Peter Härtling (1933–2017), in Chemnitz geboren, lebte bis zu seinem Tod in Mörfelden-Walldorf/Hessen. Er ist einer der vielseitigsten und renommiertesten Autoren Deutschlands – er veröffentlichte Lyrik, Erzählungen, Essays und Romane – für Kinder und Erwachsene. Seine Bücher für Kinder erscheinen bei Beltz & Gelberg, darunter die berühmten Romane Das war der Hirbel, Oma, Ben liebt Anna und zuletzt Djadi, Flüchtlingsjunge. Sein literarisches Gesamtwerk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter auch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. »Härtling ist unzweifelhaft eine Schriftsteller- Persönlichkeit, von der die deutschsprachige Kinderliteratur der letzten 30 Jahre maßgeblich geprägt wurde«, so die Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis in ihrer Begründung.

Sechs und Einer

Er kam, von Jan begleitet, unerwartet für die Wohngemeinschaft. Wie vom Himmel gefallen. Für sein Alter war er zu klein, zu dünn, krummbeinig wie ein Cowboy und mit einem angestrengten Gesicht, in dem große schwarze Augen steckten. Jan hielt ihn an der Hand. Die anderen in der Wohnküche kreisten die beiden ein, musterten sie verblüfft.

Was soll das?, fragte Gisela ein wenig zu schroff. Wer ist das?

Der Junge schaute in die Runde. Jeder, den sein Blick traf, schaute weg.

Was hast du mit ihm vor?, fragte Detlef.

Ich habe ihn in der Jugendhilfe kennengelernt, sagte Jan, er war da ziemlich allein und ich habe ihn fürs Erste mitgenommen. Auf alle Fälle muss er sich erst einmal an uns gewöhnen.

Wie heißt du?, fragte Dorothea, die keine Unruhe in der Wohngemeinschaft aus der Ruhe bringen konnte.

Er versteht dich nicht. Jan zog den Jungen noch näher an sich, als müsste er ihn vor blöden Fragen schützen.

Weißt du es? Dorothea ging in die Hocke, um dem Kind näher zu sein. Ich habe den Eindruck, er versteht uns ganz gut.

Möglich. Jan versuchte, sie zu überreden: Er ist mutterseelenallein angekommen. Begleitet von einem alten Mann, der ihn schnell loswerden wollte. Er hat seine Eltern verloren. Von Geschwistern keine Spur. Ich nehme an, die andern haben ihn aus Mitleid mitgeschleppt.

Wenn man da noch von Mitleid reden kann, meinte Wladimir.

So wie ich die Leute verstanden habe, fuhr Jan fort, heißt der Junge Djadi.

Djadi? Dorothea musterte nachdenklich den Jungen.

Die Leute, die ihn mitbrachten, kommen alle aus Homs. Sie erzählten, Djadi sei plötzlich da gewesen. Deswegen wüssten sie über seine Familie nicht Bescheid. Er ist schon eine Weile in Deutschland.

Djadi schaute hoch zu seinem Beschützer.

Gisela forderte sie auf, sich an den Tisch zu setzen. Hat der Junge überhaupt schon etwas zu essen bekommen?

Alle nahmen Platz, doch Jan und Djadi blieben stehen. Das brachte Wladi auf: Verflixt, setzt euch doch.

Jan schüttelte den Kopf: Nee. Zuerst einmal eine für unsere Wohngemeinschaft notwendige Prozedur. Da Djadi uns nicht kennt und wir sowieso nichts von ihm wissen, stelle ich uns ihm erst mal vor.

Bist du sicher? Er versteht doch nichts. Die ganze Tischgesellschaft redete durcheinander.

Versuchen wir’s. Jan drehte sich dem Jungen zu, sodass sie sich gegenüberstanden. Du, er zeigte auf das Kind, du bist Djadi. Er klopfte sich auf die Brust: Ich, ich bin Jan. Er zeigte auf den Jungen: Djadi! Zeigte auf sich: Jan! Der Junge blieb ernst, nickte und sagte zögernd: Jan. Jan klatschte in die Hände: Bravo, Djadi. Danach trat er mit Djadi an den Tisch zu Wladi und Kordula: Die beiden hier, diese vom Leben abgerundeten, sind Wladi und Kordula. Wladi war, das ist schon lange her, Lehrer. Wladi lachte freundlich, sein gerötetes Gesicht glühte. Er lehnte sich gegen Kordula: Das ist meine Frau, Kordula. Sie war wie ich Lehrerin und ist es noch.

