Grundriß des Klosters Rupertsberg
1Torhaus
2Nikolauskapelle
3Zugangsweg
4wehrhafter Eingang
5Schulgebäude
6Konversenbau, Backhaus, Laienrefektorium
6 aLatrine
7»Die Kanzel«, ehemaliger Verteidigungsturm
8Wirtschaftsgebäude und Ambulanz mit Zugang von außen, Aderlaßhaus
9Wohngebäude für Sekretär und besondere Gäste
10Friedhofskapelle, ehemalige rupertinische Kirche
11Pater-Benediktus-Garten, Friedhof nebst Obstgarten
12Westflügel mit Äbtissinnenwohnung, Vorratshaus mit Weinkeller
13Südflügel, Refektorium
14Küche, darüber Scriptorium
15Vorraum zum Hildegardisbrünnchen
15 a-cAnbauten von außerhalb der Klostermauer
16Dormentbau (Kapitelsaal, Leseraum, Einzelzellen), darunter Hypocaustum (beheizter Wärmeraum)
17Kreuzgarten mit Zisterne und Kreuzgang
18Abteikirche
19Anbau mit Anbindung an die Mauertreppe. Priesterwohnung
20Wehrerker
Edgar Noske, Jahrgang 1957, lebte als freier Autor im Rheinland. Im Emons Verlag erschienen zahlreiche Kriminalromane, darunter die Mittelalter-Trilogie »Der Bastard von Berg«, »Der Fall Hildegard von Bingen« und »Lohengrins Grabgesang«.
Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld der Hildegard von Bingen eingebettet. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie unverzichtbar, selbst wenn sie zu Lasten der einen oder anderen historischen Genauigkeit gehen. Der Anhang enthält ein Glossar.
© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Brian Barth
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-834-2
Ein Krimi aus dem Mittelalter
Überarbeitete Neuausgabe
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Der Kampfkühnen vom Kühnsbusch
Die Mißgunst gleicht dem Satan
Die Mißgunst schafft nichts Gutes. Sie verletzt und verdrängt vielmehr auch den, der in ihr zu stehen scheint. Sobald aber die Mißgunst sich mit dem Haß verbindet, setzt sie alle Kräfte der Menschenseele in Bewegung. Ein Mensch nämlich, der in der Schwärze der Mißgunst noch dem Haß folgt, entbehrt der Glut des Heiligen Geistes, in welchem der frohe und nie zu Ende gehende Tag aller Wonnen besteht. Eine solche Freude kann ein haßerfüllter Mensch nicht kennen, da er sich am Wohlergehen der anderen nicht mitfreut. Mit seinem verbitterten Haß nagt er vielmehr an allem, weshalb er dem Teufel gleicht, der bei seinem ersten Auftritt bereits den Haß in sich keimen fühlte, wodurch er auch allen Schmuck der Himmel verlor. Versuchte er doch, über Mißgunst und Haß Gott Widerstand zu leisten. Die aber Gott dienen wollen, erröten ob solchen Tuns und weisen dieses Übel weit von sich, damit sie dadurch nicht den Spiegel ihrer Seelen verdüstern.
Dies alles ist gesagt über die Seelen der Büßer, die geläutert und gerettet sein wollen, und es ist die Wahrheit. Der gläubige Mensch achte darauf, und er halte es fest im Gedächtnis seines guten Gewissens.
Hildegard von Bingen: Liber vitae meritorum
Wer aus Versehen Giftiges zu sich genommen oder von einem anderen vergiftet worden ist, koche Ringelblumen in Wasser und lege die dann warm auf den Magen. Dadurch wird das Gift aufgelöst und ausgeschieden.
Ferner wärme er guten Wein, lege solche Blumen hinein und erhitze dann den Wein stärker. Wenn dieser dann nur noch lauwarm ist, trinke man ihn. Davon wird das Gift durch die Nase und als Schaum durch den Mund hinausgeschleudert.
Hildegard von Bingen
Teil 1 – Der Weg
Rheinhessen – Juni 1177
Am gegenüberliegenden Ufer zogen sich die Weinberge in dichten Lagen den Hang hinauf. Während die westliche Seite und der Strom bereits im Schatten lagen, badeten die Rebstöcke auch jetzt noch, am späten Nachmittag, im warmen goldgelben Licht. Der Schiefer zu ihren Füßen blitzte immer wieder auf, als sei er mit Juwelen gespickt.
Ein erhebender Anblick, den das Rheintal zwischen Bacharach und Bingen bot, für den der kurzgewachsene, mollige Mönch, der auf der Ladefläche eines flußaufwärts rumpelnden Ochsenkarrens kauerte, jedoch kein Auge hatte. Mit leidender Miene sehnte er das Ende der Fahrt herbei, wobei er immer wieder seine Sitzposition änderte. Aber was er auch versuchte, ob er die Beine ausstreckte oder anzog, ob er sein Gewicht auf nur eine Gesäßbacke verlagerte oder sich gar auf die Fersen hockte, das quälende Afterjucken wollte nicht nachlassen. Wie er wußte, wurde es durch kleine blutgefüllte Bläschen im Bereich des Darmausgangs verursacht. Nur wenn sie platzten, ließ die Pein vorübergehend nach.
Sein Frater Castor, der im Heimatkloster die Rolle des Medicus einnahm, hatte ihm schon vor Jahren geraten, längeres Sitzen zu vermeiden und sich möglichst viel zu bewegen. Ein wahrhaft praktikabler Rat, wenn man – bei aller Bescheidenheit – der Gelehrteste unter den Brüdern war und den ganzen Tag nichts anderes tat, als theologische Schriften zu studieren oder selbst zu verfassen. Abhilfe hätte bestenfalls ein Stehpult geschaffen, aber seine Ablagefläche war zu klein.
Um körperliche Bewegung und Gewichtsabnahme war es auch schlecht bestellt. Zum einen aus Zeitmangel, zum anderen, weil der kleine Mönch mit Leidenschaft aß und trank, um nicht zu sagen völlte. Damit verstieß er natürlich gegen die Benediktregel der »discretio«, aber da er mit leerem Magen zu keiner geistigen Leistung fähig war, blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden Tag aufs neue zu sündigen. Er selbst nannte es »das kleinere Übel«, und sein Abt ließ ihn, wohlwissend, was er an ihm hatte, gewähren.
An einem Tag wie diesem wäre der füllige Benediktiner trotzdem zu Fuß unterwegs gewesen – zumal der Ochsenkarren keinen Zeitgewinn brachte –, hätte ihm nicht auch noch ein eingewachsener Zehennagel zu schaffen gemacht. Genau genommen nicht mehr der Nagel selbst, denn das dornenspitze Stück, das ihn gequält hatte, hatte er vor drei Tagen, als er bei seinen Brüdern auf dem Michaelsberg in Siegburg zu Gast gewesen war, mit einem Messer abgesäbelt. Dabei hatte er sich allerdings tief ins Fleisch geschnitten, und da das Messer unsauber gewesen war, zierte den dicken Zeh seines rechten Fußes nun eine taubeneigroße, pralle Eiterblase. Der Zeh selbst hatte eine bläuliche Färbung angenommen und pochte. Mehrfach war der Mönch versucht gewesen, die Blase aufzustechen, fürchtete aber, dadurch noch mehr Schaden anzurichten. Also tröstete er sich damit, daß er sich noch heute abend in kundige Hände begeben würde.
