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Siegfried Lenz, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, zählt zu den bedeutenden und meistgelesenen Schriftstellern der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Für seine Bücher wurde er mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2009. Seit 1951 veröffentlicht er alle seine Romane, Erzählungen, Essays und Bühnenwerke im Hoffmann und Campe Verlag. Zuletzt erschienen »Schweigeminute« (2008), »Landesbühne« (2009), »Die Maske« (2011) und »Amerikanisches Tagebuch« 1962 (2012).
Solch einen Ruf hatte er hier noch nie gehört, hier in seinem Tal, hier über seinen Teichen. Es war ein rauher, krächzender Warnruf, dem ein dunkles Grunzen folgte, so fremd, so durchdringend und alarmierend, daß es plötzlich still wurde; die ersten Vögel verstummten, die Hunde im Zwinger unterbrachen ihr ruheloses Pendeln, selbst die knackenden Geräusche im Unterholz des alten, zerzausten Fichtenwaldes am Ende des Tales waren nicht mehr zu hören. Frank Wittmann brach die Spitzhacke aus der tonigen Erde und lauschte. Er blickte über die im Morgendunst liegenden terrassierten Teiche; aus der Deckung des Damms suchte er die Buchen und Kiefern und das Haselgesträuch hinter den Brut- und Streckteichen ab, doch da zeigte sich nichts, nichts auf den Bäumen, nichts im Tal, nichts auf den Hängen. Mühsam trat er aus der vertieften und verbreiterten Fischgrube heraus, glitschte in seinen lehmverschmierten Gummistiefeln an den Damm heran, zog sich hinauf und spähte nun, immer noch lauschend, zum Haus, zum Anbau und zu den beiden Schuppen hinüber; sein Blick streifte die überdachten und durchflossenen Bassins, doch auch dort zeigte und regte sich nichts. Alles, was er in der Morgendämmerung hörte, war das unablässige Murmeln des Wassers, das sich durch die Stabrechen an den Teichausgängen drängte, sich an den glatten, algenbesetzten Staubrettern hob, sie überstieg und in schwachem Strahl hinabstürzte. Zuletzt suchte er den Weg ab, nicht den festen, öffentlichen Weg, der durch den Wald und nach Barglund führte, sondern den Pfad, der neben den Teichen hinlief und dann als graues Band dem Bach folgte bis dahin, wo er auf halber Höhe aus dem Hang austrat, am Fuß einer Buche.
Halb verdeckt von dem feucht schimmernden Stamm stand ein Mann und blickte zu den Teichen hinab, auch er schien zu lauschen, schien auf einen abermaligen Warnruf zu warten, unsicher oder unschlüssig geworden, ob er weiter hinabsteigen sollte; aber nach einer Weile trat er hervor, und Wittmann sah, daß er einen Sack trug und einen kurzstieligen Kescher. Geduckt und an einen Stapel ebenmäßig gestochener Grassoden geschmiegt, beobachtete Wittmann den Mann und dachte, ihm hat der Warnruf gegolten, nur ihm, weil er das Tier überrascht oder erschreckt hat; und er dachte auch, es könnte Berni sein, der kleine Halunke, der es immer noch nicht aufgegeben hat, sich heimlich zu bedienen. Sichernd kam der Mann den Hang herab, verließ den Pfad beim Abwachsteich, dessen gedämmtes Wasser sich beunruhigte von schnellenden und wimmelnden Fischen, die die geringe Erschütterung der Schritte längst wahrgenommen hatten, und ging geduckt weiter bis zur Schleuse und legte sich dort hin und beugte sich so tief hinab, daß Kopf und Oberkörper verschwanden.
Noch bevor er regungslos hinter ihm stand, wußte Wittmann, warum sich der Mann – es war Berni in seiner verdreckten, mausgrauen Joppe, mit vor Feuchtigkeit weißlichen Rohlederstiefeln an den Füßen – vor der Schleuse hingelegt hatte, hier, wo eine sanfte Strömung alles antrieb und sammelte, was ihr keinen Widerstand entgegensetzen konnte: trockene Blätter und Äste und Pflanzenreste und tote und sterbende Fische; und als er unbemerkt hinter dem Liegenden stand, verhielt er sich zunächst still und sah nur zu, wie der Mann den Kescher durch das Wasser zog, heftig, berechnet, in immer gleichen Achterschwüngen, wobei sein dünnes, bräunliches Handgelenk aus dem Joppenärmel hervorstand. Schlapp, in leichter Krümmung trieben die toten Fische an der Oberfläche – es waren weniger als am letzten Morgen –, gewiegt von den kleinen Wellen, die der Kescher erzeugte; einige, tödlich ermattet, hörten nicht auf, zäh und verzweifelt mit den Kiemendeckeln zu klappen, und wenn der eiserne Ring des Keschers sie anstieß, belebten sie sich unerwartet und schnellten davon, getrieben von letzter, aus Angst geborener Kraft, und gewannen auch etwas Tiefe, hoben aber bald ihre getigerten Rücken wieder herauf und legten sich auf die silbrig schimmernde Seite. Berni fischte sie auf, die Sterbenden und die Toten, und warf sie in einen Sack, einmal gelang es ihm, mit einem tiefen und geschickten Zug zwei Zander herauszuholen, die er mit der Handkante tötete und nicht in den Sack, sondern in die Taschen seiner Joppe steckte.
