Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2005
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Titelfoto: Studio von Sarosdy, Düsseldorf
eISBN 978-3-475-54690-7 (epub)
Paul Friedl
Morgen über dem Wald
Paul Friedl erzählt in diesem Band die Geschichte des Bauernmädchens Nanni, das ihren Vater nach dem Tod der Mutter fleißig und tatkräftig bei der Arbeit auf dem Hof unterstützt.
Wegen ihrer außergewöhnlichen Größe begegnen die Dorfbewohner dem fröhlichen Mädchen mit Skepsis und Argwohn. Ständig muss sie die bösen Blicke und bissigen Bemerkungen der Dörfler erdulden. Nach einem langen und steinigen Weg findet sie ihr Glück als Bergwirtin auf dem Ulrichsberg an der Seite eines liebevollen Mannes.
Als der Häusler und Kleinbauer Xaver Denk wieder zu sich kam, war es duster, und er vermeinte, im Schlaf im eigenen Heustock versunken zu sein, aus dem er sich jetzt strampelnd und mit den Armen schlagend herausarbeiten müßte. Als seine Fäuste pumpernd an die hölzerne Bettstatt trommelten, lichteten sich sein Gehör und Gesicht. Das Stubenfenster schob sich in das rote Flimmern vor den Augen, und ein neuer Schreck fuhr dem Denk Xaver durch den schmerzenden Kopf.
Während er erkannte, daß er auf dem Rücken auf seinem Strohsack lag und die Füße gegen das untere Bettstattbrett stemmte, war ihm nun, als wäre sein altes Holzbauernhäusl eingefallen, und das Dach laste auf ihm. Er hob die Arme und tastete nach seinem Kopf, und indes sich die Schlafkammer um ihn herum mehr und mehr hellte, stellte er erstaunt fest, daß sich seine schüppeligen Haare anfühlten, als wäre darunter über Nacht eine taube Riesenschwarte gewachsen. Mühsam plagten sich die Gedanken aus dem hintersten Gehirnwinkel hervor.
Der alte Bauernkasten, mit den roten Rosensträußen auf den blaugrauen Türen und dem lustig geschwungenen Aufsatz schwankte vor seinen Augen, rückte sich zurecht und nahm dann seinen Platz wieder ein, den er von eh und je innegehabt hatte. Die Wände richteten sich auf, und das blinkende Hinterglasbild mit der Muttergottes kam schaukelnd zur Ruhe.
Durch das aufkommende Bewußtsein zuckte die Erinnerung:
Heimgegangen war er, von Deggendorf herauf, hatte in Grafling beim „Straßwirt“ noch ein Mäßlein vom Schäbs, dem billigen Nachbier, getrunken, hatte dann fröhlich und glückselig über den gewonnenen Prozeß bierselig in der Nacht heimgesungen, daß es vom schwarzen Buschwäldl zurückhallte — und dann? Richtig: Ein kurzes Scharren hatte er bei der Wegkapelle gehört, und dann — wsst —
Erinnernd zuckte er zusammen.
Ein kurzes Pfeifen war es gewesen, wie es ein geschwungener Haselnußstecken hören ließ — ja — und dann war ihm der Schädel geplatzt, und die Füße hatten sich vom steinigen Weg erhoben und waren davongeflogen.
Und jetzt lag er in seiner Bettstatt, und es war heller Tag?
Und dieser schwere Kobel auf seinen Schultern, in dem die Gedanken flatterten wie eingesperrte Vögel, konnte doch nicht sein Kopf sein? Wieder tastete und fühlte er nach dem Unding, das man ihm aufgesetzt hatte, das wie ein Bienenkorb schwirrte, dessen Inhalt ihn mit tausend Stichen marterte. Jedes der grauen Haare schien heute einen eigenen empfindlichen Nerv zu haben, der sich in den Schädel hinein fortsetzte.
„Oooh!“
Sein Stöhnen klang, als käme es gar nicht von ihm, sondern von einem Krähvogel, der vom Kastenbord zu ihm herüberkrächzte. Aber die Stille war gebrochen, und sein Ächzen rückte die Tatsachen zurecht. Mit dem Handrücken wischte er sich das Zornwasser aus den Augen.
Also, heimgesungen hatte er in der Nacht, und bei der Kapelle drunten hatte ihm einer den Haselnußstecken über den Schädel gewichst, ohne daß er den Lumpen hätte anspringen hören! War er schon so alt, daß das Gehör so stark nachließ? Hatte er nicht Ohren wie ein Luchs, und hörte er nicht die Mäuse laufen und die Käfer scharren, wenn er oftmals droben am Hirschberg heimlich in der Nacht auf einen Bock gelauert hatte?
Das leise Scharren fiel ihm ein. Freilich, hinter der kleinen Wegkapelle hervor hatte der andere ja nur einen Schritt zu machen brauchen. Der andere!
Wer ihm diesen Hieb aufgezunden hatte, das lag auf der Hand.