Der Name des leidgeprüften Benediktiners war Wibert von Gembloux. Er war zweiundfünfzig Jahre alt, gebürtiger Wallone, stammte aus der Nähe von Namur und wurde weit über die Mauern seines Klosters hinaus als theologische Kapazität und fachkundiger Ratgeber in religiösen Fragen geschätzt. Dies war seine zweite Reise in den Rheingau, um Hildegard von Bingen, der berühmten »Prophetissa teutonica«, seine Aufwartung zu machen.
Der erste Aufenthalt lag nun schon fast zwei Jahre zurück. Seinerzeit, im Herbst 1175, hatte er sich vier Tage lang als Begleiter eines Lütticher Kanonikers im Kloster auf dem Rupertsberg aufgehalten. Eine Gelegenheit, die sich kurzfristig ergeben hatte und die Wibert sich nicht hatte entgehen lassen. Nachdem er Hildegards mystische Glaubenslehre, den »Liber Scivias«, und den »Liber vitae meritorum« studiert hatte, drängte ihn sein religiöser Eifer, sein Wunsch nach Vervollkommnung seines theologischen Wissens, Hildegard persönlich kennenzulernen. Er wollte Näheres über ihre seherische Begabung erfahren.
Auch jetzt noch, als er sich auf der Ladefläche des Karrens hockend an die erste Begegnung mit der »Posaune Gottes«, wie sie sich selbst nannte, erinnerte, lief ihm ein leichter Schauer über den Rücken. Von der kleinen, hageren Greisin, die sich wegen einer Gehbehinderung nur mühsam fortbewegen konnte, ging eine geradezu unwiderstehliche Faszination aus.
Ihre klare, eindringliche Stimme fesselte, ohne je laut zu werden, die volle Aufmerksamkeit aller. Stand man ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wurde man von ihren dunklen, geheimnisvollen Augen in Bann gezogen. Augen, die fähig schienen, in des Menschen Herz zu blicken. Augen, wie man sie eigentlich nur bei einer viel Jüngeren als einer bereits weit im achten Lebensjahrzehnt Stehenden erwartet hätte. Dazu verströmte Hildegard eine Ruhe und Ausgeglichenheit, die beruhigender wirkte als ein Melissenaufguß. Kein Vergleich mit der an Hysterie grenzenden Eile und Umtriebigkeit, die Bernhard von Clairvaux zu eigen gewesen war und die Wibert, als er dem »heimlichen Papst« einmal begegnet war, so abgestoßen hatte.
Gleich vom ersten Augenblick an hatte Wibert eine tiefe Vertrautheit zwischen Hildegard und sich gespürt. Ihm war beinahe, als hätten sie sich schon früher gekannt, als seien sie alte Freunde, oder mehr noch, Mutter und Sohn, die nur durch widrige Umstände für längere Zeit getrennt gewesen waren. Und Hildegard schien ähnlich zu empfinden. Sie widmete ihrem wissensdurstigen Gast außergewöhnlich viel Zeit, in der sie seine unzähligen Fragen zu ihren Visionen offen und in aller Ausführlichkeit beantwortete. Wiberts Glaube erfuhr eine neue Dimension.
Hinzu kam das freundliche Miteinander, das die Schwestern pflegten und das sich auf die Gäste übertrug. Ein Umgangston, der so ganz anders war als der ruppige, der in Gembloux vorherrschte. So verspürte Wibert bei seiner Abreise einen Trennungsschmerz wie noch nie zuvor in seinem Leben. Ihm war, als verlöre er seine Familie.
So tief waren die Eindrücke, daß Wibert seit der Rückkehr nach Gembloux tagtäglich an die glückliche Zeit mit Hildegard zurückdachte und darauf sann, der verehrten Mutter baldmöglichst einen erneuten Besuch abzustatten. Das sollte sich jedoch als schwieriger erweisen, als er erwartet hatte.
Eine für das darauffolgende Frühjahr geplante Reise in den Rheingau, die Wibert, sein Abt Johannes und einige Mitbrüder im Anschluß an eine Wallfahrt nach St. Quirin in Neuss geplant hatten, hatte der Abt von einem Tag auf den anderen ohne Begründung abgesagt. Es war eine seiner gefürchteten einsamen Entscheidungen, mit denen er das Klosterleben so häufig durcheinanderbrachte. Wibert war entsetzt, mußte sich aber zähneknirschend fügen. Die Monate gingen ins Land, ohne daß sich eine neue Möglichkeit zu reisen ergeben hätte.
Statt dessen erreichte den Konvent Ende des Jahres das Gerücht, Hildegard sei gestorben. Völlig aufgelöst zürnte Wibert seinem Abt und versuchte verzweifelt, brieflich Näheres zu erfahren. Wochen voller Ungewißheit vergingen, bis im Januar 1177 die erlösende Botschaft eintraf, die Seherin habe nur schwer krank darniedergelegen, erhole sich inzwischen jedoch wieder.
Aber nicht nur um Hildegards Gesundheitszustand war Wibert besorgt, er bangte auch um ihr seelisches Wohl. Nachdem sie bereits vor vier Jahren ihren langjährigen Sekretär Volmar verloren hatte, ein Verlust, den sie nie recht verwunden hatte, war im vorletzten Winter Volmars Nachfolger Gottfried, der zudem noch das Amt des Klosterpropstes versehen hatte, verschieden. Wer nunmehr Hildegards Visionen niederschrieb, die Abschriften beaufsichtigte und wer den Schwestern auf dem Rupertsberg geistlichen Beistand gab, entzog sich Wiberts Kenntnis. Er befürchtete, niemand, denn wochenlang war ihm Hildegard jede Nacht im Traum erschienen und hatte ihn um Hilfe angefleht.
Schließlich hatte Wibert sich nicht mehr zügeln können und seinen Abt um Erlaubnis gebeten, allein nach Bingen reisen zu dürfen. Johannes zeigte sich jedoch derart störrisch, daß Wibert zuletzt nur noch einen Ausweg sah: Er fälschte einen Brief, in dem Hildegard ihn angeblich zu sich einlud, woraufhin Johannes ihm einen zweimonatigen Aufenthalt in Bingen gestattete. Ein Frevel, für den Wibert damit rechnen mußte, dereinst in der Hölle zu braten. Andererseits, so fragte er sich, war sein Verhalten nicht entschuldbar, ja, war es nicht geradezu seine Pflicht gewesen, diese Sünde zu begehen, um Hildegard in ihrer Not beizustehen?
Der Karren krachte in ein knietiefes Schlagloch, und Wibert wurde gewaltig zusammengestaucht. Demütig hob er den Blick zum Himmel und bat um Vergebung. Es gab keine Rechtfertigung für sein Tun. Auch Hildegard, hätte sie davon gewußt, hätte sein Verhalten keineswegs gutgeheißen. Sosehr sie auch Verständnis für menschliche Schwächen hatte, die Lüge verabscheute sie wie der Teufel das Weihwasser.
Wibert wandte den Kopf und warf einen Blick voraus, vorbei an dem Ochsen und dem schmutzstarrenden Bauern, der das Tier führte. In der Entfernung deutete sich bereits der Bogen des Stroms an, hinter dem die Nahemündung mit dem Berg des heiligen Rupert lag. Vor Einbruch der Dämmerung würde er sein Ziel erreicht haben und sich vielleicht schon morgen nützlich machen können.
