Oliver Buslau, 1962 geboren, lebt in Bergisch Gladbach und ist seit 1994 freier Autor, Redakteur und Journalist. Er ist Gründer, Chefredakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift »TextArt – Magazin für Kreatives Schreiben«. Im Emons Verlag erschienen sieben Kriminalromane um den Privatdetektiv Remigius Rott: »Die Tote vom Johannisberg«, »Flammentod«, »Rott sieht Rot«, »Bergisch Samba«, »Bei Interview Mord«, »Neandermord« und »Altenberger Requiem«. Außerdem die Rheintal-Krimis »Schängels Schatten« und »Das Gift der Engel«, der Fantasy-Roman »Der Vampir von Melaten« und der historische Kriminalroman »Schatten über Sanssouci«. Darüber hinaus schrieb Oliver Buslau den Thriller »Die fünfte Passion«, der ins Italienische übersetzt wurde.
www.oliverbuslau.de
www.remigiusrott.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Mehr dazu im Nachwort.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © mauritius images/Hartmut Röder
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-208-1
Originalausgabe

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Prolog

Oh, là, là …

Da regt sich was!

Die knotige, fleckige Hand tastet sich zum bereitliegenden Fernglas. Der Mann stöhnt leise, als er den schwarzen Feldstecher anhebt und an die Augen führt. Seine Finger schmerzen. Die Gicht. Heute ist es mal wieder besonders schlimm.

Langsam gleitet sein fokussierter Blick über die Häuser, die aus den Feldern und Weiden herausragen wie erstarrte Schiffe aus den Wellen in einem grünen Meer.

Ah, dahinten … da arbeitet jemand. Quelle surprise! Normalerweise sieht man den jungen Mann, der erst vor einem halben Jahr in das Haus eingezogen ist, höchstens mal Rasen mähen. Die Woche über ist er in der Stadt. Buchhalter oder so was, heißt es. Ein Bürohengst. Dem macht der Garten sicher wenig Spaß. Wollen nichts dafür tun, die jungen Leute. Sich einfach reinsetzen. Am liebsten hätten sie Gras, das von Natur aus kurz bleibt. Auch die Frau ist selten draußen zu sehen. Quel dommage! Hübsches Ding. Kommt ganz nach der Mutter.

Er bewegt das Fernglas, stellt es schärfer. Vielleicht zeigt sie sich irgendwo?

Er hat die Mutter noch gekannt. Vor sechs Jahren ist sie gestorben. Und der Alte lebt jetzt in einem Pflegeheim. Immerhin hat er der Tochter das Grundstück hinterlassen, damit sie das Fertighaus draufstellen kann.

Er sucht die Fenster des blendend weißen Gebäudes ab. Die Sonne spiegelt sich in den glänzenden Dachziegeln. Sie sehen aus wie frisch gewaschen.

Die Frau ist nicht da. Wahrscheinlich einkaufen. Noch ein Schwenk – diesmal zur Garageneinfahrt. Dort steht der dunkle Renault. Nein, sie muss zu Hause sein. Sicher ist sie mit der Wäsche beschäftigt.

Was macht der Herr Gemahl?

Er kann ihn zuerst nicht finden, doch dann bemerkt er eine Bewegung an dem grünen Geräteschuppen aus Metall, der ganz in der Ecke des Grundstücks, in der Nähe der Garage steht. Der junge Mann kommt heraus. Er hat etwas in der Hand.

Mon Dieu, das ist ja eine Spitzhacke.

Was will der Buchhalter, der sich sonst nur den Hintern über seinen Zahlen platt sitzt, damit?

Die Hacke ist sichtlich schwer. Der Mann trägt sie zuerst seitlich, dann bleibt er stehen und legt sie sich über die Schulter. Nach ein paar Schritten wird ihm aber auch das zu unbequem, und er fällt wieder ins Tragen zurück. Das kann man nicht lange machen. Dabei hält man sich schief und riskiert einen Hexenschuss. Oder einen Bandscheibenvorfall.

Fast tut ihm der junge Mann leid, wie er da so linkisch mit der Hacke hantiert. Aber die Schadenfreude überwiegt. Ein leises Lachen entringt sich ihm, als er ihm mit dem Fernglas bis zur Mauer folgt.

Und da wird ihm klar, was der Mann vorhat.

Die Mauer stützt den hinteren Teil des Grundstücks ab, das gut zwei Meter höher liegt. Dort oben wuchert es gewaltig. Es ist ein wahrer Urwald aus Büschen, Brombeerranken, allerlei Unkraut und vielleicht sogar irgendwelchen Resten von Sperrmüll, längst überwachsen, rostend und vergessen. Von der Fläche her gesehen macht dieses terrassenähnliche Gelände mehr als ein Drittel des gesamten Grundstücks aus. Früher, als es noch zu einem viel größeren Anwesen gehörte, war der Bereich so eine Art Rumpelkammer – für ausgediente Metallteile, Autoreifen, Baumschnitt und sonstigen Kram. Damals stand dort oben ein kleines Gebäude, das man über eine Treppe an der Seite erreichen konnte. Ein Schuppen oder ein Hühnerstall. Irgendwann hat es reingeregnet. Die Steine waren für was anderes gebraucht worden. Vielleicht sogar für die Mauer, die den nun völlig unbrauchbaren Teil des Grundstücks abstützte.

Er hat den jungen Mann genau im Blick, als der die Hacke hochhebt und mit aller Kraft zuschlägt. Kaum hat er den ersten Streich getan, sieht er sich das Ergebnis an. Man braucht kein Fernglas, um zu erkennen, dass die Spitzhacke nicht viel angerichtet hat.

Um so eine Mauer einzureißen, brauchst du mehr als dieses Kinderspielzeug, mit dem du noch nicht mal umgehen kannst, denkt er. Und du brauchst mehr auf den Armen.

Der junge Mann holt wieder aus und macht dabei den typischen Anfängerfehler, sich vom Schwung der Hacke mitreißen zu lassen, anstatt ihr Gewicht sinnvoll einzusetzen. Er lässt sich davon aber nicht abhalten.

Durchhaltevermögen hat er ja. Das muss man ihm lassen.

