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Buch

Téo Avelar ist Einzelgänger. Er hat nur wenige Freunde und am wohlsten fühlt er sich im Seziersaal. Echte menschliche Gefühle bringt er nur für sein dortiges Studienobjekt auf – bis er Clarice begegnet. Téo ist davon überzeugt: Sie ist die Frau seines Lebens. Er beginnt, sie zu verfolgen, macht ihr Geschenke, ist geradezu besessen von ihr. Als Clarice ihn abblitzen lässt, greift Téo zu extremen Mitteln, um ihre Zuneigung zu gewinnen: Er entführt sie, hält sie gefangen. Nichts und niemand soll seinem glücklichen Leben mit Clarice in die Quere kommen …

Autor

Raphael Montes, geboren 1990 in Rio de Janeiro, ist Jurist und Autor. Er schrieb Short Storys für verschiedene Krimianthologien und Magazine, sein Debütroman wurde u. a. für den São Paulo Literaturpreis nominiert, und in seiner Heimat wird Raphael Montes als »Stephen King Brasiliens« gefeiert. Mit seinem zweiten Spannungsroman Sag kein Wort, der in vierzehn Ländern erscheint, sorgt Montes auch international für Furore.

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Raphael Montes

SAG KEIN WORT

Roman

Deutsch von Kirsten Brandt

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Dias perfeitos« bei Companhia das Letras, São Paulo.

Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional.

Die Übersetzung wurde vom Ministério da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional gefördert.

Das Zitat von Friedrich Nietzsche stammt aus »Also sprach Zarathustra«, zitiert nach »Nietzsches’s Werke, Erste Abtheilung, Band VI, Druck und Verlag C.G. Naumann, Leipzig 1901.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2014 by Raphael Montes

Published by special arrangement with

Villas-Boas & Moss Literary Agency & Consultancy

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Limes

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Trevillion Images/Tracie Taylor

WR · Herstellung: sto

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-16083-8
V002

www.limes-verlag.de

Für meine Mutter

Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe.

Es ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn.

Friedrich Nietzsche

1

Gertrudes war der einzige Mensch, den Téo mochte. Vom ersten Augenblick an hatte er gewusst, dass die Begegnungen mit ihr unvergesslich sein würden. Den anderen Studenten war in ihrer Anwesenheit eher unwohl. Kaum dass sie den Saal betraten, hielten die Mädchen sich die Nase zu. Die Jungen versuchten, cool zu bleiben, aber die Blicke verrieten ihr Unbehagen. Téo wollte nicht, dass irgendjemand bemerkte, wie glücklich er hier war. Er hielt den Kopf gesenkt und trat sofort an den Metalltisch.

Dort lag sie, ruhig und gelassen, und wartete auf ihn. Gertrudes.

Das fahle Licht verlieh der Leiche einen merkwürdig bräunlichen Farbton, wie Kupfer. Auf dem Tablett, das neben ihr stand, lagen die Instrumente für die Untersuchung bereit: eine gebogene Schere, anatomische Pinzetten, eine chirurgische Pinzette und ein Skalpell.

»Die Vena saphena magna ist deutlich in der Mitte des Knies zu erkennen. Im Verlauf zur Hüfte verlagert sie sich im oberen Drittel zur Rückseite hin«, erklärte Téo und zog Gertrudes’ Epithel beiseite, um die vertrockneten Muskeln freizulegen.

Der Professor warf einen Blick in die Notizen auf seinem Klemmbrett. Er sah streng aus, aber davon ließ Téo sich nicht einschüchtern. Der Anatomiesaal war sein Zuhause. Die Bahren in den Ecken, die vertrockneten Leichen, die in Glasgefäßen aufbewahrten Gliedmaßen und Organe gaben ihm ein Gefühl von Freiheit, das er nirgendwo anders fand. Er liebte den Geruch von Formaldehyd, er liebte es, die Instrumente in den behandschuhten Händen zu halten, er liebte Gertrudes’ Anblick vor sich auf dem Tisch.

