Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit fünfundzwanzig Jahren Theaterstücke, Kurzfilme und Erzählungen. Im Emons Verlag erschienen «Tod in der Rheinaue», «Roter Regen», «Weinselig», «Lost Place Vienna», «Zürcher Verschwörung», «Tod im Theaterhaus», «Um die Wurst», «Die Tote im Dolder», «Badisch Blues» und «Zürcher Sumpf».

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/JingleT
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-892-2
Originalausgabe

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PROLOG

«Halt mich fest! Ich will nicht sterben.» Enzo umklammerte Radus Unterarm. Radu spürte Enzos Fingernägel durch den Stoff des Trainingsanzugs. Mit der linken Hand hielt sich Radu am Stumpf eines gefällten Kastanienbaums. Mit der rechten versuchte er, Enzo zu sich heraufzuziehen. Seine Füsse fanden keinen Halt. Die Turnschuhe ohne Profil, die Sohlen aufgerissen von dem langen Marsch, den sie hinter sich hatten.

«Sei still! Willst du, dass uns jemand hört?»

«Ist mir egal. Lieber zu Renard zurück als verrecken.» Enzo schiss sich in die Hosen. Und mit so einem wäre Radu fast bei den Zenturios in einem Dschungel in Venezuela gelandet. Wäre er nur allein abgehauen, dann hätte er jetzt diesen Jammerlappen nicht an den Hacken. Beider Nerven lagen blank. Die Flucht von Castelnaudary hatte sie aufgerieben. Alles war schiefgelaufen. Sie hatten die Orientierung verloren, Silvia war nicht wie verabredet in Toulouse gewesen; deswegen mussten sie einen Lieferwagen klauen und damit bis Italien kommen. Dort wurden sie von zwei Carabinieri aufgehalten. Amateure, die sich wichtig nahmen. Sie hatten keine Chance gegen Enzo und Radu. Die beiden frischgebackenen Legionäre hatten die Grundausbildung bei Renard überlebt, da zertrat man Stutzer wie Kakerlaken. Es war Enzos Idee gewesen, über die grüne Grenze in die Schweiz zu fliehen. Er hatte dort einen Onkel. Direkt hinter der Grenze. Angeblich nur noch ein paar Kilometer. Borgnone hiess das Kaff. Enzos Onkel war Künstler. Bildhauer oder Maler. So recht wusste es Enzo selbst nicht. Jedenfalls hatte er mal wegen Falschgeld gesessen und galt als Spezialist für Pässe.

«Warum ziehst du mich nicht hoch?» Enzos Jammerton schmerzte Radus Männerherz. Wieso konnte der Italiener nicht sein Maul halten? Die Tonlage erinnerte Radu an seine Mutter, die jammerte, wenn er nicht zur Schule gegangen war und stattdessen lieber mit seinen Freunden abgehangen und Mist gebaut hatte. Der Gedanke an seine Mutter schwächte Radus Arm. «Zappel nicht so rum, du Idiot.»

Enzo jammerte weiter.

Warum nicht loslassen? Ob Enzo ihn hochziehen würde, wenn er über dem Abgrund hing? Aus Radus Fingern wich die Kraft. Wenn es ihm in den nächsten Sekunden nicht gelang, mit den Füssen einen Halt zu finden, musste er Enzo in den Abgrund stürzen lassen. Radu scharrte im seifigen Laub wie ein Schwein nach Trüffeln. Der rechte Fuss fand ein Loch und grub sich hinein.

«Worauf wartest du?»

Radu stemmte sich in das Loch, klammerte mit der Linken den Kastanienstumpf, und mit der Rechten zog er Enzo nach oben. Seine Finger gaben auf, und Enzos Arm entglitt. Enzo schrie, fiel ein Stück zurück und griff nach Radus Bein, das im Erdloch steckte.

«Zieh dich daran hoch», sagte Radu.

«Hilf mir. Allein schaffe ich es nicht.»

«Du musst es allein schaffen», sagte Radu. Er klang wie sein Ausbilder Renard. «Stell dir vor, du hast noch das 45er-Maschinengewehr auf dem Rücken. Los, du Pussy, zieh dich hoch.»

Enzo nahm die letzte Kraft zusammen und arbeitete sich an Radus Bein nach oben. Keuchend sank er neben Radu ins nasse Laub. Radu hörte nur ihren schnellen Atem. Wie zwei alte Dampfloks, die um die Wette schnauften. Erst als sie wieder Luft hatten, vernahm er unten in der Schlucht das Reissen der Melezza.

«Wie weit ist es bis zu deinem Onkel?», fragte Radu.

«Höchstens zwei Kilometer.»

«Ich will endlich aus diesem Trainingsanzug raus. Und ich schwöre dir eins: Nie mehr in meinem Leben werde ich einen Trainingsanzug anziehen.»

«Und nie mehr eine Glatze rasieren.»

Enzo fing an zu lachen. Radu lachte mit. Sie fielen sich in die Arme und wussten, dass sie es geschafft hatten. Sie waren Renard entkommen und wieder frei. Was immer diese Freiheit auch für sie übrig haben würde.

EINS

«Mich interessiert, wo der dritte Mann geblieben ist», sagte Laura und grinste Bertini frech an.

«Der dritte Mann ist in der Kanalisation in Wien», sagte Bertini und summte die Filmmelodie dazu. Er fand sich witzig. Laura lachte falsch, um Bertini zu schmeicheln, und bohrte nach. «Warum interessiert Sie das nicht?»

«Weil es sich erledigt hat. Rede ich Romanisch?»

«Allegra. Das würde ich verstehen. Aber Ihr Ausweichen verstehe ich nicht.»

Bertini schob mit dem Lineal seine Autoschlüssel über den Schreibtisch und atmete genervt durch.

«Gibt es denn nichts Interessanteres, worüber Sie schreiben können? Das kommende Filmfestival vielleicht?»

«Das ist erst im August. Und jetzt ist Oktober.»

«Dann schreiben Sie über das vergangene. Gab es da keinen Krimi, den Sie rezensieren könnten? Ein Ende, bei dem alle Fäden zusammenlaufen und das jeden glücklich stimmt?»

«Das gibt es nicht. Irgendjemand meckert immer. Vor allem aus meiner Zunft. Sonst wären wir überflüssig.»

«Ihre Zunft ist überflüssig. Und raubt mir kostbare Lebenszeit.» Der Polizist versuchte, mit dem Lineal den Ring des Schlüsselbundes zu stechen, um ihn dann vom Tisch zu heben. Es misslang. Der Schlüsselbund rutschte ab, glitt über die Schreibunterlage und drohte auf den Boden zu fallen. Laura fing ihn auf und knallte ihn auf die dunkle Tischplatte.

