Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Über den Autor
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Rolf Völkel
Elternhaus der Angst
Autobiografischer Roman
einer gewaltvollen Kindheit
DeBehr
Copyright by: Rolf Völkel
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2020
ISBN: 9783957538154
Umschlaggrafik Copyright by: AdobeStock by @jacek
Kapitel 1
Wirklich ungerecht, dass man sich seine Eltern nicht aussuchen kann. Herrgott wo bin ich hingeraten, offensichtlich ist dir ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen. Ein bevorstehendes Leben könnte sich als schreckliche Quälerei erweisen.
Ich spüre nichts von einer intakten Familie, mit Liebe oder Geborgenheit. Sogar Annerose, meine Schwester, lässt sich von deren Hass anstecken: „Mullevus“, ruft sie. Was dieses Schimpfwort bedeutet, bleibt ihr Geheimnis, vermutlich soll ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl haften bleiben. Wie ein vernachlässigter, ängstlicher Hund, den sogar die Anwesenheit seines Peinigers erzittern lässt.
Als zwangsläufiges Übel bezeichnet zu werden, fördert nicht den Lebensmut. Zu gern würden sie mich unnötige Missgeburt im zugebundenen Sack ertränken. Genau so, wie unser Nachbar der Bauer Müller seine Katzen entsorgt.
Hildegard zieht sich wutentbrannt den Hauspantoffel (Latsch) aus, erst dann spricht sie: „Dir geht es zweifellos gut bei uns.“ Mit einem Gesichtsausdruck und Unterton, der keine gegenteilige Meinung zulässt. Falls nicht augenblicklich eine Antwort folgt: „Es gibt keinen Anlass zur Klage, Mutter“, schlägt sie mit voller Wucht zu. Egal wohin, auf den Kopf, in die Nieren oder auf andere empfindliche Körperteile.
Ja, das ist die Normalität, alles auf Basis von Druck und Zwang: „Herrgott vergib ihnen, dass diese Eltern nicht eines Tages in der Hölle schmoren“, sagt des Öfteren Großmutter Marie. Nach den Worten unseres Vaters kann einem speiübel werden. Laut in den Himmel schreien, um dann anschließend in der Erde zu versinken, erweist sich als die bessere Lösung. Höhnisch lachend wird zum Besten gegeben, das Produkt eines Versehens zu sein, wie besoffen beide waren, als sie mich in der Silvesternacht ungewollt gezeugt hatten. Offensichtlich steht solch einem Unglücksfall auf die Stirn geschrieben, ein lästiger Esser zu sein. Der seine Daseinsberechtigung nur durch Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit verdienen kann. Nichts wert zu sein spürst du als Kind, wenn einen die hasserfüllten Blicke jedes Mal wie der Blitz treffen. Unwillkürlich entstehen Schuldgefühle, man wagt es kaum, ein Wort zu sprechen, schon gar nicht Fragen zu stellen.
Mit leerem Magen kann kein Mensch erbrechen, denn wie jeden Tag quält unsäglicher Hunger. Alles wird weggeschlossen, das Brot, die Marmelade, dazu das selbstgemachte Pflaumenmus. Nur unser Vater Franz verfügt über sein eigenes Arsenal an Essbarem, eingesperrt in einem Raum gleich neben der Küche. Geht das mit rechten Dingen zu, warum war denn dieser Hundesohn, der sich als unser Erzeuger ausgibt, nicht im Krieg gefallen? So wie andere Väter auch, offensichtlich hatten sich einige Feiglinge im Keller versteckt. Keinesfalls dürfte es abartig sein, dass wir uns wünschen, er wäre niemals nach Hause gekommen.
Ein freies Leben könnten zwei Jugendliche zusammen mit ihrer Mutter genießen. Wenn uns doch nur einmal so etwas wie behütet sein oder Fürsorge zuteil würde. Stattdessen bezeichnen mich die Familienmitglieder als Nichtsnutz. Der sich unnötigerweise gerne, in der eiskalten Küche, die Waschschüssel mit warmem Wasser füllt. Wo kommen wir hin, warmes Wasser hat er verboten. Alles kostet viel Geld, Wasser zu erwärmen, eine Küche zu heizen, vor allem das viele Brot, das vertilgt wird. Davon könnten sie glatt ein Schwein füttern.
Ja, Franz ist ein ungemein herzlicher Vater, der nicht so oft zuschlägt. Er bevorzugt weitaus unauffälligere Methoden. Mit beiden Händen wird mein Hals umklammert, dann die Kehle zugedrückt, dass ich ohnmächtig zu Boden stürze. Egal wohin, auf die Küchendielen oder in die Hundescheiße unseres Nachbarn. Bleibt nur zu versuchen, so schnell wie möglich wieder aufzustehen. Obwohl mich die Beine danach noch gar nicht so recht tragen wollen.
Der Kerl hat oftmals im Handumdrehen ein großes scharfes Messer in der Hand. Vielleicht geschieht das nur als Bluff, trotzdem, wer kann schon in das Hirn eines Verbrechers hineinschauen. Genau das wirkt als Anlass, einen ungeliebten Sohn wieder auf die Beine zu stellen. Unwichtig wie, der Hass wird dadurch immer stärker.
Eines Tages werde ich den Menschenschinder töten, das geschieht so sicher wie das Amen in der Kirche. Bis dahin stehen noch einige Grausamkeiten bevor.