In ihrer Gegenwart kannte seine Fantasie keine Grenzen. Die Welt verschwand, bis nur noch er übrig war. Er und sie. Gertrudes. Gleich bei ihrer ersten Begegnung, als ihr Fleisch noch intakt gewesen war, hatte er ihr diesen Namen gegeben. Im Laufe des Semesters war ihre Beziehung inniger geworden. In jeder Anatomiestunde hatte Téo etwas Neues an ihr entdeckt. Gertrudes liebte es, ihn zu überraschen. Er beugte sich über den Kopf – den interessantesten Teil – und zog seine Schlüsse. Wem mochte dieser Körper gehört haben? Hatte sie wirklich Gertrudes geheißen? Oder hatte sie einen schlichteren Namen gehabt?

Nein, sie hieß Gertrudes. Ein Blick auf die verdorrte Haut, die feine Nase, den trockenen, strohfarbenen Mund genügte, um zu wissen, dass kein anderer Name gepasst hätte. Obwohl die Verwesung alles Menschliche aus ihrem Blick getilgt hatte, konnte Téo in den formlosen Augäpfeln etwas erkennen: Er sah die Augen der hinreißenden Frau, die sie zweifellos gewesen war. Und wenn die anderen nicht hinsahen, konnte er mit ihr reden.

Wahrscheinlich war sie als alte Frau gestorben, mit sechzig oder siebzig. Die wenigen noch verbliebenen Kopf- und Schamhaare untermauerten diese Hypothese. Bei der genaueren Untersuchung hatte Téo eine Schädelfraktur entdeckt.

Er empfand ungeheuren Respekt für Gertrudes. Nur eine Intellektuelle war fähig, auf die bei einer Beerdigung üblichen Lobhudeleien zu verzichten und stattdessen vorauszudenken – an die Ausbildung junger Ärzte zu denken. Ganz bestimmt hatte sie sich ausgemalt, dass es besser wäre, der Wissenschaft zu dienen, als von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Sie hatte ein Regal voll guter Literatur besessen. Und eine Sammlung von Schallplatten aus ihrer Jugend. Sie hatte viel getanzt mit diesen Beinen. Auf zahllosen Festen.

Viele der Körper in den stinkenden Wannen stammten von Obdachlosen, Bettlern, deren Leben erst im Tod einen Sinn bekam. Sie hatten weder Geld noch eine höhere Bildung gehabt, aber Knochen, Muskeln und Organe, und das machte sie nützlich.

Gertrudes war da anders. Schwer zu glauben, dass diese Füße sich durch die Straßen geschleppt, dass diese Hände ein ganzes mittelmäßiges Leben lang Almosen entgegengenommen haben sollten. Téo weigerte sich auch zu glauben, dass sie ermordet worden war, durch einen Schlag auf den Kopf bei einem Überfall oder die Prügel des betrogenen Ehemannes. Gertrudes war eines besonderen Todes gestorben, bei einem beachtlichen Vorfall. Niemand hätte es gewagt, sie zu töten. Außer einem Idioten …

Nun war aber die Welt voller Idioten. Man musste sich nur umsehen: der Idiot mit der Weste, der Idiot mit dem Klemmbrett, die Idiotin mit der schrillen Stimme, die jetzt über Gertrudes redete, als würde sie sie ebenso gut kennen wie Téo.

»Die Gelenkkapsel wurde geöffnet und die äußere Knochenhaut zurückgeklappt, sodass die distalen und proximalen Enden des Femurs und der Tibia zu erkennen sind.«

Téo hätte sie am liebsten ausgelacht. Nicht nur ausgelacht – er hätte brüllen können vor Lachen. Und hätte Gertrudes diesen Schwachsinn gehört, der da über sie verzapft wurde, hätte auch sie schallend gelacht. Gemeinsam hätten sie teure Weine verkostet, über dies und das geplaudert, Filme angesehen, um danach über die Einstellungen, das Setting und die Statisten zu diskutieren wie Filmkritiker. Gertrudes hätte ihn gelehrt zu leben.

