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Zur Erinnerung an meine geliebte Großmutter Barbara, deren schicksalhaften Lebensweg ich mit diesem Buch ihren Enkeln und Urenkeln näher bringen möchte. Sie war stets liebevoll und selbstlos bemüht, mir den Weg durchs Leben zu ebnen und alle Steine beiseite zu räumen. Es tut mir leid, dass ich ihr meinen Dank viel zu wenig gezeigt habe. Ich vermisse sie sehr.

 

Inge
Sommer 2006

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2010

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com

Titelbilder:
Oben: Privatbesitz der Autorin
Unten: © SV-Bilderdienst: Scherl
Lektorat: Ulrike Nikel, Herrsching am Ammersee
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

eISBN 978-3-475-54498-9 (epub)

Worum geht es im Buch?

Ingeborg Schalek

Weg ins Ungewisse
Mit meinen Kindern durch die Hölle des Zweiten Weltkriegs

 

Barbara Lehmann wird 1908 in dem kleinen Ort Rudolfsgnad im heutigen Serbien als Kind deutscher Siedler geboren. Der frühe Tod ihrer Mutter und ihrer Großeltern beendet jäh ihre behütete Kindheit.
Die aus wirtschaftlichen Gründen arrangierte Ehe mit ihrem Mann Toni und der plötzliche Tod ihrer geliebten Schwester Anna sind nur zwei der vielen Schicksalsschläge, die Barbara im Verlauf ihres Lebens zu ertragen hat. Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Russen ihr Dorf bedrohen, flieht Barbara mit ihren beiden Töchtern über Ungarn und Österreich in die Tschechoslowakei, wo sie für kurze Zeit eine Unterkunft findet.
Nach Kriegsende muss die Mutter mit ihren Kindern auf Befehl der Amerikaner wieder zurück nach Österreich. Dort angekommen, ereilt sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes, und nur sehr langsam gelingt es der kleinen Familie daraufhin, ein neues Leben in der Fremde zu beginnen.

Vorwort

Meine Familie stammt aus dem Banat, jener Region zwischen Karpaten und pannonischer Tiefebene, die begrenzt wird von drei Flüssen: von Donau, Theiß und Marosch. Es ist ein Land, das viele Wechselspiele der Geschichte erlebt hat und über das viele Kriege mit ihren Verwüstungen hinweggezogen sind. In der Antike ein unabhängiges Reich der Draker, wurde das Gebiet zuerst römische Provinz, später Teil des ungarischen Königreichs, bis es Anfang des 16. Jahrhunderts dem Ansturm der Armeen des osmanischen Sultans erlag und fast zweihundert Jahre lang unter türkischer Herrschaft blieb. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Banat, bis zu diesem Zeitpunkt Teil der Donaumonarchie, aufgesplittert. Abgesehen von einer winzigen Ecke, die weiterhin zu Ungarn gehörte, fielen zwei Drittel an Rumänien und ein Drittel an das neu gegründete Königreich Jugoslawien – eine Grenzziehung, die bis heute Bestand hat, nur dass es inzwischen auch Jugoslawien nicht mehr gibt und das westliche Banat zu Serbien gehört.

Die Zeit, von der ich erzählen will, liegt genau zwischen diesen Ereignissen und ist prägend geworden für die Entwicklung des Landstrichs, seiner Städte, Dörfer und seiner Menschen. Es begann Ende des 17. Jahrhunderts, als sich eine große Allianz christlicher Herrscher anschickte, ein weiteres drohendes Vordringen der Türken ins Herz des Abendlandes zu verhindern. Und wirklich gelang es, nach anfänglich wechselhaftem Kriegsglück, unter der Führung großer Strategen wie Prinz Eugen von Savoyen oder den als Türkenlouis und Türkenmax bekannt gewordenen badischen und bayerischen Souveränen die osmanischen Besetzer in die Flucht zu schlagen.

Als die Region jedoch 1718 unter der Bezeichnung Temescher Banat als Kronland an das Haus Habsburg fiel, stand der Kaiser in Wien vor einem Dilemma, denn das Land war nahezu entvölkert, die Städte waren zerstört und die Äcker verödet. Nach dem Wiederaufbau der Städte und Festungen, die militärisch wichtig waren, machte sich die kaiserliche Verwaltung energisch an die Aufgabe, in großem Maßstab Siedler ins Banat zu holen, die neue Orte gründen und das Land wieder fruchtbar machen sollten. Man schickte Agenten aus, die bevorzugt in den süddeutschen Kleinstaaten für die Kolonisation warben. Die Voraussetzungen dort waren günstig, denn angesichts wirtschaftlicher Not und sozialer Unterdrückung erschien vielen das Angebot aus Wien wie ein Geschenk des Himmels. Ganze Familien machten sich mit viel Hoffnung und Enthusiasmus auf den Weg in ein unbekanntes Land. Sie zogen einer ungewissen Zukunft entgegen, waren jedoch beflügelt von der Aussicht, in Zukunft als freie Menschen auf eigenem Grund und Boden leben zu können.

