Für meine Mutter
Für meine Mutter
Eins
Ich heiße Blaise Fortune und ich bin Bürger der Französischen Republik. Das ist die reine Wahrheit.
An dem Tag, als die Zollbeamten mich hinten im Lastwagen fanden, war ich zwölf Jahre alt. Ich roch so schlecht wie Abdelmaliks Müllhäuschen, und ich konnte nur immer wieder diesen einen Satz sagen:
»Ichheißebläsfortün untichbinbürgaderfranzöschenrepublik dasisdiereinewaheit.«
Ich hatte fast all meine wertvollen Dinge unterwegs verloren. Zum Glück war mein Reisepass noch da. Gloria hatte ihn an der Tankstelle tief in meine Jackentasche gesteckt. Die Angaben darin besagten, dass ich am 28. Dezember 1985 in Mont-Saint-Michel geboren wurde, direkt am Ärmelkanal, Seite 16 im grünen Atlas. Da stand es, schwarz auf weiß. Das Problem war mein Foto: Es war herausgerissen und später wieder eingeklebt worden. Obwohl Monsieur Ha sich alle Mühe gegeben hatte, den offiziellen Stempel auf dem Foto wiederherzustellen, glaubten die Zollbeamten nicht, dass ich ein echter kleiner Franzose war. Ich hätte ihnen gerne alles erklärt, aber dafür war mein Französisch zu schlecht. Also zogen sie mich am Kragen meines Pullovers aus dem Lastwagen und nahmen mich mit.
So endete meine Kindheit: plötzlich und unerwartet, an der Autobahn A4, als mir klar wurde, dass Gloria verschwunden war und ich im Land der Menschenrechte und Charles Baudelaires ohne sie würde zurechtkommen müssen.
Danach verbrachte ich einige Zeit in einem Durchgangslager, und dann in einem Erstaufnahmezentrum. Frankreich war nichts als eine Folge von Mauern, Gittern und Türen. Ich schlief in Schlafsälen, die mich an den Dachboden des Matachine erinnerten, nur dass es kein Dachfenster gab, durch das man die Sterne sehen konnte. Ich war ganz allein auf der Welt. Trotzdem durfte ich nicht zulassen, dass die Verzweiflung meine Seele zerfraß, bis nichts mehr übrig war. Außerdem musste ich nach Mont-Saint-Michel, um meine Mutter zu finden. Das war leicht zu erklären, aber ich konnte die Sprache nicht. Ich konnte weder vom Schrecklichen Unglück berichten noch von den Widrigkeiten des Lebens, die mich hierhergeführt hatten. Und nicht davon erzählen zu können fühlte sich an, als würde ich ersticken.
Heute ist das anders. Im Lauf der Jahre habe ich die Namen der Dinge gelernt und kann mit Verben, Adjektiven, Konjunktionen und Konjugationen umgehen. In meiner Tasche steckt ein neuer Reisepass, der den Gesetzen dieser Welt entspricht.
Vor kurzem habe ich einen Brief von der französischen Botschaft in Tiflis bekommen. Darin stand, sie hätten vielleicht Glorias Spur gefunden. Darum sitze ich jetzt hier in der Abflughalle des Flughafens Roissy-Charles-de-Gaulle mit einem Koffer, einem schweren Herzen und der verrückten Hoffnung, sie endlich wiederzusehen. Aber zuerst muss ich meine Gedanken ordnen.
Also: Ich heiße Blaise Fortune. Ich bin Bürger der Französischen Republik, habe jedoch die ersten zwölf Jahre meines Lebens im Kaukasus verbracht, zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, Seite 78 in meinem grünen Atlas. Damals sprach ich russisch und die Leute nannten mich Koumaïl. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber eigentlich ist es ganz einfach. Ich muss nur meine Geschichte erzählen. Die ganze Geschichte. Und zwar der Reihe nach.