Nach und nach findet er sich in seine Arbeit hinein, obwohl das Ganze wie die Aufgabe des berühmten Sisyphos wirkt. Die Mauer ist mindestens zwanzig Meter lang. Für einen einzigen Meter wird er einen halben Tag brauchen. Das sind zehn Tage Arbeit, um das Ding einzureißen. Und dann geht es erst richtig los. Die Steine müssen abtransportiert werden. Damit das funktioniert, muss man sie Stück für Stück auf einen Anhänger schaffen. Und woanders wieder ausladen.

Der junge Mann schuftet verbissen weiter. Irgendwann zieht er sein Hemd aus und steht jetzt in knielangen Shorts und festen Schuhen da. Immerhin hat er daran gedacht, sich dicke Arbeitshandschuhe anzuziehen. Sonst hat man nach einer solchen Arbeit ruck, zuck Blasen an den Händen. Es ist ja sicher nicht so, dass der Junge gute Hornhaut hat. Die kriegt man nicht, wenn man den lieben langen Tag im Büro sitzt.

Vielleicht will er ja gar nicht die ganze Mauer einreißen, sondern nur einen Durchgang schaffen. Damit ein Bagger oder irgendwas anderes auf die Terrasse hinaufkommt, um dort alles mal so richtig frei zu schneiden.

Während er beobachtet, wie der junge Mann Stein um Stein aus der Mauer löst, wie Stücke abbröckeln und rohe Erde herabrieselt, fragt er sich, wer ihm sagen könnte, was der Kerl da drüben genau vorhat. Er beschließt, Ariane zu fragen, wenn sie mittags nach ihm sieht. Sie wird es nicht wissen, aber sie kann es beim Einkaufen in Erfahrung bringen, in der Fleischerei. Die Schwester der Verkäuferin wohnt doch nur zwei Häuser weiter. Sie hat sich auch so ein weißes Fertigding dahin gesetzt.

Eine Zeit lang ist es langweilig dort drüben.

Der junge Mann macht eine Pause, nachdem er immerhin sechs Steine aus der Mauer gezerrt hat. Er hat sie mit der Spitzhacke nicht nur herausgelöst, sondern einige mit seinen behandschuhten Händen praktisch ausgraben müssen.

Und nun kann er nicht mehr.

Hat er eigentlich was zu trinken dabei? Natürlich nicht. Hat er vergessen. Und seine Frau kommt gar nicht auf die Idee, ihm etwas zu bringen.

Aber Moment mal, der Mann macht nicht den Eindruck, wirklich Pause zu machen. Oder durstig zu sein. Er hat die Hacke auf den Rasen gelegt und beugt sich über die Mauer, als wolle er sich wieder einem besonders hartnäckigen Stein widmen. Aber er tut nichts weiter. Schaut sich nur das Loch zwischen den geschichteten Natursteinen an.

Jetzt dreht er sich um und hebt die Hacke auf. Sieht aus, als hätte er schon ein bisschen Routine. Er hat gelernt, seine Kräfte richtig einzusetzen.

Er legt die Metallspitze in das Loch und …

Er schlägt nicht, sondern gräbt.

Eine ganze Weile gräbt er, aber es ist aus dieser Perspektive nicht zu erkennen, wonach. Da kann man das Fernglas noch so scharf stellen. Da ist was zwischen den Steinen, aber was?

Das Türschloss unten knirscht. Schritte sind auf den Steinfliesen im Flur zu hören. Ariane kommt.

Er sieht zur Uhr. Schon Mittag. Wie die Zeit vergeht.

Sie soll nicht sehen, dass er hier mit dem Fernglas sitzt. Er behauptet immer, dass er nur Vögel beobachtet, aber sie weiß genau, dass das nicht stimmt. So schwer es ihm fällt, er legt den Feldstecher zur Seite und tut so, als würde er schlafen. Alte Männer nicken hin und wieder ein, das ist ganz normal.

Mit geschlossenen Augen hört er, wie sie die Zimmertür öffnet. Einen Moment ist es still. Er spürt ihren Blick auf sich ruhen. Dann verlässt sie den Raum wieder.

Er wartet noch ein paar Sekunden, bevor er wieder zum Fernglas greift. Er beißt die Zähne zusammen, als ihm der Schmerz durch die Finger fährt.

Der junge Mann hat seine Frau geholt und deutet auf die Stelle, an der er gearbeitet hat. Er gestikuliert wild. Seine Frau wirkt ruhiger, sie nimmt die Sache genau in Augenschein. Schüttelt den Kopf. Fährt sich durch das dunkle Haar.

Der Mann geht auf die Mauer zu. Seine Frau will ihn zurückhalten. Sie packt ihn am Arm, aber er wehrt sie kopfschüttelnd ab. Vor der mannshohen Wand aus Natursteinen duckt er sich.

Und verschwindet.

1

Es war ein Brüllen, ein Scheppern, ein Prasseln. Ohrenbetäubend und von schweren Vibrationen begleitet – wie bei einem Erdbeben.

Fred Bleikamp hob verschlafen den Kopf. Ein Kreischen zuckte durch seinen Schädel, bis hinunter ins Rückenmark. Der Traum, in dem er aus der Ferne irgendwelche undefinierbaren Rufe wahrgenommen hatte, glitt von ihm ab. Mühsam setzte er sich auf, öffnete die Augen und registrierte, dass der Wecker acht Uhr sechsundvierzig zeigte.

Auf einmal herrschte Stille. Dann ging das Brüllen und Scheppern wieder los.

An der gegenüberliegenden Wand starrte ihm von einem Poster der Eiffelturm entgegen. Das Bild schien sich noch einen Moment dagegen aufzubäumen, dann lösten sich die oberen Reißzwecken, mit denen Fred es an der Raufasertapete befestigt hatte, und es segelte zu Boden wie ein erlegter Vogel.

Fred sprang auf und riss den Vorhang zur Seite. Draußen sollte es um diese Zeit hell sein, aber im Zimmer blieb es milchig und grau. Eine dreckige Plastikwand hielt das Tageslicht draußen und versperrte die Sicht auf die gegenüberliegende Häuserzeile der Bonner Dorotheenstraße. Die ockerfarbenen Fassaden wirkten wie mit unscharfer Kamera aufgenommen, mit einer Linse, die in den Dreck gefallen war. Eine schwarze Gestalt trat von rechts in Freds Blickfeld. Es war ein Bauarbeiter, der ihn kurz musterte, die Hand an den gelben Helm hielt, freundlich nickte und weiterging.

