Michel
Lauricella
morpho
Anatomie für Künstler
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Stiebner Verlag
erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-8307-1438-5)
Die französischsprachige Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel „Morpho. Anatomie
artistique“ bei Eyrolles. (5. Auflage 2017)
© 2014, Groupe Eyrolles
61, boulevard Saint-Germain
75240 Paris Cedex 05
www.editions-eyrolles.com
Alle Zeichnungen stammen vom Autor, ausgenommen S. 7, 8 und 10.
Aus dem Französischen von der MCS Schabert GmbH, München,
www.mcs-schabert.de, unter Mitarbeit von Katrin Marburger (Übersetzung).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© 2017 Stiebner Verlag GmbH, Grünwald
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
www.stiebner.com
ISBN: 978-3-8307-3021-7
5
Vorwort
7
Einführung
31
Kopf & Hals
53
Rumpf
79
Schulter & Oberarm
137
Obere Extremität
195
Untere Extremität
257
Gesamtansichten
320
Anhang (Tabellen Muskulatur und
Skelett, Bibliografie)
Inhalt
4
Morpho
Dieses Buch entstand im Atelier Fabrica 114,
in dem Morphologiekurse für Kunststuden-
ten stattfinden. Es steht in der Tradition der
École nationale supérieure des beaux-arts
de Paris (ENSBA), und zwar der Lehre von
François Fontaine, Jean-François Debord
und Philippe Comar, dem heutigen Lei-
ter der Abteilung für Morphologie an der
ENSBA. Diese drei Künstler, deren Talente
sich ergänzen, haben abwechselnd eine
ganze Generation von Künstlern – mich
eingeschlossen – ihre Vision des Körpers
gelehrt. Zwischen einem technischeren,
mechanischeren und einem expressiveren
künstlerischeren Ansatz konnten wir so
unseren persönlichen Stil entwickeln. An
dieser Stelle möchte ich allen dreien auf-
richtig danken.
Auch der Name eines weiteren Profes-
sors der ENSBA soll hier genannt werden:
Paul Richer (1849–1933), dessen Nouvelle
anatomie artistique (3 Bände, erschienen
zwischen 1906 und 1921) ein Standardwerk
bleibt. Richers Werke, Bücher und Skulptu-
ren waren ein bedeutender Teil der Samm-
lung der ENSBA, die für uns Studenten frei
zugänglich war. Ich werde ihn in diesem
Werk mehrfach zitieren.
Zuletzt möchte ich den großartigen Mus-
kelmann in Bronze von Antoine Houdon
(1741–1828) würdigen, dessen Ausstrahlung
schon viele Künstler inspiriert hat.
Jean-Antoine Houdon, Muskel-
mann (1792), Galerie Huguier,
École nationale supérieure des
beaux-arts de Paris.
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Die Lehre der Morphologie für Künstler
stützt sich auf die Prinzipien des Zeichnens
nach dem lebenden Modell: Komposition
(Auswahl der Formate, Bildausschnitte,
ausgefüllte und freie Flächen), Proportio-
nen (Verhältnis der einzelnen Partien zuei-
nander, vor allem der Details zum Ganzen)
und Achsen (Ausrichtung der einzelnen
Referenzpunkte an einer Vertikalen, z. B.
Kopf und Füße bei einer stehenden Pose).
Anatomische Kenntnisse können zunächst
von Nachteil sein: Sie verleiten zur Konzent-
ration auf Details zuungunsten der Gesamt-
ansicht und dazu, lediglich bekannte For-
men zu zeichnen. Daher empfehle ich,
sich parallel dazu im raschen Skizzieren zu
üben und stets im Blick zu behalten, dass
die Kenntnis der Formen relativ ist und das
Geheimnis des Körpers nicht enthüllt.
Die Grundprinzipien des Zeichnens und der
Morphologie sollten stets im Dienst Ihres
persönlichen Stiles stehen, der durch Ihre
persönlichen Erfahrungen, Ihr Weltbild und
Ihr Einfühlungsvermögen geprägt wird.
Diese Sammlung ist in sechs Partien unter-
teilt: Kopf und Hals, Rumpf, Schulter und
Oberarm, obere Extremität, untere Ext-
remität und Gesamtsichten. Doch der
menschliche Körper lässt sich nicht in
scharf abgegrenzte Bereiche aufteilen,
weder hinsichtlich der Formen noch der
Funktionen.
Vorwort
6
Morpho
So reicht der Trapezmuskel (10) vom
Schädel bis zur Rückenmitte und von dort
aus bis zum Schulterdach und ist daher
größtenteils mit der Bewegung der Arme
verbunden. Auch wenn er die Bereiche
Nacken, Schultern und Rücken abdeckt,
kann man ihn funktionell als Armmuskel
bezeichnen.