«Zwei Menschen sind in Borgnone abgestürzt. Ein dritter Mann bat blutüberströmt um Hilfe und ist dann plötzlich verschwunden. Und Sie interessiert nicht, wer der Mann war? Und wo er jetzt ist?» Laura war laut geworden. Bertini passte der Ton nicht. Er rückte sich aufrecht in seinen Sessel, atmete hoch in die Brust und verzog seinen Mund, dass sein sauber gestutzter Schnauz eine Kurve zog. «Es gibt nur zwei Zeugen, die von einem dritten Mann sprechen. Dr. Wagner, den Sie ja bereits genervt haben, und der verrückte Monza. Haben Sie schon einmal mit ihm geredet? Oder seine Kunstwerke angeschaut? Der sieht täglich Tausende blutüberströmte Menschen. Wenn es nach ihm ginge, müssten hier Massengräber liegen. Ausserdem hat Monza selbst gestanden, dass er sich das alles nur eingebildet hatte. Er hatte schlecht geträumt.» Auch Bertini war laut geworden. Jetzt nahm er sich zurück. «Für mich ist der Fall erledigt. Und ich fasse ihn gerne noch einmal zusammen: Zwei rumänische Diebe sind nach ihrem Raubzug durch Borgnone abgestürzt und ihren Verletzungen in der Melezza erlegen. Von einem dritten Mann keine Spur.»

«Und von der Beute?»

«Was?»

«Was ist mit der Beute?»

«Was soll mit der Beute sein?»

«Der iranische Schmuck von Frau Tedeschi. Das Bargeld von Dr. Zwicky.»

«Sichergestellt.» Er sah sie nicht an. Stierte aus dem Fenster.

«Sichergestellt? Und warum haben die beiden ihren Besitz noch nicht zurückbekommen?»

Bertini sah Laura scharf an. «Haben Sie die beiden etwa belästigt?»

«Ich habe sie nur befragt. Das ist mein Job. Ich bin Journalistin.»

«Journalistin. Eine Nervensäge sind Sie.»

«Was ist nun mit der Beute?»

«Müssen wir noch eine Weile zurückhalten. Beweismaterial.»

«Ich dachte, der Fall sei erledigt.»

Bertini stand auf und klopfte mit dem Lineal in seine linke Hand.

«Sie gehen jetzt besser. Ich habe zu tun.»

Laura stand ebenfalls auf. «Sie haben die Beute also gar nicht gefunden. Danke. Mehr wollte ich nicht wissen.»

Sie verliess das Büro, trat auf die Piazza und inhalierte die Nebelsuppe. Locarno im Herbst.

* * *

Eine Klingel gab es noch immer nicht. Radu wartete auf die Hunde. Aber sie kamen nicht. Er drückte gegen das morsche Gartentor. Es schleifte über den Boden. Radu musste es anheben, um es so weit zu öffnen, dass er durch den Spalt schlüpfen konnte. Er horchte. Alte Gewohnheit. Immer erst horchen. Die Sinne auf Witterung schalten. Nur wenn das Tier in ihm lauerte, würde er als Mensch überleben. Das hatte ihm Renard immer wieder ins Ohr geschrien. Es hatte sich eingebrannt.

Fünfundzwanzig Jahre. Ein Leben. So lange war es her, dass er hier gewesen war. Laut seines Passes würde er in einer Woche siebenundvierzig werden. Skorpion. Tatsächlich war er Zwilling. Aber das hatte Monza damals nicht verstanden. Er hatte in der Eile die Zahlen vertauscht. Immerhin das Geburtsjahr stimmte. Und als Skorpion lebte es sich auch nicht schlecht.

Nichts war zu hören. Nur der Wind, der durch die Kastanienbäume strich. Kalt war es nicht, aber feucht. Der Kellner in Locarno hatte erzählt, dass es die letzten drei Wochen nur geregnet hatte. Im italienischen Teil wäre der Lago Maggiore sogar über die Ufer getreten. Vor allem in Stresa und Arona sollte es schlimm sein. Hier oben war es nur feucht. Das mochte Radu gar nicht. Kälte und Hitze vertrug er. Aber Feuchtigkeit kroch ihm in die Gelenke. Vor allem morgens, wenn er aufstand. Er konnte kaum auf seinen Füssen stehen, so schmerzten die Sohlen. Auch die Knie und der Rücken jammerten, wenn es feucht war. Verschleiss. Ein intensives Leben. Ein Leben am Abgrund.

Radu klopfte an die Holztür. Er glaubte sich zu erinnern, dass sie einmal grün gestrichen war. Jetzt war die Farbe ab. Grün war nur das Moos, das sich um die rostigen Scharniere geschmiegt hatte. Ansonsten starrte ihn ein furchiges Grau an. Verwitterte Kastanie.

Die Tür wurde geöffnet. Ein Gesicht sah Radu fragend an. Genauso grau. Genauso zerfurcht.

«Signor Monza?»

«Wer will das wissen?»

«Radu Steiner.» Radu hatte es langsam gesagt. Die vier Silben auseinandergezogen, als müsste der Name eine besondere Bedeutung für Monza haben. Hatte er nicht. Vielleicht hätte Radu aber auch den Namen von Monzas Mutter nennen können, die Regung im Gesicht des Alten wäre dieselbe geblieben.

«Was wollen Sie?»

«Kann ich reinkommen?»

«Ich kenne Sie nicht. Wieso sollte ich einen Fremden reinlassen?»

«Weil Sie einem Fremden die Tür geöffnet haben.»

«Ein Fehler.» Monza wollte die Tür zuschlagen, Radu stellte den Fuss dazwischen, schob Monza beiseite, trat ins Haus und schloss die Tür.

«Sind Sie verrückt? Machen Sie, dass Sie rauskommen, oder –»

«Sie rufen die Polizei?» Radu war ins Innere des Rusticos gegangen und überprüfte rasch, ob von irgendwo Gefahr lauern konnte. Negativ.

«Oder ich lege Sie um.» Monza zielte mit einer Pistole auf Radu. Eine Beretta 1915. Radu schüttelte angewidert den Kopf. «Monza. So wenig Geschmack hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Ich dachte, Sie sind ein Ästhet. Die Beretta sieht beschissen aus.»

«Dafür macht sie hübsche Löcher. Nicht das Werkzeug muss schön sein. Das Kunstwerk. Und jetzt verschwinde.»

«Interessiert Sie denn nicht, warum ich hier bin?»

«Mich interessiert, dass du wieder gehst.»

«Sie erinnern sich an mich?»

«Erinnern ist gefährlich. Ich vergesse alles. Sofort. Deswegen lebe ich noch.»

«Alzheimer aus Profession?»

«Könnte man sagen.» Er lächelte schief und winkte mit der Beretta. «Und jetzt raus.»

Radu sah sich nach einem Stuhl um, fand einen nahe am Cheminée und setzte sich hin. «Das Holz qualmt ja mehr, als es brennt», sagte er und hielt seine Hände über die spärlichen Flammen.

Ein Schuss krachte und traf das glimmende Kastanienholz. Das Scheit wirbelte gegen die Rückwand des Cheminées und qualmte noch mehr. Radu sah zu Monza.

«Das nächste Mal treffe ich besser.» Er meinte es.

Radu stand auf. «Schon gut. Aber ich komme wieder.»

Monza lachte laut. «Da mache ich mir vor Angst in die Hosen. Raus jetzt.»

Radu ging an ihm vorbei. Monza trat zwei Schritte zurück. Sicherheitsabstand. Der Alte war nicht dumm. Und trotzdem hätte Radu ihn entwaffnen können. Schon am Cheminée. Er hätte einfach ein Scheit aus dem Feuer nehmen und es Monza ins graue Gesicht schleudern können. Auf drei Meter traf Radu alles. Das hatte er gelernt. Wie auch das Töten. Eine Beretta war das Letzte, das ihn aufhalten konnte. Aber es brachte ihm nichts, mit Monza auf Kriegsfuss zu stehen. Er musste ihn gewinnen. Sein Vertrauen erlangen. Gute Geschäfte gelangen nur auf Vertrauensbasis. Und Radu wollte ein gutes Geschäft machen. Er wollte die Wahrheit herausfinden.