Freds Wohnung befand sich im dritten Stock. Er drehte den Griff zur Seite, um das Fenster zu öffnen. Als die Scheibe aufschwang, wurde der Baulärm schlagartig viel lauter. Unter dem Sims verlief das Brett eines Baugerüsts. Oben waren die Arbeiter dabei, weitere Etagen aufzubauen. Gleichzeitig knatterte unten immer noch der Presslufthammer.

Fred schloss das Fenster und warf einen Blick in sein Zimmer. Der kleine Schreibtisch mit der altertümlichen Olympia mit eingespanntem Papier. Stapel von Taschenbüchern. Ein aufgeschlagener Collegeblock mit eng geschriebenen Notizen. Stifte. Ein halb geleertes Whiskyglas. Die Gitarre an der Wand. CDs im Regal.

Sein Reich. Bedroht von Presslufthämmern. Umhüllt von einer Plastikwand.

Er flüchtete in das kleine Bad, wobei er fast auf dem herabgefallenen Poster ausgerutscht wäre, und zog die Tür hinter sich zu. Aus dem Prasseln wurde ein fernes, aber immer noch vibrierendes Knattern. Immerhin. Ein paar Sekunden stand er nur da. Betrachtete sein Bild im Spiegel über dem Waschbecken. Seine schmächtige Figur in Feinrippunterwäsche.

Fetzen seines Traumes kamen ihm wieder in den Sinn. Die Gespräche der Männer, ohne Zweifel waren es die Stimmen der Arbeiter da draußen, hatten sich erst am Ende eingeschlichen. Davor war Fred durch menschenleere Landschaften gefahren. Durch Wüsten, weite Grasebenen und einsame Gebirge. Hinein in einen blauen, endlosen Himmel.

Er drehte die Dusche auf, während er weiter seinen Gedanken nachhing. Irgendwann stellte er fest, dass es eisig wie ein Gebirgsbach aus dem Duschkopf sprühte. Er öffnete das Warmwasserventil bis zum Anschlag. Der Strahl wurde dünn und dünner, versiegte schließlich ganz. In den Tiefen der Leitung schien es zu röcheln.

Fred fluchte, setzte sich mit einem Griff zur Türklinke der brutal hereinbrechenden Lärmwolke aus, schnappte sich wie ein Soldat, der im Feuergefecht das rettende Verbandszeug aus der Schusslinie holt, das Telefon von der Ladestation und zog sich in den Bunker des Bades zurück.

Um zehn nach neun gab es immer noch kein Wasser.

Wieder wagte er sich in die Lärmhölle und suchte in der kleinen Kommode nach seinem Mietvertrag. Er fand ihn in einem verstaubten Schnellhefter mit verbogener Metallzunge, blätterte ihn durch und entdeckte die Telefonnummer der Hausverwaltung. Im Bad wählte er. Nebenan wummerte es. Fred hielt sich das freie Ohr zu.

Piep. Piep. Piiiep. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Piep. Piep. Piiiep. Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Fred drückte Rot und wählte erneut. Die Auskunft meldete sich. Er las aus dem Ordner ab: »Die CNF Hausverwaltungs-GmbH in Reutlingen bitte.«

Die Stimme der Frau war unpersönlich, aber freundlich. »Da habe ich drei Einträge. Eine für Industriebauten, eine für Parkhäuser und eine für Flughafenmanagement.«

»Geben Sie mir alle drei.« Nichts zum Aufschreiben. »Moment.«

Der Baulärm hatte wieder den Atem angehalten. In völliger Stille konnte er einen Stift vom Schreibtisch holen.

Um neun Uhr achtundfünfzig war es ihm gelungen, jemanden ans Telefon zu bekommen, der sich zuständig fühlte. Die Frau hätte dieselbe sein können wie die von der Auskunft. Freundlich. Geduldig. Unpersönlich. Wasser gab es immer noch nicht.

»Sagen Sie mir bitte noch mal Ihre Adresse.«

Fred sagte sie. Die Dame tippte.

»Fassadenrenovierung. Hier hab ich’s. Wir führen eine Fassadenrenovierung durch.«

»Das merke ich. Aber wann habe ich wieder Wasser?«

»Die Renovierung geschieht im Zuge energiesparender Maßnahmen. Allen Mietern wurden vor drei Monaten Informationen zugestellt.«

»Das habe ich nicht gefragt. Und ich habe keine Information erhalten.«

»Über die Dauer der Maßnahme steht hier leider nichts. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen aber das Schreiben noch einmal zustellen. Auch per Mail, wenn Sie möchten. Wie ist Ihre Adresse?«

»Die habe ich Ihnen jetzt schon dreimal gesagt.«

»Ich meine die Mailadresse, Herr Bleikamp.«

»Hören Sie …«

Draußen ratterte es wieder los. Fred dachte erst, es käme von dem Krach, dass er auf einmal das Gefühl hatte, hinter dem Telefonhörer würde ein schwarzes Loch gähnen. Als sei da niemand mehr. »Hallo?«, rief er. »Hören Sie mich? Sind Sie noch da?«

Keine Antwort.

Fred sah sich das Telefon an. Das Display war nicht beleuchtet. Er nahm das kleine Radio, das vor dem Lüftungsfensterchen stand, drehte es an und stellte es ganz laut. Eigentlich sollten jetzt klassische Klänge der Sendung »Mosaik« auf WDR 3 mit dem Lärm da draußen wetteifern. Aber es kam nichts. Das Radio war tot. Genauso wie das Telefon.

Der Strom war weg.

2

»Was willst du haben? Urlaub? Mensch, bist du noch ganz dicht? Jetzt, wo wir Hochsaison haben?« Karl Spalowsky, den nur Freunde und manche Untergebene Charly nennen durften, schüttelte den Kopf, als hätte Fred einen dummen Witz gemacht. Er legte demonstrativ die Füße auf den Tisch, was angesichts seiner immensen, an Reiner Calmund erinnernden Leibesfülle eine größere Aktion war.

Fred hatte es kommen sehen. Für Charly war immer Hochsaison. Den lieben langen Tag konnte man mutmaßliche Ehebrecher verfolgen, Sozialschmarotzer aufspüren oder Zeugen suchen. Die Detektei lief gut.

»Ich brauche jeden Einzelnen«, sagte Charly.