Sosehr er dem Wiedersehen mit Hildegard entgegenfieberte, so unwohl war ihm, wenn er an Sigewiza, die Cellarin des Klosters, dachte. Die aus einer vornehmen Kölner Familie Stammende hatte vor zehn Jahren noch als unheilbar vom Teufel besessen gegolten. Sieben Jahre lang hatten die Mönche des Klosters Brauweiler vergeblich versucht, der jungen Adligen den Satan auszutreiben. Erst Hildegard war es gelungen, sie zu heilen, nachdem die Kranke nach Bingen gebracht worden war. Nach ihrer Genesung war sie aus Dankbarkeit der Gemeinschaft auf dem Rupertsberg beigetreten.
Klein, schmächtig und häufiger krank als gesund, aber mit einem frechen Mundwerk ausgestattet, sah Sigewiza neben der Verwaltung des Weinkellers ihre vornehmliche Aufgabe darin, Hildegard vor Überlastung und zu großer Zudringlichkeit der Besucher zu schützen. Eine Aufgabe, der sie mit der Gewissenhaftigkeit und Schärfe eines Wachhundes nachkam. Verständlich, daß Wibert mit seiner Wißbegierde von ihr als natürlicher Feind betrachtet wurde. Gleich zweimal waren sie während der vier Tage aneinandergeraten, und es hatte nicht viel gefehlt, und Sigewiza hätte ihn des Klosters verwiesen.
Andererseits hatte die junge Nonne, die ihm im Januar die frohe Kunde übermittelt hatte, Hildegard lebe entgegen der Gerüchte doch, berichtet, Sigewiza liege auf das Schwerste erkrankt darnieder und es gebe wenig Hoffnung. So war es denkbar, daß es dem Herrn zwischenzeitlich gefallen hatte, die einst Besessene abzuberufen. Nicht daß Wibert dies gewünscht oder auch nur begrüßt hätte, keineswegs, aber so war nun mal der Lauf der Dinge, daran änderte auch der Frömmste nichts.
Wie auch immer, er würde es bald erfahren.
Kloster Rupertsberg
Es war doch später geworden, als Wibert gehofft hatte, denn der Schatten, den er warf, betrug bereits mehr als doppelte Körperlänge. Sicher hatte die Vesper schon begonnen.
Klein kam er sich vor, als er sich dem Kloster den Weg vom Fluß herauf näherte, so imposant war die Anlage. Eine baumhohe Stützmauer, über die die Türme der Abteikirche aufragten, fing das Plateau zur Nahe hin ab. Die Mauerkrone war teilweise mit Zinnen versehen, was den Eindruck von Wehrhaftigkeit noch verstärkte. Die umfriedete Gesamtfläche der Klosteranlage betrug annähernd zweihundert Schritte im Quadrat. Es war beeindruckend, welche Leistung Hildegard auch als Bauherrin vollbracht hatte. Wibert mußte daran denken, daß er sich als Kind so Masada vorgestellt hatte, jene Festung hoch über dem Toten Meer, in der die Juden der römischen Belagerung zwei Jahre widerstanden hatten.
Der Torwächter war derselbe wie zwei Jahre zuvor. Ein geheilter Aussätziger, dem die Krankheit tiefe Narben ins Gesicht gefressen hatte. Ob er den späten Gast wiedererkannte, war ihm nicht anzumerken. Bei der großen Zahl an Besuchern, die Jahr für Jahr ins Kloster kamen, war das eher unwahrscheinlich.
Wibert deutete auf seinen Fuß und sagte, er könne rechts nur mit der Ferse auftreten und möge als erstes zur Krankenstation geführt werden. Ohne ein Wort zu sagen, nahm ihm der Wächter daraufhin sein Bündel ab, schulterte es und führte ihn zum zweiten Tor, das ein Stück oberhalb neben dem Zugang zum Schulgebäude lag. Kühl, beinahe schon kalt war es in dem Gang zwischen den doppelt mannshohen Mauern. Trotzdem kam Wibert ins Schwitzen, weil er versuchte, mit dem Wächter Schritt zu halten.
Das zweite Tor wurde von einem Fallgitter gesichert. Das hatte es vor zwei Jahren noch nicht gegeben. Ein Zeichen dafür, wie unsicher die Zeiten geworden waren.
Der Wächter übergab Wiberts Bündel einem ungefähr zehnjährigen Knaben mit einer Hasenscharte und sichelförmigen Beinen. Dazu murmelte er eine Anweisung, die Wibert nicht verstand, und ging zurück auf seinen Posten. Wibert folgte dem Jungen über den gepflasterten Hof.
Mächtig erhob sich die Nordseite der Abteikirche vor ihnen. Wibert schnupperte. Dem Gästerefektorium zur Rechten entströmten verlockende Essensdüfte und machten ihm bewußt, wie wenig er den Tag über gegessen hatte. Plötzlich knurrte sein Magen so laut, daß er sich schämte. Eilig humpelte er weiter. Die Behandlung seines Fußes hatte Vorrang, essen konnte er später.
Gegenüber dem Westportal der Kirche lagen zwei aneinandergebaute ziegelgedeckte Gebäude. Das niedrigere beherbergte, wie Wibert wußte, neben den Wirtschaftsräumen die Krankenstation mitsamt Behandlungsraum, einem Aderlaßraum, der Salbenküche und einigen Kammern für Bettlägrige. Das andere Gebäude diente Reisenden und Gästen des Klosters als Quartier. Früher hatte hier auch der Sekretär der Äbtissin seine Schreibstube gehabt.
Unerwartet ging der Knabe am Eingang zur Krankenstation vorbei. Nicht einmal, als Wibert ihn anrief, blieb er stehen, sondern verschwand im Gästehaus. Wohl oder übel hinkte Wibert hinterher.
Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit im Flur gewöhnt hatten. Geradeaus lag die Treppe, die ins Obergeschoß führte. Linker Hand gingen zwei Türen ab. Unter dem Türstock der hinteren stand der Knabe und gab Zeichen.
Als Wibert den kleinen Raum betrat, stutzte er. Vor ihm saß der älteste Mensch, den er je gesehen hatte. Die durch das Fenster einfallenden letzten Strahlen der untergehenden Sonne beschienen ein tiefgefurchtes Gesicht wie aus Granit gehauen. Der Mann hinter dem Schreibpult mußte an die hundert Jahre alt sein. Bekleidet war er mit einer schlichten Mönchskutte, trug an den Fingern aber mehrere kostbare Ringe. Während der Knabe Wiberts Bündel ablegte und den Raum verließ, deutete der Alte auf den Stuhl vor dem Pult.
»Setz dich, Bruder.«
Wibert dankte und sank schwer auf die Sitzfläche. Durch das Gehen auf der Ferse war sein rechtes Bein völlig verkrampft. In seinem Zeh klopfte es, als säße dort ein zweites Herz. Die Anstrengung und die Hitze des Tages ließen seine Zunge am Gaumen kleben. Währenddessen betrachtete der Alte ihn aus lebhaften braunen Augen mit dem Interesse eines Botanikers, der eine seltene Pflanze entdeckt hatte.