Zwei
Meine ältesten Erinnerungen reichen ins Jahr 1992 zurück, als Gloria und ich mit anderen Flüchtlingsfamilien im Großen Haus wohnen. Ich weiß nicht mehr, wie die Stadt heißt. Ich bin sieben Jahre alt. Es ist Winter, und wir haben keinen Strom mehr, auch keine Heizung. Es herrscht Krieg.
Es riecht nach Waschpulver und Essig.
Die Frauen haben sich in der Mitte des Hofes um einen riesigen Blechzuber versammelt, unter dem Holzscheite brennen. Ihre Arme sind nackt, die Haut bis zu den Ellbogen gerötet. Sie reden und lachen sehr laut. Eine Dampfwolke steigt auf und beschlägt die Fensterscheiben des Hauses, während die Wäsche im Schaum unseres Schmutzes kocht.
Etwas abseits, unter dem Vordach, sitzt der schreckliche Sergueï und schärft sein Rasiermesser. Ritsch, ratsch.
Er ruft uns, einen nach dem anderen.
»He, du! Komm her!«
Der schreckliche Sergueï kennt unsere Vornamen nicht. Es gibt zu viele Kinder im Haus, und das Gedächtnis des Säufers ist müde. Er ruft nur »Du!« und zeigt mit dem Rasiermesser auf einen von uns. Niemand würde wagen, ihm nicht zu gehorchen, solche Angst macht er uns mit seinem verdrehten Auge und der platten Nase.
Bevor er Friseur wurde, war der schreckliche Sergueï Boxer, angeblich der beste der ganzen Stadt. Bis zu dem Tag, an dem ein nervöser Armenier ihn auf die Bretter schickte. Das war vor dem Krieg. An diesem Tag hat Sergueï dem Tod ins Auge geblickt, hat Gloria gesagt. Darum ist er anders als die anderen und verdient unseren Respekt. Also laufe ich schnurstracks unter das Vordach, als er mit seinem Rasiermesser auf mich zeigt.
Ich setze mich auf den dreibeinigen Hocker, mit dem Rücken zu ihm, und neige mit klopfendem Herzen den Kopf nach hinten. Sergueïs Rasiermesser hinterlässt kalte Furchen auf meinem Schädel, er bearbeitet ihn systematisch, bis alle Haare gefallen sind und über die Pflastersteine tanzen. Dann taucht der schreckliche Sergueï ein Handtuch in das Fass mit Essig und rubbelt mir damit den Kopf ab. Es brennt. Ich heule. Er schubst mich vom Hocker.
»Lauf zu deiner Mama, Rotznase!«
Ich richte mich auf, geschoren und von einem diffusen Schmerz erfüllt, laufe zu Gloria und schmiege mich in ihren Rock. Sie ist nicht meine Mutter, das weiß ich wohl, aber ich habe nur sie.
»Großartig!«, ruft sie und fährt mir mit ihren schaumigen Händen über den Kopf.
Ich sehe sie an. Sie beugt sich zu mir hinunter und küsst mich auf die Wange. Dabei murmelt sie: »Sie sehen wirklich hervorragend aus, Monsieur Blaise.«
Ich lächle unter Tränen. Ich finde es so schön, wenn sie mich »Monsieur Blaise« nennt, auf Französisch, so dass es niemand versteht.
»Geh spielen, Koumaïl«, sagt sie laut. »Ich bin beschäftigt, das siehst du doch.«
Ich wische mir über die Augen und laufe zu den übrigen geschorenen Kindern, die im Hof spielen.
Das Waschpulver, das Lachen, das Rasiermesser, der Essig … So verläuft unser ständiger Kampf gegen Läuse, Flöhe und alle anderen Parasiten, einschließlich den laut Gloria fürchterlichsten: die Verzweiflung. Dieser Schmarotzer, sagt sie, ist gerissener und gefährlicher als der Armenier, der Sergueï verprügelt hat. Er ist unsichtbar und schleicht sich überall ein. Wenn du nichts dagegen unternimmst, frisst er deine Seele auf, bis nichts mehr übrig ist. Das macht mir Sorgen: Woran merkt man, dass man von Verzweiflung befallen ist, wenn man sie nicht einmal sehen kann? Was tut man dagegen, wenn nicht einmal das Rasiermesser hilft? Gloria drückt mich an ihre Brust. Sie erklärt mir, dass sie ein Gegenmittel hat. Solange ich in ihrer Nähe bleibe, wird mir nichts Schlimmes passieren, o. k.?