Die Missachtung, die die anderen Studenten Gertrudes entgegenbrachten, machte Téo wütend. Einmal hatte das Mädchen – dasselbe, das jetzt mit schriller Stimme gelehrte medizinische Begriffe zum Besten gab – in Anwesenheit des Professors ein Fläschchen roten Nagellack aus der Tasche gezogen und der Toten kichernd die Nägel lackiert. Augenblicklich hatten sich die anderen um sie geschart. Sie hatten ihren Spaß gehabt.

Eigentlich war Téo nicht rachsüchtig, aber an diesem Mädchen hätte er gerne Vergeltung geübt. Er hätte eine bürokratische, nutzlose Bestrafung durch die Universität in die Wege leiten können. Oder sie in ein Formaldehydbad tauchen – in den Augen dieser verdammten Göre die Verzweiflung sehen, sobald sie spürte, wie ihre Haut zu schrumpeln begann. In Wirklichkeit aber hatte er sie töten wollen. Und dann ihre bleichen, kleinen Finger mit rotem Nagellack bemalen.

Natürlich tat er nichts dergleichen. Er war schließlich kein Mörder. Er war kein Monster. Als Kind hatte er nächtelang wach gelegen, die zitternden Hände vors Gesicht geschlagen und versucht, seine Gedanken beiseitezuschieben. Er hatte sich gefühlt wie ein Monster. Er hatte niemanden geliebt, niemanden gern genug gehabt, um ihn zu vermissen. Er hatte einfach vor sich hin gelebt. Menschen waren in sein Leben getreten, und er war gezwungen gewesen, mit ihnen auszukommen. Schlimmer noch: Es war von ihm erwartet worden, dass er sie mochte, dass er Zuneigung bekundete. Dass sie ihm gleichgültig waren, interessierte niemanden, solange er nur eine überzeugende Vorstellung abgab, was letzten Endes alles einfacher machte.

Der Gong läutete zum Unterrichtsende. Die letzte Stunde für dieses Jahr. Téo ging, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Er ließ das graue Gebäude hinter sich. Als er einen Blick zurückwarf, war ihm klar, dass er Gertrudes nie wiedersehen würde. Seine Freundin würde zusammen mit den anderen Leichen in einem Massengrab verscharrt. Ihre gemeinsamen Augenblicke waren für immer vorbei.

Er war wieder allein.

2

Téo wachte schlecht gelaunt auf und ging in die Küche, um seiner Mutter einen Kaffee zu kochen. Die Spüle war so hoch, dass Patrícia vom Rollstuhl aus den Geschirrständer nicht erreichen konnte, ohne sich auf die Fußleisten zu stemmen und sich danach zu strecken. Und das war demütigend.

Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, fegte Téo das Wohnzimmer und spülte das Geschirr vom Vortag. Er wechselte die Zeitung, auf der Sansão lag, und füllte den Fressnapf. Wie immer stellte er seiner Mutter den Kaffee ans Bett und weckte sie mit einem Kuss auf die Stirn, denn das war schließlich, was von einem liebevollen Sohn erwartet wurde.

Um neun kam Patrícia aus ihrem Zimmer. Sie trug ein schlichtes Kleid und Leinensandalen. Wie seine Mutter sich anzog, hatte Téo nie gesehen, aber er konnte sich vorstellen, wie mühselig es für sie sein musste. Einmal hatte er angeboten, ihr in die neue Jeans zu helfen, aber sie hatte das vehement abgelehnt. »Das ist das Einzige, was mir noch bleibt.« Eine halbe Stunde später war sie fertig gewesen. Die Jeans hatte im Mülleimer im Bad gelegen.

»Ich gehe mit Marli auf den Markt und nehme Sansão mit«, sagte sie, während sie sich vor dem Spiegel auf dem Couchtisch einen Ohrring ansteckte.

Téo grunzte zustimmend, ohne den Blick von der Verfolgungsjagd abzuwenden, die sich Tom und Jerry gerade im Fernsehen lieferten.

»Sehe ich gut aus?«

Sie hatte sich geschminkt.