Frank Wittmann setzte dem Liegenden einen Fuß auf den Rücken und beugte sich so weit vor, daß auf dem gekrüllten Spiegel des Wassers sein Gesicht neben dem Bernis erschien; beide Gesichter zerliefen und blieben dennoch vorhanden und in Augenblicken erkennbar, und der Mann, der unter dem zunehmenden Druck des Fußes die aufsteigende Erbitterung seines Entdeckers zu spüren glaubte, wagte nicht, sich zu rühren, zumindest eine ganze Weile nicht, aber dann, als er nur noch mühsam atmen konnte, warf er den Kopf zur Seite und linste nach oben und sagte mit gepreßter Stimme: Tu’s nicht, Frank, tu mir nichts, es war bestimmt das letzte Mal. Wittmann zog seinen Fuß zurück und trat auf den Damm und musterte mit kaltem, hartem Blick den Mann, der sich angestrengt aufrichtete und verlegen die viel zu weite Jacke abklopfte, bevor er Sack und Kescher aufnahm und stockend und schuldbewußt zu erklären versuchte, warum er sein Versprechen, sich nie mehr bei den Teichen blicken zu lassen, gebrochen hatte.
Es war wie immer die gleiche Ausrede – die kleine stinkende Nerzfarm, die Berni auf einem verwahrlosten Altenteil in Barglund betrieb, die schwierige Aufzucht der Jungtiere und ihr Hunger nach frischen Fischen, die den Fellen zusätzlich Festigkeit und Glanz verleihen. Glaub mir, Frank, es ist nur wegen der Tiere, sie kümmern, sie sind bald nichts mehr wert. Und wie schon einige Male zuvor bot er an, für die geborgenen toten Fische zu bezahlen, er forderte Wittmann auf, einen Preis zu nennen; doch der stand nur in einer Haltung da, die Wut und endgültige Weigerung ausdrückte, unbeweglich und gerade so, als überlegte er, zu welch einem Ende er es diesmal bringen sollte. Sag, Frank, warum darf ich die toten Fische nicht kaufen, warum nicht? Mit einer knappen unwirschen Geste aus dem Handgelenk sagte Wittmann: Verschwinde – wenn du nicht willst, daß wir dich eines Tages beim Ablassen der Teiche auf dem Grund finden, dann verschwinde hier ein für allemal.
Berni schulterte den Sack und nahm den Kescher auf, den er vor Wittmann hingelegt hatte zum Zeichen freiwilliger Auslieferung, schlurfte ohne ein Wort zum Pfad, stieg verbissen den Hang hinauf, blieb jedoch überraschend stehen und kehrte zögernd zurück, beherrscht von einem Einfall und weil ihm, da alles glimpflich ausgegangen war, der Augenblick günstig erschien. Gib mir noch eine Chance, Frank. Du hast sie gehabt, sagte Wittmann, verschwinde. Ich werd’s gutmachen, sagte der kleine knochige Mann, wenn du mir noch eine Chance gibst, wirst du nie etwas zu beanstanden haben. Du hast jetzt die Chance, zu verschwinden, sagte Wittmann und wiederholte die knappe scheuchende Geste aus dem Handgelenk und wollte nichts mehr zulassen, keine Bitte, kein weiteres Wort, so daß dem Mann nichts anderes übrigblieb, als sich abzuwenden und den Hang hinaufzusteigen, nicht eilig oder überstürzt, sondern gemächlich und wohl in der Erwartung, doch noch einmal zurückgerufen zu werden.