»Du also bist Wibert von Gembloux«, sagte er schließlich bedächtig. Die Stimme war fest, ohne jedes Tremolo des Alters. »Der Ruf, der dir vorauseilt, ist beachtlich.«
»Ich bin nur der Geringste der Brüder«, sagte Wibert. »Verzeih meine Unwissenheit, ehrwürdiger Vater, aber der Knabe sagte mir nicht, zu wem er mich führen würde.«
»Jonas’ Worte hätten dir nicht viel genützt, ihm fehlt die Zunge. Ist man mit seinem Gestammel nicht vertraut, versteht man ihn nicht.« Er lehnte sich etwas zurück, wodurch sich der Schatten des Fensterkreuzes auf seinem Gesicht abzeichnete. »Ich bin Hugo, Domkantor von Mainz. Auf besonderen Wunsch des Mainzer Erzbischofs Christian von Buch diene ich meiner Schwester zur Zeit als Sekretär.«
»Dann bist du ein Bruder der verehrten Hildegard?«
»So ist es. Der zweitälteste und der letzte noch lebende, seit Roricus im letzten Jahr abberufen wurde.«
Wibert verspürte einen kleinen Stich. Auf diesem Posten konnte er sich also nicht mehr nützlich machen.
»Wie geht es der hochverehrten Mutter? Ist sie wieder genesen?«
»Die Heilung schreitet nur sehr langsam voran, so daß sie ihren Pflichten lediglich für wenige Stunden am Tag nachkommen kann. Wir unterstützen sie, wo wir nur können.«
»Wir?«
»Ansgar, ein Kanonikus von St. Stephan aus Mainz, dient dem Konvent derzeit als Spiritual.«
Das war der zweite Stich. Wibert war noch nicht einmal so lange auf dem Rupertsberg, wie es dauert, ein Ei zu kochen, und wußte bereits, daß seine Reise vergeblich gewesen war. Daß Hildegard seinen Beistand erbeten hatte, war nichts weiter als ein Traum gewesen. Hier wurde er so dringend gebraucht wie ein Unwetter.
»Selbstverständlich tragen die Schwestern selbst am meisten zur Entlastung ihrer Mutter bei«, fuhr Hugo fort. »Allen voran Hiltrudis, die die Aufsicht über das Scriptorium führt, Hazzecha, die trotz ihrer Jugend Eibingen vorsteht, Sigewiza, die –«
»Oh!«
Die Querfurchen auf der domkantorlichen Stirn wurden noch tiefer. Hugo hatte die Brauen hochgezogen. »Die Namen der Schwestern sollten dir von deinem letzten Besuch vertraut sein.«
»Gewiß. Es ist nur … War nicht auch Sigewiza auf Leben und Tod erkrankt? In Gembloux erhielten wir diese Nachricht.«
»Mal trifft es die eine, mal die andere, wie es der Wille des Herrn ist. Besonders in der kalten Jahreszeit. Dazu kommt der tägliche Umgang mit Kranken und Aussätzigen. Bedingt durch Hildegards Ausfall hatte Schwester Sigewiza die Leitung der Krankenstation übernommen.«
»Dann werde ich wohl alsbald das Vergnügen haben«, sagte Wibert und klang so munter, als habe er soeben ein dreiwöchiges Heilfasten angetreten. Murmelnd fügte er hinzu: »Hesekiel dreißig Vers sechzehn.«
»Wie bitte?«
Wibert grinste ein wenig hilflos. »Mir wird angst und bange.«
»Du hast Schwierigkeiten mit deinem Fuß, sagte mir der Knabe. Ist es das, was dich ängstigt?«
»Er schmerzt schauderhaft.«
Hugo beugte sich über das Pult, während Wibert sein Bein ein Stück anhob. So konnte der greise Kantor einen kurzen Blick auf den angegriffenen Zeh werfen. »Das sieht wahrhaft übel aus«, sagte er. »Du hättest zuerst die Krankenstation aufsuchen sollen.«
»Ja«, seufzte Wibert. »Der Gedanke kam mir auch schon.«
Hugo bimmelte mit einem winzigen Glöckchen, das neben einem Kupferbecher der einzige Gegenstand auf der Schreibfläche war. Der Ton war heller als Vogelgezwitscher. Daß irgendwer das Läuten hören würde, erschien Wibert unwahrscheinlich. Und doch tauchte bereits nach wenigen Augenblicken der Junge mit der Hasenscharte auf.
»Jonas wird dich nach nebenan führen«, sagte Hugo. »Sobald der Abendgottesdienst beendet ist, werden die Schwestern sich deiner annehmen. Gott segne dich.«
Beim Hinausgehen stieß Wibert ausgerechnet mit dem kranken Fuß an die Türschwelle. Ein fürchterlicher Schmerz fuhr ihm hoch bis ins Gesäß und ließ ihn aufjaulen. Außerdem war ihm mit einem Mal glühend heiß, und er fühlte sich wie zerschlagen. Sicherlich hatte er Fieber. Nur mit Mühe schaffte er die wenigen Schritte bis ins Nebengebäude, immer wieder mußte er sich an den Wänden abstützen. Im Behandlungsraum stieß der Junge einen kehligen Laut aus und zeigte auf eine Pritsche. Wibert legte sich darauf und schloß erleichtert die Augen. Das Pochen im Zeh spürte er bis in den Hals.
Eilige Schritte wie von einem kleinen Nagetier huschten über den Boden, und der Lufthauch eines Ärmels fächelte kühle Luft an Wiberts glühende Stirn. Er schlug die Augen auf. Das Gesicht, das sich über seines gebeugt hatte, war zweifellos das Sigewizas. Er erkannte sie sofort, obwohl sie noch schmaler war als vor zwei Jahren. Ihre Miene war nicht unfreundlich, wie er befürchtet hatte, sondern voller Sorge.
»Wie fühlst du dich?« fragte sie leise und tupfte seine Stirn ab.
Wibert wollte antworten, aber seine Zunge war dick und schwer wie Blei, er konnte sie nicht bewegen. So brachte er nur ein gurgelndes Geräusch zustande und schüttelte den Kopf. Aber Sigewiza hatte ihn verstanden. Mit einem feuchten Tuch berührte sie seine Lippen, was er als wunderbar wohltuend empfand. Dann schob sie das Tuch zwischen seine Zähne.
»Es wird weh tun, wenn ich die Blase aufschneide«, sagte sie. »Beiß auf das Tuch.«
Wibert nickte tapfer.
Sigewiza schnallte seine Handgelenke mit zwei Lederriemen an der Pritsche fest.
»Das ist nur zu deinem Besten.«
Das hoffte Wibert auch.
Sie ging zu einem Schränkchen und entnahm ihm einen Feuerstein. Vorsichtig fuhr sie mit der Daumenkuppe über die Klinge. Mit ihr hätte man ein Rosenblatt halbieren können.
Ein einziger Schnitt genügte, und die Blase gab ihren Inhalt spritzend frei. Wibert bäumte sich auf und brüllte trotz des Leinentuchs zwischen den Zähnen wie ein frisch aufgespießter Keiler. Während Sigewiza den Eiter in einer Schale auffing, flößte ihm eine Novizin ein Gemisch aus Hirtentäschel, Brachwurz und Weißwein gegen die Wundeiterung ein. Eine Mischung, die besser schmeckte, als die Rezeptur vermuten ließ.