Und aus dem Getümmel der Gedanken in seinem brummenden Schädel arbeitete sich eine boshafte Befriedigung heraus und ließ ihn den schmerzenden Kopf vergessen. Der vergangene Tag kam wieder herauf, der dem Rausch vorausgegangen war. Er sah das haßvolle Gesicht seines Nachbarn, des Koglbauern, wieder vor sich, wie es bleich und grün wurde, und wie er dann fluchend, auf seine Gichtkrücken gestützt, den Gerichtssaal drunten in Deggendorf verlassen hatte. „Das werden wir schon sehen“, hatte der junge Kogl, der Kilian, gedroht und hatte hinter seinem Vater die Türe zugeschlagen, daß der Amtsrichter ihnen ärgerlich nachrief: „Solche Bauernlümmel!“
Zuvor hatte der Herr Amtsrichter den Schlußstrich unter einen langen Prozeß gesetzt, indem er verkündete: „Es ist in keiner Weise erwiesen, daß der Bauer Josef Kogl je ein wirkliches Recht besaß, über das Feld seines Nachbarn, des Kleinbauern Xaver Denk, zu gehen oder zu fahren. Der ohne Beweis vorgetragene Anspruch auf ein Fahrtrecht ist demnach nicht begründet. Der Beklagte Josef Kogl hat demnach die Kosten des Verfahrens und auch die des Klägers Denk zu zahlen.“
Am liebsten wäre er, der Denk, den sein Nachbar immer nur einen windigen Häusler genannt hatte, schon im Gerichtssaal in die Höhe gesprungen und hätte einen Juchezer getan, aber vor dem hohen Gericht schickte sich das nicht, und so hatte er einfach „Vergelt’s Gott, Herr Richter“, gesagt und war dann mit einem Gefühl aus dem Amtsgericht marschiert, als hätte ihm dieser Tag die amtliche Bestätigung gebracht, daß er kein Fretter, sondern ein Kleinbauer mit allen Rechten war. Mit diesem Hochgefühl war er in Grafling noch beim Straßwirt eingekehrt, um schnellstens ein paar Leute vom Ausgang des Prozesses zu unterrichten und gegen die Schwüle im überheizten Gerichtssaal etwas zu tun. Lustig war es beim Straßwirt, und als er im Stockfinstern heimwankte — ei ja — da hatte er gesungen, ein Schnaderhüpfl, das er sich selbst ausgedacht hatte:
Die kleinen Leut sind auch Leut,
wenn’s den Großen auch net recht ist,
aber gefallen laß ich mir überhaupt nix mehr,
heididldidldum.
Es hatte sich zwar nicht gereimt, aber es war so lustig und hatte ihm direkt wohlgetan. Ein dutzendmal wird er es wohl gesungen haben, bis ihn der pfeifende Haselstecken erwischte.
Höllteufel, da war ihm ja eine schöne Wurst aufgelaufen auf seinem Kopf! Gar nicht daran rühren durfte er mit den Fingern. Das mußte eine Blutblase sein wie eine Pelzhaube.
Auf der Holzschar, draußen vor dem kleinen Fenster, flatterten und piepsten zwei Meisen. Ihr Pfeifen stach ihn ins Gehirn. War es nun die Morgenfrühe, was so grau um das Häusl lag, oder der späte Abend? Er konnte es nicht herausfinden. Jedenfalls lag er in den Kleidern auf dem Strohsack, das geblümelte Bettzeug war auf der kurzen Wandbank unter dem Fenster aufgebaut. Wie war er heimgekommen, und wo war die Nanni? In das Häusl horchend, hörte er nur, daß draußen in der Stube die hölzerne Uhr knackte und knarrte und vom kleinen Stall herüber die Kühe brummten. Ein Schatten verdunkelte das Fenster, und Holzschuhe klapperten auf der steinernen Hausgred. Die Nanni ging vorbei, und er erkannte am hochbepackten Buckelkorb, daß sie mit einer Last Kleinholz vom Wald heruntergekommen war. Also war es schon später Nachmittag, und sie hatte sich nicht um ihn gekümmert, weil sie glaubte, daß er einen Saurausch auszuschlafen hätte. Wie war er nur heimgekommen? Hunger und Durst plagten ihn, und die Kehle war so trocken, daß er keinen Laut herausbrachte. Sein Weib, wenn noch leben täte, die hätte sich längst um ihn gekümmert, das Dirndl aber, die Nanni, ließ ihn liegen. Ein Groll packte ihn.
Aber was wollte er denn? Tat die Sechzehnjährige nicht die Arbeit für zwei, und versorgte sie das kleine Bauerngütl nicht allein, wenn es sein mußte? Im ganzen Graflinger Tal war keine in ihrem Alter, die so zupacken konnte, war nicht einmal eine Erwachsene, eine Bauersfrau, die der Nanni an Größe und an Kraft nahekam, und ihn selbst, ihren eigenen Vater, überragte sie um eine Kopflänge. Ob das nicht eher ein Unglück als ein Glück war? Hatten sie ihn gestern beim Straßwirt denn nicht wieder aufgezogen und geföppelt, ihn gefragt, ob er sein Dirndl etwa mit Elefantenmilch großgezogen habe oder mit Stutenmilch?
Was hatte der Hammerschmied von Arzting gesagt? Daß er auf dem Oktoberfest im vorigen Jahr eine Riesendame gesehen habe und die Denk Nanni dieses Riesenweibsstück gar bald übertreffen würde. Dann könne der Denk mit seiner Tochter zur Schau gehen und ein leicht verdientes Geld einstecken.
Er ächzte und versuchte sich aufzusetzen. Der schwere Kopf zog ihn wieder zurück.
Weiß der Kuckuck, wie das gekommen war! Ist doch sein verstorbenes Weib nicht so groß gewesen, und ist auch er selber nur ein mittleres und mageres Mannsbild. Schon in den ersten Schuljahren hatte die Nanni plötzlich zu wachsen angefangen und in der engen Schulbank keinen Platz mehr gehabt. Der Lehrer hatte ihr einen Stuhl in die Schulstube gesetzt, und schon im siebenten Schuljahr, als sie aus der Volksschule kam und in die Feiertagsschule gehen mußte, überragte sie den Lehrer und den Pfarrer. Oft war sie mit verweinten Augen heimgekommen, aber nie sagte sie ein Wort über ihren Kummer, und daß der Kinderspott sie angerührt hätte. Der Spott der dummen Leute ging heute noch hinter ihr her, und die Alten waren dabei kein bißchen gescheiter als die Kinder.
Freilich lachte die Nanni nur darüber, aber es war oft ein bitteres Lachen. Wenn sie nicht das gute Herz der Mutter hätte, dann nähme der Verdruß wohl kein Ende.
„Mir ist grad wegen der Nanni“, hatte sein Weib noch in der letzten Stunde gesagt, „schau nur grad, daß sie gut und fromm bleibt, und daß sie beizeiten einen Mann findet.“
Das würde einmal nicht leicht sein.