»O. k.«
Drei
Das Große Haus besteht aus drei Gebäuden, die u-förmig um den Hof herumstehen. Unser Zimmer liegt im ersten Stock.
Von einer Wand zur anderen sind es sechs Schritte, wenn ich um den Holzofen herumgehe. Die Tapete löst sich von den Wänden und die dahinterliegende Farbe bröckelt ebenfalls ab. Wenn ich mit dem Fingernagel am Putz kratze, kommen die Ziegelsteine zum Vorschein. Das Große Haus ist von Rissen durchzogen und von Feuchtigkeit durchsetzt, die aus dem Boden aufsteigt, weil das Gebäude nah am Fluss steht. Es ist in so schlechtem Zustand, dass es abgerissen werden sollte, aber glücklicherweise hat der Krieg die Bulldozer davon abgehalten. Jetzt ist es unser Zufluchtsort, ein gutes Versteck, das uns vor dem Wind und der Miliz schützt.
Den Wind kenne ich gut. Er saust so schnell von den Bergen hinab wie eine Lawine, pfeift unter den Türen hindurch und lässt einen zu Eis gefrieren. Was die Miliz ist, weiß ich dagegen nicht so genau. Ich weiß nur, dass sie mir mehr Angst macht als das verdrehte Auge des schrecklichen Sergueï und dass jeder hier einen Grund hat, sie zu fürchten. Darum haben wir einen Wachdienst eingerichtet. Nacht für Nacht bewachen wir in Vierergruppen abwechselnd den Eingang des Großen Hauses. Die Kleinen, so wie ich, begleiten die Älteren, wenn sie möchten.
Die anderen haben es mir so erklärt: Wenn ich Männer mit Stiefeln näher kommen sehe, die Lederjacken tragen und Knüppel dabeihaben, renne ich in den Hof und läute wie ein Verrückter die Glocke, die unter dem Vordach hängt.
Es gibt noch drei Fälle, in denen man wie ein Verrückter die Glocke läuten muss:
– wenn das Große Haus brennt,
– wenn das Große Haus einstürzt,
– wenn der Fluss Psezkaya über die Ufer tritt.
Und jeder, der sich ohne triftigen Grund an der Glocke zu schaffen macht, wird augenblicklich aus dem Haus gejagt, ist das klar?
Wenn ich von Gloria wissen will, was die Miliz denn macht, wenn sie uns erwischt, wird ihr Gesicht hart, und ich bereue augenblicklich meine Frage.
»Ein siebenjähriger Junge braucht nicht alles zu wissen. Halt dich einfach an die Regeln, Koumaïl.«
Ich sage auf Französisch ›o. k.‹, so wie sie es mir beigebracht hat, und gehe mit den anderen im Treppenhaus spielen. Mal ist es unsere Burg, mal unser Kriegsschiff, je nachdem, was uns gerade in den Sinn kommt.
Zu dieser Zeit heißen meine Spielkameraden Emil, Baksa, Rebeka, Tasmin und Faïna. Sie sind mager, verlaust und wendig wie Aale. Einige sprechen Russisch, so wie ich, andere nicht. Aber wir brauchen keine Worte, um uns zu verstehen. Wir laufen so lange, bis wir keine Luft mehr bekommen. Wir springen die Treppen hinab, wir verstecken uns in den Toiletten oder hinter den Laken, die auf dem Dach trocknen, um Madame Hanska, der alten Schreckschraube, Angst einzujagen. Unser Lachen fährt von oben bis unten durch das Große Haus, schneller als der Wind.
Gloria sagt, sie hört mich gern lachen, das sei das Wichtigste auf der Welt.