Wer weiß, ob es jemals gelingt, das Erwachsenenalter zu erreichen, wenn die mir ständig nach dem Leben trachten. Manchmal funktioniert das mit einem Stromschlag an defekten Kabeln, bald bricht eine Sprosse der Leiter.
Es war zu befürchten: Bei der letzten Reihenuntersuchung in der Schule wurde Unterernährung festgestellt, mit Verdacht auf Tuberkulose. Äußerst merkwürdig, wenn das nur ein Familienmitglied betrifft, zumal sich die Eltern darüber keine Gedanken machen. Ja, der Hunger kommt wie ein böser Räuber daher, der unbedingt Beute machen will. Damit ist nicht gemeint, wenn du in der Wohlstandsgesellschaft einmal eine Mahlzeit auslässt. Das bedeutet noch lange keinen Hunger. Erst wenn ein Mensch über Monate oder Jahre nur so viel Nahrung zu sich nehmen kann, dass er nicht verreckt. Dann fühlt dieser im Körper und Geist völlige Leere. Vor Schwäche kannst du keinen klaren Gedanken mehr fassen, mit dem Glauben, die Seele verloren zu haben. Verhungern soll ein schrecklicher Tod sein, das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Du bist nur noch müde, könntest schlafen, am liebsten für immer.
Natürlich fragen wir uns, warum kommt drei Jahre nach Kriegsende Franz nicht mit zum Ährenlesen, Kartoffeln stoppeln oder Zuckerrüben klauen. Uns Geschwistern, auch Hildegard, hängt dann immer abends vor Hunger der Magen in den Kniekehlen.
Jedoch der angebliche Vater verspürt aus unerklärlichen Gründen solch ein Gefühl nicht. Er fragt sogleich vorwurfsvoll, warum wir ihm nicht eine frisch geräucherte Knackwurst mitbringen, von dem Bauern, auf dessen Feld Stoppeln erlaubt wurde. Der glaubt wahrhaftig, dort werden Würste verteilt. Widerwillig isst er schließlich, als Beweis seiner Leidensfähigkeit, mit uns eine Körnersuppe.
Ganz sicher hat Franz etwas Wichtigeres zu tun, als für seine Familie zu sorgen. Wenn er sich den Magen vollschlagen kann, wäre das völlig ausreichend. Außerdem arbeitet unser Vater zuweilen als selbstständiger Möbeltischler. Zwar ohne elektrische Bandsäge oder Hobelmaschine. Eine Hobelbank mit ein bisschen Kleinwerkzeug im Keller sind ausreichend, Hauptsache er ist ein freier Mann. Manchmal wird auch die Reparatur einer Holztischlampe fertig, dann sind zwei Latten am Zaun in der Nachbarschaft anzunageln.
Das Geld reicht weder hinten noch vorne, jedenfalls nicht für seine Familie. Zweifellos erweist sich seine Amateurfirma als brotlose Kunst, eigentlich nagen wir am Hungertuch. Wenn seine drei Ahnungslosen nicht ständig unterwegs wären, um zu sammeln und zu stehlen, würde mit Sicherheit unser Leben schon längst beendet sein.
Vor wenigen Tagen hat Franz eine goldene Taschenuhr mit einer dicken breiten Kette, ebenso aus Gold, das Erbe seines Vaters, verkauft. Ihn drücken Steuerschulden, es droht der Kuckuck des Gerichtsvollziehers an den Möbeln. Vielleicht bleibt von den viertausendfünfhundert Mark auch etwas für uns übrig, nur glauben kann das keiner so richtig. Dann schon eher für Hildegard, unsere Mutter, wenn ein neues Kleid oder ein anderes Fähnchen herausspringt, hält sie monatelang den Mund.
Es ist Herbst geworden, ein kalter Wind fegt das herabfallende bunte Laub durch die Straßen. Sogleich ist lautes Grollen mit Gepolter zu hören, dann sieht man von unserem Küchenfenster aus, am Markgrafenweg schräg gegenüber, beim Bäckermeister Thiele, wie der Lastwagen eine Fuhre Briketts abkippt. Jetzt gilt es, sich zu beeilen, wer zuerst kommt, der mahlt zuerst, die Konkurrenz ist groß. Jeder will die einhundert Zentner Kohlen durch das Fenster in den Keller schaufeln. Denn es winkt ein beträchtlicher Lohn, die Arbeitskraft bekommt zehn Brötchen, dazu ein großes Vierpfundbrot. Kaum zu glauben, ich bin tatsächlich wieder einmal der Schnellste. Der Bäckermeister scheint auch gar nicht erstaunt, mich nach wenigen Minuten in der Backstube zu sehen. Ein mitleidiges Schmunzeln huscht über sein Gesicht, als er seinem Helfer eine ziemlich große Schaufel in die Hand drückt.
Wer jetzt noch schaufeln will, hat keine Chance, das Gerät eignet sich zum Zuschlagen. Nötigenfalls besteht die Möglichkeit, mit Briketts zu werfen. Nun wird schuften verlangt, so schnell es geht, ein Indianer spürt keinen Schmerz. Nur keine Schwäche zeigen oder gar aufgeben. Denn gegenüber am Fenster beobachten sie das Geschehen und warten darauf, mir den Lohn aus den Händen zu reißen. Es hilft alles nichts, trotz erheblicher Kraftanstrengung, es geht eben nicht schneller. Erst wenn alles ordentlich gekehrt wurde, dazu die Schaufel mit dem Besen in der Backstube abgeliefert sind, wird der Lohn, eine ziemlich große Tüte, überreicht. Gerechterweise stünde dem Kohleschaufler auch noch ein Zentner Brikett zu. Denn jetzt muss für den schwarzen Schornsteinfeger ein großer Topf voll Wasser auf der Herdplatte erhitzt werden. Um sogleich in der Küche in die Zinkwanne zu steigen.