»Hast du auf dem Markt einen heimlichen Verehrer? Jetzt sag schon, Dona Patrícia, mir brauchst du nichts zu verheimlichen.«

»Bisher noch nicht. Aber man weiß ja nie … Ich bin ein Krüppel, aber nicht tot.«

Téo hasste das Wort Krüppel. Patrícia versuchte damit, ihren Zustand mit Humor zu nehmen. Es war traurig, das verstand er. Seit dem Unfall mieden sie das Thema. Den Rollstuhl hatten sie ganz selbstverständlich in ihren Alltag integriert, und eigentlich sah Téo auch keinen Grund, warum sie darüber reden sollten.

Patrícia kam mit Sansão an der Leine aus der Küche. Der Golden Retriever wedelte munter mit dem Schwanz. Er war vor neun Jahren zu ihnen gekommen, als sie noch in der Penthousewohnung in Copacabana gelebt hatten. Mittlerweile störte er, wenn er in der kleinen Zweizimmerwohnung umherwanderte. Téo hätte ihn am liebsten ins Tierheim gebracht. Sansão hatte ein hübsches Fell und war ein Rassehund, er würde dort schnell einen neuen Besitzer finden. Aber das hatte er seiner Mutter nie gesagt, weil er wusste, dass sie den Hund liebte wie ein Kind. Obwohl der Vorschlag, den Hund loszuwerden, vernünftig gewesen wäre, würde sie so etwas rundheraus ablehnen.

Es klingelte, und Patrícia war noch vor ihm an der Tür.

»Marli, meine Liebe!«

Marli war Patrícias Nachbarin und beste Freundin und hatte eine Vorliebe für Esoterik. Außerdem war sie überzeugte Junggesellin – und ziemlich dumm. Hin und wieder kümmerte sie sich um Patrícia, half ihr beim Duschen oder beim Gassigehen. Mittwochs spielten sie Karten. Téo wusste nicht, für wen von beiden diese Freundschaft wichtiger war, und amüsierte sich, wenn Marli seiner Mutter die Karten legte – meist handelte es sich dabei um Vorhersagen ohne den geringsten Bezug zur Wirklichkeit. Ein einziges Mal hatte er Marli erlaubt, seine Zukunft vorherzusagen.

»Du wirst sehr reich und sehr glücklich werden«, hatte sie ihm prophezeit. »Und du wirst ein hübsches Mädchen heiraten.«

Er hatte ihr kein Wort geglaubt. Es war nicht sonderlich wahrscheinlich, dass er je glücklich werden würde. Er fühlte sich, als wäre er zu einer Art Vorhölle verdammt, die aus eintönigen Routinen ganz ohne glückliche oder traurige Momente bestand. Sein Leben war eine mit bloß zaghaften Empfindungen gefüllte Leere, aber das war auch gut so und sollte so bleiben.

»Wir sind in einer Stunde wieder zurück«, rief Patrícia. »Denk dran, dass wir heute Nachmittag zum Grillen eingeladen sind.«

»Bei wem?«

»Bei Éricas Tochter. Sie hat Geburtstag.«

»Ich will dort nicht hin, Mutter. Ich kenne das Mädchen doch kaum.«

»Es kommen Leute in deinem Alter.«

»Ich bin Vegetarier, Mutter.«

»Meine Freunde fragen schon nach dir. Und bestimmt gibt es Knoblauchbrot.«

Manchmal fühlte Téo sich wie eine Trophäe, die seine Mutter herumzeigte. Das war ihre Art, ihre eigenen Schwächen zu überspielen – die körperlichen ebenso wie die geistigen.

»Und das war keine Bitte, Sohn. Du kommst mit.«

Dann knallte Patrícia die Tür hinter sich zu. Endlich war es still in der Wohnung, bis auf die gedämpfte Musik des Zeichentrickfilms.

Es gab natürlich kein Knoblauchbrot. Vom Fleisch auf dem Grill triefte Blut und Fett in die Glut. Junge Leute tanzten zu ohrenbetäubendem Funk. Patrícia war von Freunden umringt und amüsierte sich sichtlich. Téo kannte diese Leute kaum und ärgerte sich darüber, nicht zu Hause bei Tom und Jerry geblieben zu sein.