Ab 1722 begannen die so genannten Schwabenzüge, wobei dieser Name nicht ganz korrekt ist, denn es handelte sich keineswegs ausschließlich um schwäbische Bauern und Bergleute, Handwerker und Händler, die donauabwärts auf kleinen Schiffen der neuen Heimat entgegensteuerten. An die hunderttausend dürften es gewesen sein, die vor allem im Zuge von drei großen organisierten Einwanderungswellen ins Banat kamen.

Doch es war kein gelobtes Land, das sie vorfanden. Besonders am Anfang war die Besiedlung immer wieder von Rückschlägen begleitet. Die Menschen, an das dortige Klima nicht gewöhnt, litten unter Sumpffieber und blieben auch von Epidemien wie Pest und Cholera nicht verschont. Etwa dreißig Prozent der Neuankömmlinge starben.

An diese schreckliche Zeit erinnert ein Spruch, der sich bei den Menschen des Banat erhalten hat: »Die Ersten hatten den Tod, die Zweiten die Not und erst die Dritten das Brot.«

Andere Gefährdungen kamen hinzu: Vor allem in der sumpfigen Tiefebene brachten zahlreiche Überschwemmungen die fleißigen Menschen oftmals um die Früchte ihrer Arbeit. Aber sie setzten sich durch und schafften es, aus dem verödeten Gebiet eine blühende Kulturlandschaft mit prosperierenden Orten zu machen. Überdies erwiesen sich die deutschen Siedler als überaus fruchtbar, und so wuchs ihre Zahl von etwa siebzigtausend an der Wende zum 19. Jahrhundert auf annähernd fünfhunderttausend im 20. Jahrhundert.

Wann meine Vorfahren ins Land kamen, ist nicht genau bekannt, weil es keine Dokumente mehr gibt, die so weit zurückreichen, oder weil man sich gar nicht die Mühe gab, diese Daten aufzuschreiben. Man dachte nur an die Zukunft, das Vergangene war vergessen und vorbei. Allerdings wurde in unserer Familie erzählt, dass die ersten Lehmanns vermutlich schon recht früh, vielleicht also mit dem ersten Schwabenzug ins Land kamen und dass ihre ursprüngliche Heimat das Elsass gewesen sei. Zunächst aber verliert sich ihre Spur, und es lässt sich auch nicht mehr genau rekonstruieren, wo sie sich zunächst niedergelassen haben. Wahrscheinlich in Deutsch-Etschka oder Siegmundsfeld, wo sie als Pächter Landwirtschaft betrieben. Als um 1848 infolge von Revolution und Freiheitsbewegung in Ungarn die Großgrundbesitzer endgültig auf sämtliche Privilegien verzichten sollten, kam es zu unlösbaren Konflikten und unerschwinglichen Geldforderungen.

In dieser Situation hielten die Kleinpächter aus diesen Gemeinden Ausschau nach neuen Möglichkeiten und entdeckten dabei das Perleßer Riedland gegenüber von Titel am anderen Ufer der Theiß. Da es als Grenzgebiet damals dem Staat gehörte und unter Militärverwaltung stand, wandten sie sich an die kaiserlichen Behörden in Wien und ersuchten um Überlassung eines Teils dieses Gebietes. Nach anfänglich negativem Bescheid wurde dann im Dezember 1865 die Genehmigung erteilt, auf dem Riedland eine neue Gemeinde zu gründen. Mehr als dreihundert deutsche Siedler, darunter auch meine Vorfahren, hatten das Gesuch unterschrieben.

Die Genehmigung des Kaisers lautete: »Ich bewillige die Ansiedlung der Gemeinden Deutsch-Etschka und Siegmundsfeld auf dem Perleßer Riede im Deutsch-Banater Grenzregiment unter den in diesem Vertrag erörterten Bedingungen und gestatte, dass die sich hierbei konstituierende Grenzgemeinde den Namen Rudolfsgnad annehme.« Rudolf war der einzige, damals siebenjährige Sohn des kaiserlichen Paares.

Die wichtigsten Bedingungen, die von den deutschen Siedlern erfüllt werden mussten, waren der Bau eines Dammes zur Sicherung des Landes gegen Hochwasser sowie die Errichtung von Schule, Kirche und Pfarrhaus. Auch die Ablösung für die Überlassung des Landes wurde zur allseitigen Zufriedenheit geregelt. Dann konnten die Siedler mit der Rodung des Riedlandes, mit dem Umpflügen der Äcker und dem Bau ihrer Häuser beginnen. Übrigens wurden die Standorte für die Grundstücke verlost – es war also reiner Zufall, dass meine Familie sich direkt an der Theiß niedergelassen hat.

Am 2. April 1866 fand das Gründungsfest für die neue Gemeinde statt. Alle arbeiteten die nächsten Jahre äußerst hart und verdingten sich zumeist noch als Schnitter in den anderen Dörfern. Sie hatten jedoch das große Ziel vor Augen, dass es ihnen und vor allem ihren Kindern eines Tages besser gehen würde. Der Ort wuchs: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte Rudolfsgnad bereits etwa dreitausend Einwohner, von denen zwar keiner im Reichtum schwelgte, aber man hatte ein bescheidenes Auskommen und war zufrieden.