Wittmann blickte ihm nach, er dachte an die Zeit, in der dieser Mann für ihn gearbeitet hatte, an die Jahre, die so verlustreich gewesen waren, weil Berni es fertiggebracht hatte, auf manchen Fahrten zum Fischmarkt einen Teil der Ladung auf eigene Rechnung zu verkaufen, Forellen und Zander vor allem, aber auch Karpfen im Herbst und nicht zuletzt Aale, die Wittmann gegen alle Voraussagen in einem unablaßbaren Torfstich hatte ziehen können. Damals hat er nicht nur geahnt, wie es um uns stand, sondern hat es auch gesehen und gewußt und dennoch nicht aufgehört, uns zu hintergehen, dachte Wittmann, und er dachte auch: Nicht noch einmal, Berni, laß dich hier nie wieder blicken, noch haben wir den Kummer nicht vergessen, den du uns zugefügt hast.
Mit langsamen Schritten ging er zu der mächtigen Buche, an deren Fuß der Bach austrat, und blickte über das Tal, blickte über das System der terrassierten Teiche, von denen sich der Morgendunst hob. Hier hatte einst sein Großvater gestanden, als das Tal noch unberührt oder doch ungenutzt und keines Einzelnen Eigentum war, windstill, abgelegen und verschont, von einem Bach durchflossen, der nur sickernd aus dem Hang heraustrat und erst allmählich, gespeist von unsichtbaren Zuflüssen, drängender und energischer wurde und die verkrauteten Tümpel nährte, die von der Sohle heraufschimmerten. So manches Mal hatte Wittmann hier mit dem alten Mann gestanden und zugehört, wie alles anfing, wie sich schon unter einem ersten, forschenden und kalkulierenden Blick das Tal als geeignet anbot für die Anlage eines Systems von Teichen, und wie sie sich, Wittmanns Großvater und Vater, erst dann entschieden, nachdem sie die Herkunft des Wassers bestimmt, die Pflanzen- und Tierwelt im Bach und in den Tümpeln erkundet hatten – mit ihren damaligen Mitteln bestimmt und erkundet hatten, was ihnen aber genügte und was sich auch als genügend erwies. Und wie immer, wenn er von hier aus hinabsah, drängte sich ihm ein Bild aus einem hellen heißen Sommer auf, es ließ sich nicht vergessen, als wäre es ihm aufgegeben, es zu bewahren: das Bild seiner schuftenden Leute, die halbnackt und ohne schweres Gerät, ausgerüstet nur mit Spitzhacke, Spaten und Schaufel und auf nichts vertrauend als auf ihre Erfahrung und ihre Ausdauer, den fetten Lehmboden für die vermessenen Teiche aushoben, Dämme errichteten und Wildgerinne gruben für überschüssiges Wasser.
Wittmann brannte sich seine kurze, zerbissene Pfeife an und kam herab und ging aufmerksam neben den Teichen entlang, die er in seinen Jahren vermehrt und vertieft hatte; sie ruhten nicht mehr unbewegt, Ringe und Druckwellen und kleine Trichter entstanden auf der Oberfläche, manchmal schnellten gekrümmte Fischleiber hervor und fielen klatschend zurück, und im ersten Sonnenlicht, das das Wasser sprenkelte, wurde die Wirkung der sanften Strömung erkennbar, die Kraut und Gräser hinbog und pendeln ließ. Er prüfte ein Überfallwehr, fischte einen unbelaubten Ast aus dem Wasser, ging wieder zum Brutteich und hob dort einen Mullkescher auf, den Kai ins Gras geworfen und einfach vergessen hatte, und mit dem Kescher auf der Schulter stiefelte er auf die alten verwachsenen Baumgespenster zu, auf die Kopfweiden, die in ihrem Innern faulten, solange er denken konnte, und die sich dennoch behaupteten und in jedem Frühjahr austrieben.
Plötzlich blieb er stehen. Auf den schuppigen, wulstartigen Auswachsungen, gedeckt von schlanken Gerten, hockte ein großer, dünnhalsiger Vogel und sah ihm entgegen. Nie zuvor hatte Wittmann hier solch ein Tier gesehen; ohne sich zu rühren, faßte er es ins Auge: die schwarzen Schwingen und Steuerfedern, den dunkelgrünen, metallisch glänzenden Bauch, den bronzefarbenen Vorderrücken und den starkhakigen Schnabel, dessen Wurzel nackt und gelblich offenlag; doch obwohl er sich hier noch nie hatte blicken lassen, wußte Wittmann sogleich, was für ein Vogel es war, und nicht nur dies. Unwillkürlich mußte er an den Augenblick denken, als sein Großvater den Balg eines zerschmetterten Fischotters aus der Schlagfalle hob und zufrieden sagte: Mit seinesgleichen werden wir immer fertig, Junge, so wie wir auch mit dem Reiher und dem Eisvogel und der Wassermaus fertig werden; nur mit dem Kormoran ist es anders: wenn uns der Kormoran hier findet, Junge, dann wird es ernst.