Wir besitzen, wie jede anständige Familie, ein richtiges Bad mit Kupferbadeofen sowohl emaillierter Wanne. Alles gehört zur Wohnungseinrichtung. Offenkundig müssten sich Eltern um dessen Reparatur bemühen. Wie schon gesagt, unser Vater hat wichtigere Dinge zu tun, als für seine Familie zu sorgen. Der Tag ist lange nicht zu Ende. Sobald die Dunkelheit hereinbricht, gehen wir Geschwister, jeder mit einem Rucksack auf dem Rücken, zum Güterbahnhof, um Zuckerrüben zu stehlen. Dort liegen bergeweise Rüben, die über ein Förderband in offene Waggons stürzen. Es wäre ratsam, sich dabei nicht erwischen zu lassen.
Uns gelingt es, einen sehr guten Schleichweg auszukundschaften. Der führt entlang des Mausagrabens bis kurz vor die Gleise, dann rechts unter der Eisenbahnbrücke hindurch. Mit etwas Glück stehen hier gleich voll beladene Güterwaggons, auf die man nur noch hinaufklettern muss. Meine Aufgabe besteht darin, etwas seitlich Schmiere zu stehen. Zunächst wird Annerose, sie ist drei Jahre älter, beide Rucksäcke füllen, um sie dann herunterzuwerfen. Zu jeder Zeit kann jedoch ein Wächter auftauchen, jetzt heißt es, sich ganz still zu verhalten, bis die Gefahr vorbei geht. Annerose legt sich augenblicklich der Länge lang in die Zuckerrüben. Während mir nur bleibt, sich wie ein Rehkitz in die Brennnesseln zu drücken. Oder, wenn er uns schon bemerkt hat, gilt es, ganz flink die Rucksäcke auf den Rücken zu nehmen und zu laufen, so schnell die Füße in der Lage sind. Dabei erweist sich als das Allerschlimmste, wenn der Kerl immer näherkommt. Ganz schnell muss der Rucksack mit all den schönen Rüben abgeworfen werden, um zu entkommen. Uns ist das Gott sei Dank bisher nicht passiert. Immer wieder donnern auch auf den Nebengleisen Güterzüge vorbei, die mit ihren zwei kleinen Lichtpunkten wie aus dem Nichts auftauchen. Heute stehen hier leider keine Waggons, deshalb führt unser Weg weiter in Richtung Bahnhof. Nur gut, dass die meisten Lampen kaputt sind. Immer an den Gleisen entlang, auf dem Weg zur Laderampe sind wir sehr leicht zu entdecken. Zumal die Wächter schließlich auch nicht dumm sind. Keiner möchte aus heiterem Himmel einen Schlag mit dem Gummiknüppel über den Kopf bekommen.
Endlich ist ein günstiger Platz im Schatten der einzigen Laterne neben der Rampe erreicht. Oben liegen große Haufen Zuckerrüben, doch dort ist es zu hell. Klüger wird sein, hier unten zu bleiben, um die Rüben einzusacken, die neben den Waggon gefallen sind. Jetzt gilt es, schnellstens unter den Güterzug zu gelangen und ich überlasse die vordere Seite großzügig einem Mädchen.
Offensichtlich hockt hier schon eine Person: „Mensch mach die Augen auf, ich bin es, Klaus“, flüstert er leise.
Tief durchatmen: „Blödmann, willst du erst eine Rübe auf deine Rübe bekommen. Es ist ratsam, sich etwas früher bemerkbar zu machen.“ Jetzt wird keine Zeit verschwendet, lange zu diskutieren. Zunächst sollten wir schleunigst die Rucksäcke füllen, um baldmöglichst das Weite zu suchen: „Warte auf uns, wir ergreifen gemeinsam die Flucht“, bekommt Klaus zugeraunt, der nickt mit dem Kopf. Denn zu dritt besitzen Diebe eher eine Chance zu entkommen. Der Wächter kann immer nur einem hinterherrennen, der sollte selbstverständlich Klaus sein. So ein Rucksack voller Rüben hat sein Gewicht, zumal die Hanfseile, die als Träger dienen, in unsere Schultern schneiden. Vorerst war die Anspannung zu groß, um überhaupt einen Schmerz zu spüren. Nun ist Hilfestellung nötig, dass Annerose diese Last aufnehmen kann, einem Rückzug steht nichts mehr im Wege.