Hier im westlichen Banat am Rand der Tiefebene kam 1908 meine Großmutter Barbara Lehmann zur Welt. Die Erschütterungen und Katastrophen des neuen Jahrhunderts waren noch nicht zu erahnen – jedenfalls nicht in dieser ländlichen Abgeschiedenheit. Hier glaubte man beharrlich an den Fortbestand der Donaumonarchie, an den Fortgang des gewohnten Lebens, doch meine Großmutter sollte die kommenden Umwälzungen schmerzlich am eigenen Leib erfahren.

Ihre Erzählungen sind es, auf denen dieses Buch basiert. Ich habe viel Zeit mit ihr verbracht, denn sie lebte in unserem Haushalt. Meine Mutter war ihre jüngere Tochter, und sie hat mich mit aufgezogen. Immer wieder schilderte sie mir anschaulich und zugleich voller Wehmut ihre Vergangenheit, ihr Leben in Rudolfsgnad, den Zusammenhalt im Dorf, ihre Eltern und Geschwister, die Zeit ihrer Ehe und den schmerzhaften Verlust der Heimat.

Ihre Geschichten haben mich schon als Kind fasziniert, und irgendwann begann ich, sie aufzuschreiben. Darum auch habe ich für dieses Buch die Ichform gewählt, denn es sind die Worte und Gedanken meiner Großmutter, die da niedergeschrieben sind – authentisch und ohne nachträgliche Schönfärberei oder Sentimentalität. Mir ging es darum, ihr Leben so aufzuschreiben, wie sie es gesehen hat, und damit ihr und ihrer untergegangenen Welt ein Denkmal zu setzen.

Kleine heile Welt

Die Welt meiner Kindheit war klein und überschaubar, und ihr Mittelpunkt war Rudolfsgnad. Hier verbrachte ich fast vier Jahrzehnte meines Lebens. Es war wirklich nichts Besonderes an diesem kleinen bescheidenen Ort – es gab eine Kirche, eine Schule und ein Gasthaus, nur der Name verhieß einen Hauch von Größe, denn schließlich war das Dorf nach dem künftigen Kaiser, wie wir damals glaubten, benannt. Unser Leben verlief ziemlich ereignislos, aber es war keineswegs immer leicht, ganz im Gegenteil. Wir waren es gewöhnt, hart zu arbeiten und zufrieden zu sein mit dem, was wir hatten; und wir mussten von Kindheit an lernen, die Dinge des Lebens zu akzeptieren, wie sie waren, doch vielleicht war es gerade das, was mich für Kommendes wappnete und stärkte.

Schön an Rudolfsgnad war seine Lage. Es lag direkt am Ufer der Theiß unweit der Einmündung in die Donau – ein hoher Damm am Flussufer schützte das Dorf und seine Bewohner vor dem stets wiederkehrenden Hochwasser. Bei normalem Wasserstand jedoch war die Theiß schiffbar, und die Schiffe, die auf der Donau fuhren, legten sogar in unserem Ort an. Ich hielt mich gerne an der Anlegestelle auf und schaute sehnsüchtig zu der Station mit dem Warteraum hin, der sich in zwei Räume aufteilte – den einen für Passagiere der zweiten, den anderen für solche der dritten Klasse.

In solchen Momenten habe ich immer davon geträumt, einmal im Warteraum der zweiten Klasse auf die Abfahrt der Schiffe warten zu dürfen, denn er war sauber, groß und hell, mit Tischen und Stühlen ausgestattet – all das gab es im Warteraum, der für uns bestimmt war, leider nicht. Überhaupt liebte ich es, mit dem Schiff zu fahren, doch das war ein Luxus für uns und kam nur ganz selten in Frage. Wenn wir überhaupt einmal irgendwohin fuhren, dann nahmen wir Pferd und Wagen und zockelten auf den schlechten, holprigen Straßen langsam unserem Ziel entgegen. Trotzdem träumte ich davon, einmal mit einem der großen Schiffe bis nach Belgrad oder in die andere Richtung nach Budapest und Wien zu reisen, aber das Höchste der Gefühle für uns war eine kurze Fahrt bis zum nächsten Ort.

Etwa einen Kilometer nördlich unseres Dorfes gab es eine schwimmende Pontonbrücke, auf der man die Theiß zu Fuß überqueren konnte. Ich hasste dieses Gebilde, denn es war alt und wackelig und flößte mir Unbehagen ein. Hinzu kam, dass man nie wusste, wann man hinüber konnte, denn die meiste Zeit war der Mittelteil entfernt, um den Schiffsverkehr ungehindert passieren zu lassen. Später wurde die instabile Konstruktion durch eine solide Holzbrücke ersetzt, über die man auch mit Pferd und Wagen fahren konnte. Noch später überspannte dann eine Doppelbrücke die Theiß mit einer Spur für den Straßenverkehr und einer für die Eisenbahnschienen.