Ich höre sie auch gern lachen, doch noch öfter hustet Gloria, und das mag ich überhaupt nicht. Plötzlich wird sie ganz lila, bekommt keine Luft mehr, und es klingt, als würde ein Hund in ihrer Brust bellen. Natürlich bin ich kein Arzt, aber ich kann mir denken, dass dieser Husten alles andere als gut ist. Was ist, wenn Gloria stirbt?
»Papperlapapp!«, ruft sie, sobald der Anfall vorüber ist, und fängt an zu lachen. »Machen Sie doch nicht so ein Beerdigungsgesicht, Monsieur Blaise! Ich bin stark wie ein Baum, das wissen Sie doch. Und jetzt lauf los, Koumaïl! Hol Wasser, wenn du heute Abend etwas essen willst!«
Ich renne mit dem Eimer zum Wasserrohr im Hof. Ich helfe immer gern, denn ich will so schnell wie möglich erwachsen werden. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass die Welt, in der wir leben, für die Kleinen und Schwachen gefährlich ist. Ich träume von dem Tag, an dem meine Beine lang genug sind, um sehr schnell zu laufen, und an dem ich kräftig genug bin, um ganz allein den Sack aus khakifarbenem Stoff zu tragen, den Gloria unser ›Marschgepäck‹ nennt.
Seit wir im Großen Haus leben, liegt das Marschgepäck auf einem Regalbrett über der Tür. Momentan enthält es nur die Blechkiste, in der Gloria ihre Geheimnisse aufbewahrt. Ich darf sie nicht öffnen.
Der Rest liegt überall im Zimmer herum: unsere Kleider, mein grüner Atlas, die Decken, das Küchengeschirr, die Geige ohne Saiten, das Radio und Vassilis Samowar zum Teekochen. Wenn eines Tages die Glocke läutet, weiß ich, was ich zu tun habe: auf den Stuhl steigen, den Sack herunterholen und so schnell wie möglich unsere Sachen hineinpacken. Manchmal übe ich im Kopf die notwendigen Bewegungen – der Stuhl, der Sack, unsere Sachen – und stelle mir vor, wie sich das Große Haus plötzlich leert, ein bisschen wie eine Badewanne, aus der man den Stöpsel zieht. Ich frage Gloria, was wir dann tun werden. Sie zuckt mit den Schultern.
»Was wir immer getan haben, Koumaïl. Immer weitergehen, neuen Horizonten entgegen.«
»O. k.«
Im Großen Haus hat jeder seine Geschichten zu erzählen. Sie handeln von Erdbeben und eingestürzten Bergwerken, von Gefängnisaufenthalten, Pokerspielen in Handelshäfen, Geburten, Trennungen und Wiedersehen. Selbst der alte Max erzählt jedem, wie er bei seiner Arbeit im Schlachthaus drei Finger verloren hat. Alles ist neu für mich, ich stelle pausenlos Fragen und lerne schnell, aber keine Geschichte fesselt mich so wie meine eigene, wenn Gloria sie mir abends vor dem Einschlafen zuflüstert.
»Schon wieder?«, fragt sie und legt ein Scheit in den Holzofen.
»Ja, schon wieder! Aber lass nichts aus!«
Sie setzt sich aufs Bett. Ihr Gesicht zittert im Schein des Ofens. Sie zieht mir die Decke aus Schafsfell bis unter die Nase und fängt an zu erzählen.
»Es war am Ende des Sommers, und ich lebte noch beim alten Vassili, meinem Vater.«
»Der, der dir den Samowar geschenkt hat?«
»Ja, Koumaïl. Damals besaß Vassili den schönsten Obstgarten des ganzen Kaukasus. Mein Gott, den hättest du sehen sollen! An den Bäumen wuchsen Äpfel, Birnen, Pfirsiche und Aprikosen. So weit das Auge reichte, nichts als Bäume! Auf der einen Seite lag der Fluss und auf der anderen lagen die Bahngleise …«
»Und dort bist du mit ZemZem spazieren gegangen!«
Glorias Augen funkeln, als sie sagt: »Warte, nicht so schnell. Du weißt doch, dass ich immer alles der Reihe nach erzähle.«
Ich nehme ihre Hand und sage nichts mehr. Ich höre mir meine Geschichte an. Der Reihe nach.