Zwischen den Wodkaflaschen, die im Kühlschrank lagen, angelte er sich eine Wasserflasche heraus. Er hatte mit seiner Mutter ausgemacht, dass er nicht lange bleiben würde. Er würde mit dem Taxi nach Hause fahren, und Patrícia sollte später von irgendeiner Freundin heimgebracht werden. Obwohl er sich fehl am Platz fühlte, gefiel ihm der Ort. Das Anwesen war in den Fels hineingebaut worden und bestand aus mehreren weitläufigen Terrassen, die inmitten der wilden Vegetation entlang der Klippe lagen und durch Steintreppen miteinander verbunden waren. Das Wohnhaus stand ganz oben auf der Klippe. Wenn man die Treppe hinunterging, kam man zu einer Art Bungalow mit Swimmingpool, Grillplatz und im Boden verankerten Holztischen. Dort fand auch das Fest statt. Auf gewundenen Pfaden gelangte man schließlich in einen sorgsam gepflegten, farbenprächtigen Garten, der nahtlos in den Wald übergegangen wäre, hätte dort nicht ein weißer Zaun gestanden.

»Bist du vor der Musik abgehauen oder vor den Leuten?«, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm. Sie klang heiser und angetrunken.

Téo drehte sich um. Die Frau war jung, wahrscheinlich jünger als er, und sehr klein, höchstens einen Meter fünfzig. Ihr Blick schweifte achtlos über die Blumenpracht.

»Vor der Musik«, sagte er.

Für einen Moment herrschte Schweigen.

Das Mädchen war gut gekleidet. Sie trug eine mit bunten Rauten bedruckte Bluse und einen schwarzen Rock. Hübsch war sie nicht, allenfalls hatte sie eine gewisse exotische Schönheit. Ihr hellbraunes Haar war zu einem nachlässigen Knoten geschlungen, und ein paar Strähnen klebten an ihrer verschwitzten Stirn.

»Hast du getanzt?«, fragte Téo.

»Ja, aber jetzt hab ich keine Lust mehr.«

Als sie lächelte, sah er, dass ihre oberen Schneidezähne schief standen. Das fand er charmant.

»Wie heißt du?«

»Téo. Eigentlich Teodoro. Und du?«

»Clarice.«

»Hübscher Name.«

»Komm mir jetzt bloß nicht mit Clarice Lispector! Ich hab nie etwas von ihr gelesen. Aber diese Frau verfolgt mich.«

Die spontane Art des Mädchens amüsierte ihn, trotzdem blieb er ernst. Ungezwungene Frauen machten ihn immer ein bisschen nervös. Er fühlte sich ihnen unterlegen, und sie waren für ihn praktisch unerreichbar.

Clarice kam ein wenig näher, stellte den Teller mit Würstchen und Hühnerherzen, den sie in der Hand gehalten hatte, auf einem Holzbalken ab, biss in eines der Herzen und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Am Halsausschnitt ihrer Bluse konnte Téo eine bunte Tätowierung sehen, aber er konnte nicht erkennen, was sie darstellte.

»Isst du denn gar nichts?«

»Ich bin Vegetarier.«

»Und du trinkst auch nichts? Ist das etwa Wasser?«

»Ich trinke wenig. Ich vertrage nicht viel Alkohol.«

»Na gut«, sagte sie, »wenigstens trinkst du. Es heißt, Leute, die nicht trinken, sind gefährlich … Das bedeutet dann ja wohl, dass du ungefährlich bist.«

Téo hatte das Gefühl, als müsste er über diese Bemerkung lachen, also lachte er.

Clarice nahm sich zwei weitere Herzen vom Teller.

»Und du? Was trinkst du?«, fragte er.

»Das ist Gummy. Irgend so ein ekliger Mix aus Wodka und Zitronenlimo. Schmeckt wie Kloreiniger.«

»Woher weißt du denn, wie Kloreiniger schmeckt?«

»Manche Sachen muss ich nicht probieren, um zu wissen, wie sie schmecken«, sagte sie im Brustton der Überzeugung, als würde dieser Satz keiner weiteren Erläuterung bedürfen.

Sie machte Téo befangen. Gleichzeitig trieb ihn irgendetwas an, das Gespräch fortzuführen. Er senkte den Blick und sah auf ihre weißen Beine hinab, auf die kleinen Ballerinazehen, die in rote Riemchensandalen eingezwängt waren. Die Zehennägel hatte sie sich in verschiedenen Farben lackiert.