Bis zur Eisenbahnbrücke verläuft die gefährlichste Fluchtroute. Als plötzlich ein lauter Ruf durch die Nacht schallt: „Verdammte Diebe, Polizei, halt stehen bleiben!“ Das hat uns gerade noch gefehlt, wenn wir die Beute wieder zurücktragen und auskippen müssen. Obendrein kommt dazu, dass die Namen mit Adressen aufgeschrieben werden. So ohne Weiteres geben sich hungerleidende Leute nicht geschlagen, obwohl die Rufe immer näherkommen, gleichzeitig lauter erschallen: „Halt, ihr erbärmliches Gesindel, sollt stehen bleiben.“
Was die Beine nur hergeben, geht es ständig hinter Annerose her. Unfassbar, Klaus war augenblicklich stehen geblieben, aber an den Fersen hechelt etwas, ein ziemlich großer Schäferhund läuft hinterher. Unsere Mutter hat diese Hosen gerade erst genäht. Irgendwie kommt mir der Köter bekannt vor, ach das ist Lux, der Hund von Rühlmanns aus der Roßbacher Straße. Der war bisher nie bissig. Wenn man dem gut zuredet, erkennt er vielleicht seinen Wohltäter: „Mensch, Lux, du wirst doch nicht einen guten Freund beißen. Die schönen Kaninchenknochen sind hoffentlich nicht vergessen“, könnten die richtigen Worte sein. Um ihn sogleich über das Fell zu streicheln. Der guckt treuherzig, als wollte er sagen: „Bringe bald wieder welche.“
„Nimm Platz, dein Herrchen kommt gleich, warte hier so lange“, lautet mein Befehl. Dann legt sich Lux ganz gemütlich ins Gras, jetzt so schnell wie möglich Annerose hinterher. Wenn der junge Rühlmann seinen Hund erreicht, sind wir längst über alle Berge: „Los komm endlich, der beißt nicht“, bekommt Klaus zugerufen, der rennt wie von Flügeln getragen. Immer an dem Abwassergraben entlang durch die kleine Gartenanlage.
Über die Moritzwiesen zu rennen ist nicht ratsam, die werden von den Gemüsebauern bewacht, dabei könnten sie uns für Gemüsediebe halten. Bei dieser Flucht sind Ausdauer und ein langer Atem von Vorteil.
Klaus läuft jetzt neben mir: „Sag mal, du weißt ganz bestimmt eine geheime Formel. Wie kann das sein, der bissige Köder wollte gerade zupacken. Plötzlich bleibt er stehen, bekommt Streicheleinheiten, dann legt er sich brav ins Gras. Freunde sollten sich eigentlich auch Geheimnisse anvertrauen“, sagt er.
Oh lieber Herrgott, was ist das für ein Kindskopf, der hat Sorgen: „Natürlich wirst du in diesen Zauber eingeweiht, nur nicht gleich. Denn jetzt macht es sich erforderlich, erst einmal so schnell wie möglich mit unseren vollen Rucksäcken von der Straße zu verschwinden“, lautet meine Ansage. Vorerst könnte Klaus einverstanden sein: „Ja gut“, erwidert er missmutig.
Zum Glück sind es nur noch einige hundert Meter. Nun geht es gleich von hinten über den großen Innenhof durch den Keller in die Waschküche. Eine erhebliche Anstrengung, mit der Last auf den Rücken zittern uns die Knie und wir sind mit den Kräften am Ende.
Annerose hat den Schlüssel in der Tasche, unser Haufen liegt gleich neben dem Waschkessel. Weil die Familie von Franz als Nächste an der Reihe ist mit Rübensaft kochen. Das wird unsere Arbeit an den folgenden Tagen. Um einen Kessel zu füllen, werden ungefähr zehn bis zwölf volle Rucksäcke gebraucht. Erstaunlich, das wurde mit den heutigen geschafft, wirklich ein schöner Erfolg, den nur zwei Jugendliche gemeinsam erreicht haben. An die Anstrengung und Angst denkt danach keiner mehr. Mal sehen, was unsere Eltern dazu sagen.
Aber, als wir die Küche betreten, herrscht miese Stimmung. Hildegard weint, keiner von uns beiden wagt es, auch nur eine einzige Silbe zu sprechen. Solch eine Situation ist nichts Außergewöhnliches, ein gutes Wort oder gar ein Lob bekommt keinem unserer Eltern über die Lippen.
Franz teilt seinem Sohn zum Abendbrot eines der Brötchen zu, die er am Nachmittag beim Bäcker Tiehle verdient hatte. Hildegard schiebt auf der Untertasse einen Klecks Marmelade herüber, dazu ein kleines bisschen Margarine. Noch nicht einmal heute, wo das Backwerk als Lohn so schwer erarbeitet wurde, lassen die uns satt essen. Wenn einer morgen Abend in den Brotkasten schaut, befindet sich nur noch ein Rest von dem Vierpfünder darin.
Mit einer Tasse Malzkaffee verschwindet das Backwerk nach wenigen Bissen im Magen. Annerose zuckt auch nur mit den Schultern, sie hat das Gleiche zu essen bekommen, obwohl sie Franzens Liebling ist. Oftmals erscheint es, die genehmigen dem Sohn nur so viel Nahrung, dass er nicht verreckt, denn diese Familie braucht einen billigen Arbeitssklaven. Aber dann, wenn sie unter ihresgleichen sind, sich die Bäuche vollfressen. Wer glaubt, von wem die Versorgung von dreißig Kaninchen verlangt wird.
Obwohl diese Familie keinen Quadratmeter Garten oder Acker besitzt, muss das Futter jeden Tag beschafft werden, das heißt wie immer stehlen: „Fortwährende Müdigkeit, mit gleichzeitigen Glieder- und Muskelschmerzen, sind alles nur faule Ausreden“, meint Franz.
Am folgenden Tag wird gefordert, endlich einmal Einsatz zu zeigen. Schließlich sind die Zuckerrüben auch noch zu verarbeiten. Wie schön wäre es, einmal so richtig ausschlafen zu dürfen. Jetzt plagt das schlechte Gewissen und ich hoffe, dass der Unterricht so schnell wie möglich vorübergeht. Denn es war schon wieder keine Zeit, Hausaufgaben zu erledigen.