Er zog seinen Schal enger um den Hals und verliess das Rustico. Er schlug den kleinen Pfad ein, der hoch in den Wald führte. Er wollte die Trekkingschuhe einlaufen, die er sich neu in Locarno gekauft hatte. Sie drückten und erinnerten ihn an die Zeit, in der er Springerstiefel getragen hatte. Auch die Berge und der Wald erinnerten ihn an Einsätze, die ein halbes Leben zurücklagen. In den letzten Jahren hatte er nur noch feines Leder und massgeschneiderte Anzüge getragen. Der Kriegsschauplatz hatte sich geändert. Wo er jetzt operierte, trug man feinen Zwirn.

* * *

«Lass mich in Ruhe. Ich habe gesagt, es ist aus.» Laura hatte es so ruhig wie möglich gesagt. Sie wollte keine Szene in der Öffentlichkeit. Sie wischte sich den Milchschaum des Cappuccino mit einer Serviette von den Lippen und sah, dass sie zu fest gedrückt hatte. Auch ihr Lippenstift klebte jetzt am weissen Papier. Bordeauxrot. Das fand sie dezenter. Sie war schon blond genug für die Gegend, da brauchte es nichts Knalliges.

«Aber warum? Sag mir einfach, warum. Dann gehe ich.» Tomaso sah sie flehend an. Die Augenbrauen traurig zu einem Dach formend. Erbärmlich. Was wollte sie von einem Mann erwarten, der mit fünfunddreissig noch bei seiner Mutter lebte?

«Ich habe es dir gesagt.»

«Aber das glaube ich dir nicht. Ich fühle etwas anderes.»

«Fühl, was du willst.» Sie legte das Geld auf den Tisch, stand auf und nahm ihre Handtasche. Tomaso hielt sie am Arm zurück. «Laura. Das kannst du nicht machen. Das darfst du nicht machen.»

Jetzt wurde es peinlich. Einige Leute von den Nebentischen sahen herüber. Und der gut aussehende Kerl an der Bar, der schon zu ihr geschielt hatte, als sie noch allein am Tisch gesessen hatte, grinste mokant.

«Wer ist es? Roberto? Was willst du mit dem? Nur weil er bei der Bank arbeitet? Oder weil er zwei Häuser geerbt hat? Ist es das? Ist es das Geld?»

«Es ist weder Roberto noch das Geld. Es ist deine Dummheit, die mich davonjagt. Bei Mamma Abendessen und dann Serien glotzen. Das ist nicht meine Vorstellung von einer Beziehung.» Sie war laut geworden. Sollten es ruhig alle hören. Laura hatte sich von dem Typen an der Bar provozieren lassen. Es tat ihr jetzt leid. Tomaso klammerte sie noch immer am Arm. Sie schlug ihm mit der Handtasche auf die Finger. Er jaulte und liess los. «Ausserdem bist du im Bett eine Niete.» Kaum gesagt, biss sie sich auf die Lippen und nagte den Rest des Lippenstifts ab. Sie konnte es nicht lassen, sie musste zu dem Typen an der Bar schauen. Er hatte es gehört. Da war sie sich sicher. Aber er hatte sich nicht umgedreht. Hatte er doch mehr Stil, als sie dachte? Sie hatte jedenfalls in diesem Moment keinen. Sie hatte sich hinreissen lassen. Von Tomasos Gezeter und von ihrer Gefallsucht. Sie kreischte einmal laut vor Ärger über sich selbst und stapfte aus der Bar.

 

Draussen schwappte der See feucht in die Stadt. Es schien, als läge Locarno unter Wasser. Der Nebel war so dicht, dass man glaubte, darin zu schwimmen. Laura wollte jetzt nicht in die Redaktion. Womöglich würde dort Tomaso auf sie lauern und die nächste Szene planen. Sie zückte ihr Handy und wählte. «Dani, ich komme heute nicht mehr. Ich fahre hoch nach Borgnone und bleibe das Wochenende über im Centovalli. Brauche meine Ruhe … und danke noch mal, dass ich an der Story dranbleiben darf … es wird sich lohnen. Ciao.» Sie legte auf, ging über die Piazza Grande und stieg in ihren olivgrünen Panda. Ein Erbe ihrer Tante Fausta. So wie das Stück Land und das Rustico, das sich über Borgnone befand, wenn man die Nucleo alto in Richtung Ferienhaus Nappa fuhr. Irgendwann bog man rechts in den Wald und gelangte über einen Feldweg zu dem alten Stall. Tomaso sagte, wenn er dort länger als einen Tag bleiben müsste, würde er sich erschiessen. Hätte er es mal getan. Dieser Vollidiot.

Sie zündete den Panda und fuhr los. Im Radio plärrte Pubblicità. Laura drückte eine Kassette in den Rekorder. CD-Player gab es nicht, und auf Kopfhörer hatte sie keine Lust. Also Musik von Fausta. Oper. Fausta hatte es gerne melodramatisch gehabt. Das hatte Laura wohl von ihr mitbekommen. Aus den Boxen schepperte Turandots «Nessun Dorma». Das passte. Hier schienen alle zu schlafen. Oder sie stellten sich so. Alle bis auf Laura. Sie war hellwach und wollte wissen, was es mit dem dritten Mann auf sich hatte. Ein Glück bekam sie Rückendeckung von Dani. Allerdings wusste Laura auch, dass sie für die Story nicht länger als drei Tage Zeit hatte, um sie voranzubringen. Wenn sie dann nichts Handfestes aufwies, durfte sie sich wieder Filmrezensionen und dem Tourismusverband widmen. Vielleicht noch das eine oder andere Firmenjubiläum, bei dem sie etwas Tratsch aufschnappen konnte. Gänsehaut kroch bei dem Gedanken über ihren Nacken. Sie war zu Höherem geboren, als Kommunalpolitikern bei der Einweihung eines Fussballplatzes Bildlegenden zu setzen. Sie hatte Journalismus studiert und feilte täglich an ihrer Sprache: direkt und lebendig für den investigativen Stil. Echte Kriminalstorys, politische Korruption und Wirtschaftsskandale. Daran war sie interessiert. Das gab ihr den Kick, den sie im Leben suchte. Und sie hätte ihren Beruf verfehlt, witterte sie in den toten Rumänen nicht ihre grosse Chance, überregional auf sich aufmerksam zu machen. Sie war einunddreissig. Zeit für einen Wechsel. Genf, Zürich oder vielleicht auch Rom? Jedenfalls tickte die Uhr. Andere entschieden sich in dem Alter für Familie. Sie hatte mit dem Abschuss von Tomaso ein deutliches Zeichen gesetzt. Sie wollte weg von hier. Die grosse Reise antreten. Nicht bereuen, dass sie es nie gewagt hätte. Und der dritte Mann würde ihr dabei helfen.