Der Vogel floh nicht, obwohl Wittmann nur wenige Meter vor ihm stand, er schien über ihn hinwegzuspähen, zu einem der oberen Teiche hin, dessen Wasser sich krauste und riffelte, als ein Entenpaar zischend niederging.
Während der Mann ihn regungslos und ungläubig beobachtete, drehte der Vogel seinen schmalen Kopf hin und her, äugte zum Haus und den Schuppen hinüber, als vermesse er den Abstand, äugte zu den Erlen und den hochgewachsenen Buchen hinauf, als begutachte er Höhe und Sicherheit des Gezweigs – alles geruhsam und anscheinend angstlos; dennoch zweifelte Wittmann nicht, daß er nach einer schroffen Bewegung auffliegen würde. Er achtete darauf, den Vogel nicht zu erschrecken. Krampfhaft hielt er den Mullkescher fest. Bleib ganz ruhig sitzen, dachte er, du darfst mir nicht entkommen, und er dachte: Also haben sie sich geirrt, alle, die davon redeten, daß er fortgezogen und verschwunden sei auf Nimmerwiedersehn, haben sich geirrt, zu früh frohlockt, die von Munkebüll und die von Wollstrup an der Küste, von wegen überlebt und ausgestorben, von unergründlichem Wandertrieb geleitet nach China heimgekehrt, vielleicht waren sie ja auch vorübergehend weggezogen auf der Suche nach reichen Gewässern, aber nun sind sie zurückgekommen – nicht einer, niemals einer, sie sind zurückgekommen.
Behutsam machte er einen Schritt rückwärts, dann noch einen, den Vogel unverwandt im Blick; zäh glitten seine Gummistiefel übers Gras, und nachdem sie, Mal für Mal, Stand gefunden hatten, hielt er inne und wartete, besorgt, daß der Vogel doch noch auffliegen könnte. Immer nur rückwärts gehend, erreichte er den mittleren Damm, der mehrere Teiche voneinander trennte, hier drehte er sich nach einem letzten vergewissernden Blick um und ging dann rasch und immer rascher auf die durchflossenen Bassins zu, hinter denen der Schuppen mit den Geräten und dem Werkzeug stand. Die Tür zum Schuppen war offen, er ging hinein und überhörte den Gruß von Kai, der in dickwandige, gläserne Hälter Wasser einließ; ohne den Beistand des Jungen anzufordern, hob er eine Leiter von den Wandhaken, richtete sie auf, schleppte sie vor die Luke und setzte sie an, und ohne sich ihres festen Standes zu versichern, stieg er nach oben und stieß den Lukendeckel auf. Auf dem lichtarmen Boden des Schuppens kroch er zu einem Stapel von ausgedienten Reusen und Senknetzen, stürzte ihn um, ertastete das Ölpapier und löste die Schnur. Der alte Wehrmachtkarabiner lag da, wo er ihn versteckt hatte, auch das Koppel mit den gefüllten Patronentaschen lag noch unter der Persenning. Wittmann kroch unter das Bodenfenster und lud den Karabiner, den er seit Jahren nicht in der Hand gehabt und aus dem er noch nie einen Schuß abgefeuert hatte.
Unwillkürlich mußte er an seinen einzigen Bruder Willy denken, dem er einst versprochen hatte, den Karabiner und die Munition abzuliefern, damals, am Ende des Krieges, als sie beide noch Kinder waren. Willy hatte den Karabiner in einem Waldversteck entdeckt, er stammte von durchziehenden Soldaten, die, erleichtert, daß alles vorüber war, die Waffen und einen Teil ihrer Ausrüstung in die Teiche geworfen oder im Fichtenwald versteckt hatten. Frank Wittmann konnte sich von der Waffe nicht trennen; anstatt zu tun, was er seinem besorgten Bruder versprochen hatte, säuberte er den Karabiner, wickelte ihn in Ölpapier und verwahrte ihn auf dem Boden des Schuppens, und wenn er sich in all den zurückliegenden Jahren einmal zufällig seines verbotenen Besitzes entsann, begnügte er sich damit, ihn zu putzen, zu ölen und probeweise zu laden und zu entladen und ihn, nach spielerischen Zielversuchen durch das Bodenfenster, wieder zu verstecken.