Vier
Der alte Vassili hat einen großen, spitzen Schnurrbart und ein Paar Hosenträger, das fest an seinem Hosenbund sitzt. Wenn er lächelt, kitzelt ihn sein Schnurrbart an den Ohren, und wenn er die Arme in die Luft wirft, ziehen die Hosenträger seine Hose so hoch, dass man seine behaarten Waden sehen kann.
Vassili lächelt nicht oft, nein, das nicht. Dafür wirft er mehrmals täglich die Arme in die Luft und macht ein verzweifeltes Gesicht wegen all der Widrigkeiten des Lebens. Er schreit die ganze Welt an und besonders seine Angestellten.
»Beeilt euch, ihr Flaschen! Vorsichtig mit den Pfirsichen! Sachte mit den Aprikosen! Und repariert endlich diesen Lastwagen, bevor euch meine Wut trifft wie ein Blitz!«
Die Angestellten arbeiten eifrig bis zum nächsten Ausbruch, und Vassili zwirbelt seinen Schnurrbart und massiert sich den von Geschwüren durchsetzten Magen.
Zum Glück hat er auch eine wunderbare Frau, Liuba, die, so sagt er, wie Honig auf der rauen Zunge des Lebens ist. Sie hat ihm sechs Kinder geschenkt. Sechs! Darunter ein einziges Mädchen, Gloria.
Abends versammelt sich die Familie in ihrem Holzhaus, um zu singen, Fleischpastete zu essen und Tee aus dem Samowar zu trinken. Alle setzen sich im Kreis auf die Teppiche, die Jüngeren zwischen die Beine der Mutter, die Älteren um Vassili herum. Gloria sitzt immer zu seiner Linken.
»Bald wird alles, was ich besitze, euch gehören«, erklärt Vassili seinen Söhnen. »Der fruchtbare Boden, seine wunderbaren Früchte, aber auch die Scherereien damit. Ich vermache euch alles! Was für eine Erlösung! Dann ruhe ich mich aus, ihr werdet kein böses Wort mehr von mir hören, und ich habe endlich keine Magenschmerzen mehr!«
Er wendet sich an Gloria.
»Bei dir ist es anders. Du musst dich entscheiden.«
Gloria runzelt die Stirn und befragt ihren Vater. Was entscheiden? Warum soll es bei ihr anders sein?
»Du bist meine einzige Tochter«, antwortet Vassili. »Und wenn du es wünschst, wird dieses Haus dein Reich sein. Du wirst hier das Sagen haben, ohne Wenn und Aber. Aber … weißt du, ich kenne dich! Und ich glaube, dass du fortgehen wirst.«
Gloria sieht ihre Brüder an. Fotia und Oleg mit ihren breiten Schultern. Anatoli, der hinter den dicken Gläsern seiner Brille hervorschielt. Iefrem, kraushaariger als ein Lamm, und Dobromir mit seinem Engelslächeln. Sie sieht ihre Mutter Liuba an, die ihr Gesicht hinter ihren wogenden schwarzen Haaren versteckt, und die Möbel im Haus. Die Teppiche und die Lampen, die helle Kreise an die Wände werfen. Sie hört den Obstgarten draußen leise im nächtlichen Wind seufzen. Warum sollte ihr Platz nicht in diesem Paradies sein?
»Du täuschst dich, Vassili. Ich will nicht fortgehen!«
Um es ihm zu beweisen, eifert Gloria ihren Brüder nach. Jeden Morgen zieht sie eine lange Hose an, bindet sich ein Tuch um die Haare und geht zum Arbeiten in den Obstgarten. Sie lernt, wie man die Bäume pflegt, wie man sie vor Schädlingen schützt und Netze über ihre Äste spannt, damit die Vögel die Früchte nicht fressen können. Zur Erntezeit ist sie die Erste auf der Leiter, mit einer Tasche um den Hals, und die Erste, die wieder hinunterklettert und zum Lieferwagen läuft, um kiloweise Äpfel in den Kübel zu schütten.