* * *

Der Fussmarsch tat gut. Radu war lange nicht mehr in der freien Natur gewesen. Sonst hielt er sich nur in Fitness-Studios in Bewegung. Und das mit immer weniger Lust. Er war müde geworden. Er empfand keine Freude mehr, sich mit anderen zu messen. Er hatte das Ferienhaus Nappa für eine Woche gemietet. Eigentlich hatte es Oktober und November geschlossen. Aber sein grosszügiges Angebot hatte die Besitzerin überzeugt.

Ein Feldweg führte von der geteerten Strasse rechts in den Wald. Radu hatte noch keine Lust, oben anzukommen. Ein Schlenker durch den Wald sollte die Zeit strecken. Zeit, die er nicht hatte. In Bukarest warteten Geschäfte. Dringende Geschäfte. Aber Radu hatte gut delegiert. Wenigstens vorübergehend. Marcel konnte er vertrauen, dass er den Laden für eine Woche zusammenhielt. Gerne hätte Radu einen Sohn gehabt, dem er alles vererben konnte. Aber er hatte sich davor gefürchtet, dadurch erpressbar zu sein. Es reichte schon, dass sie ihm Mona, seine erste Frau, genommen hatten. Lange hatte er sich Vorwürfe gemacht. Aber hätte er damals klein beigegeben, hätte er die Schuhe von Dimitri küssen dürfen. So leckte nun Dimitri Radus Arsch. Radu galt als der Kälteste in Bukarest. Und das war gut so. Dass er drohte, innerlich an der eigenen Kälte zu erfrieren, durfte keiner wissen. Seine Sehnsucht nach Wärme war ganz plötzlich gekommen. Auf einmal schienen ihm Macht und Reichtum nicht mehr wichtig. Es war in Zürich gewesen. Er hatte Amon getroffen, den windigen Perser. Im Hinterzimmer eines Lokals, das exquisite Ware aus Indien importierte und verkaufte. Dort war ihm nicht nur Meenakshi, die bezaubernde Verkäuferin, aufgefallen, sondern auch ein holzgeschnitzter Buddhakopf, der ihn mit seinen niedergeschlagenen Augenlidern zeitlos anlächelte. Er hatte ihn sich einpacken lassen. Amon hatte gelacht und gesagt, Radu solle aufpassen, dieser Kauf könne sein Leben verändern. Meenakshi steckte ihm noch ein Buch mit ein: «Raja-Yoga». Und Radu hatte es gelesen. Es war das erste Buch, das ihn an den Buddhismus heranführte. Aber nicht das letzte. Er frass alles, was er darüber erfahren konnte, und mittlerweile chantete er morgens. Sosehr ihm auch die Philosophie des Buddhismus Wärme versprach, so sehr war er doch in der Geschichte seines Lebens verhaftet. Er war ein Gangster. Und keine kleine Nummer. Er mischte überall mit, wo es Geld zu scheffeln gab. Bis auf das Drogengeschäft. Davon hatte er immer die Finger gelassen. Für ihn eine Sache der Ehre. Altmodischer Luxus, den er sich leistete. Aber da Radu sich aufs Töten verstand, konnte er sich auf dem Markt behaupten.

Und jetzt stand er hier, bückte sich und hoffte, noch einige Kastanien zu finden, die er später im Cheminée rösten konnte. Zwei hatte er schon überprüft. Die eine war faul, in der anderen kroch ein Wurm. Er sah die Kastanien an und dachte an seine beiden Neffen. Besser hätte er sie nicht beschreiben können. Aber sie waren die Söhne seiner Schwester Stella. Sie hatte ihn angebettelt, den beiden Jungs endlich eine grössere Aufgabe anzuvertrauen. Radu hatte nachgegeben. Und nun hatte er den Salat. Die beiden waren tot am Ufer der Melezza aufgefunden worden. Radu hatte ihnen nicht den Auftrag gegeben, in Häuser einzubrechen und Schmuck zu rauben. Er hatte ein Treffen ganz anderer Dimension organisiert. Der Deal war über Amon gelaufen. Er hatte von einem Mittelsmann gesprochen, der wertvolle Ware zu sehr günstigen Preisen losschlagen wollte. Und diesen Erstkontakt hatte Radu seinen beiden Neffen anvertraut. Eine erste Prüfung. Stella hatte es gefreut. Gleichzeitig war es eine ungefährliche Sache gewesen, bei der eher kaufmännisches Geschick als kriegerischer Einsatz gefordert war. Und Radu hatte es als gutes Zeichen gesehen, dass der Ort der Verhandlung ausgerechnet Borgnone sein sollte. Dort, wo einst sein neues Leben begonnen hatte.

Er hob eine dritte Kastanie auf. Die war gut. Er steckte sie in die Jacke seines Wollmantels. Den hatte er nicht gegen eine Trekkingjacke gewechselt. Es hätte ihn zu sehr an einen Trainingsanzug erinnert.

Ein Auto hupte hinter ihm. Er drehte sich um. Ein olivgrüner Fiat Panda. Radu trat einen Schritt zur Seite und liess den Wagen vorbei. Er stakste den Feldweg zurück bis zur Strasse und machte sich auf den Weg zum Ferienhaus Nappa.

* * *

Laura sah in den Rückspiegel. Ein seltsamer Wanderer. In Anzughose und feinem Wollmantel. Aber mit Rucksack und in Trekkingschuhen. Das passte nicht zusammen. Und obendrein im Oktober, wo sich sonst niemand hierher verirrte.

Sie parkierte den Wagen vor dem Rustico und stieg aus. Der Fremde schlug am Ende des Waldwegs nach rechts ein. Rechts oben gab es nichts. Bis auf das Ferienhaus Nappa am Ende der Strasse. Wollte er dorthin? Vielleicht ein ausländischer Polizist, der sich um den Fall der beiden toten Rumänen kümmerte? Irgendwie sah er so aus. Wie aus einem italienischen Krimi der Siebziger. Ja, er hatte etwas von Lino Ventura. Nur grösser. Ein Bär. Lauras Neugierde war geweckt. Ihre Phantasie angestachelt. Sie wäre keine gute Journalistin, würde sie den Bären jetzt einfach ziehen lassen. Sie setzte sich in den Panda, wendete und fuhr den Waldweg zurück. Sie bog nach rechts ab und fuhr die Strasse entlang. Der Bär war verschwunden. Oder konnte er so schnell gehen? War er plötzlich gerannt? Sie bog um zwei weitere Kurven. Niemand zu sehen. Bis zum Ferienhaus Nappa waren es noch knapp zwei Kilometer. Sollte sie bis dorthin fahren? Nein. Was sollte das bringen? Ausserdem würde es bald dunkel werden. Und sie kam nicht gerne bei Dunkelheit im Rustico an. Einheizen musste sie auch noch. Sonst konnte sie direkt ins Bett gehen. Und das lag nicht drin. Sie musste schreiben und sich einen Schlachtplan zurechtlegen.

Sie wendete den Wagen und fuhr zurück. Noch immer nach dem Bären Ausschau haltend. Vielleicht war er ja nur kurz in den Büschen gewesen? Nichts. Sie hatte ihn verloren, wie sie ihn gefunden hatte. Würde sie Bertini davon erzählen, er würde sie endgültig für überdreht halten. Vielleicht war sie das auch. Erst der Tod ihrer Tante, vor drei Tagen die Absage von der NZZ und heute der Irrtum mit Tomaso. Das alles nagte an ihr. Sie brauchte einen Erfolg.