Draußen klappte die Stubentüre, und dann kamen die harten und festen Schritte zur Schlafkammer. Sie mußte sich bücken, um unter dem niederen Türstock durchzukommen, und als sie in der Kammer stand, reichte ihr Kopf mit dem braunen, dichten Haar bis an die Stubendecke. Ihr Gesicht war nicht uneben, ein wenig versonnen und mit einem lebenserfahrenen Zug um den Mund. Die braunen Augen jedoch sahen ihn gutmütig und fragend an. Mit einem langen Schritt war sie beim Fenster und riß es weit auf.
„Haben wir verspielt, weil du dir einen solchen Saurausch angesoffen hast?“ Ihre Stimme klang laut und rauh, wie die eines jungen Burschen.
„Gewonnen haben wir“, ächzte er, „deswegen hab ich mir drunten beim Wirt noch eine Maß gekauft.“
„Wirst einen guten Hunger haben“, meinte sie nun und fügte mit einem zufriedenen Lachen hinzu: „Alsdann, wenn wir gewonnen haben, ist es ja recht.“
„Wie bin ich denn heimgekommen? Ich weiß gar nix mehr“, lamentierte der Denk. „Hat mich einer zusammengeschlagen drunten bei der Kapelle, das weiß ich noch. Einen Kopf hab ich beinander wie einen geheizten Backofen.“
Sie bekam ein zornrotes Gesicht.
„Hab mir das schon denkt! Weil du nach der Mitternacht noch net gekommen bist, wollt ich dich beim Wirt suchen und hab dich bei der Kapelle gefunden. Hab dich dann heimgetragen. Bist gewesen wie ein Toter.“
„Dürsten tut mich und hungern!“ jammerte er.
„Ich richte dir eine Brotsuppe. Wie ist es beim Gericht gewesen?“
„Nimmer darf er fahren, und zahlen muß er alles, auch unsere Kosten.“
„Dann wirst auch wissen, wer dich niedergeschlagen hat?“ fragte sie. „Hast ihn gesehen?“
„Ist so schnell gegangen. Kann es mir aber denken. Der Alte wird es net gewesen sein, weil er ohne Krücken net gehen kann, aber der Kilian, dem trau ich es zu.“
Sich unter dem Türstock der Kammer durchbückend, ging die Nanni in die Wohnstube zurück und kam mit einem Krug Wasser. Der frische Trunk linderte auch die Kopfschmerzen des Xaver Denk, und sich im Bett aufsetzend, trank er den Krug in langen Schlücken leer. Draußen schürte seine Tochter den Ofen an und setzte die Suppe auf, kam dazwischen mit einem essiggetränkten Leinentuch und legte es ihm auf den Kopf. Da war sie wie ihre Mutter: hatte kein heftiges Wort und tat alles mit einer Bestimmtheit und Ruhe, gegen die nichts zu reden war.
Sein Kopf wurde brennheiß, und der dampfende Essiggeruch drängte den muffigen Duft von alten Kleidern und altem Holz zum Fenster hinaus. Als er die aufgeschmalzene Brotsuppe roch, wankte er in die Stube und setzte sich an den Tisch.
Wie flink und gar nicht unbeholfen die Nanni hantierte! Und doch war es, als gehörte sie in ihrer Größe und mit ihrem breiten, fast unförmigen Körper nicht in diese Stube. Wenn sie noch weiterwachsen würde, dann konnte sie ja nicht einmal im Haus aufrecht gehen!
„Das muß bei dir daheim ja sein, als wenn eine Kuh oder ein Roß in deiner Stuben herumgeht“, hatte der Ortmüller gestern gespöttelt.
Wie ein Roß!
„Übermorgen ist der Palmsonntag, daß wir net vergessen, die Kapelle und das Roß Gottes herzurichten“, meinte der Denk und fiel über die Schüssel Brotsuppe her.
„Ich tu das morgen schon, heut hab ich keine Zeit mehr“, sagte die Nanni ruhig, „jetzt gleich verschlag ich den Weg, und grad freuen tut es mich! Recht muß Recht sein!“
Seine Antwort wartete sie gar nicht ab und verließ das Haus.
Die Sonne, verdunstet vom feinen Nebel, den die Donau schon den ganzen Tag ausgehaucht hatte, sank schon hinter dem Hundsruck. Drüben, auf der anderen Talseite, blinkte noch das Kirchlein auf dem Ulrichsberg und sträubten sich die Nadelbäume auf dem Dreitannenriegel wie das Haar eines struppigen Lausbubenschädels.
Es kamen späte Ostern. Das Graflinger Tal rüstete sich, um sie mit frischem Wiesengrün und Blumen zu empfangen. Auf der Hauswiese des Denkanwesens wiegten sich die weißen Buschwindröschen im lauen Wind, und am Weg, der vorbei zum Koglhof führte, reihten sich die gelben Schlüsselblumen. Vom tiefen Bachtal herauf leuchteten die Schmalzblumen in strahlend goldenen Nestern. Unterm Wald am Hundsruck bildeten die zwei Anwesen ein eigenartiges Gespann. Klein und niedrig, sattbraune Holzwände unter dem flachen und mit Steinen beschwerten Schindeldach das Denkhäusl, neu mit Ziegeln gebaut und weiß getüncht, mit einem Oberstock und rotem Pfannendach, protzend der Koglhof. Da saß die bescheidene Häuslerwirtschaft des Denk neben dem großen Bauernhof wie der arm gewandete Bettelmann neben dem stolzen Reichen, grade so weit voneinander entfernt, daß man sich noch hörte, wenn gescholten werden mußte. Und dazwischen lag auf dem Grund des Kogl nur ein Wiesenspitz und, zum Denkhäusl gehörig, ein Kartoffelacker und eine saftige Hutweide. Über diese führte, drunten beim Weg beginnend, eine Fahrt hinauf zum Waldbesitz des Koglbauern.
Aus dem Schüpfl hinterm Haus hatte die Nanni die schwere Axt geholt, einige starke Pflöcke und Fichtenstangen geschultert und war hinunter zum Weg gegangen, wo die strittige Fahrt in die Hutweide einmündete. Mit kräftigen Schlägen rammte sie die Pfosten in die Erde und nagelte die Querstangen fest. Der Hall der Schläge kam von der Mauer des Koglhofes und vom Wald hallend zurück. Daß, bald nachdem sie mit dem Verzäunen begonnen hatte, droben beim Kogl die prangend grüngestrichene Haustüre ging und der Kilian, der einzige Sohn des Nachbarn, herunterschlenderte, geradeso, als käme er zufällig, entging der Nanni nicht, hielt sie aber auch von ihrer Arbeit nicht ab.