»Jeden Einzelnen? Wen außer uns beiden gibt es denn noch?«

Wenn Fred an Charly etwas hasste, dann diese Art, ständig große Töne zu spucken. Kunden gegenüber konnte er das ja machen. Aber Fred war sein Mitarbeiter. Eigentlich Mädchen für alles. Laufbursche. Manchmal sogar Sekretärin. Auf freier Basis natürlich.

»Ich habe es endlich geschafft«, erklärte Charly. »Wir kriegen den Auftrag von der Warenhauskette.«

Fred schnaubte. Das erzählte Charly schon seit mindestens einem Jahr.

»Und dann, mein Lieber, kann ich dich fest anstellen. Drei Mille brutto im Monat. Was sagst du dazu?«

Auch das kam in regelmäßigen Abständen.

»Kriege ich dann auch Urlaub?«, fragte Fred. Er hatte seit einem Jahr fast keinen freien Tag mehr gehabt. Sogar mitten im Karneval hatte er für Charly eine Überwachung gemacht und den Rosenmontag in irgendeinem westfälischen Kaff im Auto verbracht.

Charly grinste. »Na klar, mein Junge. Du darfst dich freuen.«

»Dann nehme ich den Urlaub eben jetzt. Als Vorschuss.« Der Dicke wollte etwas sagen, aber Fred redete einfach weiter. »Das Haus, in dem ich wohne, wird renoviert. Da herrscht ein Höllenlärm. Heute Morgen gab’s kein Wasser und keinen Strom. Keiner weiß, wie lange das geht. Ich habe keinen Bock mehr, Charly. Gib mir zwei Wochen frei. Ich will auch mal was anderes machen, als in der Gegend rumzustehen und Leute zu überwachen.«

Charly nahm die Hände, die er hinter dem Kopf gefaltet hatte, nach vorn und befreite Fred so von dem Anblick der Schweißflecken unter den Achseln seines hellblauen Hemdes.

»Ich weiß schon, was du willst. Du willst den Möchtegern-Hemingway spielen. Schuster, bleib bei deinem Leisten, sag ich da nur. Damit wird es eh nichts. Die Schriftstellerei bringt kein Geld.«

Jedes Mal, wenn das zur Sprache kam, ärgerte sich Fred darüber, dass er Charly jemals davon erzählt hatte.

»Wo wir gerade von Geld reden«, sagte er. »Du schuldest mir noch zwei Honorare.«

Charly winkte ab. »Kriegst du, wenn das mit den Kaufhäusern klar ist. Wenn ich dich fest anstelle. Sozusagen als erstes Urlaubsgeld.«

»Die Kohle steht mir zu. Und ich will sie jetzt.«

Charly schüttelte den Kopf. »Ich warte selbst auf ein paar säumige Kunden, die nicht bezahlen wollen. Wenn ich die Kaufhäuser unter Dach und Fach habe, läuft der Laden wieder.« Er stand ächzend auf und ging in Richtung Tür. »Also mach halblang. Und pass mal eben fünf Minuten auf das Telefon auf.« Im Vorbeigehen nahm er den heutigen Generalanzeiger vom Tisch und verließ den Raum. Auf dem Flur ging die Klotür. Der Schlüssel drehte sich krachend. Dumpf war zu hören, wie Charly vor sich hin pfiff. Fred erkannte »La Paloma«.

Er ließ sich in das abgewetzte Besuchersofa fallen und dachte nach. Er hätte nicht gezögert, sich das Geld, das ihm Charly schuldete, einfach zu nehmen, wenn es irgendwo hier im Büro gewesen wäre. Aber so dumm, die Kohle einfach rumliegen zu lassen, war Charly nicht.

Eine Melodie tönte durch den Raum. Eine kleine Fanfare, elektronisch steril. Ein gebrochener Dreiklang. Charlys Telefon.

Fred stand reflexartig auf. Das Mobilteil lag auf dem Schreibtisch. Klingelte und blinkte.

Ob das der große Kaufhauskunde war, von dem Charly erzählt hatte?

Er ging ran. »Detektei Spalowsky, was kann ich für Sie tun?« Nichts werde ich für dich tun, dachte er. Ich werde den Leuten erzählen, dass sie sich einen anderen Detektiv suchen sollen. Spalowsky nimmt nichts mehr an. Wegen Auftragsüberlastung.

Eine Frauenstimme meldete sich. Fred vermutete, dass die Dame schon etwas älter war. Sie sprach leise und vorsichtig. Offenbar hatte sie Freds hingeworfenen Spruch nicht verstanden.

»Bin ich da richtig? Bei der Detektei?«

»Sind Sie.«

»Ich habe eine Bitte.«

»Ja?«

»Das heißt … einen Auftrag. So sagt man doch wohl.«

Tut mir leid, ausgebucht. Suchen Sie sich einen anderen. Oder rufen Sie wieder an, wenn Fred Bleikamp in dieser Klitsche fest angestellt ist. Fred sagte das nicht. Er dachte es nur.

Denn plötzlich kam ihm eine Idee.

Er sah zur Tür. Charly pfiff dahinten wieder »La Paloma«. Wahrscheinlich hatte er erledigt, was er erledigen wollte, und würde in höchstens einer Minute zurück sein.

»Ich würde Sie gern persönlich besuchen«, sagte Fred. »Dann können wir uns besser unterhalten. Wäre das möglich?«

»Ja, das wäre sehr gut.«

»Wie war doch bitte Ihr Name?«

»Friesdorf.« Sie nannte eine Adresse in Bad Godesberg. Offenbachstraße.

Nebenan knirschte die Klotür. Charly pfiff immer noch, war aber jetzt auf das Filmthema von Doktor Schiwago umgeschwenkt. Offenbar war er erfolgreich gewesen. Fred notierte schnell die Nummer auf einem Blatt von Charlys Schreibtisch. Es trug das Logo eines Investmentfonds. Er verabschiedete sich höflich, legte auf und hatte das Telefon gerade wieder hingelegt, als der Dicke hereinkam.

»War was?«, fragte er.

»Nein. Einmal hat’s geklingelt, war aber falsch verbunden.« Fred zerknüllte den Zettel und steckte ihn unauffällig in die Tasche.

»Ich hab mir das noch mal überlegt«, sagte Charly. »Ich kann dir entgegenkommen.«

»Tatsächlich?«

»Klar. Pass auf.« Er holte ein speckiges Portemonnaie hervor und entnahm ihm dreißig Euro. »Du gehst jetzt rüber zum Opera und holst uns ein schönes zweites Frühstück.« Er lächelte. »Wir machen den halben Tag frei.«

Opera. Nobel, dachte Fred.