Nur noch die Schnitte mit Margarine, dazu einen Apfel in Zeitungspapier einwickeln. Nun geht es im Laufschritt, was die Füße hergeben. Vielleicht besteht eine Möglichkeit, beim Schulfreund Günter Mehlhorn bis zum Unterrichtsbeginn abzuschreiben. Die gesamten Aufgaben sind nicht zu schaffen.
Soeben hat es zum Unterricht geläutet, pünktlich acht Uhr betritt unser Lehrer, Herr Wendt, das Klassenzimmer. Je länger das Banksitzen andauert, umso mehr lässt die Aufmerksamkeit nach. Jetzt hat Herr Wendt mich schon zum zweiten Mal angestoßen. Wenn der wüsste, wie schwer es fällt, sich zusammenzureißen. Selbstverständlich weiß er längst Bescheid und kennt auch ganz genau die Familien. Mit Sicherheit bekommt Franz dann wieder Besuch, der auch diesmal nichts ausrichten wird. Der Menschenschinder vertritt die Meinung: „Von körperlicher Anstrengung ist noch keiner gestorben.“ Sicher trifft das für ihn persönlich zu, zumal er die Arbeit wahrlich nicht erfunden hat, da kann man auch immer gute Ratschläge erteilen.
Es ist noch einmal gut gegangen, der Vormittag wäre geschafft. Dieser Nachhauseweg bleibt die einzige Zeit des Tages, alle Sorgen zu vergessen. Viele Vögel sind zu entdecken, ich schaue mir die Häuser an. Mit ein bisschen Glück ruft am Georgentor Oma Gertrud aus dem Fenster in der vierten Etage. Mit der Aufforderung, nach oben zu kommen. Nichts Besseres als das, denn hier gibt es reichlich Gutes zum Essen, um richtig satt zu werden. Unsere Eltern mögen das gar nicht, aus welchen Gründen auch immer, mir ist das gleichgültig. Was soll ein Zwölfjähriger gegen seine Großmutter haben, im Gegenteil, wenn man hier einmal ordentlich reinhauen kann.
Für mich zählt nur zu überleben, obwohl die Chancen dafür eher trübe aussehen. Denn in dieser Familie wird es kaum möglich sein, eine höhere Schule besuchen zu dürfen. Ich bleibe bestimmt ein Leben lang unten auf der sozialen Stufe.
Äußerst bedauerlich, wenn sich Kinder die Eltern nicht aussuchen können. Keinesfalls darf man als Jugendlicher mit einem Menschen darüber zu sprechen. Wie ungebildet unsere Mutter daherkommt, wurde erst heute wieder ins Bewusstsein gerufen. Letztens sollte sie eine Frage beantworten, nämlich, aus was unsere Luft besteht. Denn Luft atmen fast alle Lebewesen ein, es gibt einen Luftdruck, einen Luftwiderstand, zudem wird sie zur Verbrennung gebraucht.
Erstaunlich, Hildegard erklärt: „Luft bedeutet so gut wie nichts, deshalb sagen die Leute, du bist für mich Luft, damit meinen sie, ein gar nichts zu sein.“
Ganz schön dumm solch eine Aussage, heute haben wir bei Herrn Wendt gelernt, Luft besteht aus verschiedenen Gasen. Nämlich aus achtundsiebzig Prozent Stickstoff, einundzwanzig Prozent Sauerstoff sowohl einem Prozent Edelgasen. Zum Glück war es mir gelungen, nicht wieder einzuschlafen. Ganz bestimmt soll das unserer Mutter gegenüber kein Vorwurf sein. Vermutlich wäre es ehrlicher gewesen, sie hätte gesagt, keine Ahnung zu haben, als solch einen Schwachsinn zu erzählen. Sie hätte wissen müssen, wie sehr es dem Sohn auf eine genaue Antwort ankommt.
Nun, Schluss der vielen Gedanken, die ständig durch das Gehirn kreisen. Jetzt wird mir vergönnt, schon bei Großmutter Gertrud den Bauch vollzuschlagen. Dennoch, die Körnersuppe von Mutter mit Saccharin und Apfelstücken darin muss jetzt zusätzlich hinein, um nichts zu verraten.
Sogleich ist Schluss mit der Völlerei, wer gut gegessen hat, kann auch gut arbeiten.
Annerose schuftet schon in der Waschküche. Zuerst müssen die Zuckerrüben gewaschen, dann mit einer großen Bürste geputzt werden. Je sauberer die Rüben sind, desto weniger Dreck befindet sich dann in dem fertigen Rübensaft.
So weit ist es noch lange nicht, meine Aufgabe besteht darin, die Zuckerträger auf einem groben Reibeisen zu zerschnitzeln. Dabei sollte man aufpassen, nicht die Finger mit zu erwischen, doch ohne Blut geht das niemals ab.
Wir plagen uns bis zum späten Abend, nur Hildegard lässt sich einmal kurz blicken, um uns Mut zu machen, nicht zu verzweifeln. Unsere Hände sind zerschunden, zudem vom kalten Wasser blau und steif. Wir schaffen es nicht, all die vielen Zuckerrüben geschnitzelt in den Waschkessel zu bekommen. Denn die anderen Hausbewohner warten schon.
Nun trifft uns sogleich der verächtliche Blick unseres Vaters. Die Stimmung ist so eisig wie das kalte Wasser in der Waschküche. Jetzt ist eindeutig bewiesen, ein Nichtsnutz zu sein, ganz sicher wäre es auch schade um das viele Brot, das gefressen wird. Denn genau das steht im Gesichtsausdruck von Franz. Ziemlich elend fühlen sich die Versager, wagen es kaum, eine Margarineschnitte zu greifen, bestimmt hatten wir das nicht verdient.