Er war nicht überrascht, daß der Junge ihn beobachtete, er übersah die ausgestreckte Hand, die ihm den Karabiner abnehmen wollte, befahl nur ungeduldig, die Leiter wegzuräumen, kletterte hinab und entsicherte im Gehen die Waffe. Kai hatte es noch nie erlebt, daß sein Vater den alten Karabiner in die Hand nahm, geschweige denn mit ihm ins Freie trat. Mechanisch folgte er ihm, rätselnd und gespannt und auf Abstand bedacht; er tat es so lange, bis sein Vater ihm ein unwilliges Zeichen gab, zurückzubleiben, da hockte er sich hin und folgte ihm mit seinen Blicken.
Frank Wittmann ging aufrecht, den Karabiner quer vor dem Körper, er ging so den Damm hinab bis zum Haselgebüsch, verschwand für einen Augenblick und tauchte dann in gebückter Haltung auf, glitt hinter einen Baum, kniete und spähte kniend nach dem Ziel aus, konnte es aber anscheinend nicht finden, denn er trat hervor und bewegte sich mit sehr langsamen Schritten auf die Kopfweiden zu, den Karabiner zu schnellem Schuß bereit. Dann trat er in den Schatten der Weiden, lauschte, musterte das Geäst, sah zu den mächtigen Buchen und Kiefern hinauf, immer noch wachsam und bereit, wenn auch nicht mehr so wachsam wie bei der Annäherung an die Kopfweiden. Als er den Karabiner senkte und sich abwandte und frei auf den Pfad hinaustrat, konnte Kai ihm seine Enttäuschung ansehen. Der Junge ging ihm nicht entgegen, er stand nur auf und ließ ihn herankommen, wißbegierig, als hätte er ein Recht auf eine Erklärung; doch sein Vater, nicht nur enttäuscht, sondern auch nachdenklich, sagte lediglich: Er hat uns gefunden, der erste Kormoran, und ging an ihm vorbei zum Schuppen hinüber, wo er den Karabiner in eine Gummischürze wickelte und ihn hinter Säcken und Fischfutter verwahrte. Er brachte ihn nicht auf den Boden in das alte Versteck, er ließ den Karabiner da, wo er ihn rasch zur Hand hatte, und damit gab er zu erkennen, daß er mit dem baldigen Wiedererscheinen des Vogels rechnete.
Der Junge wollte wissen, ob es wirklich ein Kormoran war, und Wittmann sagte: Ich werde ihn dir zeigen, bald, ich werde dir unseren schlimmsten Feind zeigen, und dachte: Das hat uns gerade noch gefehlt, jetzt, da wir uns Hoffnung machen und es sich vielleicht wieder zu lohnen beginnt, hat uns gerade noch gefehlt, daß eine ganze Kolonie hier einfällt und sich ihre Horste über den Teichen baut wie in Hadeby; wir werden nicht wehrlos zusehen, wie sie unsere Gewässer leer machen, und uns wird mehr einfallen, als Rasseln zu schwingen oder Knallkörper explodieren zu lassen. Der Junge sagte: Soviel ich weiß, sind sie geschützt, und sein Vater darauf: Geschützt, ja, und wenn sie sich nur die toten Fische holen, habe ich nichts dagegen, aber die Leute aus Hadeby können dir sagen, daß jeder Kormoran sich mit zwei bis drei Kilo Fisch am Tag bedient – mit lebenden, nicht mit toten Fischen. Überschlag mal, wieviel ein – oder zweisommrige Schleie oder Forellen das ausmacht und mit welchem Schwund man rechnen muß, wenn sich fünfzig von diesen schwarzen Gästen hier ansiedeln. Wittmann wischte sich über sein graues, scheitelloses Haar und nickte beim Hinausgehen dem Jungen zu, und so, wie er davonging – aufgerichtet, mit festen Schritten –, ließ er keinen Zweifel daran, daß er entschlossen war, selbst zu bestimmen und zu tun, was ihm als notwendig erschien.