Nachdem auch das Sekret abgeflossen war, begann die Schwester Medica, die Wunde zu reinigen. So behutsam sie dabei auch vorging, Wiberts Schmerzgrenze wurde dabei überschritten. Stöhnend hob er den Kopf, verdrehte die Augen – und verlor die Besinnung.
»Männer«, murmelte Sigewiza.
In dem Raum, in dem Wibert erwachte, war es düster, trotz der Kerzen, die links und rechts seiner Bettstatt brannten. Ihm selbst war kühl, und er fühlte sich seltsam leicht. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte er, er sei gestorben und man habe ihn aufgebahrt. Dann aber schmerzte sein Zeh, was ihn in diesem Moment freute. Außerdem war er nicht allein.
In einem Lehnstuhl an seiner Seite saß eine Ordensfrau. Sie war eingenickt, ihr Kinn ruhte auf ihrer Brust. Obwohl sie ein dickes wollenes Tuch um Kopf und Schultern geschlungen hatte, erkannte Wibert sie sofort. Und selbst wenn sie hinter einem Vorhang gesessen hätte, so hätte er doch gewußt, wer sie war.
Hildegard, seine Mutter in Christi, wachte persönlich über ihn.
Sie mußte seinen Blick gespürt haben, denn sie öffnete die Augen und hob den Kopf. Wibert schien sie noch zerbrechlicher als vor zwei Jahren, auch wenn ihre Augen nach wie vor Kraft und Wärme ausstrahlten. Ihre Hand suchte die seine und drückte sie fest.
»Wir waren in großer Sorge um dich, Wibert«, sagte sie leise. »Aber dank der Gnade des Herrn hast du es überstanden.«
»Und dank deiner Heilkunst, nehme ich an«, sagte Wibert und wunderte sich, wie gut ihm seine Zunge wieder gehorchte.
»Die ich ausschließlich Gottes Gnade verdanke, wie du weißt.«
Wibert nickte zu den Kerzen hin. »Die Nacht ist bereits hereingebrochen, wie ich sehe.«
»Ja.« Hildegard lächelte. »Die sechste Nacht seit deiner Ankunft.«
»Wie? Hab ich etwa die ganze Zeit …«
»Du lagst in einem Fieber, das dich fast verzehrt hätte. Wir haben es vier Tage und Nächte mit Eibischblättersaft, Wadenwickeln und Gebeten bekämpft, erst dann ließ es nach. Du mußt dich noch sehr schwach fühlen.«
Wibert fuhr mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn entlang. »Ich glaube, ich bin mager geworden.«
»Das wäre nun übertrieben. Aber das eine oder andere Lot hast du gewiß verloren. Außer etwas Fleischbrühe vermochten wir dir nichts einzuflößen.«
»Und das alles nur wegen des Zehs?«
»Er war brandig, und sein Gift war bereits in deine Organe eingedrungen. Wärest du nur einen halben Tag später zu uns gekommen, wärest du verloren gewesen.«
Wibert drückte Hildegards Hand an sein Herz. »Hab Dank, Mutter.«
»Dein Dank sollte Sigewiza gelten. Sie war es, die dich gepflegt hat. Ich habe nur für dich gebetet und bisweilen an deiner Seite gesessen.« Ihr Blick verlor sich. »Es waren so viele, die meines Beistandes bedurften.«
»Du wirkst betrübt. Was ist geschehen?«
Hildegard stieß einen Seufzer aus, der Wibert in seiner Inbrunst und seiner Lautstärke erschreckte.
»Nicht allen wurde dieselbe Gnade zuteil wie dir«, sagte sie nach einer Weile. »Es ist viel geschehen in dieser Woche.«
»Ist einer der Schwestern etwas zugestoßen?«
»Das auch. Gleich drei wurden abberufen. Elisabeth, Maria die Ältere und Hiltrudis.«
»Allmächtiger!« Wibert bekreuzigte sich im Liegen. »Wie konnte das passieren?«
»Einen Tag nach deiner Ankunft wurde der Konvent von einer Seuche heimgesucht. Die Erkrankten litten an Durchfall und erbrachen ohne Unterlaß. Innerhalb von zwei Tagen verloren sie ihre gesamte Körperflüssigkeit. Nur wer ausreichend trank, vertrocknete nicht innerlich. Den Schwächsten aber half nicht einmal das.« Hildegard seufzte erneut. »So verstarben auch mein Bruder Hugo und Ansgar, unser Propst.«
Wibert, dem es wegen seiner fast einwöchigen Bewußtlosigkeit vorkam, als habe er vor nicht einmal einer Stunde mit Hugo gesprochen, war betroffen. Sicher, der Sekretär war steinalt gewesen, aber er hatte einen so unverwüstlichen Eindruck gemacht. Es war kaum zu fassen. Dazu hatte die Gemeinschaft auch noch ihren geistlichen Beistand verloren sowie die Leiterin des Scriptoriums. Angesichts dieser Häufung von Schicksalsschlägen war es ein Wunder, daß Hildegard so gefaßt war.
Und dann, von einem Wimpernschlag auf den nächsten, begriff Wibert, was das bedeutete. Hildegards Sekretär und der Propst des Klosters waren gestorben, er hingegen lebte noch! Seine Reise nach Bingen war genau zur rechten Zeit erfolgt. Ebenso der brandige Zeh und die tiefe Bewußtlosigkeit, die verhindert hatte, daß er sich ansteckte. Für ihn gab es keinen Zweifel: Das war göttliche Fügung! Es war eindeutig der Wille des Herrn, daß er Hildegard künftig zur Seite stand.
Sie schien seine Gedanken zu lesen, denn plötzlich überzog ein Lächeln ihr Gesicht. Es ließ sie jung aussehen, was unter anderem daran lag, daß ihr bis auf einen Eckzahn alle Zähne erhalten geblieben waren. Den einen hatte sie bereits als junge Frau bei einem Sturz verloren, wie Wibert wußte. Als er jedoch etwas sagen wollte, legte sie ihm den Zeigefinger auf die Lippen.
»Du mußt ruhen, mein Sohn«, sagte sie. »Schlaf dich gesund, über alles andere werden wir zur gegebenen Zeit sprechen.«
Er wollte widersprechen, aber eine unvermittelt einsetzende Schläfrigkeit erstickte jedes Wort im Ansatz.
***
Vorhänge aus grobem Leinen verhinderten, daß das Sonnenlicht in seiner vollen Stärke einfallen konnte. Aber daß die Sonne schien, war unübersehbar. Einzelne vorwitzige Strahlen zwängten sich zwischen Vorhang und Fensterlaibung hindurch und malten einen senkrechten Strich auf die Wand. Kam Wind auf, bauschte sich der Stoff, und aus dem Strich wurde ein Bogen.
Ein Lichtspiel, mit dessen Beobachtung Wibert sich die Zeit vertrieb, während er mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Pritsche lag. Dazu atmete er immer wieder tief und mit weit geblähten Nasenflügeln ein. Frühmorgens war der Boden mit frischen Kräutern bestreut worden, die nun in der Wärme ihr volles Aroma entfalteten. Ein Waldspaziergang hätte ihm keine bessere Luft bescheren können. Minze schnupperte er heraus und Kamille.