Wie so oft war keine Zeit, Hausaufgaben zu erledigen. Nur nicht an den nächsten Tag denken, sonst raubt es einem noch den Schlaf, dass der Unterricht im warmen Klassenzimmer zur Qual wird. Noch einmal darf das nicht passieren vom Stuhl zu fallen, die ganze Klasse hat gelacht, nur nicht Herr Wendt. Der hat mich hochgehoben, dann wieder auf den Stuhl gesetzt, ohne den üblichen Wutausbruch. Ein einziger Blick auf die zerschundenen blutigen Hände genügt. Ganz bestimmt ein sehr ergreifendes Gefühl, in solch starke Arme genommen zu werden. Als würde er sagen, wenn man dir nur helfen könnte.
Leider sind nicht alle Lehrer solch gute Pädagogen wie Herr Wendt.
Am nächsten Tag müssen wir jedoch einen Zahn zulegen. Annerose hilft beim Schnitzeln, gleich bei der ersten Rübe hat sie sich sämtliche Finger zerschnitten. So viel Heftpflaster besitzen wir gar nicht, um alle blutenden Verletzungen zu überkleben. Ja, das Zeug ist unheimlich tückisch, die knochenharte Rübe muss man fest anpacken. Sie wird durch das ständige Auf und Ab auf dem Reibeisen immer kleiner. Dann, beim letzten Rest, passiert es. Ausgeschlossen, ein faustgroßes Stück einfach mit in die Schnitzel zu werfen. Der Zucker würde nur außen herum ausgekocht, der Rest geht verloren. So etwas können wir uns keinesfalls erlauben.
Um Zuckerrübensaft zu kochen, wird auch eine ansehnliche Menge Brennmaterial gebraucht. Wenn alle Leute nur einfach beim Händler bestellen könnten. Es gibt zurzeit nichts, drei Jahre nach Kriegsende, deshalb war unsere Sippe schon aktiv. Das geschieht genauso wie die Rübenbeschaffung.
Wir riskieren Kopf und Kragen, die Kohlewaggons stehen genau gegenüber auf den Gleisen. Das bedeutet, von der anderen Seite an sie heranzukommen. Gefährlich wird es auf der Flucht, dann müssen wir mit dieser Last quer über die Schienen rennen. Es bleibt keine Zeit, nach links oder rechts zu schauen, ob gerade ein durchfahrender Zug angebraust kommt.
Um die Mittagszeit war es gelungen, von einem Güterwaggon ein großes Holzscheit herunterzuwerfen. Nun liegt es auf meiner Schulter, als es wieder einmal laut erschallt: „Polizei, halt, stehen bleiben!“
Ein Dieb darf keinesfalls die Nerven verlieren, deshalb wurde dieser Ruf einfach überhört.
Dann gehe ich mit der Last quer über die Gleise, als plötzlich hinter mir ein Güterzug vorbeidonnert: „Oh, lieber Herrgott“, es wird hoffentlich nicht den Aufpasser erwischt haben. Vom Nebengleis aus, hinter den Achsen mit Rädern. Auf der anderen Seite des vorbeifahrenden Zuges sind unterhalb seine Beine, dazu die Füße, zu sehen. Diesen Zug hat der Himmel geschickt, ein Verfolger muss so lange warten, bis der vorbeigefahren ist.
Nun ergibt sich eine hervorragende Möglichkeit, Vorsprung zu erlangen. Gleich in die Wohnung sollte ein Flüchtiger am helllichten Tag auf keinen Fall laufen. Diese Dummheit würde ihn sofort verraten. Also führt der Weg über die Moritzwiesen quer durch die Kohlköpfe. Die Gemüsebauern sehen tagsüber, was dieser Dieb auf der Schulter trägt. Deshalb schreiten sie nicht ein, vermutlich hat der Verfolger aufgeholt: „Du verfluchter Bursche, Polizei, halt stehen bleiben!“, brüllt er unentwegt, ebenfalls außer Atem.
Langsam schwinden die Kräfte, nur nicht aufgeben. Das schöne Holzscheit einfach so zwischen die Kohlköpfe werfen kommt nicht infrage.
Welch ein Glück, die hinteren Gärten der an der Straße stehenden Wohnhäuser kommen immer näher. Zumal weiter vorn etwas links ein älterer Mann winkt: „Komm hierher“, ruft er. Bis dorthin ist es nicht mehr allzu weit. Das Holz zu verlieren, wäre eine Schande für die ganze Familie.
Durch das schnelle Laufen hat es meine Schulter blutig gescheuert, dann endlich: „Geh den Gartenweg entlang direkt ins Haus. An der Haustür steckt von innen der Schlüssel, dann bist du auf der Straße“, sagt er. Ein kurzes „Danke“, der freundliche Mann hat mich gerettet.
Nur noch die Haustür aufschließen, schon stehe ich in der Roßbacher Straße. Ausruhen geht nicht, bis nach Hause sind es nur wenige hundert Meter. Das Brennholz kommt gerade recht, den großen Waschkessel voller Rübenschnitzel zum Kochen zu bringen. Da können etliche Briketts eingespart werden.
Ein kleines Feuer hat Annerose derweil entfacht, unbedingt sollte sie vorsichtig sein. Unkontrolliertes Kochen würde das Zeug aufschäumen lassen, dann läuft alles über den Kesselrand auf den Fußboden.