»Aber beeil dich. Wir reden dann über die Zukunft. Die goldene Zukunft der Detektei Spalowsky.«

»Du meinst, mit Großaufträgen und so?«

Charly grinste. »Genau.«

Fred nahm die Scheine, ging hinaus und lenkte seine Schritte zu dem Lokal. Dort warf er einen langen Blick durch die Scheibe ins Innere, löste sich schließlich von dem Anblick und spazierte weiter.

Am Bertha-von-Suttner-Platz stieg er in eine Bahn.

3

Es dauerte überraschend lange, bis Charly merkte, dass etwas nicht stimmte. Erst als Fred vom Godesberger Bahnhof aus durch die Alleen lief, haute sein Handy den Anfang von Beethovens Fünfter in die stille Karl-Finkelnburg-Straße. Er überlegte einen Moment, ob er überhaupt rangehen sollte, entschied sich dann aber, es einfach zu tun. Er musste sich endlich gegen Charly immunisieren.

»Sorry«, sagte er. »Hat etwas gedauert. Bin gleich da.«

»Ich hab schon gedacht, du wärst mit dem Geld durchgebrannt.« Charly lachte gekünstelt.

»Quatsch. Was soll ich mit dreißig Euro, wenn du mir anderthalb Riesen schuldest?«

»Geld ist Geld. Du, hier war inzwischen am Telefon wirklich die Hölle los.«

Hoffentlich hat Frau Friesdorf nicht noch mal angerufen, dachte Fred.

»Ich sag dir, das klappt.«

»Was?«

Charly schnaufte. »Hörst du auch mal zu? Die Sache mit den Warenhäusern.«

Es klang sehr enthusiastisch, aber Fred glaubte immer noch nicht daran. Zumal es Charly bisher kein einziges Mal für nötig befunden hatte, den Namen der Kette zu nennen. Welche sollte das denn sein? Karstadt? War doch eh pleite. Oder stand kurz davor. Oder vielleicht Schlecker? Haha. Kaufhof? Hertie? Gab’s den überhaupt noch?

»Du wirst dir sicher nicht die Beine in den Bauch stehen«, redete der Dicke weiter. »Ich werde jemanden brauchen, der das Ganze koordiniert. Der die Leute einteilt und so. Da wärst du genau der Richtige.«

Und was machte dann Charly? Zog der sich vielleicht nach La Gomera zurück?

»Also beeil dich. Ich kriege langsam Hunger. Wir können ja dann beim Essen alles Weitere besprechen.« Er legte einfach auf.

Die Offenbachstraße war Teil des ruhigen Godesberger Villenviertels. Zwischen Alleebäumen parkten Autos. Es roch nach Laub und Gras. Wenn man sich darauf konzentrierte, konnte man sogar den süßlichen Duft des nahen Rheins erahnen.

Das Haus, in dem Frau Friesdorf wohnte, war ein moderner vierstöckiger Block, der aus dem Schema der gründerzeitlichen Herrlichkeit herausfiel. Balkone in jeder Etage. Tiefgarage. Fred klingelte, nannte seinen Namen, und Frau Friesdorf erklärte ihm über die Gegensprechanlage, er solle mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock fahren.

Sie erwartete ihn oben vor der geöffneten Wohnungstür. Fred schätzte sie auf Ende sechzig. Lockiges weißes Haar, eine Brille mit großen runden Gläsern und breiter Fassung. Eine rosa Strickjacke, deren obere Knöpfe Frau Friesdorf oben zusammenhielt, als würde sie frieren.

»Herr Spalowsky?«

»Mein Name ist Bleikamp. Ich bin … der Partner von Herrn Spalowsky.«

»Sein Mitarbeiter?« Sie sah ihn misstrauisch an, als habe sie etwas geliefert bekommen, was sie nicht bestellt hatte.

»Wir arbeiten zusammen«, stellte Fred klar.

Sie bat ihn herein. Der Wohnzimmerboden glänzte. Er bestand aus einem polierten Stein, den Fred für Marmor hielt. Die Balkontür stand offen. Sie ging auf eine Rasenfläche hinaus, die weiter hinten von hohen alten Bäumen begrenzt wurde. Vögel keckerten irgendwo in den Zweigen. Auf dem kleinen Balkon drängten sich ein Stuhl und ein Tisch. Eine Zeitschrift und ein Stift lagen darauf. Die Kreuzworträtselseite war aufgeschlagen.

»Möchten Sie hier Platz nehmen oder draußen?«, fragte Frau Friesdorf.

»Gern hier drin. Unser Gespräch ist ja vertraulich. Vielleicht sind Nachbarn auf dem Balkon.«

»Da haben Sie recht.«

Beethovens Fünfte donnerte los. Das Display zeigte Charlys Namen.

»So klopft das Schicksal an die Pforte«, sagte Frau Friesdorf. Gebildete Frau, dachte Fred. Aber hier in der Beethovenstadt war es nicht erstaunlich, dass sich ältere Leute mit dem großen Komponisten auskannten. Und mit dem Thema seiner Schicksalssinfonie.

Fred drückte die Hammerschläge weg und ließ den Finger lange auf der roten Taste ruhen. Nun war das Telefon aus.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Ein Glück, dachte Fred, als etwa zwei Minuten vergangen waren. Das war genau die Art von Auftrag, die er gebraucht hatte. Ein Hinhalteauftrag, mit dem man gut Geld machen konnte, bis er sich nach einer Weile vermutlich von selbst aufklären würde. Nicht auszudenken, was es bedeutet hätte, wenn Charly ans Telefon gegangen wäre. Er hätte ihm weiter den Hungerlohn bezahlt und das wunderbare Honorar für sich selbst eingestrichen, da war Fred sicher.