Zuletzt suchte er noch einmal seinen Arbeitsplatz auf. Nach allem Brüten und Rätseln, nach Tagen lähmender Ratlosigkeit entschloß er sich zu einem letzten Versuch, zu einer Probe, die ihm endgültige Sicherheit bringen sollte; und so fuhr er spät zum Hafen, stand in der Dunkelheit mit dem Rücken zur Elbe und beobachtete, wie in den Büros hinter der hohen, getönten Glaswand nach und nach die Lichter erloschen und wie seine Arbeitskollegen, von der Drehtür bedrängt, ins Freie traten und sich, in ihre Mäntel vergraben, nach hastigem Abschied zerstreuten. Beim Anblick des sich eindunkelnden Gebäudes, das allmählich seine Kontur verlor, mußte Willy Wittmann unwillkürlich an ein mächtiges, vieläugiges Wesen denken, das sich zur Ruhe begibt – unbekümmert um die Signale der Schlepper und die träge wandernden Positionslichter auf dem Strom, die die Glaswand reflektierte. Schon in der Dämmerung hatte Timming, der Hausmeister, die beiden in der Erde verankerten Scheinwerfer angestellt, deren Lichtarme sich von zwei Seiten auf die weißgraue Wand richteten und deren Kegel sich auf dem feinstilisierten, schmiedeeisernen Firmenzeichen fanden, einem Zweig des Teestrauchs mit Blüten und Blättern. Nie, nicht ein einziges Mal hatte Willy Wittmann gesehen, daß jemand dem Firmenzeichen einen längeren Blick gönnte, es begutachtete, bewunderte – bei Tageslicht nicht und nicht unter dem starren Zugriff der Scheinwerfer. Zu dem ebenfalls schmiedeeisernen Namenszug indes, der über die ganze Breite des Haupteinganges lief, hatten sich viele Blicke gehoben, erwartungsvolle und abschätzige, aber auch zweideu-tige Blicke, besonders nachdem offenkundig geworden war, daß sich Maack & Pottjohann nicht nur zu einem der größten Teehandelshäuser Hamburgs, sondern vermutlich auch des Kontinents entwickelt hatte.
Als nur noch die Lichter der Kantine im vierten Stock brannten, überquerte Wittmann die Straße, froh, den böigen, kalten Winden zu entkommen, stieg die Steinstufen hinauf und betrat, ohne einem Bekannten zu begegnen, die Halle, die in gedämpfter Notbeleuchtung lag; der polierte rumänische Marmor schimmerte matt. Corinnas festungsartiger Empfangstisch war unbesetzt, dennoch glaubte Wittmann ihren munteren Gruß zu hören, glaubte sie für einen Augenblick in der kleidsamen blauweißen Firmentracht zu sehen, mit einem Schiffchen auf dem langfallenden braunen Haar, einen Telefonhörer in der Hand. Unter dem Porträt des Firmengründers Julius Pottjohann, unter seinen alten, funkelnden Augen ging er zu den gläsernen Vitrinen, die auf seinen Rat hin an den Wänden der Halle aufgestellt worden waren. Es waren Schauvitrinen, Lehrvitrinen, in denen auf flachen, gemusterten Porzellanschälchen die bedeutendsten Teesorten der Welt ausgestellt waren: chinesischer Schwarztee, der einst russische Karawanenhändler belebte, großblättrige Oolongs, indischer Darjeeling und Orange Pekoe aus den hochgelegenen, nebelfeuchten Teegärten Ceylons; selbst pfannengerösteter Grüntee aus Japan, der den Geist der Ruhe verspricht, zeigte unter Glas sein eigentümliches Erscheinungsbild. Eine Sammelvitrine, die für sich auf einem Podest stand, war ihm selbst gewidmet, seinen bewährten aromatischen Mischungen, die ihm oft genug nicht nur das Lob der Geschäftsleitung und des Handels, sondern auch das zahlreicher Verbraucher eingetragen hatten; Detlev Maack, Firmenteilhaber und von Anbeginn Wittmanns Freund, hatte darauf bestanden, die Sammelvitrine als Dokument seiner Erfolge aufzustellen, die, wie in der Einweihungsrede gesagt wurde, wesentlich zum Gedeihen der Firma beigetragen hatten. Um den Hall seiner Schritte zu dämpfen, trat Wittmann leise auf, er bewegte sich so behutsam zum Fahrstuhl, daß ein Beobachter ihn für einen unerwünschten Eindringling hätte halten können; er wunderte sich nicht, daß der Hausmeister ihn warnend anrief und aufforderte, stehenzubleiben. Als er Wittmann erkannte, entschuldigte er sich und beeilte sich, ihm die Fahrstuhltür zu öffnen. Der Hausmeister trug auch am Abend seine Uniform mit dem ovalen Aufnäher, der ihn als Angestellten von Maack & Pottjohann auswies. Wie kein anderer in der Firma hatte auch er nicht das Recht, Wittmann nach dem Grund seines Erscheinens zu ungewöhnlicher Zeit zu fragen; die Vorrechte, die er sich gegenüber allen Mitarbeitern erworben hatte, wurden von jedem stillschweigend anerkannt.