Sie wächst. Sie wird genauso kräftig wie Fotia, ihr ältester Bruder. Und genauso zäh wie Oleg, der zweitälteste.
Mit sechzehn lernt sie, einen Lieferwagen zu fahren.
Mit siebzehn kann sie Motoren reparieren und Kolben schmieren wie jeder andere von Vassilis Angestellten auch. Abends lässt sie sich zur Linken ihres Vaters nieder, die Hände schwarz vom Schmieröl, die Haare gelöst, schön wie eine wilde Blume. Sie wiederholt: »Ich will nicht fortgehen. Warum sagst du, ich sei anders?«
Vassili lässt seine Hosenträger schnalzen. Das bedeutet, dass er keine Lust hat zu antworten.
Doch eines Tages versteht Gloria, warum sie anders ist als ihre Brüder. Es ist der Tag, an dem sie ZemZem trifft, ganz hinten in der letzten Reihe der Aprikosenbäume, bei den Bahngleisen.
ZemZem kommt mit dem Lieferwagen an, zusammen mit den anderen Saisonarbeitern, die Vassili eingestellt hat. Es sind viele, sie sind jung, arm und staubig. Aber ZemZem hat noch etwas anderes. Es ist schwer zu beschreiben … Es ist, als würde eine Sonne über seinem Kopf leuchten. Natürlich sieht Gloria nur ihn zwischen den anderen, und bei seinem Anblick fällt sie fast von der Leiter.
Mittags mischt sie sich nicht wie gewöhnlich unter die anderen Pflücker. Sie muss sich bewegen, nachdenken, und außerdem hat sie keinen Hunger. Sie läuft an den Bahngleisen entlang.
Als sie sich umdreht, steht ZemZem hinter ihr.
»Ich habe gesehen, wie du weggegangen bist, ohne Wasser mitzunehmen«, sagt er. »Du solltest nicht in der Sonne herumlaufen, ohne zu trinken. Nimm.«
Er hält ihr seine Trinkflasche hin.
Gloria lässt sich auf die Bahngleise sinken. Sie ist plötzlich ganz benommen.
»Siehst du«, lächelt ZemZem. »Du hast schon gar keine Kraft mehr.«
Gloria trinkt das Wasser. Ihre Wangen glühen.
»Ich habe dich arbeiten sehen«, fährt er fort. »Sehr beeindruckend! Du pflückst schneller als alle anderen.«
Gloria bekommt kein einziges Wort heraus. So ist das also, wenn man verliebt ist. Doch auf einmal beben die Schienen.
»Der Zug!«
Sie stößt ZemZem auf den Randstreifen, und dort bleiben sie liegen, aneinandergepresst und wie versteinert.
Als der Zug vorbeifährt, werden sie von einem heißen, metallischen Luftzug erfasst. Glorias Herz schlägt im Rhythmus des Zuges, tadadadum, tadadadum. Es ist der schönste Tag ihrer Jugend.
Von da an gehen sie jeden Mittag dorthin. Sie balancieren auf den Schienen, tun so, als wären sie Seiltänzer, und schließen Wetten auf die Pünktlichkeit der Eisenbahn ab. Es ist ein alter, eigensinniger Zug, aber meistens hören sie ihn irgendwann um die Mittagsstunde heranrollen.
So kommt es, dass sie am Ende der Ernte, nachdem sie sich bereits ungefähr hundertsiebenundzwanzig Mal geküsst haben, das Schreckliche Unglück miterleben …
Fünf
Wenn Gloria an dieser Stelle der Geschichte angekommen ist, knie ich im Bett, habe die Decke abgeschüttelt und mit ihr alle Müdigkeit. Ich schlage mit den Fäusten auf die Matratze.