Er war ein fester Bauernknüspel, der Kilian, und daß er fest zupacken mußte auf dem elterlichen Hof, zeigte seine Haltung. Etwas nach vorne gebeugt und die derben Arme an den breiten Schultern schlenkernd, tat er, als wäre er gerade auf dem Weg hinunter nach Grafling, dessen zwiebelgespitzter Kirchturm andeutete, daß dort der Mittelpunkt des Talwinkels war. Langsamer und bedächtiger wurde sein Gang, da er sich der Nanni näherte, und mit einem teils verlegenen, teils herausfordernden Grinsen blieb er vor ihr stehen.
„Bist aber noch fleißig heut!“
Die Nanni würdigte ihn nur eines kurzen Blickes und schwang weiter die schwere Axt, um einen Pflock in die Erde zu rammen. Der Kilian schien die Kraft zu bewundern, mit der sie arbeitete. Spöttelnd meinte er:
„Hau nur fest zu, damit net einer die Stempen so leicht ausreißen kann.“
„Kannst es ja probieren“, gab sie ihm ungerührt zurück.
„Ach, meinetwegen kannst alles verzäunen, mir ist das gleich. Und wenn mein Vater sich ärgert, das rührt mich nix an und dich ja auch net.“
„So? Meinst du?“
„Ich hab euch ja nix getan, brauchst du doch net gegen mich einen Kopf anmachen!“ sagte er unwillig.
Die Nanni hielt für eine Weile inne, strich das flatternde Haar zurück und sah ihn kritisch an. „Tu net so scheinheilig, sonst fängst du eine Maulschellen von mir! Meinst, ich weiß net, wer heut nacht meinen Vater zusammengeschlagen hat?“
Entrüstet wahrte sich der Kilian: „Etwa ich? Da weiß ich nix davon!“
Nun wurde sie grob: „Mach, daß du weiterkommst, saudummer Bauernkerl! Ich mag dich net! Jetzt haben wir unser Recht, und jetzt laßt uns in Ruh — du und dein boshafter Vater.“
Verblüfft starrte er sie an. „Hab ich dir schon einmal was getan? Ich hab deinem Alten nix getan und dir net. Will überhaupt von der Feindschaft nix wissen!“
Wieder unterbrach sie ihre Arbeit, und ihre braunen Augen funkelten. „Ich auch net, also laß mich in Ruh!“
„Weibsbild störrisches!“ zischte er, „bist ja nix als eine dumme Kuh.“
Er machte kehrt und ging mit raschen Schritten zum elterlichen Hof zurück. Zweifelnd sah sie ihm nach.
„Freilich bist du es gewesen — oder dein Vater — weil ihr euch über den Prozeß ärgert!“ Er hörte es nicht mehr, und sie nahm die Axt auf und kehrte in das Haus zurück.
Nun war die ungerechte Fahrt verrammelt, und der große Kogl hatte nachgeben müssen. Jetzt würde er wohl schäumen vor Wut, denn über den Wiesengrund des kleinen Nachbarn hatte er nur ein kurzes Stück zu seinem Wald gehabt. Jetzt aber mußte er einen Umweg von einer halben Stunde fahren, weil die Hutwiese des Denk ihn von seinem Wald abriegelte. Immer wieder hatte der Kogl versucht, dem Denk die Wiese abzunötigen, und weil das nicht ging, sich einfach ein Fahrtrecht herausgenommen, eine Fahrt, die immer breiter geworden war und soviel Gras weggenommen hatte, daß beim Denk das Futter knapp wurde. Oft hatte man das Schimpfen des Denk Xaver und das Hohnlachen des Koglbauern bis ins Tal hinunter gehört, und einmal, im Vorjahr, war es sogar zu einer Rauferei gekommen. Nun hatte das Gericht entschieden.
Jetzt wird der Kogl ein anderes Lied singen, und jetzt täte der Kilian sich anmausen, als wäre das mit der Fahrt nur eine Sache der Alten gewesen! Sie konnte den Burschen, der schon im Anfang der Zwanzigerjahre stand, nicht leiden. Er war wie sein Vater: einmal scheinheilig reden, dann überlegen spottend und, wenn es nicht auf diese Weise ging, lästerlich schimpfend.
Abkaufen wollten sie dem Vater! Das gute alte Häusl abkaufen! So ein schönes Häusl gab es gar nicht mehr! Früher einmal, da war es das Beihäusl des Koglhofes gewesen und das Heiratsgut der Mutter geworden. Sie war die Schwester des Koglbauern und hatte das Häusl und den Wiesenspitz, der nun den Kogl von seinem Wald abniegelte, geerbt. Der Kogl war also der Schwager ihres Vaters, weil der Denk Xaver seine Schwester geheiratet hatte — und war ihr Onkel!
„Für so eine Verwandtschaft dank ich!“ ärgerte sich die Nanni und warf die Axt in die Schupfe.
Was hatte der Vater?
Aus der Stube hörte sie ihn schelten und räsonieren, und mit langen Schritten eilte sie ins Haus, wo der Denk aufgeregt zwischen Stube und Kammer hin und her stampfte.
„Mein Geldbeutel hab ich nimmer! Und die Uhr ist auch weg! Weißt du was davon?“
Erschrocken schüttelte sie nur den Kopf.
„Ich muß den Beutel und die Uhr verloren haben, als der Schuft mich niedergeschlagen hat.“
Die Nanni setzte sich auf die Wandbank und legte die Hände in den Schoß. Sie war nachdenklich geworden und meinte stockend:
„Dann hätt ich was sehen müssen. Hab die Laterne mitgehabt und hab herumgesucht, bis ich deinen Hut gefunden hab. Hab alles abgeleuchtet, Vater — und die Uhr ist doch an der Kette gewesen — die hättest net einfach verlieren können.“
Da ließ sich auch der Denk auf die Bank fallen und hielt sich den schmerzenden Kopf.