Wibert fühlte sich ausgeruht, ja geradezu unternehmungslustig. Außerdem hatte er einen Bärenhunger. Am liebsten wäre er auf der Stelle aufgestanden, aber die junge Schwester, die ihm frisches Wasser gebracht hatte, hatte ihn angewiesen liegenzubleiben, bis Schwester Sigewiza ihn aufgesucht habe. Das war nun schon geraume Zeit her. Drüben auf dem Tisch unter dem Fenster hatte er zwar ein Schälchen mit einer verschrumpelten Gurke entdeckt, aber danach stand Wibert der Sinn nun überhaupt nicht. Er hatte Heißhunger auf etwas Handfestes, am liebsten ein Stück Gebratenes vom Schwein.
Um sich abzulenken, dachte er an die ihm bevorstehende Aufgabe. Sosehr ihn die Schicksale Hugos und Ansgars auch dauerten, konnte er doch nicht ernstlich um sie trauern. Dazu hatte er die beiden Männer zu wenig gekannt. Genauer gesagt hatte er nur den Domkantor gekannt, dem Kanonikus von St. Stefan war er nie begegnet. Es schmerzte ihn jedoch, Hildegard betrübt zu sehen, aber er war wild entschlossen, als ihr Sekretär derart gute Arbeit zu leisten, daß sie über die Verluste schnell hinwegkommen würde. Der Gedanke, sie könne seine Dienste womöglich gar nicht in Anspruch nehmen wollen, kam ihm nicht. Etwas beklommen fragte er sich allerdings, was wohl Sigewiza und die anderen Schwestern davon halten mochten.
Das Amt des Seelsorgers würde er jedoch, sofern man es ihm überhaupt antrüge, ablehnen. Zu groß wäre der damit verbundene Zeitaufwand. Außerdem war er ein Mann des Wortes, der Sprache, hier lag seine Stärke. Seine Qualitäten als Beichtvater schätzte er hingegen als eher gering ein. Zudem hatte Wibert sich neben der Bearbeitung der Korrespondenz, der Pflege der Klosterchronik und der Niederschrift der Hildegardischen Visionen eine weitere, ausgesprochen ehrgeizige Aufgabe gestellt: die Sichtung, Überarbeitung und Herausgabe von Hildegards gesammeltem Briefwechsel.
Soweit ihm die Schreiben bekannt waren, litten sie nämlich alle an demselben Mangel: Ihnen fehlte der sprachliche Schliff. Mochten Gottfried und zuvor Volmar auch treue Gehilfen gewesen sein, gekonnte Stilisten waren sie gewiß nicht. Zu simpel war nach Wiberts Empfinden ihre Wortwahl, zu unbeholfen ihre Formulierungen. Dadurch wurden sie Hildegards überragender Rolle als Theologin nicht gerecht. Ein Mensch wie sie, die das letzte halbe Jahrhundert entscheidend mitgeprägt hatte, hatte Besseres verdient. Zur Not würde Wibert Briefe, die selbst durch eine Überarbeitung nicht zu retten waren, aussortieren. Sein Plan war, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, eine Hinterlassenschaft, die Jahrhunderte überdauern sollte.
Plötzlich zerriß ein Schrei die Stille, der Wibert ins Mark fuhr. Da mußte sich wohl irgendein armer Tropf im Behandlungszimmer einer Tortur unterziehen. Vielleicht wurde ihm gerade ein Zahn gezogen oder ein Furunkel herausgeschnitten. Unangenehme Vorstellungen, die Wibert mit einem Kopfschütteln zu vertreiben versuchte. Das gelang ihm zwar, dafür kam ihm jedoch sein Fuß in den Sinn. So gut die medizinische Versorgung durch die Schwestern auch war, in seinem Zeh spürte er nach wie vor ein Ziehen, vor allem wenn er versuchte, mit ihm zu wackeln, was jedoch unmöglich war.
Er schlug die Decke zurück. Der ganze Fuß war dick eingebunden. Kein Wunder, daß er den Zeh nicht bewegen konnte. Er würde warten müssen, bis Sigewiza kam. Vielleicht hatte sie eine Erklärung für dieses unangenehme Gefühl, und hoffentlich war deswegen nicht eine erneute schmerzhafte Behandlung erforderlich.
Vielhufiges Getrappel und lautes Gemecker drangen an Wiberts Ohr. Eine Herde Ziegen wurde unter dem Fenster der Kammer vorbeigetrieben. Jetzt konnte er die Tiere auch riechen. So stechend der Geruch war, sofort mußte Wibert an den sahnigen Käse aus ihrer Milch denken. Prompt lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Erneut überlegte er, ob er nicht doch die Gurke essen sollte. Eine Entscheidung, die ihm durch Sigewizas Erscheinen abgenommen wurde.
Die Medica war erschöpft. Seit Sonnenaufgang hatte sie einen Kranken nach dem anderen versorgt. Nachdem sie Wibert prüfend in die Augen und den Rachen geschaut hatte, fragte er, wann er aufstehen dürfe.
»Du solltest es heute dabei belassen, dich aufzusetzen«, antwortete die Schwester. »Dabei kannst du die Beine von der Pritsche hängenlassen. Aber versuche nicht, dich hinzustellen, es würde dich nur benommen machen. Nach dem langen Liegen dauert es eine Zeit, bis das Herz wieder ausreichend Blut bis in deinen Kopf pumpen kann.«
Als sie sah, wie enttäuscht Wibert war, fügte sie hinzu: »Ein ordentliches Essen kannst du natürlich schon heute zu dir nehmen. Ich werde dir gleich etwas bringen lassen. Dazu trinkst du einen Becher Nelkenwurzwasser. Das ist eine ganz besondere Rezeptur der Mutter Oberin und wird dir Kraft geben.«
Sie wollte sich abwenden, aber Wibert hielt sie am Arm zurück. »Von Hildegard erfuhr ich, daß ihr Bruder Hugo und Propst Ansgar von uns gegangen sind. Wer steht ihr denn nun als Sekretär zur Seite?«
»Verschiedene Schwestern versuchen, diese Aufgabe, so gut sie es vermögen, zusätzlich wahrzunehmen. Ein Zustand, der auf Dauer jedoch kaum haltbar sein wird.«
Wibert faßte sich ein Herz. »Was würdest du dazu sagen, wenn ich mich der Äbtissin für diesen Posten anböte?«
»Ist das dein Ernst?«
»Selbstverständlich. Würde ich dich sonst um deine Meinung fragen?«
Sigewiza musterte ihren Patienten mit einem langen, ruhigen Blick. Um so überraschender war, wie knapp ihre Antwort ausfiel.
»Sofern du nicht aus Eitelkeit handelst, würde ich es begrüßen.«
Erst war Wibert verdattert, dann ärgerte er sich. Was nahm sie sich heraus? Während Sigewiza die Vorbereitungen zum Wechsel des Verbandes traf, beruhigte er sich jedoch wieder. Hatte sie nicht recht? Wollte er mit seinem Vorhaben, Hildegards Ruhm zu mehren, nicht selbst Ruhm erlangen?
Ein schmerzhafter Stich in seinem Zeh verhinderte, daß er sich diese Frage beantworten konnte. Die Schwester Medica hatte begonnen, den alten Verband abzuwickeln. Wibert berichtete ihr von dem Ziehen, das er des öfteren verspürte.
»Wir nennen das Trugschmerzen«, sagte Sigewiza. »Obwohl die Gliedmaße fehlt, schmerzt es. Derartige Schmerzen können noch nach Jahren auftreten. Besonders, wenn das Wetter umschlägt.«
Wibert mußte zweimal schlucken.