»Lass nichts aus, hörst du? Die Verletzten, die zerfetzten Waggons, das Feuer, alles!«
Gloria sieht mich streng an, und jedes Mal muss ich mich beruhigen, mich wieder brav hinlegen und darauf warten, dass sie weitererzählt.
Ich zähle bis fünfzig und betrachte dabei die abgelöste Tapete, als würde ich mich langweilen, und wenn ich wieder ruhig atme, sagt sie: »Es war ZemZem, der den Zug zuerst gehört hat.«
Ich unterbreche sie sofort. »Er hatte ein gutes Gehör, stimmt’s?«
»Ein sehr gutes, Koumaïl. Er kam von weit her und stammte von einem Volk von Jägern ab, und sein Vater war …«
»… das Oberhaupt des Dorfes! Ich weiß! Er konnte sogar die Toten flüstern hören …«
»Das stimmt. Darum hat ZemZem auch lange vor mir das Quietschen und Pfeifen des Zuges gehört. Er hat fest meine Hand gedrückt. Ihm war klar, dass etwas nicht in Ordnung war. Wir sind die Gleise entlanggerannt und plötzlich …
»Ein lautes Getöse!«
»Ein unvorstellbar lautes Getöse, Koumaïl. Als wenn etwas explodiert und alles auseinanderreißt. Ein Geräusch, das einem die Haare zu Berge stehen lässt … Dann haben wir gesehen, wie sich die Rauchwolke erhob. Als wir dort angekommen sind, ganz außer Atem und schweißgebadet …«
»Gleich hinter der Kurve, oder?«
»Ja, an der Stelle, wo die Birnbäume wuchsen. Da haben wir die brennende Lokomotive gesehen. Die Waggons waren aus den Schienen gesprungen und umgekippt wie Dominosteine. Menschen schrien, eingeklemmt unter den Trümmern. Die Überlebenden saßen verstört auf der Erde, während das Feuer an den Bäumen leckte.«
»Und die Leute haben gebrannt! Hast du sie gesehen?«
»Nein, Koumaïl, ich habe sie nicht gesehen. Aber allein der Geruch war schon unerträglich.«
»Wie gegrilltes Schwein!«
»Schlimmer. Ich kann diesen Geruch nicht beschreiben. ZemZem sagte, ich solle den Verletzten helfen, und rannte zum Haus meines Vaters, um Verstärkung zu holen.«
»Und natürlich den Löschwagen!«
Gloria nickt. Ich vergesse niemals ein Detail, das weiß sie. Ich könnte diese Geschichte selbst erzählen, als wäre ich dabei gewesen. Aber ich höre lieber zu.
»Ich bin zu den letzten Waggons gerannt und habe zwei Männern geholfen, ein Stück Holz hochzuheben, unter dem die Beine eines alten Mannes eingeklemmt waren. Um uns herum riefen andere Leute um Hilfe, aber wir waren zu wenige. Ich schaffte es, zwei Kinder durch ein Loch im fünften Waggon zu ziehen. Und in diesem Moment hörte ich die Rufe einer Frau.«
Ich schreie mit schriller Stimme und versuche, den französischen Akzent nachzuahmen.
»Hilfehelfensimir!«
»Genau. Hilfe! Helfen Sie mir! Ich habe mich durch das Loch gezwängt …«
Ich betrachte Gloria und lache. »Damals warst du noch spindeldürr! Darum hast du hindurchgepasst, stimmt’s?«
Gloria kneift mich in die Wange. Sie tut so, als wäre sie beleidigt, aber ich weiß, dass sie mir nicht böse ist.
»Ich bin dicker geworden, da gebe ich Ihnen Recht, Monsieur Blaise … Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir dieses Detail überspringen? Ich habe mich also in den Waggon gezwängt und bin zwischen den verbogenen Sitzen hindurch zu der Frau gekrochen. Sie lag zusammengerollt in einer Ecke, auf ihrem Gesicht war Blut.«