»Ich habe ihn das letzte Mal vorige Woche gesehen«, sagte Frau Friesdorf. »Er ist oft unterwegs. Zwischendurch ruft er mal an. Das hat er diesmal auch getan. Vorgestern, wenn ich mich nicht irre. Oder war es der Tag davor? Oder gestern?« Sie sah ihn hilflos an. »Ich weiß es nicht mehr genau.«

»Das kriegen wir schon raus, Frau Friesdorf. Wo ist Ihr Mann denn hingefahren?«

»Ich glaube, nach Holland. Oder Frankreich. Es könnte auch Belgien gewesen sein.«

»Das ist aber keine sehr genaue Angabe. Ist er mit dem Wagen unterwegs?«

»Nein. Natürlich nicht.« Sie sah ihn an, als wäre es sonnenklar, dass Herr Friesdorf nicht mit dem Auto fuhr. »Er fährt immer mit dem Zug.«

»Geschäftlich?«

»Aber junger Mann, er ist doch bereits pensioniert. Er ist zwei Jahre älter als ich.«

»Und das heißt?«

Sie lächelte und hatte plötzlich etwas von einem kleinen Mädchen, das miterlebt, wie sich jemand ungehörig verhält. »Na, hören Sie mal …«

Fred versuchte es anders. »Was wollte Ihr Mann denn in Holland, Belgien oder …?«

»Frankreich.«

»… oder Frankreich tun?«

»Forschen. Er ist Historiker. Pensionierter Historiker. Professor. Früher war er an der Bonner Universität.«

»Er ist also auf einer Forschungsreise?«

»Er kann es nicht lassen. Er interessiert sich eben immer noch für die Geschichte. Das ist sein Leben.«

»Das heißt, er war in Frankreich, Holland oder Belgien und hat dort etwas besichtigt? Oder er hat jemanden besucht? Einen anderen Forscher vielleicht? Oder ein Archiv? Wer oder was könnte denn sein Ziel gewesen sein?«

»Ich habe keine Ahnung, Herr Bleikamp. Wissen Sie, mich selbst interessiert das nicht so. Er fährt halt immer in der Gegend herum. Lässt sich von plötzlichen Eingebungen führen, ist mal hier und mal da. Er sucht sich dann vor Ort meist spontan preiswerte Möglichkeiten zum Übernachten.«

Fred unterdrückte ein Seufzen. Nachforschungen im Ausland waren nicht so einfach. Andererseits erhöhten sie das Honorar.

»Und Sie haben alles versucht, um ihn zu finden? Ich meine, Sie haben ihn angerufen, bei Bekannten nachgefragt …?«

Krankenhäuser, dachte Fred. Er würde prüfen müssen, ob er einen Unfall gehabt hatte und nun in irgendeinem Krankenhaus lag.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Frau Friesdorf, ohne darauf einzugehen. »Er rief mich vorgestern an und wollte noch am selben Abend nach Hause kommen. Wenn er das sagt, kann man sich auch darauf verlassen. Sofern er nicht noch mal anruft und etwas anderes sagt, meine ich. Er hat keins von diesen modernen Handytelefonen. Er benutzt immer eine Telefonzelle oder ein Telefon, das gerade in der Nähe ist. Ich habe die Polizei verständigt. Gleich gestern Abend. Aber die haben mich nur hingehalten. Sie sagten, sie würden überprüfen, ob er einen Unfall hatte oder so was. Ich hätte vielleicht einfach behaupten sollen, dass mein Mann senil ist und deswegen in großer Gefahr schwebt, wenn er allein unterwegs ist. Vielleicht hätten sie sich dann mehr bemüht. Aber das habe ich nicht getan. Weil es ja nicht stimmt. Und so haben sie sich eine Beschreibung geben lassen. Mehr nicht. Da habe ich gedacht, ich muss selbst etwas unternehmen.«

Sie atmete schwer, und Fred kam der Verdacht, dass sie gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe war. Äußerten sich Herzkrankheiten nicht in einer gewissen Kurzatmigkeit?

»Das war ganz richtig, Frau Friesdorf. Ich werde Ihnen helfen. Ich fange gleich damit an. Der Anruf von Ihrem Mann. Wo ist das Telefon, auf dem dieser Anruf ankam?«

Sie blickte erstaunt auf. »Na, hier bei mir in der Wohnung.«

»Zeigen Sie es mir bitte.«

Sie erhob sich und führte Fred über den Flur in einen Raum, der wie das Wohnzimmer nach hinten hinausging. Sämtliche Wände waren mit gut gefüllten Bücherregalen bedeckt. Manchmal stapelten sich quer vor den dicken Bänden Manuskripte. Offenbar war das Professor Friesdorfs Arbeitszimmer.

»Hatte Ihr Mann keinen Computer?«, fragte Fred mit einem Blick auf den leeren Schreibtisch.

»Doch, aber er hat ihn mitgenommen. In diesen Dingen ist er sehr modern. Er schreibt immer diese elektronischen Briefe an seine Kollegen, tauscht sich aus.«

»Und haben Sie bei den Kollegen nachgefragt, ob er dort vielleicht aufgetaucht ist?«

»Ich habe die Adressen nicht. Wissen Sie, das ist ganz allein seine Welt. Und außerdem – wenn er bei einem von ihnen wäre, dann hätte er sich doch gemeldet.«

Auf dem Schreibtisch stand ein Telefon. »Mein Mann hat immer hier telefoniert. Ich habe noch ein kabelloses Gerät in der Küche. Es ist aber derselbe Anschluss.«

Fred war erleichtert, als er erkannte, dass es sich um ein modernes ISDN-Gerät handelte. Er zog ein Notizbuch und einen Stift aus der Tasche und rief das Menü auf, um die eingegangenen Nummern zu überprüfen.

»Hat sonst noch jemand angerufen, nachdem sich Ihr Mann gemeldet hat?«, fragte er.

Frau Friesdorf überlegte. »Ja, meine Schwester. Sie wohnt in Frankfurt.«

Tatsächlich fand Fred zuoberst eine Nummer mit 069-Vorwahl. Frankfurt. Das musste der Anschluss der Schwester sein. Darunter kam eine mit der Vorwahl 02 635. Das war sicher der Apparat, von dem Friesdorf angerufen hatte. Dann gab es eine mit Koblenzer Vorwahl 0261 zwei Tage früher.

»Ihr Mann hat offenbar aus Deutschland angerufen. Von einem Ort, der gar nicht so weit weg liegt. Er hat die Vorwahl 02 635. Vorher kamen Anrufe aus Koblenz. Sagen Ihnen diese Nummern etwas?«

Er zeigte ihr das Display. Sie schüttelte den Kopf.