Jan ging einen Schritt auf Dorothea zu: Das ist meine Dorothea. Wir leben zusammen. Sie ist Psychologin. Sie macht manchmal Kinder wie dich gesund.

Dorothea lachte, zeigte auf sich und sagte: Doro. Die bin ich.

Über Djadis Gesicht huschte ein Lächeln. Es war nicht sicher, ob es ein flüchtiger Schatten oder ein Streifen Licht war.

Und die! Jan kauerte sich neben Djadi, grinste, drehte sich mühsam um und wies auf Detlef und Gisela Knorr. Die beiden heißen wie Brühwürfel, sind aber schwer löslich. Sie betätigen sich als Steuerberater und sind das einzig öffentlich zugängliche Büro in dieser Wohnung. Gisela und Detlef nickten eifrig und riefen zweistimmig: Hallo, Djadi. Sie schafften es, dass Djadi ein Echo gab und leise antwortete: Ich, Djadi.

Nach allen Freundlichkeiten wagte Gisela Jan zu fragen: Und? Sollen wir etwa gemeinsam die Eltern für diesen Knaben sein, Mütter und Väter? Hast du sie noch alle, Jan?

Jan zog einen Stuhl an den Tisch und schob Djadi zu ihm.

Wladi strich eine Semmel mit Butter und Honig und schubste sie auf einem Teller quer über den Tisch zu Djadi. Iss, forderte er ihn auf. Der Junge biss in die Semmel und Wladi triumphierte: Er hat mich verstanden.

Jan setzte sich neben Djadi, lachte trocken auf: Er hat die Semmel verstanden. Nicht dich.

Es klingelte, jemand klopfte an die Tür.

Ist das einer eurer Mandanten?, fragte Wladi Detlef und Gisela.

Gisela schüttelte energisch den Kopf: Wir haben keinen Termin.

Noch einmal war der Trommelwirbel an der Wohnungstür zu hören. Es schien ein Signal für Djadi zu sein. Der saß aufrecht auf dem Stuhl, den Mund geöffnet, als falle es ihm schwer zu atmen. Fragend schaute er Jan an, sah sich danach im Zimmer um, sprang auf, rannte zum Sofa an der Wand und verschwand darunter.

Fassungslos sahen die sechs am Tisch zu.

Weg ist er, stellte Gisela fest.

Ich schau mal, wer dem Jungen solche Angst eingejagt hat. Jan stand auf, sie hörten ihn dann im Flur mit jemandem sprechen. Es hört sich an wie Frau Besermann aus dem Parterre, flüsterte Kordula. Wahrscheinlich stört sie schon wieder mein Fahrrad im Hauseingang.

Wir gehen erst einmal ins Büro. Detlef und Gisela verschwanden.

Soll ich ihm noch eine Semmel vor das Sofa legen, gewissermaßen als Köder?, fragte Wladi.

Warte noch ein bisschen, bat Jan, der zurückgekehrt war und erklärte, dass Frau Besermann nur ein Päckchen abgegeben habe. Dann redeten Jan und Wladi über Kriege, die heimatlos und Flüchtlinge machen.

Ich könnte heulen, seufzte Wladi.

Das lässt du bleiben, bremste ihn Dorothea.

Ich könnte mich aufs Sofa legen, meinte Wladi, da fühlte er sich beschützt.

Jan hatte Bedenken: Es könnte sich unter deinem Gewicht senken, Wladi, und der Junge müsste noch einen Schrecken ausstehen. Dann überraschte er alle, indem er aufstand: Gehen wir. Er wird rauskommen und sich melden.

Aber er meldete sich nicht. Als sie sich zum Mittagessen trafen, saß er auf dem Stuhl, den er, als es klingelte, blitzartig verlassen hatte. Er saß stocksteif und starrte unverwandt auf den Tisch. Gisela brühte erleichtert den Tee auf.

Und was trinkt der Junge?, fragte Wladi.

Chai, meinte Jan.

Djadi sah kurz auf zu ihm und versuchte zu lächeln.

Gisela nickte zustimmend, als er schlürfte. Eigentlich passt der Zwerg ganz gut zu uns.

Wladi schaute sie erstaunt an: Donnerwetter, das hätte ich nicht von dir erwartet.

Gisela reagierte ungewöhnlich heftig: Nach all den Jahren in der WG solltest du mich gut kennen.

Jan erhob sich, griff nach seiner Tasche und wandte sich an Wladi und Kordula: Also, ich suche jetzt die Ämter heim. Und wenn Djadi zum Arzt muss, hole ich ihn.

Detlef nickte anerkennend: Brav, mein Bester. Als diplomierter Sozialarbeiter bist du auf den Ämtern rundum auch anerkannt.