»Warum hast du deine Nägel so lackiert?«

»Meine Fingernägel sehen genauso aus.«

Sie hielt sie ihm hin. Ihre Finger waren lang und schmal, die zartesten Hände, die er jemals gesehen hatte. Die kurz geschnittenen Nägel waren bunt lackiert.

»Stimmt. Und warum?«

»Um anders zu sein als die anderen«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen und hob den rechten Zeigefinger an den Mund.

Mit einer gewissen Genugtuung stellte Téo fest, dass er richtig vermutet hatte: Clarice knabberte an der Nagelhaut. Deshalb waren ihre Schneidezähne schief und standen ein wenig vor. Obwohl er nie ein Seminar in Zahnmedizin belegt hatte, wusste er genug über das Thema. Mit Gertrudes’ Zähnen hatte er sich schließlich auch beschäftigt.

»Und warum willst du anders sein?«

Sie hob die Augenbrauen.

»Die Welt ist auch so schon langweilig genug. Und meine Eltern erlauben es mir nicht, was Spannenderes vorzugaukeln. Nimm zum Beispiel meinen Vater. Er ist Ingenieur und ständig auf Reisen. São Paulo, Houston, London. Meine Mutter ist Rechtsanwältin. Bürokratie liegt meiner Familie im Blut. Trotzdem ist es gut, anders zu sein. Keinen festen Zeitplan zu haben. Keine Angst zu haben, sich heillos zu betrinken. Scheiße zu bauen, an die man sich hinterher nicht einmal mehr erinnert. Jeden Nagel in einer anderen Farbe zu lackieren. Das Leben zu erkunden, bevor es zu spät ist. Verstehst du?«

Clarice machte ihre Umhängetasche auf und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Vogue mit Mentholgeschmack.

»Hast du Feuer?«

»Ich rauche nicht.«

Sie seufzte und kramte in ihrer Tasche. Die Sonne verschwand allmählich hinter den Felsen. Téo warf einen Blick hinüber auf die betrunkenen Schatten ein Stück weiter unten. Clarice hatte inzwischen ihr Feuerzeug gefunden, hielt die Hand zum Schutz vor dem Wind vor die Flamme und zündete sich die Zigarette an, nahm einen Zug und blies den Rauch in seine Richtung. »Du isst nicht, du rauchst nicht und trinkst so gut wie nichts … Vögelst du denn, Téo?«

Unwillkürlich wich er ein Stück zurück, ein paar Zentimeter nur, auch um der nach Menthol riechenden Rauchwolke zu entgehen. Warum floh er? Weil dieses merkwürdige Mädchen ihn in Verlegenheit brachte? Es war nicht nötig, ihr etwas vorzumachen. Ihm gefiel die Freizügigkeit, mit der Clarice mit ihrer Zigarette spielte und redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war.

»War ein Scherz. Entspann dich«, sagte sie und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

Ihr erster Körperkontakt.

Téo lächelte. Er spürte ein Prickeln, wo sie ihn berührt hatte. Er musste irgendetwas sagen.

»Was machst du so im Leben?«

»Was ich so mache im Leben?« Sie spießte ein weiteres Herz auf die Gabel. »Ich trinke ziemlich viel, esse alles und hab wohl auch schon alles geraucht. Inzwischen rauch ich nur noch Vogue Menthol, Frauenzigaretten, na ja, und ab und zu vögle ich. Und ich studiere. Kunstgeschichte. Keine Ahnung, ob ich darüber glücklich sein soll. Meine wahre Leidenschaft sind Drehbücher.«

»Drehbücher?«

»Ja. Fürs Kino. Ich schreibe gerade ein Drehbuch für einen Spielfilm. Na ja, um ehrlich zu sein, weiß ich noch nicht, ob es ein Spielfilm wird. Die Handlung steht aber schon, und geschrieben hab ich auch schon fast dreißig Seiten. Fertig bin ich allerdings noch lange nicht.«

»Das würd ich gern mal lesen«, sagte er, ohne zu wissen, warum. Er war neugierig, das Ergebnis von so viel Kessheit zu sehen, wollte wissen, wie und worüber sie schrieb. Schriftsteller gaben in ihren Texten viel von sich preis.