„Der Lump hat mir das Geld und die Uhr genommen! Ich gehe hinüber und sag dem Kogl die Räuberei ins Gesicht!“
Die Nanni sinnierte und fragte dann: „Meinst du wirklich, daß es einer von den Kogln gewesen ist? Fast glaub ich es net. Wer ist denn gestern beim Straßwirt gewesen?“
„Mir zerspringt noch der Schädel vor lauter Nachdenken!“ jammerte der Denk. „Der Hammerschmied ist dagewesen und der Ortmüller — und der Lipp und der Früchtl — und ein paar vom Bahnbau, so Italiener —“
Die Nanni fragte nichts mehr und stand auf.
„Geh ins Bett, Vater, ich brauch dich net zur Stallarbeit.“
Die Luft war am Morgen mild, und im Graflinger Tal regte sich mächtig der Frühling. Als die Sonne über dem Dreitannenriegel aufstand und die Dotterblumenwiesen drunten im Talgrund zu leuchten begannen, verließ die Denk Nanni droben unterm Hundsruck das Haus. Auf den Wiesenhängen dampfte die Morgenfrühe ihren weißlichen Hauch, und am Waldrand stritten schon die Meisen.
Sie liebte diese frühen Stunden, in denen der Tag erwachte und einen blauen Himmel verhieß, die Anemonen ihre Blüten öffneten und der leichte Wind von der Donau her erfrischend das Gesicht und die nackten Arme streichelte. Der erste Sonnenstrahl wischte alles Trübe weg und stimmte das Land feierlich, ließ das Herz höher schlagen. Auf dem Hirschberg und dem Vogelsang schimmerten noch Schneeflecken, und dahinter, dem Waldgebirg zu, war noch der Waldwinter, der ab und zu noch einen kühlen Hauch gegen den Frühling sandte, der ringsum die grünen Knospen ansetzte.
Und doch war nicht der Friede im Graflinger Tal, wie sie ihn aus den Kindertagen kannte. Etwas war anders geworden. Vom Koglhof herunter krähte der Hahn und verstummte plötzlich mitten in seinem Morgengeschrei, als eine Reihe schwerer Donnerschläge die ländliche Stille zerriß. Ringsum grollten Berg und Wald, als begehrten ihre Geister murrend und drohend gegen die Menschen auf, die ihnen am Hang des Buchenberges tiefe Wunden schlugen. Dort waren Hang und Höhe der Länge nach aufgerissen, und die riesenhaften gelben Lehmlöcher, die Aufschüttungen und die grauen Wunden im Fels bleckten herüber.
Die Nanni war stehengeblieben und beobachtete die gelbbraunen Sprengwolken, die aufschossen und sich zerstreuend nach Norden wanderten. Noch einmal dröhnten Sprengschüsse und Gepolter auf, dann folgte ein dünnes und fernes Hornsignal. Das dumpfe Rumpeln der Loren und das Schlagen von Hämmern und Pickeln begann, und tausend Schaufeln wurden tätig. Wie krabbelnde Käfer bewegte sich der Menschenhaufen über die Bergwunden und schleppte den gelben Lehm und das zerschmetterte Gestein davon.
Da standen zwei lange braune Holzbuden neben einer Aufschüttung über den Dießenbacher Häusern, und die Nanni stieg langsamer nieder zum Fahrsträßlein, mißtrauisch und bange. Die Dießenbacher hatten es nicht leicht mit dem Gemisch von Arbeitern, die in diesen Baracken wohnten, derbe und rauflustige Burschen aus dem Niederbayerischen, glutäugige Italiener und, für sich abgeschlossen und die anderen meidend, ehrbare und fleißige Männer aus Kärnten. Sie alle bauten an der Eisenbahn, die in den Wald hinein bis an die böhmische Grenze führen sollte.
Sie zog die Schultern hoch. Es war vorbei mit dem schönen Morgen, der Tag war da und mit ihm die Unruhe.
Vor einer Woche war sie drunten gewesen in der Graflinger Pfarrkirche, als sie einen Italiener zu Grabe trugen, den man erstochen hinter einer dieser braunen Holzbuden gefunden hatte. Seine Kameraden hatten getrauert und geweint während der Totenmesse, wie es die alte Kirche noch nie gesehen hatte, hatten sich dann vor dem offenen Grabe mit den Fäusten an die Brust geschlagen, hatten geklagt, gebetet und geflucht, daß das Gebet des Pfarrers nicht mehr zu hören war. Den Rest des Tages verbrachten sie beim Straßwirt, sangen und musizierten, stritten und rauften, daß den Graflingern das Grausen kam. Als ihnen einer der Ihrigen, der Aldo Melano, zureden und ihren Streit schlichten wollte, schlugen sie ihn halbtot.
Der Aldo.
Sie kannte ihn, und alle im Graflinger Tal kannten ihn, denn er gehörte zu den wenigen unter den Bahnbauarbeitern, mit denen man im Graflinger Tal zu tun haben wollte. Aldo Melano wohnte auch nicht in der Baracke, sondern hatte sich bei der Kandlerwittib in Grafling eingemietet, und der freundliche und bescheidene Bursche war überall gern gesehen. Die Kandlerin hielt den Aldo Melano wie einen Sohn. Ohne Entgelt hatte er ihr das Heu eingebracht, versorgte ihre Kuh, brachte das Holz vom Wald, hatte ihre Erdäpfel gegraben und das altersschwache Häusl ausgebessert, sogar davor ein kleines Gärtlein angelegt. Mit dem blassen Gesicht und den schwarzen Augenbrauen, die wie ein scharfer Strich oberhalb der dunklen und ausdrucksvollen Augen gezogen waren, zog der Italiener überall die bewundernden Blicke der Mädchen auf sich. Droben im Wald über Ottenzell war sie ihm einmal in den Weg gelaufen, als er mit einem Handwagen für die Kandlerin Holz heimfuhr. Überrascht waren sie sich gegenübergestanden, und sie war ganz unruhig geworden. Er hatte sie erstaunt und erschrocken angesehen mit seinen großen Augen, und mit einem verlegenen Lachen hatte er ausgerufen:
„O Madonna mia, schöne Frau!“
Das war im Herbst gewesen, und der Wald war voller Traum und Farben. Sie hetzte davon, bis sie ganz außer Atem zu Hause ankam. Nicht schreckhaft war ihr dabei gewesen, sondern so, als sei sie vor der späten Sonne und dem lieblichen Herbstwald davongelaufen, und eine frohe Wärme war tagelang in ihrer Brust verblieben.