Er ließ sich hinauftragen in den zweiten Stock, schaltete die Korridorbeleuchtung ein und ging angespannt, mit zunehmend gehemmten Schritten, zu seinem Arbeitsplatz, vorbei an Stichen und kolorierten Fotos, die braunhäutige Mädchen beim Teepflücken zeigten, andächtige Russen vor ihrem Samowar, schnelle Teesegler und die berühmte Kurtisane Okita, die ihrem Liebhaber ein Schälchen Sencha serviert. Seiner Anweisung folgend, hatte Ronald, sein gutwilliger, aber mäßig begabter Assistent, die Tür abgeschlossen, die Tür zur Probierküche der Firma, zur Taste-Kitchen, wie fast alle im Haus, anfällig für englische Muster und Begriffe, sie nannten. Während er stochernd nach dem Schlüsselloch suchte, bemerkte Wittmann, daß seine Hand leicht zitterte, und als er seinen Arbeitsplatz betrat, spürte er einen Reif auf der Brust und mußte sich an die Wand lehnen und warten, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Er hängte seinen Mantel an den Haken und zog wie all die Jahre, sobald er seinen Raum betreten hatte, den weißen Kittel an; dann setzte er Wasser auf. Über dem wachstuchbespannten Probiertisch hing eine vergrößerte Fotografie, auf der, vor dem Hintergrund terrassierter Teiche, sonntäglich aufgereiht seine Leute in Barglund standen; jeder von ihnen hielt dem Fotografen einen Fisch entgegen. Und daneben hing die gerahmte Karikatur, die Wittmanns Mitarbeiter ihm zu seinem fünfundzwanzigjährigen Berufsjubiläum geschenkt hatten – ein launiges, anspielungsreiches Blatt, das seine Tätigkeit durch eine geschwollene Zunge veranschaulichte, auf der es knospte und blühte und perlte und deren Ränder von Lotus, Holunder und Hibiskusblüten besetzt waren. Noch bevor man ihm das Geschenk überreichte, hatte er erfahren, daß sie ihn in der Firma »die Zunge« nannten, was er als oft prämiierter und über Tarif honorierter Teekoster mit heiterem Einverständnis auf sich sitzen ließ.
Sorgfältig wusch er mit schwedischem Quellwasser, das in firmeneigenen Behältern bezogen wurde, sechs Probierschalen aus und trocknete sie unter dem Heißluftapparat, der auf seinen Wunsch aufgestellt worden war; dann nahm er selbst einen tiefen Schluck und ließ das temperierte Wasser über die Zunge gleiten, drückte es gegen den Gaumen, bewegte es saugend und pressend in der Mundhöhle, bis er das Gefühl hatte, daß die Geschmacksknospen reingewaschen, neutral und empfänglich waren; nach abschließendem Gurgeln spuckte er es in den Ausguß. Allein, ohne die irritierende Nähe seines Assistenten, verschont von Anrufen und unerwarteten Besuchern und ungestört vom Geschehen auf dem Strom, das die Konzentration oft genug beeinflußte, bereitete er alles vor, um sich letzte Klarheit über das Ausmaß seines Geschmacksverlustes zu verschaffen, den er sich seit geraumer Zeit, am spürbarsten seit dem sommerlichen Unglück auf der Nordsee, eingestehen mußte. Gesprochen hatte er mit niemandem darüber, nicht einmal mit Thekla, seiner Frau, die kaum bemerkte, wie sehr ihn der Verlust, den er zunächst für etwas Vorübergehendes hielt, beunruhigte und bedrückte – nur von seinem ersten Irrtum hatte er ihr erzählt, als er die Bitternis der Mandel mit der scharfen Bitternis des Ingwer verwechselte, mit dem er dann chinesischen Schwarztee aromatisierte. Es gab ihr nicht zu denken, sie ging nur mit einer ihrer üblichen bagatellisierenden Handbewegungen darüber hinweg; alle späteren Fehlbestimmungen behielt er für sich.
Als das Wasser zu kochen begann, deckte er die alte Apothekerwaage ab, legte, hauseigener Tradition entsprechend, einen Sixpence in eine Schale und wog mit seinem Gewicht sechs verschiedene Proben aus, die er sorgsam auf die Porzellangefäße verteilte. Es waren Proben der Grundsorten, die er, einschließlich der zwanzig Abarten, die es von jeder gibt, in früheren Jahren mit geschlossenen Augen und nach einem einzigen Schluck bestimmen konnte, den kernigen Assam aus dem Himalaja ebenso wie den herben Uva aus Ceylon. Einst, nach der Heimkehr von einer gemeinsamen Reise zu den Teeplantagen Asiens, hatten Detlev und er in Experimentierlaune ermittelt, daß er sogar in der Lage war, mehr als dreihundert Mischungen zu unterscheiden.