Trotzdem war diese erste primitive Brücke unendlich wichtig, denn sie verband Rudolfsgnad mit Titel auf dem anderen Ufer der Theiß. Titel war für unsere Begriffe eine richtige Stadt, wo die Frauen unseres Dorfes ihre selbst angebauten und hergestellten Produkte wie Gemüse, Wein, Obst, Speck und vieles andere mehr verkauften. Im Gegenzug gab es hier alle möglichen Läden, in denen man sich mit Sachen für den täglichen Gebrauch eindecken konnte, wobei der Gebrauch sich immer nach der Menge des vorhandenen Bargelds richtete, und das war meist herzlich wenig. Dann gab es noch eine Einrichtung in Titel, die zumindest für die begabteren Kinder von Interesse war, nämlich die ungarische Bürgerschule. Wer mehr lernen wollte, als in unserer Dorfschule möglich war, der konnte in einer halben Stunde bequem nach Titel gehen. Da übrigens das Banat verwaltungsmäßig zum ungarischen Teil der habsburgischen Doppelmonarchie gehörte, wurde in den Schulen auch Ungarisch unterrichtet.

Die wichtigsten Bezugspersonen eines Kindes sind immer die Eltern. Ich erinnere mich gut an meine Mutter. Sie hieß Katharina Lehmann, war eine große, hagere Erscheinung und trug ihr langes brünettes Haar zu einer Krone geflochten. Leider versteckte sie es die meiste Zeit unter einem Kopftuch. Ihre Augen waren von einer merkwürdigen Farbe, einer undefinierbaren Mischung aus braun, grün und grau, doch sie strahlten Güte und Wärme aus – daran habe ich mich später deutlich erinnert. Ihr Mund war schmal und passte gut zu dem ebenfalls eher schmalen Gesicht. Im Ganzen betrachtet war sie wohl keine Schönheit, sondern eine unauffällige Frau, aber sie war mir und meinen Geschwistern eine selbstlose, gütige und liebevolle Mutter.

Mein Vater Johann Lehmann war zwar etwas kleiner als meine Mutter, dabei trotzdem ein stattlicher Mann, neben dem seine Frau leicht verblasste. Sein brünettes Haar war dicht, fast buschig und umrahmte in großen Wellen sein kantiges Gesicht. Seine Lippen waren schmal, und sein Mund wirkte hart. Ein dünner Bart zierte die Oberlippe. Die Augen waren dunkel, schwarz wie Kohlen mit langen, dichten Wimpern und wirkten ein wenig stechend. Sein Körperbau war mager und drahtig. Manchmal wirkte er ein wenig düster und grimmig, doch dieser Eindruck entsprach nicht der Wahrheit.

Ich denke nicht, dass es eine leidenschaftliche Liebe war, die Vater und Mutter verband, denn wie damals zumindest in unserer Gegend noch üblich, wurden die jungen Leute von den Eltern aus praktischen oder finanziellen Gründen in arrangierte Ehen gezwungen, oft sehr zum Leidwesen der Betroffenen. In jener Zeit gaben die Familien nur ganz selten ihre Einwilligung zu einer Liebesheirat – und auch nur dann, wenn alle Voraussetzungen stimmten. Wie weh solch eine Entscheidung tun konnte, sollte ich selbst viele Jahre später erfahren. Trotzdem verliefen diese Ehen meist zumindest harmonisch. Bei meinen Eltern jedenfalls traf das zu. Sie gewöhnten sich aneinander, sie respektierten sich, und ich glaube, dass sich im Laufe ihrer Ehe sogar tiefere Gefühle zwischen ihnen entwickelten.

Das Haus, in dem sie gemeinsam mit den Großeltern Lehmann und später zusätzlich mit ihren Kindern wohnten, war wie die meisten Gebäude im Dorf aus selbst gefertigten Ziegeln erbaut. Das hatte einen ganz praktischen Vorteil, denn diese Ziegel kosteten nur Arbeitszeit und wurden in erster Linie von den Frauen unseres Dorfes hergestellt. Zu diesem Zweck wurde die lehmige, schlammige Erde am Theißufer ausgegraben, mit Schilf, das ja zur Genüge den Fluss säumte, vermischt und in Formen aus Holz gepresst, die einige Tage in der warmen Sonne trocknen mussten. Anschließend wurden die Dreckziegel, wie wir dieses Baumaterial nannten, aus der Form genommen und abermals zum Trocknen ausgelegt. So hatten es schon die ersten Siedler im Banat gehalten, und die Nachfahren blieben dabei. Natürlich gab es inzwischen auch gebrannte rote Tonziegel zu kaufen, doch diesen Luxus konnte sich kaum einer der Dorfbewohner leisten.