»Hier sind noch weitere Nummern gespeichert. Zweimal Ihre Schwester. Die hatten wir schon. Und davor noch einige aus Bonn.«

»Die haben nichts mit meinem Mann zu tun. Das da ist das Kartenbüro der Beethovenhalle … Wir gehen oft ins Konzert, wissen Sie?« Sie lächelte ihn an. »Sie scheinen sich ja auch für klassische Musik zu interessieren.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wenn Ihr Handy klingelt, spielt es Beethoven.«

Fred nickte. »Ja, ich höre das tatsächlich ganz gern.«

Sie kniff die Augen zusammen und sah weiter auf das Display. »Die anderen Nummern sind … warten Sie. Mein Friseur. Dann eine der Freundinnen, mit denen ich manchmal Bridge spiele.«

Fred notierte die beiden Nummern, die ganz oben auf der Liste unter der von Frau Friesdorfs Schwester standen.

»Schildern Sie mir doch bitte, was Ihr Mann bei dem Telefonat gesagt hat. Ich meine, hat er nicht gesagt, wo er ist? Ist er vielleicht darauf eingegangen, dass er schon ganz in der Nähe war?«

»Nein. Und er hat nichts Besonderes gesagt …«

Fred ließ sich Friesdorfs Foto und eine Beschreibung geben. Der Professor war ein kleiner Mann mit Glatze, grauem Haarkranz und Brille. Kein besonderes Erkennungszeichen, auch nicht bei der Kleidung. Graue Windjacke, Aktentasche, kariertes Hemd, braune Hose. Ziemlich unauffällig, dachte Fred.

Sie standen auf dem Flur. »Also gut, Frau Friesdorf. Ich gehe allem nach und melde mich dann.«

»Eine Frage hätte ich noch. Was wird das Ganze kosten?«

Fred hatte dieses Thema absichtlich bis zum Schluss offengelassen. Man konnte besser mit den Kunden verhandeln, wenn man erst mal Interesse zeigte, den einen oder anderen Ratschlag gab und sogar schon mal, ohne nach Bezahlung zu fragen, eine kleine Untersuchung durchführte. Er überlegte kurz. »Das ist bei Detektiven genau geregelt«, sagte er dann. »Ich bekomme eine Tagespauschale von sechshundert Euro. Spesen wie zum Beispiel Benzingeld kommen hinzu. Dreißig Cent pro Kilometer plus Mehrwertsteuer. Ich denke, ich werde drei Tage brauchen, um Ihren Mann zu finden. Wenn es Ihnen recht ist, hätte ich gern die Hälfte als Vorschuss. Der heutige Tag zählt mit.«

Frau Friesdorf nickte, ging in einen anderen Raum und kam mit einem Bündel Geldscheine zurück. Es waren neun Hunderter. Sie zählte Fred das Geld in die Hand und verlangte eine Quittung. Fred riss ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb in Schönschrift, dass Frau Friesdorf ihm neunhundert Euro gezahlt hatte. Datum, Unterschrift. Dann verabschiedete er sich. Dabei fiel ihm etwas ein.

»Hat Ihr Mann als Historiker eigentlich ein Spezialgebiet?«, fragte er.

»Er beschäftigt sich vor allem mit dem frühen 20. Jahrhundert.«

»Das heißt? Zwanziger Jahre? Dreißiger Jahre?«

»Ja, auch, aber eigentlich noch früher.«

»Die Kaiserzeit?«

»Es sind vor allem die Jahre zwischen 1914 und 1918, die ihn interessieren. Sie wissen doch, was sich in dieser Zeit ereignet hat?«

Fred dachte nach. Ja sicher, das hatte er doch in der Schule gehabt. Das wusste er. Jedenfalls glaubte er das.

Frau Friesdorf half ihm auf die Sprünge, allerdings nicht, ohne ihm einen missbilligenden Blick zuzuwerfen.

»Der Erste Weltkrieg«, sagte sie.

4

Während er zum Bahnhof zurückging, schaltete er sein Handy ein. Charly hatte viermal versucht, ihn anzurufen. Eine Mailbox hatte Fred nicht, also gab es nichts abzuhören.

Fred suchte sich eine Ecke neben einem parkenden Auto unter einem der Bäume und wählte die Nummern, die er aufgeschrieben hatte. Zuerst die mit der Vorwahl 02 635.

Das Tuten wechselte nach dem dritten Mal auf eine andere Tonhöhe. Der Teilnehmer hatte wohl auf einen anderen Anschluss umgestellt, und der Anruf wurde weitergeleitet. Eine verzerrte Stimme meldete sich. Fred verstand nur Sprachfetzen.

»…stein, hallo?«

Ein Mann. Die Stimme war von Rauschen umhüllt, das Gespräch war also offenbar an ein Handy weitergeleitet worden. Es klang, als stünde der Mann neben einem Gleis, auf dem gerade ein nicht endender Güterzug vorbeiraste.

»Bleikamp hier. Wer spricht da bitte?«

Endlich verstand er den Namen. Haustein. Frank Haustein.

»Ich bin auf der Suche nach jemandem, der vor ein paar Tagen von Ihrem Anschluss aus telefoniert hat.«

Fred erklärte, dass er Friesdorf suchte, war sich aber nicht sicher, ob die Verbindung gut genug war und dieser Haustein ihn auch verstand. Die Antwort kam wieder in Fetzen.

»Hören Sie«, rief Fred, »kann ich Sie später noch mal anrufen? Oder können Sie mir sagen, ob Sie wissen, wo Herr Friesdorf ist?«

»… Professor … getroffen … hier.«

»Wo ist ›hier‹?«

Das Rauschen wurde zum Knattern, beruhigte sich dann etwas, und mit einem Mal war die Stimme dieses Frank Haustein glasklar zu hören. Es war, als würde ein wolkenverhangener Himmel unvermutet aufreißen und sein strahlendes Blau zeigen.

»Na, hier in Rheinbrohl.«

Rheinbrohl, dachte Fred. Einer dieser kleinen Rheinorte. Auf der anderen Seite der Landesgrenze. Irgendwo vor Neuwied.

»Was wollen Sie von ihm?«, fragte Haustein. Fred registrierte so etwas wie berufliche Neugier. War der Mann auch Detektiv?

»Ich bin Privatermittler. Seine Frau hat mich beauftragt, ihn zu suchen. Wissen Sie, wo er sich aufhält?«

Plötzlich war das Rauschen wieder da. Ob Rheinbrohl so abgelegen lag, dass es dort keine vernünftige Handyverbindung gab?