Sie fuhr langsam in den Waldweg. Dort, wo sie den Bären gesehen hatte, hielt sie an und öffnete die Tür. Zwei grosse Fussabdrücke im Matsch. Starkes Profil. Sie hatte sich den Bären also nicht eingebildet. Das beruhigte sie. Gleichzeitig machte es sie aber nervös, dass er plötzlich verschwunden war. Am Ende lag er tot im Wald wie die beiden anderen Fremden. Erschlagen vom unbekannten dritten Mann. Oder war der Bär vielleicht der Unbekannte? Lauras Herz schlug höher. Sie wollte handeln. Ihn jagen, finden, befragen. Aber wo anfangen? Sollte sie blind durch den Wald rennen? Bertini anrufen und eine Grossfahndung mit Hunden beantragen? Lächerlich. Sie stellte den Wagen ab, nahm ihre Reisetasche und den Laptop von der Rückbank und stieg aus. Sie klopfte sich den Matsch von den Stiefeln, holte den Schlüssel aus seinem Versteck und schloss die Tür auf. Es roch klamm nach altem Rauch.

Laura ging direkt in die Küche und knipste das Licht an. Es blieb dunkel. War die Birne schon wieder durchgebrannt? Sie öffnete das Fenster. Licht, Luft und Niesel drangen ein. Sie stieg die Stufen ins Obergeschoss hoch und versuchte sich dort am Lichtschalter. Auch hier blieb es dunkel. Hatten sie den Strom abgestellt? Laura öffnete die grosse Fenstertür, die auf einen kleinen Balkon führte, und ging hinunter. Im kleinen Bad hing der Sicherungskasten. Vielleicht war die Sicherung beim letzten Gewitter rausgesprungen. Ja. Sie drückte den Hauptschalter hoch. Das Licht im Bad leuchtete. Warum? Sie hatte den Schalter nicht geknipst. Hatte sie im September vergessen, das Licht im Bad auszuschalten? Seltsam. Sie verliess das Bad und ging in die Küche. Jetzt ging das Licht auch hier. Sie schloss das Fenster und nahm das Päckchen Kaffee heraus, das sie von zu Hause eingepackt hatte. Betend, dass die Bombola noch genügend Gas hatte, drehte sie am Knopf des Zweiplattenherds. Glück gehabt. Es schnorchelte und hustete, dann strömte das Gas. Laura setzte den Kaffee auf und ging zum Cheminée. Sie hatte es im September nicht mehr geputzt. Alte Asche und nicht zu Ende gebrannte Kohlereste lagen darin. Sie schob sie zusammen und bettete das Kleinholz darauf. In der Dose fand sie noch zwei Zündwürfel. Ein halber würde genügen. Sie hatte auch noch die heutige Ausgabe ihrer Zeitung. Die verbrannte sie gerne. Etwas Fichte, Kastanie und viel Buche. Tomaso hatte Beziehungen. Seinen Eltern gehörte der Forstwald weiter oben. Dort schlugen sie regelmässig Buche. Ansonsten kam die Buche, die man hier verheizte, aus der Ukraine. Das wussten die wenigsten. Laura hatte einen Artikel darüber geschrieben und Ärger bekommen, weil sie polemisch gefragt hatte, wie sich die Schweizer wohl fühlten, sich am Holz von Ausländern zu erwärmen? Ob das Knistern im Cheminée nicht ein heimtückisches Untergraben der schweizerischen Heimeligkeit sei? Sie grinste bei dem Gedanken. Im Grunde ziemlich pubertär. Aber sie wollte auf sich aufmerksam machen, zeigen, dass sie mehr konnte und weiter dachte als nur bis an den regionalen Rand.

Die Flamme zündete, das Kleinholz knisterte, die Zeitung fing Feuer. Gleich würde es in der Küche warm werden.

Laura zog weiter. In der Stube, die ebenerdig lag, war sie noch gar nicht gewesen. Hier wollte sie es auch gemütlich haben. Nur oben im Schlafzimmer konnte es kalt bleiben. Sie würde sich in ihren Schlafsack kuscheln, der selbst zwanzig Grad minus im Freien vertrug.

Sie knipste das Licht an und erschrak. Im Ohrensessel von Fausta sass er. Der Bär.

«Lassen Sie sich nicht stören. Es ist in der Tat gemütlicher mit Feuer im Cheminée.»

«Was machen Sie hier? Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier rein?»

«Welche Frage möchten Sie zuerst beantwortet haben?»

Laura zückte ihr Handy. «Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei.»

«Wenn ich ein Böser wäre, wären Sie tot, noch ehe Bertini sich seinen Hut aufgesetzt hat.»

«Sie kennen Bertini?»

«Kennen ist übertrieben. Ich weiss, dass es ihn gibt.»

«Und wer sind Sie?»

«Rufen Sie Bertini an, er sagt es Ihnen vielleicht. Er weiss, wer ich bin, will mich aber nicht kennen. Verstehen Sie?»

«Nein. Das ist mir zu hoch.»

«Machen Sie Feuer. Dann kläre ich sie auf, Laura.»

«Woher kennen Sie meinen Namen?»

«Borgnone und Umgebung ist nicht Delhi. Da kann man sich ein paar Namen merken. Zumindest die wichtigsten.»

«Und warum haben Sie sich meinen gemerkt?»

«Weil Sie neugierig sind. Sie wollten wissen, wer ich bin, und sind mir nachgefahren.» Er stand auf, ging ans Fenster und öffnete es. «Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, an jedem Ort, an dem ich für eine Zeit weile, mich über Polizisten, Ärzte, Pfarrer und Journalisten zu erkundigen. Früher waren noch die Lehrer dabei. Aber die haben mittlerweile an Einfluss verloren.»

«Und weswegen tun Sie das?»

«Damit ich Bescheid weiss. Im Grunde bin ich auch so etwas wie ein Journalist. Ich muss immer wissen, wer am meisten weiss. Wenn ich nicht im Bilde bin, kann es sein, dass ich verliere.»

«Und was ist Ihr Spiel?»

«Das schnelle Geschäft. Je heisser, umso grösser der Hebel.»

«Was für Geschäfte?»

«Internationale Vermittlung.»

«Schieber.»

«Händler.»

«Schliessen Sie bitte das Fenster.»

«Angst, dass uns jemand belauschen könnte?»

«Ich kann das Cheminée nicht anzünden, wenn das Fenster offen steht. Der Rauch zieht dann nicht in den Kamin, sondern ins Zimmer.»

«Richtig, ich erinnere mich. Bei meiner Grossmutter war das auch immer so. Schon eine Weile her.» Er schloss das Fenster. Laura machte sich daran, anzufeuern.

«Warum rufen Sie Bertini nicht an? Haben Sie jetzt keine Angst mehr vor mir?»

«Doch. Ich habe Angst vor Ihnen. Deswegen rufe ich ihn nicht an.»

«Kluges Kind.» Er setzte sich in den Sessel.

«Sind Sie Deutscher?»

«Spreche ich so gut?»

«Ich kenne den Akzent nicht. Ausserdem sehen Sie südländischer aus. Parla italiano?»

«Sì. Certo. Anche francese, spagnolo, russo, turco e romeno. Che lingua preferisce?»

