächelte, wollte gehen, hielt aber inne. »Kannten Sie Erik Schwarz?«, fragte sie.

Die Sekretärin hielt ihren Blick auf den Bildschirm gerichtet. Anscheinend hatte sie nichts gehört.

»Frau Vogt. Ich habe Sie etwas gefragt.«

Britta Vogt sah verstört auf. »Was? Entschuldigung. Ich war in Gedanken. Eine Buchung, die ich versäumt habe.«

»Kannten Sie Erik Schwarz?«

»Nein. Nicht wirklich.«

»Was heißt das?«

»Na ja. Er war der Anführer der Demonstranten, die sich hier manchmal am Tor anketten. Daher weiß ich, wer er ist. Aber kennen, nein. Kennen, ich meine gekannt, habe ich ihn nicht.« Britta Vogt sah wieder auf den Bildschirm. »Schrecklich, dass einer so sterben muss.« Sie bemühte sich, ihre Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu halten. Wenigstens ein Mensch, der noch Mitgefühl zeigte.

»Wiedersehen«, sagte Stark und verließ das Büro. Sie ging über den Hof, stieg in ihren Wagen, legte eine selbst gebrannte CD von Slipknot ein, klopfte sich eine Zigarette aus dem zerknautschten Päckchen und startete den Motor. Da sie kein Feuer fand und der Zigarettenanzünder keine Glut spendete, fluchte sie zum ersten Mal an diesem Tag. Sie schrie so laut, dass es an ihren Stimmbändern kratzte.

Es war ihr egal. Sie schrie ein zweites und ein drittes Mal, dann war es gut.

* * *

Killian war nicht direkt nach Hause gefahren. Das Licht war zu kostbar, als dass er es achtlos mit der Zeit hätte vergehen lassen können. Er war auf die Schelinger Matten gestiegen und hatte Fotos geschossen. Ein Schäfer hatte seine Herde über die Wiesen getrieben.

Die Idylle schrie nach Zerstörung. Killian drückte ab, fing die weißwolligen Tiere ein und hielt sie digital fest. Gleichzeitig färbten sich in seiner Phantasie bei jedem Foto, das er schoss, die Felle rot, als liefe rote Tinte aus einem Fass aus und legte einen Filter über das gesamte Bild.

Killian riss sich die Kamera vom Auge und taumelte ins Gras. Er rang nach Atem, starrte in den wolkenlosen Himmel und hoffte, dass das Blau sich nicht auch einfärbte. Er hatte Glück. Das Blau hielt.

Langsam richtete er sich wieder auf. Der Schäfer hatte seine Herde weitergetrieben. Bald wäre sie hinter dem Hügel verschwunden und damit auch Killians Verzerrung.

Er nahm ein Kraut zwischen die Finger und zerrieb es. Dann roch er daran und inhalierte den Duft von wildem Thymian. Er zupfte sich ein paar Zweiglein und steckte sie in seine Fotoweste. Gleich würde er sie zu Hause in eine Pfanne mit Tomatensoße werfen.

Seine Finger rochen noch immer nach Thymian. Immer wieder führte er sie während der Fahrt nach Oberrotweil zur Nase, als könnte der Geruch ihm die Erdung verleihen, die er gerade zu verlieren drohte. Nach jedem Einsatz erging es ihm so. Mittlerweile waren die Anfälle stärker geworden. Zu Anfang hatte er gedacht, es wären die Bilder der Trauer um Rohina, die ihn heimsuchten. Jetzt merkte er, dass er tiefer angeschlagen war, als er zugeben wollte.

Wieder inhalierte er. Wieder gab der Thymian Halt.

Er bog in die Bruckmühlenstraße ein und steuerte auf sein Atelier zu. Auf der Rampe vor dem Eingang saß eine rothaarige Frau und ließ die Beine baumeln. Es war Bärbel, Killians Jugendliebe, die Mutter ihrer gemeinsamen Tochter Swintha. Sie zog nervös an einer Zigarette und drückte sie in dem Blumentopf aus, in dem bereits mehrere Kippen ihr Ende gefunden hatten.