Für mich ist die Angelegenheit Zuckerrüben erst einmal beendet. Futter für unsere Kaninchen ist zu besorgen. Annerose sollte den großen Deckel des Öfteren hochheben. Um die ganze Maische, mithilfe eines einen Meter langen Holzlöffels umzurühren.
Das Feuer lodert ganz schön heftig. Auf dem Dreibock sitzend, der sonst immer bei der Wäsche von der Zinkwanne blockiert wird, scheint sie eingeschlafen zu sein. Vom starken Blubbern erwacht Annerose, schreckt auf, stürzt zum Waschkessel, um den Deckel hochzuheben. Sofort kommt der schwarze, heiße Zuckerschaum mit Druck hochgeschossen, so weit bis in ihr Gesicht. Das Mädchen schreit wie am Spieß, zum Glück werkelt unser Vater im Keller nebenan. Er kommt auch gleich angerannt, nimmt sofort den Wasserschlauch mit dem Strahl genau auf die Nasenspitze. Später sollte sich das als seine einzige gute Tat herausstellen, die er jemals in seinem Leben begangen hat.
Annerose sitzt weinend in der Küche, keiner denkt daran, wie verheerend die Sache hätte ausgehen können. Wenn das ganze Gesicht, von dem kochend heißen Zuckersaft hässliche Narben hinterlassen hätte. Hinzu kommt ein unerträglicher Schmerz, zum Glück war es noch einmal gut gegangen: „Viel kaltes Wasser ist genau das Richtige, noch ein wenig heilende Salbe auf die roten Stellen. In ein paar Tagen zeigt sich die Haut wieder völlig normal“, sagt der Doktor.
Stundenlang haben wir dann abwechselnd gerührt, zusammen mit unserer Mutter. Das Zeug darf auf keinen Fall anbrennen, da hilft eben nur rühren, rühren, rühren. Die Erfahrung aus vorheriger Tätigkeit besagt: „Je dicker der Saft wird, umso besser schmeckt er.“
Keiner darf es wissen, in meiner Hosentasche befindet sich ein kleiner Löffel. Schließlich muss der Sirup-Kocher, in Abständen, auch mal das Ergebnis auf seine Qualität prüfen. Dabei sollte vermieden werden, sich den Mund zu beschmieren, das könnte böse Folgen verursachen. Auch wenn Franz fragt: „Wie denn der Saft schmeckt.“ Er bekommt nur ein Schulterzucken. Der glaubt doch wohl nicht, dass man auf solch eine Frage hereinfällt.
Dann, am späten Abend, scheint das Produkt perfekt zu sein. Jetzt dürfen wir auch offiziell einmal kosten. Der zuckersüße Rübensaft erweist sich als eine Köstlichkeit. Nur schade, dass der wunderbare Geschmack so schnell auf der Zunge dahinschmilzt. Mit einer Schöpfkelle wird das noch warme, dickflüssige, schwarze Gold in von Hildegard vorher gründlich gereinigte Gläser gefüllt. Bei aller Bescheidenheit wurde ein unschätzbarer Wert geschaffen, womöglich sind wir sogar reicher als andere.
Für solch niedere Arbeiten fühlt sich unser Vater nicht berufen, dafür hat er zwei derartige Bälger, dazu eine Ehefrau. Die können froh sein, wenn er mithilft, dieses Zeug aufzufressen. Kein anständiger Mensch sollte glauben, Rübensaft ist ein Brotaufstrich für Männer seines Schlages. Er braucht deftigere Kost zwischen die Zähne, wenn auch diese nur für ihn zugänglich bleibt. Ganz sicher wird der Halunke auch die fertigen Gläser in seinem Schrank einschließen. Um uns dann, wie mit anderem Essbaren, pro Woche ein Glas zuzuteilen. Wo kommen wir hin, wenn so viel gefressen wird.
Wieder war es sehr spät geworden, der große Waschkessel und die gesamte Waschküche müssen noch gereinigt werden. Wenigstens zeigt unsere Mutter Einsicht, dass Jugendliche dieses Alters möglicherweise längst ins Bett gehören.
Wir fühlen uns hundemüde. Franz, der Tyrann, sitzt mit seiner Zeitung am Küchentisch. Im Herd ballert ein kräftiges Feuer, wie so oft hat er schon zu Abend gespeist.
Jeder bekommt nur eine Scheibe Brot mit einem Klecks Margarine bewilligt. Vorher wird noch ein Topf voll Wasser auf die Herdplatte gesetzt. Für heute eine Ausnahme. Denn so verschmiert und dreckig, wie wir sind, wird es diesmal nichts mit einer Schüssel voll kaltem Wasser, um uns zu waschen.
Wie schön muss das sein, einmal nicht todmüde ins Bett zu fallen, deshalb vergeht die Nacht auch viel zu schnell. Unsere Mutter bräuchte mich eigentlich gar nicht zu wecken. Dafür gibt es eine spezielle Ursache mit einer ganz praktischen Seite. Weil nämlich unter unserem Fenster der Kaninchenstall mit zwölf Buchten steht. Wenn die Biester hungrig sind, kratzen sie so lange an dem Drahtgeflecht, bis ihnen schnellstens das Futter verabreicht wird. Hildegard war dann schon zur Arbeit gegangen. Franz werkelt im Keller oder liegt noch im Bett. Bei Annerose dauert es ewig, in letzter Minute verlässt sie das Haus. Meistens muss sie rennen, um nicht zu spät zu kommen.