»Ich weiß nicht, ob es dir gefallen würde«, sagte sie. »Das ist eher so eine Frauengeschichte, weißt du? Drei alleinstehende Freundinnen, die auf der Suche nach Abenteuern quer durchs Land fahren … eine Art Roadmovie.«

»Es kann mir nur gefallen, wenn ich es lese.«

»Na gut, dann zeig ich es dir.« Sie trat die Zigarette mit der Sandale aus und nahm sich zwei weitere Herzen. »Und du? Was machst du?«

»Medizin.«

»Wow, was für ein trockener Beruf. Meine Mutter wäre begeistert. Sie sagt, Kunstgeschichte bringt einen nicht weiter. Als würde mit Gesetzestexten zu hantieren und irgendwelche Prozesse zu führen einen irgendwohin …«

»Es ist nicht wirklich trocken. In der Medizin liegt auch gewisserweise Kunst.«

»Und wo?«

»Zuerst einmal müssten wir diskutieren, was Kunst überhaupt ist. Ich zum Beispiel will Pathologe werden.«

»Ich seh nicht, wo da die Kunst liegen soll.«

»Das bedarf wohl einer längeren Erklärung. Wir können ja ein andermal darüber reden«, sagte er. Immerhin stand so ein weiteres Treffen im Raum.

»Vielleicht. Allerdings muss ich jetzt gehen.«

Dass sie so schnell wieder verschwinden wollte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Clarice ihn loswerden wollte.

»Ich wollte mir ein Taxi rufen. Soll ich dich vielleicht irgendwohin mitnehmen?«, bot er an.

»Nein, ich wohne hier in der Nähe.«

»Leihst du mir kurz dein Handy? Ich hab meins zu Hause vergessen. Wegen des Taxis … Es wird nicht teuer, versprochen.«

Sie steckte die Hand in die Stofftasche. »Hier.«

Während Téo telefonierte, ließ er Clarice nicht aus den Augen. Sie hatte den Knoten im Nacken gelöst, ihr Haar fiel jetzt hinab bis über ihre Taille. Der Kontrast zwischen dem üppigen Haar und dem zarten Körper gefiel ihm.

In der Dämmerung gingen zwei Flutlichtstrahler an.

»Es geht keiner ran. Ich guck mal, ob ich auf der Straße ein Taxi anhalten kann.«

Er gab ihr das Handy zurück. Gemeinsam gingen sie den gepflasterten Weg entlang, bis er sich gabelte.

»Nach draußen geht’s da lang«, sagte er mit einem Fingerzeig.

»Ich hol mir noch ein Bier und verabschiede mich von ein paar Leuten. Willst du niemandem Auf Wiedersehen sagen?«

Er hätte sich irgendeine Ausrede einfallen lassen können, zog es aber vor, die Wahrheit zu sagen. »Keine Lust.«

Sie nickte, machte einen Schritt auf ihn zu und küsste ihn leicht auf seine zusammengepressten Lippen. Dann wandte sie sich von ihm ab und stieg immer zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf, in der Linken das Glas mit dem grünen Getränk, dessen Namen Téo vergessen hatte.

Zu Hause fühlte Téo sich wie betäubt. Er nahm sein Handy vom Nachttisch und schrieb seiner Mutter eine SMS. Dann rief er die Liste der verpassten Anrufe auf und sah zufrieden auf die Ziffern hinab. Lange lag er auf dem Sofa, starrte zur Decke empor, ließ die Bilder wieder und wieder vor seinem inneren Auge ablaufen. Irgendetwas in ihm war aufgeplatzt, etwas, was er nicht erklären konnte und nicht erklären wollte. Zwar kannte er Clarices Familiennamen nicht und wusste weder, wo sie wohnte, noch, an welcher Universität sie Kunstgeschichte studierte, aber er hatte ihre Handynummer, und das machte sie doch gewissermaßen schon zu einem Paar.