Es wurde das Haus meiner Kindheit und Jugend. Wie die meisten Familien des Ortes mussten wir uns mit dem Platz sehr einschränken, denn es gab nur zwei Zimmer sowie eine Küche samt Vorratsraum, alles zu ebener Erde. Trotzdem und obwohl es mir bisweilen drinnen dunkel und modrig vorkam, habe ich an diesem Zuhause gehangen. Wie sehr, merkte ich erst, als ich es verlassen musste. Man betrat das Haus nicht von der Straßenseite, sondern vom Garten aus über einen offenen Laubengang. Trat man über die Schwelle der alten, stets knarrenden Haustüre, stand man sofort in der Küche. Sie war rechteckig und etwa zwölf Quadratmeter groß mit einer niedrigen Decke, kaum mehr als zwei Meter hoch. Die Wände waren weiß gekalkt und hatten nicht das glatte, ebenmäßige Aussehen, wie man es später gewöhnt war. Mangels anderer Materialien waren sie mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh »verputzt« und dann mit Kalk weiß getüncht worden. Trotz dieser primitiven Bauweise wirkte unsere Küche sauber und gemütlich. Sechs kleine und zwei größere Heiligenbilder zierten die Wände. In der vorderen rechten Ecke befand sich ein Herrgottswinkel mit einem schönen, von Großvater selbst geschnitzten Holzkreuz. Ein einziges, nicht allzu großes, zweiflügeliges Fenster mit Oberlicht, das zur Straße hinausging, erhellte nur schwach den Raum. Es hatte keinen Vorhang genau wie die Fenster in den anderen Zimmern – offensichtlich waren Gardinen damals bei uns auf dem Land noch nicht üblich. Überhaupt war vieles anders, primitiver. Die Fußböden im ganzen Haus bestanden aus gestampftem Lehm, waren aber dennoch beinahe glatt wie Linoleum. Einmal pro Woche wurden sie gründlich mit in Wasser aufgelösten Kuhfladen geschrubbt – ein altes Hausmittel, das den Böden, ich weiß nicht warum, immer wieder ein sauberes, glänzendes Aussehen verlieh. Durch diese Prozedur verbreitete sich allerdings vorübergehend ein übler Geruch im ganzen Haus.

In der Küche stand natürlich als wichtigstes Möbelstück unser Esstisch, um den sich fünf Stühle verschiedenster Art, Größe und Farbe reihten. Sobald alle Kinder geboren waren, musste die Familie also schichtweise essen, weil es an Platz für weitere Stühle mangelte. Doch das war nicht wirklich schlimm, da es nicht nur bei uns, sondern auch bei den meisten Verwandten, Freunden und Nachbarn im Dorf nicht anders aussah. Tisch und Stühle waren einfach und zweckmäßig aus rohem Holz gezimmert; luxuriöse Sachen wie Polsterauflagen oder Kissen für die Stühle gab es nicht. Aber wir kannten es nicht anders und vermissten nichts. Auch was heute in keiner Küche fehlen darf, gab es in unserer nicht: einen Schrank. Alles, was wir an Geschirr besaßen – und das war eher dürftig –, war in einem Holzregal neben dem Fenster untergebracht. Unser Besteck, aber auch Teller und Tassen waren aus Blech. Nur die Töpfe und Pfannen waren aus schwerem Gusseisen und wurden bei der Feuerstelle verwahrt.

Das Herzstück jeder Küche war damals der Herd. Man darf dabei jedoch nicht an die uns bekannten Kohleherde aus Großmutters Zeit denken, denn was wir in unserem Haus hatten, war lediglich eine offene Feuerstelle mit Rauchabzug in der Decke. Auf der Kochstelle stand ein dreiteiliges Eisengestell, Dreispitz genannt, in das man die Kochtöpfe einhängen konnte. Etwas weiter rechts war in die Mauer ein Backofen eingelassen, der im Winter im ganzen Haus wohlige Wärme verbreitete, es im Sommer jedoch unerträglich heiß werden ließ. Das war jedoch nicht zu ändern, denn täglich wurde bei uns gebacken, meist frisches Brot, doch manchmal auch zur Freude der Kinder Kuchen. Ein wunderbarer Duft durchströmte dann das ganze Haus, und wenn ich mich konzentriere, kann ich heute noch diesen Geruch wahrnehmen, der mich mit Wehmut und Melancholie erfüllt, weil er mich an meine kleine heile Welt erinnert.

Von der Küche aus ging es in die beiden restlichen Zimmer, die als Schlafräume dienten, das eine für die Eltern, das andere für die Großeltern. Beide wurden beherrscht von riesigen Doppelbetten, die fast den gesamten Raum ausfüllten. Im Zimmer meiner Eltern war gerade noch Platz für ein schmales Bett, das ich mir mit meiner Schwester teilen musste. Obwohl ein großes Ehebett in allen Schlafräumen vorhanden war, schien es zu meiner Kinderzeit in unserem Dorf üblich zu sein, dass die Ehepaare nur in einer Hälfte des Bettes schliefen und die andere Seite völlig ungenützt ließen, obwohl das zweite Bett ebenfalls mit Strohsack, Polster und Decken ausgestattet war. Wollten sie die eine Hälfte schonen und für später aufheben? Allein wegen der Wärme kann es nicht gewesen sein, denn dies hätte nur im Winter einen Sinn gemacht.