«Deutsch ist in Ordnung.» Sie zündete das Feuer an und trat einen Schritt vom Cheminée zurück. «Sie sind Rumäne, habe ich recht?»

«Sehr gut.»

«Sie sind hier wegen der beiden Toten.»

«Weiter.»

«Sie sind der dritte Mann.»

«Falsch. Ich suche den dritten Mann.»

«Ich auch.»

«Ich weiss.»

«Von Bertini.»

«Das riecht gut. Ich mag das erste Feuer. Wenn man noch nicht weiss, wie es sich entwickeln wird. Es ist noch hungrig und unruhig. Wie der Anfang einer Romanze.» Er stand auf, nahm einen Schürhaken und stocherte in den Flammen. «Und am Ende bleibt nur Asche.» Er drehte sich zu Laura. Sie sah ängstlich auf das Eisen. «Die beiden Toten, das waren meine Neffen. Ich will wissen, wer sie umgebracht hat.»

«Was hatten sie hier zu tun?»

«Geschäfte für mich zu erledigen.»

«Einbrüche?»

«Blödsinn. Das mache ich schon lange nicht mehr. Wer in meinem Alter noch mit privatem Kleinkram dealt, hat etwas falsch gemacht. Wenn die beiden Jungs ihr eigenes Geschäft hätten aufziehen wollen, hätten sie vielleicht so angefangen. Aber sie waren bereits in Führungspositionen in einem florierenden Unternehmen. Wieso sollten sie sich dann mit dummen Einbrüchen das Leben erschweren?»

«Weil es ins Klischee passt?»

«Richtig. Die Rumänen brechen in Rustici ein, die Polen klauen Autos, und die Schweizer waschen sich die Hände im sauberen Wasser von Nestlé.» Er grinste und stellte den Schürhaken zurück. «Ich glaube, der Kaffee kocht. Meinen Sie, er reicht für uns beide?»

Laura trocknete sich ihre feuchten Hände an der Jeans, lächelte verkrampft, fuhr sich durchs blonde Haar und nickte. Sie verschwand in der Küche und nahm zwei Espressotassen aus dem Schrank. Sie merkte, dass sie zitterte. Ein Unterteller glitt ihr aus den Fingern und barst auf den Kacheln.

«Beruhigen Sie sich.» Der Bär war ihr gefolgt. «Sie brauchen sich vor mir nicht zu fürchten. Ich habe keinen Grund, Ihnen etwas anzutun. Und ich glaube nicht, dass Sie so dumm sein werden, mir Grund zu geben.» Er bückte sich und hob die Scherben auf. «Wohin damit?»

Laura sah ihn verstört an und stotterte: «Legen Sie sie einfach dort auf die Fensterbank. Ich entsorge sie später.»

«Scherben sollte man immer gleich entsorgen.» Er lächelte doppelbödig. Laura glaubte zwei überlange Eckzähne in seinem Mund zu sehen. Er kam aus Rumänien. Dracula fiel ihr immer als Erstes ein. Dann Ceauşescu. Und zuletzt Herta Müller. «Sind Sie Sudetendeutscher?», fragte sie.

«Nicht wirklich. Ursprünglich komme ich aus der Gegend von Temeswar.»

Sie goss Kaffee ein und reichte dem Bären eine Tasse.

«Haben Sie auch Zucker?»

«Ja. Aber keine Milch.»

«Zucker genügt.»

Laura kramte in einem Körbchen, in dem neben Pflastern, Reissnägeln und Haargummis auch Zuckertütchen lagen. «Eins oder zwei?»

«Eins.»

Sie gab es ihm. Dabei berührten sich ihre Finger für eine Sekunde. Es war wie Strom. Als Kind hatte Laura gerne Kuhzäune angefasst und die Stromschläge genossen. In der Pubertät hatte sie an offene Kupferkabel gefasst. Sie mochte die Überraschung und das Herzklopfen, das solche Schläge hinterliessen. Der Kuss von Tomaso hatte noch nicht einmal die Spannung einer Flachbatterie gehabt. Und der Bär brauchte sie nur einen Moment mit dem kleinen Finger zu berühren, schon standen ihr die Haare zu Berge. «Sie haben das Terror-Regime von Ceauşescu noch erlebt?»

«Ich bin darin aufgewachsen. Aber ich hatte mich irgendwann entschieden, das Land für eine Weile zu verlassen.»

«Wo leben Sie jetzt?»

«Wieder in Bukarest.»

«Die Zeiten haben sich geändert.» Ihr fiel nichts Besseres ein.

«Die Menschen nicht.»

«Wollen wir rüber?»

Er ging vor und setzte sich in den Ohrensessel. Laura hockte sich auf den Stuhl neben dem kleinen Esstisch und rührte im Kaffee.

«Was wollen Sie von mir?», fragte sie endlich.

«Sie sollen mir helfen, den dritten Mann zu finden.»

«Und warum ich?»

«Weil Sie ihn sowieso suchen. Wenn ich zu viel schnüffle, wirbelt das Staub auf. Wenn Sie Fragen stellen, ist das normal.»

«Meine Zeitung gibt mir nur noch das Wochenende für die Story. Wenn ich bis am Montag nichts habe, muss ich mich anderen Themen widmen.»

«Kündigen Sie.»

«Was?»

«Sie haben richtig gehört.»

«Wie stellen Sie sich das vor? Wovon soll ich leben?»

«Was verdienen Sie im Jahr? Vierzigtausend netto? Fünfzigtausend? Und wofür? Das Attraktivste, das Sie schreiben, sind noch die Filmrezensionen. Und Sie schreiben gut. Ich habe einiges gelesen. Wegen Ihrer Buchrezension habe ich sogar Tanja Maljartschuk gelesen. Und ich habe nicht viel Zeit, um zu lesen. Sie können mehr, Laura. Aber es gibt viele, die mehr können. Und bei denen entscheidet dann immer, ob sie eine günstige Gelegenheit bekommen. Hier ist eine günstige Gelegenheit. Sie müssen nur zugreifen.»

«Ich verstehe nicht ganz.»

«Arbeiten Sie für mich. Sie bekommen hunderttausend, wenn Sie diese Woche für mich recherchieren. Hundertfünfzigtausend, wenn wir den dritten Mann finden. Und obendrein dürfen Sie meine Biografie schreiben.»

«Ihre Biografie?»

«Ja. Es ist an der Zeit, Gutes zu tun. Aber erst finden wir den Mörder meiner Neffen.» Er trank den Kaffee aus, stand auf und ging zur Tür.

«Kann ich Ihre Telefonnummer haben?», fragte Laura.

Der Bär drehte sich um. «Ich habe Ihre. Aber die hat auch Bertini. Ich glaube, telefonieren ist keine gute Idee.»

«Und wie finde ich Sie, falls ich etwas habe?»

«Bleiben Sie hier wohnen. Dann sind Sie leicht zu finden. Und falls Sie unterwegs sind, können Sie mir einen Zettel dorthin legen, wo sie sonst immer den Schlüssel verstecken.»

«Sie glauben, mein Telefon wird abgehört?»

Er grinste. «Tomaso, vergiss es. Wir hatten uns nie wirklich was zu sagen. Am Anfang war es wenigstens erotisch. Aber eben nur am Anfang.»

Laura fiel die Lade runter. Genau so hatte sie es Tomaso gesagt. Am Telefon. Wort für Wort.