Killian stieg aus dem Defender und ging auf sie zu. Sie lächelten sich stumm an, dann schwang er sich neben Bärbel auf die Rampe und ließ ebenfalls die Füße baumeln. So saßen sie und schwiegen eine Weile. Solange sie nichts sagten, stritten sie schon nicht. Und Killian wollte keinen Streit. Er genoss den Augenblick der Stille und stellte sich vor, wie es wohl gekommen wäre, wenn sie sich damals nicht getrennt hätten.

»Was von Swintha gehört?«, fragte Bärbel schließlich.

»Sie wird in Lappland sein.«

»Also nichts.«

»Nein.«

»Warum sie ausgerechnet nach Lappland muss.«

»Waren wir doch auch.«

»Eben. Man sollte nie das tun, was die Eltern getan haben. Die Jungen müssen eigene Wege gehen.«

»Vielleicht tut sie das ja? Vielleicht ist sie schon gar nicht mehr in Lappland, sondern badet in den Geysiren Islands? Oder taucht in der Karibik nach Korallen?«

»Also weißt du doch was. Rück raus damit.« Bärbel schielte misstrauisch zu ihm rüber.

»Warum sollte ich mehr wissen als du? Sie hat sich nicht bei mir gemeldet.«

»Aber du könntest trotzdem etwas über sie wissen. Bei deinen Kontakten.«

»Hör auf. Was soll das denn?«

»Du weißt, wovon ich rede. Zwei Monate warst du weg. Und von dir habe ich ebenso wenig gehört wie von Swintha. Abgetaucht, der Herr Spion.«

»Bärbel, es reicht. Es ist meine Arbeit, in Krisengebieten Fotos zu machen. Und wenn ich im Einsatz bin, habe ich mich darauf einzulassen. Das sind getrennte Welten.«

»Ich dachte, du wärst zurückgekommen, weil du die Schnauze davon voll hattest? Fehlt es dir am Ende doch.«

»Ich bin kein Beamter, der sich ein Sabbatical leisten kann. Ich muss mein täglich Brot auf freier Wildbahn verdienen.«

»Und trotzdem stehst du auf dem Lohnzettel des Staates. Und bestimmt nicht nur auf einem. Wer ist dein Auftraggeber?«

»Die Menschenrechte«, sagte Killian trocken.

Bärbel lachte laut auf. »Der war nicht schlecht. Wenn das so ist, möchte ich dich auch anheuern.«

»Für die nächste Lehrerkonferenz?«

»Nein, für die Tierrechte.«

Killian hob fragend die Brauen.

»Artgerechte Tierhaltung. Tierwürdiges Leben und Schlachten.«

»Und? Ich verstehe nicht. Bist du wieder bei den Grünen?«

»Scheiß auf die Grünen. Tierschutz. Bürgerinitiative der Vegetarier.«

»Seit wann isst du kein Fleisch mehr?«

»Seit mir Erik die Augen geöffnet hat.«

»Wer ist Erik?«

»Erik Schwarz. Unterrichtet bei uns. Geschichte und Deutsch. Er kam erst Anfang dieses Schuljahres ans MSG. Bringt frischen Wind in den staubigen Laden.«

Killian sah Bärbel eindringlich an.

»Ich hab nichts mit ihm, guck mich nicht so an. Er ist nett, aber nicht mein Typ.«

»Weil er vermutlich zu nett ist. Das erträgst du nicht.«

»Du musst es ja wissen.«

»Wie kein Zweiter.«

»Was bildest du dir eigentlich ein?«

»Friede«, versuchte Killian das Tempo herauszunehmen.

»Friede«, schlug Bärbel ein. »Also machst du Fotos für uns?«

»Was für Fotos? Und wo?«

»Im Schlachthof in Freiburg.«

»Die lassen mich da keine Fotos schießen.«

»Klar, sonst könnten wir sie ja auch selbst machen.« Bärbel versuchte sich an dem charmantesten Lächeln, das sie im Repertoire hatte, und klimperte mit den Wimpern.

»Das ist strafbar«, sagte Killian.

»Nicht, wenn du dort arbeitest. Hier, die suchen gerade Leute.« Sie zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche ihrer Jeans und hielt ihn Killian vor die Nase.