Dem Vater hatte sie nichts davon gesagt. Auch nicht der Früchtl Marie, ihrer Freundin. Sie sah den Aldo noch oft, beim Kirchgang oder auf dem Weg ins Pfarrdorf. Dann schämte sie sich, wich ihm aus und wußte nicht, warum.
Droben im Koglhof knallte die Haustüre, und drüben beim Bahnbau pfiff eine kleine Lokomotive. Aus ihren Gedanken gerissen, ging die Nanni nun schneller den ausgefahrenen Weg hinab zur Kapelle, wo sich das Sträßlein von Grafling her mit der Fahrt von Ottenzell herüber traf. Zwei mächtige Linden, die noch der Urahn des Koglhofes gepflanzt hatte, hielten ihr Astwerk über Türmchen und Dach des kleinen Heiligtums, das noch ein wenig kalt und verfroren mit bröckelndem Mauerwerk dicht an der Wegkreuzung stand. Schlüsselblumen bildeten um das Kapellenhäuschen und die alten Linden einen blaßgelben Teppich, und die Morgensonne schien durch das Eisengitter in das Innere. Auf einem braunen Wandstellen befand sich das seltsame Hauptstück der Einrichtung, zwischen verstaubten und verblaßten Papierblumen und dunklen Votivbildern: der Palmheiland von der Hundsruckkapelle. Eine grobhölzerne Figur auf einem derben, braungestrichenen Vierbeiner reitend, angetan mit einem rotsamtenen Mäntelchen, eine Goldkrone auf dem Kopfe, die Rechte steif und segnend gestreckt und mit der Linken einen Palmzweig haltend. Der einfache Mann, der diese Figur einmal geschnitzt hatte, mußte ein eigenwilliger Künstler gewesen sein. Der Ausdruck des grobgeschnittenen Gesichtes war so eindringlich und erschütternd, daß man sich im ganzen Tal sagte, man könne sich den Palmheiland vom Hundsruck nur eine kurze Weile ansehen, weil man diesen düsteren und traurigen Blick nicht lange aushalten könne.
Das Scharren des Schlüssels im verrosteten Schloß des Gitters und das Quietschen und Ächzen der Scharniere lösten das kleine Bauwerk aus dem Winterschlaf. Mit flinken Händen begann die Nanni, die Spinnweben aus den Ecken zu wischen, die Papierblumen abzustauben und dann die Heilandsfigur und das seltsame Reittier zu säubern.
Das Brettchen, auf dem Roß und Reiter festgemacht waren, deckte sie mit Schlüsselblumen ab, legte ein feines Blumenkränzlein um den Hals des Heilandes und steckte ihm zum Palmzweig in die Linke ein Zweiglein mit silbernen Weidenkätzchen.
Morgen war Palmsonntag, und für diesen einen Tag verließ der Palmheiland von der Hundsruckkapelle sein kleines Haus. Er wurde in der Palmprozession um die Graflinger Kirche mitgetragen, und das stand den Leuten vom Denkanwesen zu, auf deren Grund die Kapelle stand. Für die Mutter gottselig war es immer ein besonderer Tag und eine hohe Ehre gewesen, die Figur tragen zu dürfen. Vor einem Jahr hatte sie es das letztemal getan und sich bald darauf zum Sterben hingelegt. Und heuer würde sie, die Nanni, den Heiland tragen. Das stimmte sie heute schon feierlich.
„Brauchst bald einen neuen Mantel, liebes Herrgottl“, flüsterte sie, „und ich kauf dir einen, und dein Rößlein soll ein schönes Zaumzeug bekommen.“
Plump und mit eiligen Beinen suchte eine Kreuzspinne in einer Mauerritze Zuflucht. Die Nanni schauderte zusammen.
„Wird doch kein Unglück bedeuten!“
Sie stellte die geschmückte Figur auf den Wandstellen zurück und trat wieder ins Freie. Auf dem Weg von oben kam die Koglbäuerin, und mit rotem Gesicht beugte sich die Nanni über ihren Korb und tat, als wollte sie noch einige Schlüsselblumen zupfen. Erst als die Koglin vor ihr stehenblieb und sie mit ihrer rauhen Stimme ansprach, sah sie auf.
„Wer tragt heuer das Roß Gottes?“
Das neidische und fordernde Forschen der Alten weckte den Trotz der Nanni. „Ich trag es, weil es uns zusteht!“
„Hab ja nix dagegen“, lenkte die Bäuerin ein, „aber so gut wie es euch zusteht, so gut steht es auch uns zu.“ Und plötzlich fauchte die dicke Koglin: „Wird sich ja der Denk freuen, weil er den Prozeß gewonnen hat?“
„Der freut sich net, den hat gestern nacht einer zusammengeschlagen und ihm das Geld und die Uhr genommen. Ich hab ihn heimgetragen wie einen Toten.“
Die Augen der Koglbäuerin wurden groß. „Du hast ihn heimgetragen?“ staunte sie, „du bist ja ein Weibsbild zum Fürchten! Wie alt bist du jetzt?“
„Sechzehn — mußt mich aber net alleweil wegen meiner Groß anreden. Ich kann nix dafür.“
Kopfschüttelnd stand die Bäuerin, dann meinte sie boshaft: „Zusammengeschlagen hat ihn einer?“
Und als würde sich die Nanni ihrer Kraft bewußt, reckte sie sich und ballte die Faust: „Ich krieg es noch heraus, wer das gewesen ist, und dann —“
„Höh!“ tat die Koglin und trat einen Schritt zurück.