In Rudolfsgnad blieben in der Regel die Haustüren unverschlossen, das war bei uns nicht anders. Was sollte schon passieren? In einem kleinen Ort, in dem jeder jeden kannte, vertraute man einander. Blieben höchstens durchziehende Hausierer oder Landstreicher. Aber da war Großvater der Ansicht, bei uns gäbe es nichts zu holen, und kein Einbrecher würde so dumm sein zu glauben, er könnte bei uns irgendetwas von Wert vorfinden, wofür sich das Risiko eines Einbruchs lohnte. Also wurde der riesige Schlüssel im Schloss der dunkelbraunen Haustüre nie herumgedreht und war fast schon eingerostet.

Dann kam eine mondhelle Nacht im Spätsommer. Es war lange vor meiner Geburt, doch meine Großmutter hat mir immer wieder von dem Einbrecher erzählt, der sich lautlos durch die unverschlossene Tür ins Haus schleichen wollte. Aber er hatte nicht das laute Knarren der Tür bedacht, das meinen Vater auf der Stelle weckte. Hellwach sprang er aus dem Bett und stürmte durch das Schlafzimmer der Großeltern in die Küche. Der Einbrecher, der nicht damit gerechnet hatte, gestört zu werden, suchte fluchtartig das Weite. Wer der ungebetene nächtliche Besucher war, hat man nie in Erfahrung gebracht, aber seit dieser Nacht achteten alle sorgfältig darauf, dass abends die Haustüre zugesperrt wurde.

Unser Haus lag so nah an der Theiß, dass unser Garten vom Hochwasserdamm begrenzt wurde. Im Winter war das ein großartiger Hang zum Schlittenfahren, natürlich nur, wenn Schnee lag, was in den milden Wintern der Tiefebene nicht gerade häufig vorkam. Hinter dem Haus ragte zwischen Hof und Damm der Futterspeicher für unsere Tiere auf. Als ich klein war, schien er mir so groß, als würde er den Himmel berühren. Auch standen im Hof und entlang des Dammes die Ställe für unsere Tiere. Meist hatten wir vier bis fünf Schweine, ein paar Kühe, drei Pferde, dazu Hühner, Gänse und Enten, die tagsüber frei herumliefen. Außerdem hatten meine Mutter und Großmutter im Garten ein paar Gemüsebeete angelegt; nicht allzu viele, denn wir besaßen ja noch Felder, auf denen in größerem Umfang und nicht nur für den Eigenbedarf Gemüse gezogen wurde.

Auf unseren Feldern wuchs neben Weizen, Mais und Tabak auch Mohn, der damals einem zumindest für heutige Verhältnisse recht merkwürdigen Zweck diente. Die Mohnköpfe wurden zerbröselt, mit Brotkrumen vermischt und fest in ein kleines Tuch eingebunden, das man als eine Art Schnuller den Kleinkindern zum Lutschen in den Mund steckte. Es sollte angeblich eine beruhigende Wirkung ausüben, ob dies tatsächlich der Fall war, kann ich nicht sagen. Ich jedenfalls habe es bei meinen eigenen Kindern nicht ausprobiert.

Außer Garten, Hof und Feldern gehörte noch ein äußerst ertragreicher Weingarten zu unserem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, und Jahr für Jahr kelterten Vater und Großvater Wein aus den Früchten unserer Rebstöcke. Der Wein fiel nicht immer gleich aus – mal war er besser, mal schlechter. Ganz vorzüglich war jedoch immer die Weinsuppe, die wir um die Weihnachtszeit regelmäßig zu kochen pflegten. Ich habe das Rezept aufbewahrt, und wenn ich sie später in meinem neuen Leben zubereitete, kam sie mir vor wie ein Gruß aus der alten Heimat – wie der Geschmack und der Geruch der Kindheit.

Ihre Zubereitung ist ganz einfach:

Man nimmt einen halben Liter Wein, einen Achtelliter Wasser, eine Zimtstange, vier Gewürznelken und erhitzt die Mischung kurz. Anschließend schlägt man vier Eidotter mit hundertfünfzig Gramm Zucker und einem Achtelliter Sahne auf, rührt dieses mit dem Schneebesen in die Weinmischung und lässt das Ganze nochmals kurz aufkochen.

Ein liebevolles Zuhause

Der Tag, an dem ich zur Welt kam, der 11. Oktober 1908, war regnerisch, windig und zu kalt für die Jahreszeit. Es war früher Nachmittag, als meine Mutter nach der Hebamme schickte. Meine Geburt war nicht sonderlich spektakulär, sondern ging ganz reibungslos vonstatten. Zumindest hat mir das meine Großmutter erzählt, aber meine Mutter hatte ja auch schon Erfahrung, denn zwei Jahre zuvor war meine Schwester Anna geboren worden. Als mein Vater abends bei seiner Heimkehr aus dem Weingarten mit seinen schweren, klobigen Schuhen ins Schlafzimmer zu seiner Frau trat und die neue Tochter in Augenschein nahm, war er wohl ein bisschen enttäuscht, dass es wieder ein Mädchen war – er hatte sich so sehr einen Sohn gewünscht. Trotzdem beteiligte er sich sogleich an der Namenssuche, und während Großmutter Anna die Kartoffelsuppe von mittags aufwärmte, einigten sich meine Eltern nach kurzer Diskussion auf den Namen Barbara.