»Kann ich nicht … getroffen … gesprochen.«

»Herr Haustein, bevor die Verbindung zusammenbricht … wann kann ich Sie auf dem Festnetz erreichen?«

»Heute Nachmittag … Schmidt.«

Schmidt? Wer war nun wieder Schmidt?

»Ich rufe später noch mal an«, sagte Fred, und im selben Moment hörte er nur noch ein Tuten. Er drückte den roten Knopf und wählte die Koblenzer Nummer. Nach dem vierten Freizeichen meldete sich ein Anrufbeantworter. Eine junge weibliche Stimme sagte: »Ich bin leider nicht zu Hause. Nachricht bitte nach dem Piep.«

Er öffnete den Internetbrowser seines Smartphones, rief die Seite »dastelefonbuch.de« auf und versuchte mit der Koblenzer Nummer eine Rückwärtssuche. Das Handy war langsam, es dauerte. Als sich die Seite endlich aufgebaut hatte, kam die Meldung: Zu der von Ihnen eingegebenen Rufnummer konnte leider kein Teilnehmer gefunden werden.

Mist, dachte Fred. Manche Leute ließen ihre Nummer hier nicht eintragen. Er wollte nicht riskieren, von Charly genervt zu werden, und schaltete das Telefon aus. Als er weiterging, spürte er, wie eine innere Anspannung von ihm abfiel, die ihn die ganze Zeit niedergedrückt hatte. Es lief doch super. Wenn er sich geschickt anstellte, finanzierte Frau Friesdorf seinen Urlaub. Er würde frei sein. Und sich seinen Traum erfüllen. Das hätte er schon längst machen sollen.

Manchmal brauchte es eben den richtigen Anstoß. Zum Beispiel Baulärm. Strom- oder Wasserausfall.

Oder alles zusammen.

* * *

Das rostige Eisentor stand offen, Fred gelangte unbehelligt auf den riesigen Schotterplatz. Das war ein gutes Zeichen.

Wieder ein Glücksfall, dachte Fred. Ich werde ja vom Glück geradezu verfolgt.

Er fand Isabel in einer der Seitenbaracken, hinter denen sich Gebirge von Schrott in den wolkigen Himmel schoben. Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Trotzdem war es warm und fast ein wenig schwül. In den letzten Tagen hatte das Rheinland mit heftigen Gewittern gekämpft, es hatte in manchen Seitentälern vollgelaufene Keller und abgesoffene Autos gegeben. Fred hatte das Gefühl, dass er so was in seiner Kindheit, die knapp dreißig Jahre zurücklag, nicht so oft erlebt hatte wie heute.

Isabel, die in puncto Leibesfülle Charlys Schwester hätte sein können, sah auf, als er hereinkam. Sie saß vor einem Resopaltisch über irgendwelchen Listen, die von einer schwenkbaren Lampe beleuchtet wurden.

»Ach nee, der Hermann Hesse aus Bonn«, sagte sie. »Hast du es dir endlich überlegt?«

Fred nickte nur. Seine rechte Hand steckte in der Jackentasche und hielt die Hunderter umfasst, die Frau Friesdorf ihm gegeben hatte.

»In das Scheißwetter da gehe ich nur raus, wenn du es wirklich ernst meinst«, sagte sie. »Wobei …« Sie hob den Kopf und grinste, dass ihre dunklen Augen glänzten. Wenn man von ihrem ansonsten nicht gerade attraktiven Äußeren absah – Fassfigur, strubbeliges kurzes Haar und ein Kopf wie von einem Zuchtbullen –, waren ihre Augen sehr schön. »Du hast den Weg ja sicher nicht grundlos auf dich genommen.«

Das stimmte. Aus Langeweile war Fred nicht mit der Bahn nach Bonn reingefahren, dann rüber nach Beuel und dort in den 635er Bus umgestiegen. Das Nieseln hatte angefangen, als er in der Maarstraße angekommen war.

»Hast du denn Kohle dabei?«

Fred nickte wieder.

Isabel stand auf und holte umständlich einen karierten Regenschirm aus einem Metallschrank.

Draußen spannte sie ihn auf. »Wir müssen rüber zu dem anderen Gelände.« Sie setzten sich in Bewegung, immer um die Pfützen herum. Fred hatte keinen Platz unter Isabels Schirmchen.

Sie näherten sich der Brücke, wo auf der A59 im Sekundentakt die Autos vorbeischossen. Der Pendelschlag der Motoren wurde immer lauter. Kurz vor der Unterführung ging es auf ein anderes Areal, das nicht umzäunt war. Isabel holte einen Schlüsselbund aus der Tasche. Sie öffnete ein Garagentor, drückte Fred den Schirm in die Hand und zog das Tor mit einem energischen Ruck nach oben.

Ein großes Etwas starrte ihnen entgegen. Es war weiß mit unregelmäßigen, länglichen Mustern. Auf der Nasenspitze trug es etwas von glänzendem schwarzen Gummi eingefasstes Rundes. In dem Glas darüber spiegelte sich die endlose Bewegung der hinter ihnen auf der Autobahn vorbeirauschenden Fahrzeuge. Das Runde war ein Ersatzrad, das an der platten Schnauze des Wagens hing.

»Du kennst ihn ja«, sagte Isabel. »T2, Baujahr 1973.«

Fred hätte die ganze Beschreibung auswendig herunterbeten können. Der Bulli war in schwarzweißem Zebra-Safarilook lackiert, wofür schon der erste Besitzer verantwortlich war. Innen hatte Isabel ihn zum Wohnmobil ausgebaut. Und das ziemlich raffiniert. Es gab ein Bett, einen Wasserbehälter, von dem aus man eine Plastikwanne befüllen konnte – zum Ganzkörperwaschen mit Waschlappen. Ein kleines Chemieklo.

»Das heißt …« Isabel ging an die Seite und schob die Tür auf. »Eine Kleinigkeit habe ich noch eingebaut.«

Fred sah hinein. Obwohl das Fahrzeug vierzig Jahre alt war, so alt wie Fred selbst, roch es neu. Gummi, Reinigungsmittel und Lack vereinigten sich zu einer Duftnote, die gar nicht mal unangenehm war. Und da war noch was anderes – frisches Holz. Vor ihm erhob sich ein Schreibpult – inklusive Sitz.

»Schreibst du immer noch auf der alten Olympia?«