Die Nanni nahm hastig ihren Korb auf und ging davon, und auch die Bäuerin setzte ihren Weg fort.
„So ein störrisches Weibsbild“, murrte sie, „rein zum Fürchten.“
Die Nanni achtete nicht mehr auf den schönen Morgen, als sie zum Denkhäusl zurückkehrte. Mit dem Handrücken wischte sie sich das Wasser aus den Augen.
Das hätte nicht sein müssen, daß die Nachbarin sie wieder wegen ihrer Größe hänselte. Was konnte sie denn dafür? Sie war doch nur größer als die anderen und nicht unförmig oder unbeholfen. Und sie hatte mehr Kraft als ein Mannsbild. Das wußte sie selber, man brauchte es ihr nicht immer wieder zu sagen. Oft war sie unglücklich darüber, und dann wieder nahm sie es wie einen Vorzug hin. Aber mußte man ihr das immer wieder vorhalten? Sie sah es ohnedies den Leuten an den Gesichtern an, wie sie sich wunderten und sich heimlich lustig machten. Die Altersgenossinnen, mit denen sie in die Schule gegangen war, wichen ihr aus und zählten sie wohl zu den Erwachsenen, diese aber wußten mit ihr erst recht nichts anzufangen. Da war es das beste, sie ging allein ihrer Wege und kümmerte sich um niemanden.
Es war besser, wenn sie dem Vater nichts sagte von ihrer Begegnung mit der Koglin.
Ein Tuch um den Kopf gebunden, hackte der Denk bei der Holzschupfe das Astwerk klein, das die Nanni in schweren Lasten vom Berg gebracht hatte. Er sah ihr entgegen.
„Was hat denn die Koglin von dir wollen?“
„Dem Koglhof steht es genausogut zu, das Roß Gottes zu tragen, wie uns“, erzählte die Nanni mit einem geringschätzigen Lächeln, „hat sie gemeint. Hab sie reden lassen und bin gegangen.“
„Ob ich net doch zum Gendarmen gehen soll, könnt doch sein, daß sie es herausbringen, wer mir aufgelauert hat?“ überlegte der Denk.
Die Nanni schüttelte den Kopf. „Kommt nix heraus dabei. Ich glaube, daß wir selber noch dahinterkommen. Laß das Holzmachen sein, Vater, ich tu das schon.“
Sie ging in die Stube und sah in den Spiegel, blickte prüfend in ihr eigenes Gesicht. War sie denn nicht auch wie die anderen Mädchen? War sie denn grob oder häßlich?
Gesund und blühend ihre Wangen, frisch und hell die braunen Augen und rot der wohlgeformte Mund. Es gab nicht viele in der Pfarrei Grafling, die so gut aussahen wie sie.
Pah, was gingen sie die Leute an!
Sie mußte sich bücken, um ihr Spiegelbild betrachten zu können. Freilich — ihre Größe! In dem alten Holzhaus mit der niederen Stube fühlte sie sich eng und unglücklich. Oft kam es sie an wie eine Gefangene in einer zu kleinen Zelle, und dann mußte sie urdings aus dem Haus rennen, wo so viel gute Luft und das Himmelsdach so weit droben war.
Es war ein tauglänzender, sonnenheller Palmsonntag voll frischem Erdruch, und im grünen Graflinger Tal stimmte die Natur ihr eigenes Halleluja an.
Von den Dörfern, Weilern und Höfen kamen die Buben und Burschen mit den langen Palmgerten, hatten deren Krone mit Weidenkätzchen und bunten, flatternden Bändern geschmückt, und die Mädchen trugen in kleinen Palmbuschen die Zweige der Salweide und des Segenbaumes zur Palmweihe nach Grafling. Farbenfroh, feierlich und sittsam gehend, kam die Jugend, bedächtig die Männer mit den blanken Münzenknöpfen an den braunen Jankern und dunkelroten Westen, dunkelgekleidet die Frauen, das schwarze Kopftuch eng um die Stirne und in langen Zipfeln über den Rücken hängend. Sie folgten dem sonntäglichen Ruf der Graflinger Glocken, die festlich in den sonnigen Morgen hineinläuteten.
Vom Koglhof kutschierte der Kilian seinen gichtigen Vater und die resolut dreinschauende Mutter im Laufwägerl zu Tal. Herausfordernd schnalzte er mit der Peitsche. Geflissentlich sahen der Kogl und seine Bäuerin gegen die andere Talseite, wo bei den braunen Halden des Bahnbaues die Arbeit ruhte. Sie taten es, um dem Denk, der sich mit seiner Tochter gerade zu Fuß auf den Weg machte, zu zeigen, wie wenig sie ihn als kleinen Nachbarn achteten. Nur der Kilian fippte mit der Peitsche in die Richtung des Denkhäusels und bemerkte, mit einem Grinsen und sich auf dem Kutschbock nach seinen Eltern umdrehend:
„Dem Denk paßt heut der Hut net.“
Worauf der alte Kogl knurrte: „Den wenn ich wüßt, der ihm eine aufgezunden hat, dem tät ich ein paar Maß Bier zahlen.“
Mit knickenden Knien und unter dem Hut einen Verband um den Kopf, ein wenig taumelnd, schritt der Denk Xaver über die Wiese zum Weg. Neben seiner Tochter erschien er klein und unscheinbar, obwohl er durchaus nicht zu den kleinen Männern im Tal gehörte. Die Nanni hatte sich Schlüsselblumen in das zurückgekämmte Haar gesteckt. Blütenweiße Blusenärmel bauschten sich um die kräftigen Arme, und unter dem grünen Leibchen zwängte sich prall die Brust. Die Ohrringe der Mutter, zwei glänzende Perlen aus den Waldbächen, gaben auch ihrem Gesicht einen Schimmer. Besinnlich und doch voller kindlichfroher Erwartung schritt sie neben dem Vater her hinunter zur Kapelle. Dort nahm sie den geschmückten Palmheiland von seinem Platz und trug ihn, an die Brust gedrückt, schweigend hinab zum Pfarrdorf. Aus den roten Samtmäntelchen des Heilandes und vom alten Holz des Pferdleins, auf das man ihn gesetzt hatte, strömte ein leichter Moderduft. Von den oberen Höfen und von Ottenzell her schlossen sich ihnen die Kinder mit den Gerten und Buschen und die Alten an, eine feierliche Menschengruppe, die alljährlich bei der Palmprozession hinter dem Palmheiland vom Hundsruck herging.