Als ich anderthalb Jahre alt war, ging endlich der Wunsch meines Vaters in Erfüllung – im April 1910 kam der ersehnte Sohn, mein Bruder Hans, zur Welt. Alle im Haus freuten sich riesig, dass es diesmal ein Junge war, und Vater und Großvater rauchten zur Feier des Tages im Laubengang eine Tabakspfeife. Das hört sich heute so belanglos an, doch damals war es etwas ganz Besonderes, Tabak zu rauchen, denn gewöhnlich rauchten die Männer nur getrocknete Petersilienblätter. Der Tabak, der reichlich auf den Feldern rund um unser Dorf wuchs, war keineswegs für den Eigenbedarf gedacht, sondern wurde, sobald die Blätter getrocknet und gebündelt waren, gegen ein geringes Entgelt abgegeben. Es gab nämlich seit den Zeiten von Kaiser Josef II. ein Tabakmonopol, was bedeutete, dass der Staat allein über Anbau, Herstellung und Verkauf bestimmte. Wer also wie mein Vater auf einem Feld Tabak anbauen wollte, tat das in staatlichem Auftrag, musste vorher bei der kaiserlichen Monopolverwaltung eine Genehmigung einholen und natürlich die gesamte Ernte abliefern. Für die kleinen Bauern bedeutete das ein bescheidenes Zubrot, für die Staatsfinanzen einen riesigen Gewinn.

Ich erinnere mich an einen Sommer meiner Kindheit, als Mutter und Großmutter eifrig damit beschäftigt waren, das halbe Haus leer zu räumen. Alles verstauten sie in Kisten und Truhen – Lebensmittel, Kleidung, Geschirr und allerlei anderes Zeug. Ich verstand nicht, was das alles bedeutete, und auf meine Fragen erhielt ich keine oder nur unbefriedigende Antworten. Überall waren wir im Weg, Anna und ich, ständig schob man uns von einem Zimmer ins andere. Mein Bruder Hans war noch sehr klein, er schlief und bekam nichts mit von dem aufgeregten Treiben im und rund ums Haus. Hinaus konnten wir auch nicht, denn es regnete seit Tagen ohne Unterlass, und so wie es aussah, würde sich daran so schnell nichts ändern, sagte zumindest meine Mutter.

Wir Mädchen standen am Fenster und schauten gebannt hinaus auf die Straße, wo ein heilloses Durcheinander herrschte, nein eigentlich war es schon eher Panik, die man in den Gesichtern der Männer lesen konnte, die geschäftig hin- und herliefen. Vater und Großvater waren ebenfalls draußen im Regen. Wir sahen, wie sie unsere Tiere unter dem Fenster vorbei trieben, die Straße hinunter, und hatten nicht die geringste Ahnung, was das alles sollte. Warum holten sie die armen Tiere bei diesem grässlichen Wetter aus ihrem schönen, warmen Stall?

Ich weiß noch, dass ich zu weinen begann und plötzlich schreckliche Angst bekam, als ich beobachtete, wie mein Vater versuchte, eine unserer Kühe mit dem Stock voranzutreiben, obwohl das verängstigte Tier kaum von der Stelle zu bewegen war. Ich sah, wie Vater auf der vom Regen aufgeweichten Straße fast bis zu den Knien im Schlamm versank und bei jedem Schritt Mühe hatte, die Füße herauszuziehen. In diesem Moment kam die Großmutter zu uns ins Zimmer, weil sie unser Weinen gehört hatte – inzwischen hatte sich Anna nämlich von meinem Kummer anstecken lassen. »Kinder«, rief sie, »was ist denn, warum heult ihr denn so, ihr weckt mir ja noch euren Bruder auf. So beruhigt euch doch.« Wir liefen zu ihr hin und versteckten unsere Köpfe in ihrer Schürze, ohne dabei unser Schluchzen wesentlich zu unterbrechen. Großmutter nahm uns an der Hand und führte uns zum Bett. Sie setzte sich und nahm uns beide, die eine links, die andere rechts, auf den Schoß. »Ich werde euch jetzt mal etwas erzählen«, sagte sie. Nachdem auch der kleine Hans, den wir mit unserem Weinen tatsächlich aufgeweckt hatten, auf Großmutters Schoß geklettert war, begann sie mit ihrer Erzählung:

»Mädchen, ihr seid schon groß, besonders du, Anna, und werdet verstehen, was ich euch jetzt erkläre. Ihr habt doch bemerkt, dass es seit Tagen sehr stark regnet, und wir fürchten, dass es nicht so schnell aufhören wird. Durch den vielen Regen ist das Wasser in der Theiß und der Donau immer mehr gestiegen, und wenn der Regen nicht bald aufhört, könnte es passieren, wie es vor einigen Jahren auch der Fall war, dass der Damm an manchen Stellen dem Druck der Wassermassen nicht länger standhält und bricht. Das würde bedeuten, dass dann das Wasser in unser Dorf käme und unsere Häuser und unsere Ställe überflutet, und darum müssen wir vorsorgen.«

Großmutter machte eine kleine Pause, die ich dazu nützte zu fragen: »Was heißt vorsorgen Oma?«

»Vorsorgen heißt in diesem Fall, dass wir alles, was wir zum Leben brauchen, einpacken und auf dem Damm in Sicherheit bringen müssen, auch unsere Tiere, damit sie nicht in ihren Ställen ertrinken, denn das wollen wir doch nicht.«

»Bringt Vater unsere Tiere jetzt auf den Damm?«

»Ja, und Großvater hilft ihm dabei. Das ist nicht ganz leicht, denn die Tiere haben Angst, sie verstehen ja nicht so wie ihr, warum wir sie aus ihren trockenen Ställen hinaus in den Regen treiben.«

»Und wir, Oma Anna, gehen wir dann auch auf den Damm?«

»Natürlich Barbara, und darum muss ich jetzt auch wieder eurer Mutter helfen, alles einzupacken, damit wir es später auf dem Damm einigermaßen bequem haben und nicht hungern und frieren müssen. Schließlich wissen wir ja nicht, wie lange es dauern wird, bis wir wieder nach Hause können.«

Großmutter verließ uns und ging zurück in die Küche. Wir stellten uns erneut ans Fenster und sahen nun etwas beruhigter dem Treiben auf der Straße zu. Hans hoben wir auf einen Schemel, damit er hinausschauen konnte. Den ganzen Vormittag blieben wir auf unserem Aussichtsposten, verhielten uns ruhig und spielten mit dem Kleinen, damit Mutter und Großmutter ungestört arbeiten konnten. Am frühen Nachmittag wurde die Straße langsam leerer, und auch Vater und Großvater kamen ins Haus, um mit uns eine heiße Suppe zu essen. Sie waren völlig durchnässt und machten einen müden und erschöpften Eindruck.

Nach dem Essen mussten wir uns dann warm anziehen, und gemeinsam gingen wir hinaus. Bereits an der Haustüre peitschte uns der Regen ins Gesicht; Hans schrie, und wir stimmten in sein Geschrei ein. Vater nahm daraufhin meinen Bruder auf den Arm und trug ihn hinaus auf die Straße. Ich ging an Großmutters Hand hinter Vater her, gefolgt von Anna, die sich krampfhaft an Mutter klammerte. Großvater verließ als Letzter das Haus und schloss hinter sich die Tür ab. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, zog tief die Mütze in seine Stirn und beeilte sich, uns nachzukommen.

Der Wind schien stärker geworden zu sein, wir stemmten uns dagegen und hatten Mühe, vorwärts zu kommen. Wir gingen zu Fuß, mir war schleierhaft, warum wir nicht wie sonst mit Pferd und Wagen fuhren, aber ich konnte keine Fragen stellen, weil der Wind und der Regen die Stimme übertönten. So ließ ich mich einfach von Großmutter ziehen und versuchte, tapfer zu sein, doch trotz allen Bemühens konnte ich nicht verhindern, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Endlich, mir schien es wie eine Ewigkeit, erreichten wir den Damm, und was wir da zu sehen bekamen, versetzte mich in Staunen. Der Damm war voll von Kühen, Pferden und Wagen, auch unser Wagen war darunter. Die Plane war fest über den Wagen gespannt, damit der Wind sie nicht fortreißen konnte. Wir Kinder wurden hineingeschoben und waren endlich im Trockenen und zumindest halbwegs Warmen.

Eng aneinandergepresst saßen wir drei dann auf dicken Polstern und Decken und warteten. Von draußen hörten wir Vaters Stimme; er unterhielt sich mit jemandem über das Hochwasser: »Wollen wir mal hoffen, dass es nicht so schlimm wird wie 1907. Wenn wieder die Dämme brechen und unsere Ernte verlorengeht, weiß ich nicht, wie wir über den Winter kommen sollen.«

Ich stieß meine Schwester in die Rippen und fragte: »Anna, was meint Vater damit, wenn die Dämme brechen?«

»Ach, das weiß ich auch nicht.«

»Aber du warst damals schon auf der Welt, du musst doch wissen, was er damit gemeint hat.«

»Damals war ich ein Baby, da kann ich mich wohl kaum erinnern. Gib jetzt endlich Ruhe.«

Hans begann wieder zu weinen, und ich nahm das zum Anlass, nach meiner Mutter zu rufen. Ich kletterte aus dem Wagen und hörte noch, wie Anna hinter mir herrief. »Barbara, bleib hier, was machst du denn draußen, das darfst du nicht.«