Meine Person ereilt das gleiche Schicksal, Frühstück muss ausfallen, der Brotkasten ist wieder einmal leer. Im Notfall gibt es eine Schulschnitte mit Margarine bestrichen, die unsere Mutter in Zeitungspapier eingewickelt hat.
Also schwer fällt mir die Schule nicht, vor allem, wenn die Hausaufgaben erledigt sind, das ist leider selten der Fall. Ohne schlechtes Gewissen fühlt man sich frei von Angst, entdeckt zu werden. Da macht das Lernen so richtigen Spaß.
So ein Tag wird heute leider nicht, sogar das Sitzen auf der harten Bank fällt schwer. Und bin froh, wenn mit dem Glockengeläut diese Quälerei ein Ende nimmt. Sechs Stunden ruhig sitzen, sowohl gespannt zuhören, gleichzeitig aufmerksam sein, wer kann das schon durchhalten.
Endlich ist es so weit, wir stürmen aus der Klasse den Gang entlang, die Treppe hinunter, dann nichts wie ins Freie. Glücklicherweise steht unser Vater heute nicht mit dem Leiterwagen vor der Schule. Wahrscheinlich sind dann Bretter oder Zement zu transportieren. Er braucht mich als Esel, der die Karre über das Kopfsteinpflaster ziehen muss. Während der feine Herr auf dem Fußweg läuft oder sich gänzlich aus dem Staub macht. Das ist absolut kein Vergnügen, außer einer Margarineschnitte während der kurzen Pause, gibt es nichts zwischen die Zähne zu schieben.
Er sieht es nicht, wenn sein Sohn sich die Lunge aus dem Hals zieht. Dazu die Arme vor Schmerzen immer länger werden. Denn mit dieser Last die Deichsel unserer eisenbeschlagenen Holzkarre in Fahrtrichtung zu halten, verlangt kräftiges Zupacken.
Ganz bestimmt hat Franz sein Mittagsmahl schon längst eingenommen. Wen interessiert es, ob sein Zugtier womöglich Durst oder Hunger verspürt.
Die Freiheit auf dieser Wegstrecke nach der Schule bleibt immer noch das Schönste vom ganzen Tag. Aber nicht das zu Hause, da gibt es nichts, was Freude bereiten könnte. So etwas wie Familienbande existiert bei uns nicht, wahrscheinlich nur unter Tieren, ganz sicher bei Vögeln.
Wenn ein Schuljunge, auch so frei, ohne Fußtritte zu bekommen, durch die Wolken fliegen könnte. Bleibt nur die Hoffnung, in nicht allzu weiter Ferne, Reißaus nehmen zu dürfen.
Großmutter Gertrud winkt heute nicht aus dem Fenster, ganz bestimmt beobachtet sie das Geschehen hinter der Gardine. Mein Blick wird heute nicht ein einziges Mal zu ihr nach oben gerichtet sein. Ganz sicher steht dem Esel die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
Franz wartet im Hof mit einem voll Bretter beladenen Leiterwagen. Er will in einer Tischlerei neben dem Bahnhof Maschinenarbeit ausführen, dazu braucht er meine Arbeitskraft. Zornig, mit großen Augen, blickt er auf diesen Bummelanten. Eine Unverschämtheit, der erlaubt sich, verspätet an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Vielleicht gelingt es, die Sache wiedergutzumachen, sonst schiebt er mich anschließend gleichfalls durch die Bandsäge oder Hobelmaschine.
Die Aufgabe besteht darin, schnell das Holz zu geben, eventuell verfliegt dann sein Zorn. Nun waren auch vor Angst der Durst und Hunger gewichen. Es sind die vielen Splitter, die bis in das Fleisch der Hände eindringen, nicht zu spüren.
Unterdessen läuft Franz auf dem Fußweg. Oberhalb des Leiterrahmens sind noch senkrechte Bretter aufgesetzt, um die Ladung zu erhöhen. Ein ausgewachsener Mann kann schon gar nicht mehr darüber hinwegschauen. Die ganze Fuhre wird mit zwei dicken Stricken festgezurrt. Wenn das hässliche Kopfsteinpflaster nicht so furchtbar holprig wäre, außerdem geht es ständig bergauf: „Stell dich nicht so an, solch ein großer, kräftiger Bursche müsste das alles mit links machen“, sagt Franz.
Während er mit dem Meister verhandelt, lautet mein Auftrag, den Handwagen abzuladen. Das Holz in den Maschinenraum zu tragen, zudem neben der Hobelmaschine zu stapeln.
Alles scheint geregelt, unser Vater betätigt einen Schalter, die Hobelmaschine brummt ohrenbetäubend. Franz schiebt die Bretter vorn hinein, während sie von mir auf der anderen Seite entgegengenommen und gestapelt werden. Dabei trifft ein gewaltiger Strahl der Hobelspäne auf den Abnehmer. Nach wenigen Minuten besteht meine Gestalt nur noch aus Holzspänen und ich kann kaum mehr aus den Augen schauen.
Plötzlich gerät die Maschine zum Stillstand, wir blicken erstaunt ringsum. Der Tischlermeister läuft lauthals auf Franz zu. Er bemängelt das schlechte Holz, das durch die Maschine läuft. Viele Bretter sind mit Weißkalk bestrichen, zudem stecken abgebrochene Nägel darin. Er fürchtet um die Messer in seiner Hobelmaschine, die Aktion Maschinenarbeit ist beendet.