«Ich hoffe, zwischen uns bleibt es prickelnd.» Er wollte gehen.

«Wie heissen Sie?»

«Steiner. Radu Steiner. Und falls es sehr dringend sein sollte: Ich wohne im Ferienhaus Nappa.» Er ging.

ZWEI

Laura wälzte sich und kämpfte mit dem Schlafsack. Sie kam sich vor wie eine Raupe, die sich entpuppen wollte. Luft, Raum, Verwandlung. Sie schlug die Augen auf, starrte zur Decke. «Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.» Dieser erste Satz von Kafkas «Verwandlung» schoss ihr durchs Hirn. Sie sah hinab. Nein, sie hatte keinen «gewölbten braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch». Sie war noch sie selbst. Oder begann sie erst, sie selbst zu werden? War die Verwandlung ein Entfremden oder ein Finden seiner selbst?

Sie knipste die kleine Lampe mit dem Milchglas an, die neben ihrem Bett auf dem Boden stand, und schälte sich aus dem Schlafsack. Laura zog das nasse Nachthemd aus und nahm ein langes T-Shirt aus der Reisetasche. Wenn sie hier einziehen sollte, musste sie morgen noch mal nach Hause fahren, um frische Klamotten zu holen. Sie blickte auf ihr Handy. Halb drei. Es würde jetzt nichts bringen, wieder in den Schlafsack zu kriechen. Kein Auge würde sie zukriegen. Sie schlüpfte in die graue Jogginghose, die sie mit eingepackt hatte, warf sich einen Kapuzensweater über, der noch vom letzten Besuch über einem Stuhl hing, und ging nach unten in die Küche. Sie klopfte den alten Kaffeesatz aus der Kanne und stopfte neuen nach. Draussen schepperte es. Laura schrak herum und lauschte. Sie hörte das Greinen und Fauchen von zwei Katzen. Dann war wieder Ruhe. Sie setzte den Kaffee auf und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Kastanientisch lag der Laptop. Sie klappte ihn auf und fuhr ihn hoch. Sie drückte den Internet-Stick in den USB-Schlitz und wartete, bis sie Internet hatte. Der Kaffee schnorchelte. Sie nahm ihn vom Herd, goss sich das ganze Kännchen in eine grosse Tasse und setzte sich hinter den Laptop. Es fror sie an den Nieren. Sie nahm Faustas rote Wolldecke vom Sofa und wand sie sich um die Hüften. Es konnte losgehen. «Radu Steiner» tippte sie bei Google ein. Nur ein Eintrag bei Facebook. Laura klickte ihn an. Das Gesicht gehörte einem anderen. Nichts Aufregendes. Radu Steiner war dem Internet unbekannt. Dafür Millionen Einträge über Rudolf Steiner. Ein rotes Tuch für Laura. Sie war anthroposophisch erzogen worden und hatte sich gelangweilt. Sie hätte die harte Schule gebraucht. Kein Buchstabentanz, sondern geschliffenes Schreibhandwerk. Jahre gingen ihr verloren durch diese Weichspüler. Aber was half hadern? Jetzt hatte sie die Chance, einen Quantensprung zu machen. Was sie gerade anpackte, war gefährlich, das spürte sie. Und es reizte sie, auch wenn sie sich vor Angst in die Hosen machte. Radu Steiner hatte ihr Geld und die Autorenschaft seiner Biografie versprochen. Aber was war seine Biografie wert? Im Internet kannte ihn niemand. War das gut oder schlecht? Wer war dieser Mann, der ihr die Komplizenschaft anbot und behauptete, die beiden toten Rumänen wären seine Neffen gewesen? Durfte sie das einfach glauben? War sie so naiv? Durfte sie ihren Job aufgeben und für diesen Fremden arbeiten? Was, wenn er sie nur zum Narren hielt?

Laura trank den Kaffee und verzog das Gesicht. Sie hatte ihn zu stark gebraut. Er würde ihr auf den Magen schlagen.

Sie hatte immerhin das Wochenende. So viel Zeit blieb ihr, um herauszubekommen, wie ernst es der Bär meinte. Und vielleicht konnte sie Dani noch ein paar Tage abringen, wenn sie etwas Handfestes vorweisen konnte. Von Radu durfte sie Dani nichts erzählen. Oder doch? Warum sollte sie ihn raushalten? Weil ihr Instinkt sagte, dass es gesünder für sie wäre. Der Bär war ihr unheimlich. Und gleichzeitig zog er sie an. Er war die Story, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte. Ihr Wendepunkt. Sie fühlte es.

* * *

Radus Handywecker klingelte. Sieben Uhr. Eine gute Zeit, um aufzustehen. Noch vor zwei Jahren war er täglich um fünf Uhr aufgestanden und hatte seine Stunde Körpertraining gedroschen. Obwohl er dadurch oft nur weniger als vier Stunden Schlaf gehabt hatte. Er hatte es durchgezogen. Disziplin. Und die Eitelkeit, mit Mitte vierzig noch immer mit einem Sixpack prahlen zu können. Und dann, mit einem Schlag, hatte Radu alles in Frage gestellt. Plötzlich sah er zurück auf ein Leben, das seins gewesen sein sollte. Karg, brutal und erfolgreich. Immer am Abgrund. Auf der Überholspur. Ja, Radu hatte es krachen lassen. Granaten und Sektkorken. Das Geräusch war für ihn ein und dasselbe. Drei Ehefrauen hatte er verschlissen. Durchweg Rasseweiber. Alle aus dem Milieu. Bis auf Mona dumme Hühner, die sich an ihn geschmissen hatten, weil er der stärkste Gockel gewesen war. Er hatte sein Kikeriki genossen. Er war genauso dumm gewesen. Aber der Mensch war nicht nur Tier, auch wenn die moderne Hirnwissenschaft ihm das wieder einreden wollte. Als Tier hatte er alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Als Mensch begann er sich erst zu entdecken. Buddha sollte ihm dabei helfen. Aber es wollte Radu nicht gelingen, ruhig im Lotussitz zu meditieren. Sein Affenhirn raste von einem Gedanken zum nächsten. Die Gedanken, die er wie Wolken ziehen lassen sollte, wurden grau und immer fetter, rieben sich in Spannung aneinander und entluden sich in einem heftigen Donner. Radu schrie und sprang auf. Er packte sich den Fernseher, der auf einem Hocker stand, und schleuderte ihn durch das Zimmer. Der Bildschirm platzte. Radu starrte auf die Scherben, riss das Fenster auf und rang nach Luft. Er fühlte sich schuldig am Tod seiner Neffen. Da er selbst nur eine Tochter hatte, die von ihm nichts wissen wollte, hatte er niemanden, dem er sein grosses Erbe abgeben konnte. Doch Radu wollte nicht bis ans Ende seiner Tage dem Unternehmen verpflichtet sein. Sein Plan war es gewesen, die beiden innerhalb der nächsten drei Jahre mit allen Geschäften vertraut zu machen und sich dann zurückzuziehen. Jetzt war alles dahin. Und Radu konnte nicht mehr zurückrudern. Er wollte nicht mehr. Er war diesen Schritt vom Tier zum suchenden Menschen gegangen und wollte weiterschreiten.