Jan machte sich auf den Weg. Auf fast alle seine Fragen bekam er keine Antworten, höchstens Warnungen und Vorwürfe. Genau genommen gab es Djadi überhaupt nicht. Er war ein Zufall. Ein Waisenkind ohne Begleitung. Ein Staatenloser. Ein Ärgernis für die Ämter. Er passte nicht. Mit Ausnahmen wie ihn wurde in den Ämtern nicht gerechnet.

Jan stand in Zimmer 37 vorm Schreibtisch von Frau Dieffenburg.

Ich hab schon gehört, raunzte die Dame. Ich bin schon gewarnt.

Vor mir?

Ja, vor Ihnen und diesem aus dem Nichts aufgetauchten Jungen.

Er kam nicht aus dem Nichts, sondern in einem ziemlich kaputten Boot übers Mittelmeer.

Das hat er Ihnen erzählt?

Er ist momentan stumm. Aber ich weiß, wie er und mit wem er hierherkam. Die Leute im Boot haben ihn mitgenommen. Er ist Waise. Mit keinem von ihnen verwandt. Und deshalb möchten meine Frau und ich ihn in Pflege nehmen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Ganz einfach. Mit diesen beiden Wörtern brachte Jan Frau Dieffenburg zum Explodieren.

Na ja. Dieser Junge …

Dieser Junge, fiel er ihr ins Wort, dieser Junge ist mutterseelenallein. Wollen Sie ihn übers Mittelmeer zurückschicken oder in ein Heim stecken?

Frau Dieffenburg starrte Jan finster an: Unsinn.

Jan erwiderte ihren strengen Blick lächelnd: Den Jungen aufzunehmen, ist mir nicht einfach eingefallen, das hielt ich für notwendig.

Na gut. Sie bekommen das schriftlich. Und Sie werden kontrolliert! Sie samt Ihrer Wohngemeinschaft. Außerdem brauche ich noch den Arztbericht. Als Sozialarbeiter sollten Sie sich in den Einzelheiten auskennen.

Prima. Jan erhob sich, verbeugte sich. Die Dame übersah die Hand, die er ihr zum Abschied reichen wollte. Draußen auf dem Gang musste er sich erst einmal setzen. Es war geschafft. Jetzt noch mit Djadi zum Arzt.

Er stürzte in die Küche, wo er alle vermutete: Ihr werdet es nicht glauben. Djadi gibt es nicht, soweit die Ämter urteilen können. Jetzt muss ich mit ihm zum Arzt.

Zum Amtsarzt oder zum Kinderarzt?, fragte Kordula.

Zum Doktor, murmelte Jan.

So gescheite Antworten bekommt man selten, konterte Kordula.

Djadi hastete mit seinen Blicken von einer zum andern. Als Jan sich ihm näherte und auffordernd sagte: Wir müssen das hinter uns bringen, rutschte Djadi vom Stuhl und schoss wie eine flüchtende Eidechse unters Sofa.

Weg ist er wieder, stellte Detlef trocken fest.

Sie nahmen sich stillschweigend vor, gemeinsam auf Djadis Wiedererscheinen zu warten. Nach einer Weile gab er auf. Sie begrüßten den Jungen mit einem Lächeln, das bei Jan etwas angestrengt ausfiel.

Dass sie nicht gleich zum Arzt gehen können, darin waren sich Jan und Wladi einig. Der Junge muss sich beruhigen, war die Parole.

Er beruhigte sich, indem sie, auf Vorschlag von Dorothea, mit ihm Bilderbücher anschauten und die Gegenstände oder Geschöpfe auf den Bildern überdeutlich benannten.

Djadi schien interessiert, schmiegte sich an den jeweiligen Buchstabierer, sagte aber nichts. Auf einer der Seiten war ein stolzer Jäger im Anschlag auf einen Hirsch zu sehen.

Kordula, die an der Reihe war, zeigte zuerst auf den Mann, danach auf das Gewehr. Jäger, sagte sie und, nach einer Pause, Gewehr.

Djadi folgte mit seinen Blicken Kordulas Finger. Er öffnete die Lippen, gab einen Laut von sich. Die Runde erstarrte in Erwartung.

Kalaschnikow, stieß er hervor und hielt, als habe er das Schweigen aus Versehen gebrochen, seine Hand vor den Mund.

Kordulas Zeigefinger blieb in der Luft stehen. Sie seufzte: Der arme Junge.

Es hat keinen Sinn, ihn gleich zum Arzt zu schleppen, auch wenn das Amt es so wünscht, meinte Wladi.