So viel Menschen hatte das Pfarrdorf noch nicht gesehen wie an diesem Palmsonntag. Zu den Einheimischen gesellten sich einige hundert Bahnbauarbeiter, die an der Dorfstraße und auf dem Kirchplatz standen und neugierig dem festlichen Aufzug zusahen. Nicht einmal die Leute aus dem Graflinger Winkel fanden in der Kirche Platz. Sie standen in dichten Scharen um das Gotteshaus und verfolgten den Fortgang der Messe im Freien, knieten zur heiligen Wandlung nieder und wandten die Gesichter den Kreuzen zu, die in zwei Reihen an der Friedhofsmauer standen.
Die Denk Nanni hatte sich in der Kirche durch die Leute gedrängt und wartete mit dem Palmheiland vor dem Altar, bis der Pfarrer zur Prozession durch das Dorf ausziehen würde. Der Wald von langen Palmgerten und rauschenden Bändern hinter ihr, der Weihrauchduft, der gegen das Gewölbe zog, das dumpfe Murmeln der Betenden ließ sie alles vergessen, und ihr war, als stünde sie vor der Himmelstüre und sollte bald ihren hölzernen Heiland hineintragen und vor seinen Gottvater hinstellen.
Dann fielen ihr die vielen, ihr neugierig zugewandten Gesichter auf, sah sie den Koglbauern und sein Weib im Kirchstuhl und daneben den Kilian, der sie spottend anlachte. Ein Schreck kam sie an. Vor allen Leuten stand sie hier und konnte nichts dagegen tun, daß sie gafften und sich einander vielsagende Blicke zuwarfen. Wenn sie sich nur klein machen könnte, oder in einer der hinteren Betbänke ducken dürfte!
Angst und Zorn kamen sie an, und sie stand, mit dem Palmheiland auf dem Arm, einsam unter der Menge. Das feierliche und wärmende Gefühl des Festes, bei dem sie, eine unter den vielen anderen Mädchen, teilhaben durfte, war verflogen unter der Neugierde, die sie umgab. Ihre Blicke irrten umher, den Gesichtern ausweichend, hetzten über den Altar und die Heiligenbilder an den Wänden und suchten den dunkelsten Winkel der Kirche.
Sie konnte die Nähe der Menschen, die sie anstarrten, statt zu beten, nicht mehr ertragen. Ein blasses Männergesicht mit dunklen Augen sah sie aus dem Hintergrund der Kirche an, und sie spürte, wie ihr die Röte der Verlegenheit in die Wangen stieg. In diesen Blicken lag keine Neugierde und kein Spott, sondern andächtige Bewunderung. Als sie wieder aufsah, war der Aldo Melano verschwunden, und auch die anderen strebten dem Ausgang zu. Der Gottesdienst war zu Ende. Der Palmgertenwald rauschte auf und schwankte zur Kirchentüre hinaus in den hellen Tag. Einige alte Männer nahmen die Kirchenfahnen aus den Haltern und trugen sie ins Freie, und der Pfarrer verließ den Altar. Sie folgte ihm zur Aufstellung der Prozession. Die Glocken fingen wieder zu summen und zu brummen an, und ihr Schall schwebte über Häuser und Menschen hinaus zu den Wiesen und Äckern. Darein mischte sich nun der schmetternde Klang der Dorfmusik, und wie im Traum folgte die Nanni den wehenden Kirchenfahnen zum feierlichen Umgang. Aufrecht und in sich gekehrt, trug sie den Palmheiland von der Hundsruckkapelle nach altem Herkommen dem wogenden Getümmel der Palmgerten voran, und das Ende des Umzuges bildete eine lange Schar von laut betenden Frauen und Männern.
Ein buntes und heiteres Farbengemisch von flatternden Bändern, rauschenden Palmwedeln, wehenden Fahnen und leuchtenden Festtagskleidern bewegte sich durch den Ort und wieder zur Kirche zurück. In langen Reihen flankierten die Bahnbauarbeiter den Weg der Prozession, und ihr besonderes Interesse galt den jungen Mädchen aus Grafling und den Dörfern des Winkels. Ein Ruck ging durch das Zuschauerspalier, als die Denk Nanni mit dem Palmheiland kam, die vor ihr gehenden Fahnenträger überragend. Beim Straßwirt hatte man dem Koglbauern einen Stuhl vor das Haus gesetzt, und neben ihm stand, die Hände vor dem Bauch gefaltet, seine Bäuerin. Spott und Ärger in seinem aufgeschwemmten roten Gesicht, fixierte er die Nanni, und diese senkte die Blicke, als sie diese Menschenansammlung beim Wirt passieren mußte.
Der Umgang war zu Ende, und, bei der Kirche angelangt, löste sich der Zug auf. Der Palmheiland war wieder an einem schönen Frühlingstag eingezogen in die fromme Pfarrei, und das festliche Halleluja verklang mit den letzten Glockenschlägen. Der Platz vor der Kirche leerte sich. Ratlos und verwirrt stand noch immer die Nanni vor der Kirchentüre, während sich die Dorfleute redend entfernten und die Buben sich auf dem Dorfplatz mit den langen Palmgerten eine Schlacht lieferten, um sich gegenseitig die bunten Bänder abzufischen. Lachend und scheltend wurden sie von den Erwachsenen auseinandergetrieben.
Der alte Denk riß schließlich die Nanni aus ihrem Sinnen.
„Stell das Roß Gottes derweilen in die Kirche. Wir gehen auf einen Trunk zum Wirt hinunter.“
„Ich tät lieber gleich heimgehen“, meinte sie schüchtern.