»Fehlt? Was fehlt?«
»Dein Zeh. Wir mußten ihn abnehmen. Er war brandig. Sagte ich das nicht?«
»Abnehmen?« stammelte Wibert. »Heißt das, er ist – weg?«
»Ich habe ihn einbalsamiert und aufgehoben, falls du ihn behalten möchtest«, sagte Sigewiza ungerührt. »Dort drüben in dem Schälchen liegt er.«
»Die Gurke!« stöhnte Wibert und sank zum zweiten Mal innerhalb von sieben Tagen ohnmächtig ins Kissen.
September 1177
Der Sommer neigte sich seinem Ende und mit ihm die für den Rheingau so typischen oftmals unerträglich schwülen Tage, an denen das Brot schneller schimmelte, als es gegessen werden konnte. Noch immer war es sehr warm, aber es wehte ein Lüftchen, das es erlaubte, frei zu atmen. Das genoß auch Wibert, der sich an diesem Mittag auf seinen Stock gestützt auf dem Weg vom Gästerefektorium zu seiner Amtsstube befand.
Die benediktinische Regel erlaubte nur zwei Mahlzeiten pro Tag, morgens und abends, aber für Kinder, Kranke, Arme sowie für Reisende und nicht dieser Regel verpflichtete Gäste wurde auch mittags gekocht. Beizeiten hatte Wibert erfahren, daß dabei zumeist etwas übrigblieb. Inzwischen, da er zu einem festen Bestandteil des Lebens auf dem Rupertsberg geworden war, mußte er sich nicht mehr mit den Resten begnügen, sondern die Köchin stellte ihm eine Portion zur Seite. So hatte er schnell die durch seine Krankheit verlorenen Pfunde ausgeglichen und sich sogar eine Reserve angefuttert. Der unerfreuliche Nebeneffekt war, daß mit den Pfunden auch seine schon verschwunden geglaubten Hämorrhoiden zurückgekehrt waren.
Hatte sich sein Allgemeinzustand auch rasch gebessert, so war das Gehen noch immer mühsam. Zwar waren die Trugschmerzen bereits nach wenigen Tagen verschwunden, aber das Fehlen des Zehs verursachte ihm noch immer ein Gefühl der Unsicherheit, weil er fürchtete, nicht sicher zu stehen. Deshalb hatte er sich von Benno, dem Torwächter, einen Stock schnitzen lassen. Auf den gestützt, hinkte er nun betulich durch die Klosteranlage. Spazierte er mit Hildegard durch die Weinberge, kam es nicht selten vor, daß die ein Vierteljahrhundert ältere Äbtissin ihrem Sekretär trotz ihrer Gehbehinderung enteilte.
Wiberts Angebot, an ihres Bruders Statt auf dem Rupertsberg zu bleiben, hatte Hildegard ohne zu zögern angenommen. Sie wußte Wibert genau einzuschätzen, kannte seine Stärken wie seine Schwächen, vor allem aber wußte sie, daß er ihr treu ergeben war. Eine Eigenschaft, die keiner der derzeitigen Mönche des Klosters Disibodenberg, das für gewöhnlich den Sekretär und den Propst für den Rupertsberg stellte, besaß.
Einen kleinen Schock hatte Hildegard allerdings erlitten, als sie zum ersten Mal las, was Wibert aus einem von ihr diktierten Brief gemacht hatte. Hatten sich ihre bisherigen Sekretäre damit begnügt, grammatikalische Korrekturen vorzunehmen, hatte der Wallone den Text völlig umgeschrieben. Nicht daß er den Inhalt verfälscht hätte, aber er hatte ihn derart grundlegend – wenn auch elegant – umformuliert, daß Hildegard Mühe hatte, ihn als ihre Ausführungen wiederzuerkennen. Das war ein Stil, der nicht ihrem Geschmack entsprach, aber da Wibert überaus fleißig und umgänglich war, ließ sie ihn gewähren. Ihren Volmar würde ihr ohnehin niemand ersetzen können.
Wibert hatte sein Arbeitszimmer erreicht und nahm hinter dem Schreibpult Platz, hinter dem bei seiner Ankunft noch Hugo von Bermersheim gesessen hatte.
Das Fenster stand offen, und in den Weinbergen konnte er die Schwestern beobachten, die heute mit der Lese begonnen hatten. Der Sommer war heiß gewesen, es würde ein guter Jahrgang werden. Voller Vorfreude rieb Wibert sich die Hände. Dann nahm er das nächste Pergament aus der Kiste zu seiner Rechten, entrollte es – und Rührung überkam ihn.
Das Schreiben war eine Abschrift des ersten Briefes, den Hildegard vor über zwei Jahren an ihn gerichtet hatte. Jener Brief, in dem sie ihm, einem ihr damals noch Unbekannten, das Geheimnis ihrer Sehergabe offenbart hatte, womit sie ihn sofort und vorbehaltlos für sich eingenommen hatte. Wibert brauchte den Text nicht zu lesen, er kannte ihn auswendig. Diesen Brief würde er nicht überarbeiten, an ihm gab es nichts zu verbessern.
Während er das Pergament behutsam zur Seite legte, schweiften seine Gedanken ab zu den Brüdern in Gembloux. Schon seit Wochen wollte er ihnen schreiben, wollte ihnen mitteilen, welche Aufgabe er übernommen hatte. Auch Abt Johannes mußte unterrichtet werden, schließlich hatte er Wibert nur die Reiseerlaubnis für zwei Monate erteilt. Zweifellos machte die Gemeinschaft sich Sorgen, er sei unter die Räuber oder einer Seuche zum Opfer gefallen. Aber Wibert brachte es trotzdem nicht fertig, einen Brief aufzusetzen. Zu groß waren seine Bedenken, daß er mit einem Antwortschreiben aufgefordert werden würde, umgehend nach Gembloux zurückzukehren.
Es war ihm bewußt, daß er dieses Versteckspiel auf Dauer nicht würde aufrechthalten können. Je mehr überarbeitete Korrespondenz er jedoch vorzuweisen hätte, desto größer war die Chance, daß Abt Johannes ihm gestatten würde, mit seiner literarisch-wissenschaftlichen Arbeit fortzufahren und auf dem Rupertsberg zu bleiben. Zumindest hoffte Wibert das.
Im nächsten Brief, den Wibert zur Hand nahm, richtete Hildegard mahnende Worte an die Äbtissin eines Klosters am Oberlauf des Mains, in dem offenbar alles drunter und drüber ging. Wibert amüsierte sich noch über die zum Teil deutlichen Worte der Seherin, als es klopfte. Auf sein »Herein!« kam Jonas, der zungenlose Bursche mit der Hasenscharte, in die Stube.
»Was gibt es?«
Der Junge stieß reihenweise gurgelnde Laute aus und fuchtelte erregt mit den Händen in der Luft herum. Nach all den Wochen hatte Wibert noch immer große Schwierigkeiten, Jonas zu verstehen. Er begriff lediglich, daß ein wichtiger Besucher eingetroffen war, der den Sekretär Hildegards zu sprechen wünschte.
»Wie heißt er?« fragte Wibert, verstand aber auch diesmal nicht, was Jonas von sich gab.
»Führ ihn herein. Lassen wir uns überraschen.«
Jonas verschwand, und umgehend trat ein Mann ein, der bereits vor der Tür gewartet haben mußte. Wibert, der im Begriff war aufzustehen, sank zurück auf seinen Stuhl.