»Und warum tritt der nette Erik den Job nicht an?«

»Weil er unterrichten muss. Er hat dieses Jahr einen Leistungskurs in Geschichte. Wir sind da leider nicht so frei wie du.«

»Nur weil einer frei arbeitet, heißt das noch lange nicht, dass er nichts zu tun hat.« Killian gab ihr den Zeitungsausschnitt zurück. So charmant sie eben noch lächeln konnte, so zornig blitzten jetzt ihre grünen Augen.

»Du denkst nur an dich. Verlogenes Aas. Menschenrechte, dass dir das Wort nicht im Maul fault. Ein dreckiger Söldner bist du, mehr nicht. Wie viel willst du? Zehntausend? Zwanzig? Tut mir leid, das Geld haben wir nicht. Ich dachte, es wäre etwas, das dir selbst auch wieder etwas mehr Sinn im Leben geben könnte. Aber du bist genauso abgestumpft wie all die Metzger, die im Sekundentakt Säue abstechen! Was bin ich froh, dass Swintha weit weg ist von dir. Meinetwegen könnte sie auch am Nordpol sein. Das wäre weniger gefährlich als in der Nähe eines solchen desillusionierten Nihilisten wie dir!«

Sie drückte sich von der Rampe ab und landete sicher auf den Füßen. Ohne sich umzusehen, ging sie zu ihrem gelben Beetle, stieg ein und fuhr davon.

Killian sah ihr nach, kramte nach einer Zigarette und steckte sie sich an. Er dachte gar nicht daran, jetzt aufzustehen. Die Sonne strahlte Frühlingswärme auf seine Wangen. Er schloss die Augen, genoss die warme Sonne und den glimmenden Tabak.

ZWEI

Belledin befühlte sein Gesicht. Es saß noch immer dort, wo er es im Rückspiegel seines Wagens zuletzt gesehen hatte. Seine Augen stierten an eine weiße Decke, von der sich an manchen Stellen bereits der Putz löste. Sein Schädel brummte. Nachdem seine Finger das Gesicht überprüft hatten, ertasteten sie nun eine dicke Beule zwischen Haarkranz und Hinterkopfglatze. Er drückte leicht auf die Wölbung und stöhnte. Warum man immer überprüfen musste, dass es wehtat?

Vorsichtig richtete er sich auf. Erst jetzt kam ihm in den Sinn, dass der Angreifer noch im Raum sein könnte. Er griff nach seiner Walther. Sie saß im Halfter. Also würde wohl keine Gefahr mehr lauern. Wieso sollte der Gegner ihm die Waffe lassen, wenn er noch hier herumspazierte?

Trotzdem zog er die Pistole, bevor er sich aufrappelte. Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Es war nicht leicht, den Raum zu erfassen. Er war wie eine Bibliothek durch unzählige Regale durchschnitten.

Belledin tauchte ein in das Labyrinth und folgte den Holzregalen aus nachgedunkelter Kiefer. Geografie, Politik, Geschichte, Sozialkunde und deutsche Literatur, das waren die Hauptthemen des Buchbestandes, ordentlich sortiert.

Jetzt stand er vor einer Gabelung und hatte die Wahl. Er entschied sich für rechts und landete vor einer Zimmerwand, an der eine große Weltkarte hing. Sie war gespickt mit Fähnchen unterschiedlicher Couleur. Weder die Farben der Fähnchen noch ihre Standorte ergaben für Belledin einen Sinn. Waren es Kriegsgebiete? Orte, an denen Raubbau an der Natur betrieben wurde? Oder einfach nur Reiseziele, an denen Schwarz bereits gewesen war oder die er noch hatte besuchen wollen?

Belledin kehrte um und folgte dem anderen Gang. Er führte ihn in einem Halbbogen zu einem Schreibtisch. Papiere und Ordner lagen verstreut auf dem Boden, herausgerissene Schubladen waren achtlos umgekippt und ihr Inhalt auf mehrere Haufen geschüttet worden. Vom Ordner über Lochverstärker bis hin zu Büroklammern, Klarsichthüllen und CD-Rohlingen lag alles in einem einzigen Durcheinander.

Ob der Wüterich gefunden hatte, wonach er suchte?