Der Körper soll hier aus möglichst vielen
Blickwinkeln dreidimensional dargestellt
werden; unterschiedliche, mehr oder weni-
ger detaillierte schematische Zeichnungen
und Écorchés sollen Ihnen helfen, Ihre Aus-
drucksmöglichkeiten zu variieren.
Die Buchstaben und Ziffern auf den Zeich-
nungen beziehen sich auf die beiden Tabel-
len im Anhang.
Ich hoffe, dass Sie durch dieses Buch mit
den Formen des menschlichen Körpers
vertraut werden, sodass Sie sich voll und
ganz auf eine freie, ganz persönliche Dar-
stellungsweise konzentrieren können. Die
Unterscheidung zwischen den verschiede-
nen Referenzpunkten (hart, weich, zusam-
mengezogen, angespannt, locker) dürfte
Ihre Strichführung verfeinern, sodass sie
nuancierter und feinfühliger wird. Sich
die Formen einzuprägen, erleichtert die
Anfertigung von Zeichnungen aus dem
Gedächtnis: So können Sie Ihre Figuren
im Raum und in der Bewegung darstellen,
oder bekommen zumindest ein besseres
Gespür für den eigenen Körper.
Dieses Buch möchte Sie beim Zeichnenler-
nen unterstützen, kann aber aufgrund der
Komplexität der Materie kein Ersatz für das
Zeichnen nach Modell in einem Atelier oder
für die Anleitung durch einen Lehrer sein.
Mich persönlich hat diese Auseinander-
setzung mit der menschlichen Gestalt zu
einer erneuten Beschäftigung mit allen
natürlichen Formen geführt, und sie weckt
immer wieder aufs Neue meine Neugier
und meine Faszination.
10
7
Das Écorché: ein Genre
Ab der Renaissance arbeiteten Künstler
gemeinsam an der Erstellung anatomischer
Werke, die für Kunstliebhaber und Medizi-
ner bestimmt waren. Da Leonardo da Vinci
(1452–1519) seine Abhandlung nicht vollen-
dete, gilt die Fabrica von Andreas Vesalius
(1514–1564) als Beginn einer langen Tradi-
tion, die bis heute andauert.
Durch die sorgfältige Darstellung werden
die Écorchés (Muskelfiguren, „Enthäu-
tete“), die zunächst einfache anatomische
Studien waren, zu etwas Eigenständigem,
einem eigenen Genre wie der Akt oder das
Landschaftsbild. Auch dieses Genre hat
eine Geschichte, seine Regeln und Kon-
ventionen, mit denen man spielen und sich
ausdrücken kann.
Einleitung
„Diese Skelette oder Muskelfiguren verblüffen, da sie sich wie lebendige Menschen
verhalten.“
Roger Caillois, Au cœur du fantastique, Gallimard, Paris, 1965.
André Vésale (1514–1564) und Jan Steven Van
Calcar (1499–1546), L’Epitome, 1543.
Bernhard Siegfried Albinus (1697–1770) und
Jan Wandelaar (1690–1759), Tabulae Sceleti et
Musculorum Corporis Humani (1747).
8
Morpho
Die Figuren mit ihren bloßgelegten Kör-
pern, wahre Vermittler zwischen Leben
und Tod, faszinieren. Diese Wirkung ent-
ging auch den Surrealisten nicht.
Die Morphologie
Für einen weniger mehr synthetischen und
künstlerischen Ansatz bevorzugte Paul
Richer bereits 1890 den Begriff „Morpho-
logie“ anstelle von „Anatomie“.
Es werden aus der Anatomie also lediglich
die formgebenden Elemente übernom-
men (bestimmte Muskelgruppen werden
notfalls vereinfacht und zusammengelegt
dargestellt), um die unter der Haut vor-
herrschenden anatomischen Elemente mit
den Konturen Ihrer Zeichnung in Einklang
zu bringen. Die Dicke der Haut wird nicht
mehr berücksichtigt, und je nach Körper-
region sowie den morphologischen Eigen-
schaften Ihres Modells wird in die Konturen
ein Knochen-, Muskel- oder Fettelement
eingefügt.
Dem Körperfett soll hier ebensolche
Bedeutung beigemessen werden wie Kno-
chen und Muskeln, denn im Gegensatz zu
diesen wächst es direkt unter der Haut, und
das ohne scharf umrissene Grenzen. Seine
daher etwas willkürlichen Formen sollen
dennoch etwas eingegrenzt werden, und
zur Vereinfachung des Zeichnens finden Sie
im Buch einige schematische Skizzen.
Jacques Fabien Gautier d’Agoty (1716–1785), Myologie com-
plète en couleur et grandeur naturelle (1746).
(Die Surrealisten nannten dieses Werk „Ange anatomique“
[Anatomischer Engel].)