Der Gast war hochgewachsen, schlank und hatte einen langen, dünnen Hals, der durch einen auffällig breiten Kiefer noch betont wurde. Sein weißes Haar trug er so kurz, daß es aussah, als sei der Schädel gepudert. Als er über die Schwelle trat, lächelte er, aber das tat er eigentlich immer, selbst wenn er ungehalten war. Wibert wußte das, schließlich kannte er den Mann nur zu gut.
Der Besucher war Johannes, der Abt des Klosters Gembloux.
***
Die Schwestern hatten sich für den Gast die allergrößte Mühe gegeben. Zunächst reichten sie einen aufs Feinste mit Kräutern, namentlich Petersilie, Kerbel, Schnittlauch, Dill, Basilikum, Estragon und Kresse, abgeschmeckten Eierpfannenkuchen. Dann fuhren sie eine Geflügelpastete auf, an der Wibert sich gern besinnungslos gefressen hätte. Den Abschluß bildete gekochter Salm in Weinsoße, der auf der Zunge verging.
Hildegard nahm von allem wie immer nur ein Häppchen. Johannes, für den Essen kein Genuß, sondern lediglich ein notwendiges Übel zum Erhalt der Körperfunktionen war, aß gewohnt hastig. Das führte dazu, daß er gleich zu Beginn des letzten Gangs eine Gräte verschluckte. Nach Luft ringend hüpfte er von einem Bein aufs andere, was genauso sinnlos war wie Wiberts Schläge auf seinen Rücken. Als er bereits krebsrot war und ihm die Augen aus dem Kopf zu treten drohten, bedeutete Hildegard ihm stillzustehen, steckte ihre Hand in seinen Mund und fingerte die Gräte – die immerhin die Länge eines Kinderfingers hatte – aus seinem Rachen. Kaum hatte die Äbtissin ihre Hand wieder herausgezogen, erbrach Johannes die Pastete und den Pfannkuchen.
»Vomunt ut edant, edunt ut vomant«, murmelte Wibert unterdrückt, aber immerhin so laut, daß ihn die Schwester an seiner Seite verstand und zu kichern begann.
Von da an wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Nicht einmal ein Pokal des wirklich köstlichen Weins vermochte Johannes aufzuheitern. Mit seiner Verdrießlichkeit steckte er alle im Refektorium Versammelten an, so daß Hildegard schließlich vorschlug, zu dritt einen Verdauungsspaziergang am Ufer der Nahe zu unternehmen.
Der Schatten, den die Abteikirche warf, reichte bereits bis ans andere Ufer, wo zwei Fischer damit beschäftigt waren, ihre Kähne für die Nacht zu vertäuen. Als sie Hildegard erkannten, fielen sie auf die Knie, senkten die Häupter und bekreuzigten sich. Die Äbtissin segnete sie mit einer stummen Geste.
»Allenthalben schlägt dir Verehrung entgegen«, sagte Johannes, nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte. »Die Leute werfen sich ja förmlich in den Dreck.«
»Die beiden verkaufen einen Teil ihres Fangs ans Kloster«, sagte Hildegard. »So können sie ihre Familien ernähren.«
Wibert bemerkte, daß Johannes die beiden Fischer mit einem ausgesprochen bösen Blick bedachte, als seien sie verantwortlich für sein peinliches Mißgeschick.
Sie gingen flußaufwärts. Eine Blindschleiche, die auf einem flachen Stein die letzten Sonnenstrahlen genossen hatte, suchte bei ihrem Nahen das Weite. Dann wurde der Pfad schmaler und bot nur noch zwei Personen nebeneinander Platz. Wibert ließ Hildegard und Johannes den Vortritt.
»Du bist also gekommen, um mir meinen Wibert wegzunehmen«, hörte er die Äbtissin plötzlich sagen. »Mit ihm werde ich meinen vierten Sekretär in zwei Jahren verlieren.«
»Das ist sehr bedauerlich«, sagte Johannes steif. »Aber Wiberts Platz ist nun einmal in Gembloux. Seine Brüder vermissen ihn. Unendlich viel Arbeit ist während seiner Abwesenheit liegengeblieben.«
»Du fürchtest um den exzellenten Ruf deines Klosters als theologisches Zentrum. Ich verstehe.«
»Wir verfügen über eine der reichhaltigsten Bibliotheken des Abendlandes. Täglich erreichen uns Bitten um Abschriften, Übersetzungen, Textvergleiche und Auslegungen aus aller Herren Länder. Bitten, denen wir uns weder verschließen wollen noch können.«
»Und Wibert ist der einzige unter den Brüdern, der sich in all diesen Dingen auskennt?«
»Nun ja, ihm steht natürlich der eine oder andere Gehilfe zur Seite.«
»Fünf«, rief Wibert von hinten.
»Richtig, fünf«, sagte Johannes. »Aber diese Brüder verfügen natürlich nicht annähernd über Wiberts Sachkunde.«
»Woran liegt das?« fragte Hildegard und hakte sich bei Johannes unter, da der Weg nunmehr anstieg. »Haben sie keine Ausbildung genossen?«
»Hat Wibert sich darüber beschwert? Dauernd liegt er mir in den Ohren, die Gehilfen müßten von ihren anderen Pflichten entbunden werden, um sich voll auf ihre wissenschaftliche Arbeit konzentrieren zu können.«
»Kein Wort hat Wibert verlauten lassen. Der Gedanke kam mir von selbst. Denn meiner Ansicht nach ist es unverantwortlicher Leichtsinn, sich auf einen einzelnen zu verlassen. Sollte ihm etwas zustoßen, wäre niemand da, der die Arbeit fortführen könnte.«
»Du machst dir unnötige Sorgen. Wibert ist von überaus robuster Natur.«
»So?«
»Etwa nicht?«
»Viel fehlte nicht, und er wäre uns unter den Händen weggestorben.«
Abrupt blieb Johannes stehen. »Wie konnte das geschehen?«
Hildegard berichtete mit knappen Sätzen von dem brandigen Zeh, der abgenommen werden mußte, und Wiberts einwöchiger Bewußtlosigkeit.
»Daher der Stock!« rief Johannes. »Und ich dachte, er hätte sich den Fuß lediglich gestaucht. Mein armer Wibert!«
Einen Moment sah es so aus, als wolle der Abt Wiberts Kopf tätscheln, dann besann er sich jedoch und ergriff statt dessen Hildegards Hände. »Wie kann ich dir danken, teure Freundin? Äußere einen Wunsch, und es wird mir eine Freude sein, ihn dir zu erfüllen.«
Statt zu antworten, zog Hildegard die Brauen hoch, legte den Kopf schief und sah Johannes nur an. Der begriff auch gleich, welche Falle er sich selbst gestellt hatte.
»Nein, nein, das nicht. Dann würde ich ihn ja doch verlieren.«
»Nur für zwei Jahre.«
»Nur für zwei Jahre? Wie meinst du das?«
Auch Wibert verstand nicht, worauf die Mater hinauswollte.
»Mein Leben währt nun schon bald neunundsiebzig Jahre«, sagte sie, »und es werden wohl noch zwei weitere dazukommen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.«
Johannes wollte protestieren, aber Hildegard bedeutete ihm, still zu sein.
Kodex