Er fegte die Scherben zusammen und dachte an die junge Journalistin. Sie gefiel ihm. Sie erinnerte ihn ein wenig an seine erste Frau. Ein Biest, das wie ein Engel dreinschauen konnte. Radu war sich sicher: Laura hatte es faustdick hinter den Ohren. Sie war die richtige Wahl. Sie würde ihn zum Mörder seiner Neffen bringen. Dann würde er ihr sein Leben diktieren. Was sie damit anfangen würde, war ihm egal. Er wollte es abladen. Seine grosse Beichte. Danach würde er abtauchen. Vielleicht nach Indien. Buddha suchen. Aber noch war es nicht so weit. Um zehn wollte er in Camedo sein. Dort in die Centovallibahn einsteigen und Amon treffen. So war es abgemacht.

Ein Handy klingelte. Radu sah auf die Kommode. Dort lagen drei Telefone. Er nahm das mittlere. Eine Prepaid-Karte für die Zeit in der Schweiz. Nur drei Leuten hatte er die Nummer gegeben. Einer davon war Amon. Radu nahm den Anruf entgegen. «Ja? … Verstehe … Wie lange brauchst du? … Gut … Wenn du nur eine Minute drüber bist, platzt das Treffen …» Er legte auf. Amon würde sich verspäten. Er hatte ein paar Jungs im Nacken, die er erst abschütteln musste. Amon tippte auf den MND, den Militärischen Nachrichtendienst. Auf die Jungs hatte Radu keine Lust. Aber wenn er mit Amon arbeitete, war so etwas immer drin. Im Grunde war Amon verbrannt. Er war ein bunter Hund. Andere hätten schon längst die Karten hingeschmissen. Amon nicht. Er überlebte. Immer wieder. Vielleicht war das gerade seine Strategie. War er so bunt, dass er schon wieder unantastbar war? Er kannte jeden, der wichtig war. Auf allen Seiten. Das machte ihn sicher. Und trotzdem hingen sie ständig an ihm wie die Fliegen an der Scheisse. Eine Stunde mehr Zeit. Was sollte Radu damit anfangen? Mit Bukarest telefonieren? Die Lage dort abklären? Schliesslich liefen die anderen Geschäfte weiter. Ferien konnte sich Radu nicht leisten. Noch nicht. Erst musste er noch einige Transaktionen mit Amon durchziehen. Und er musste den dritten Mann finden. Dabei ging es nicht nur um die Aufklärung der beiden toten Neffen. Wenn der dritte Mann tatsächlich die Jungs auf dem Gewissen hatte, wusste er mehr, als Radu lieb war, und mischte im Geschäft mit. Dann war er ein grosses Hindernis für Radus Traum vom Rückzug.

Er nahm das rumänische Handy und wählte Stellas Nummer. Seine Schwester war die Einzige, der er wirklich vertrauen konnte. Dafür erwartete sie von ihm, dass er den Tod ihrer beiden Söhne gebührend sühnen würde.

«Ciao Stella, alles gut? … Ich bin dran. Es geht hier alles etwas langsamer. Das ist die Schweiz … Keine Sorge, ich treffe gleich Amon. Er wird mir mehr sagen können … hat sich der Monsignore gemeldet? … Wann? … Er wollte doch selbst kommen … Kenne ich nicht. Sei vorsichtig … überprüfe ihn gut … Bis dahin bin ich noch nicht zurück … ich weiss, dass es ein übles Geschäft ist. Aber wenn wir es nicht übernehmen, steigt Lupescu ein. Und das spricht sich rum … Du wirst das schon machen … geh aber nicht unter Preis. Die Römer sind gerissen … Bei ihnen kannst du mindestens fünfzig Prozent runterrechnen … Pass auf dich auf. Und nimm Marcel mit. Egal, wo du bist. Es ist mir wohler, wenn er in deiner Nähe ist … Ich melde mich, sobald ich mehr weiss Am imbratisa pe tine.» Er legte auf und steckte alle drei Handys in den Rucksack. Zwei frische Unterhemden packte er mit hinein. Ohne frische Unterhemden ging er nie aus dem Haus. Vielleicht auf einen Empfang. Aber sobald er sich länger bewegte, begann er zu schwitzen wie ein Dampfross. Und es war gefährlich, wenn er auskühlte. Er fing sich sofort einen Husten ein. Schwache Bronchien. Hatte er schon als Kind gehabt. Er hatte sie trainiert. Durch Laufen, Schwimmen, Karate. Und trotzdem. Sobald er schwitzte und leichten Zug bekam, begann er zu husten.

Er schulterte den Rucksack und verliess das Rustico. Noch immer feucht und grau. Kein Regen, aber Niesel. Radu hustete einmal und marschierte los. Er hatte sich keinen Kaffee gemacht. Er war nicht gut darin. Aber er wusste, wo er guten bekommen würde.

* * *

Laura hielt noch immer das Handy umklammert und starrte aus dem Fenster. Was sie über das Internet nicht hatte recherchieren können, hatte sie über Felix herausbekommen. Felix hätte überall Karriere machen können, wo es ums Programmieren und Hacken ging. Aber er zog es vor, sich in seiner Spielkonsolenwelt einzurichten und dort ein Star zu sein. Laura hatte Glück gehabt, dass sie Felix überhaupt in dieser Welt erreicht hatte. Vielleicht hatte er gerade aufs Klo gemusst. Manche Dinge gingen eben doch nicht virtuell. Jedenfalls war Felix guter Laune gewesen. Glück für Laura. Wenn sie ihn in einem Depriloch erwischt hätte, hätte er noch nicht einmal in den Hörer gegrunzt. So hatte er sogar mit Laura geflirtet und sich ihr untertänigster Diener genannt. Was für einen Film Felix auch gerade fahren mochte, Laura war ihm dankbar, dass er ihr Infos über Radu Steiner besorgt hatte. Und auch wenn Felix gut war, so konnte Laura davon ausgehen, dass er ihr auf die Schnelle nur die Spitze des Eisbergs hatte besorgen können. Aber es genügte Laura, um sich darüber klar zu sein, an wen sie geraten war.

Es klopfte an der Tür. Laura schrak hoch. Ein Blick aus dem Küchenfenster verriet ihr den Besucher. Radu. Er winkte und lächelte freundlich. «Ich stehe auf Ihren guten Kaffee. Gibt’s davon noch etwas?»

Laura öffnete die Tür. «Guten Morgen», sagte sie und fuhr sich unsicher mit der Hand durchs Haar. «Ja. Gerne. Ich setze gleich welchen auf.»

«Darf ich reinkommen?»

«Gestern haben Sie nicht gefragt.»

«Gestern waren wir noch keine Freunde.»

«Sind wir jetzt Freunde?»

«Ich mache nur mit Freunden Geschäfte.» Er lächelte mit den Augen und trat ein. Erst jetzt hatte Laura seine Augen bemerkt. Ein sehr helles Braun mit einem Stich Grün. Fast Gelb, wenn er ins Licht sah. Ein starker Kontrast zu den schwarzen Augenbrauen. Sie ging an den Herd und setzte frischen Kaffee auf. «Gibt es bei Ihnen oben keinen Kaffee?» Irgendetwas musste sie ja sagen.

«Keine Ahnung. Habe nicht nachgesehen. Es gibt kaltes Wasser. Immerhin.»