Noch nicht bereit, sich mit dem aufgetretenen Verlust abzufinden, hoffend, daß lediglich überreizte Nervenfäden einen zeitweiligen Ausfall der Sinneszellen verursacht hatten, fuhr Wittmann in seiner Selbstprüfung fort, setzte den Filter auf, um das Wasser zu entkarbonisieren, goß den Tee auf, den er nach der Regel fünf Minuten ziehen ließ, schließlich faltete er sein Taschentuch und band es sich vor die Augen; eins nach dem anderen ertastete er die Porzellanschälchen, stellte sie um, brachte die Reihenfolge durcheinander, ließ sich Zeit und versetzte die Gefäße noch einmal, denn auch die Farbe – Honiggelb, Braunrot und grünlich schimmernde Schwärze – sollte ihm das Urteil nicht wie sonst erleichtern; wahren Aufschluß konnte er nur gewinnen, wenn er auf jede Urteilshilfe verzichtete.
Mit verbundenen Augen, erregt und auch ein wenig ängstlich, kostete er die erste Probe, registrierte das rauchige Aroma, ließ – wie bei all seinen Geschmacksbestimmungen – das zunächst blasse, verhangene, dann immer schärfer werdende Bild hervorwachsen, ein Leitbild, ein farbig belebtes Ortsbild, das die empfänglichen Knospen, von Aroma und Duft inspiriert, in den Papillen entstehen ließen und weiterleiteten, so klar, daß er das Holzfeuer zu erkennen glaubte, über dem der Lapsang Souchong achtsam getrocknet wurde. Glücklich schrieb er den Namen auf einen Notizzettel und fingerte ihn unter die Probierschale. Er spülte den Mund aus, ertastete das nächste Gefäß und fühlte sich von eindeutig nussigem Aroma auf ein südindisches Hochplateau versetzt, stand im warmen Wind unter einem der Schattenbäume und winkte den Mädchen in ihren billigen Baumwollsaris zu, wie einmal, wie vor langer Zeit, und mit einem Hauch von Muskateller, den die vielgekrönte Sorte preisgab, bot sich auch der Name an; von wachsender Zuversicht erfüllt, schrieb er ihn hin. Wie selbstverständlich sich sodann der »Schwarze Drache« zu erkennen gab und das grüne »Schießpulver«; als wollten sie ihm das Risiko des Ratens ersparen, offenbarten sie rasch ihre Herkunft, empfahlen sich als alte Bekannte. Schon war er versucht, in halbgewonnener Selbstsicherheit die Binde abzunehmen und seine Bestimmungen durch den Augenschein zusätzlich zu bestätigen, doch dann setzte er ein neues Schälchen an die Lippen, und obwohl das Aroma ihm vertraut vorkam, zeigte sich nichts, stieg nichts auf; kein leitendes Bild entstand, das ihn auf die Spur brachte, ihn durch erfahrene und erinnerte Szenerie hinführte zu Land und Namen; zwar entband die Probe den eigenen frischen Flavour, aber er setzte sich nicht in Bildhaftes um, in ein charakteristisches Panorama; es war, als sei eine Leitung gekappt worden. Er spürte Hitze aufsteigen, spürte Schweiß auf der Stirn und einen Druck im Magen, und er spuckte den Rest der unerkannten Sorte aus und griff wohl zu hastig nach dem nächsten Gefäß, denn etwas von der Flüssigkeit schwappte über und netzte seine Finger, die er in unwillkürlichem Reflex ableckte. Und schon dabei, während seine Zunge den Tropfen aufnahm, hatte er den Eindruck, etwas Fremdes, nie Erprobtes zu schmecken, noch bevor er dem Aroma nachsann, es ins Bild zu bringen und zu bestimmen versuchte, wußte er, daß er ihm nicht auf den Grund kommen würde. Dennoch nahm er einen Schluck aus dem Schälchen, badete die Zunge, sutschte und kaute – ohne Ergebnis: die Geschmacksknospen verschlossen sich, rieten ihm nicht einmal zu einer Vermutung.
Willy Wittmann nahm die Augenbinde ab, wischte sich den Schweiß vom Gesicht, setzte sich auf den Hocker und trank ein Glas von dem schwedischen Quellwasser; als er das Glas abstellte, hörte er hinter sich Detlevs Stimme. Sein Chef stand noch in der offenen Tür, groß, schmalgesichtig, in langfallendem Wettermantel, den Autoschlüssel in der Hand. Lächelnd entschuldigte er sich für sein Erscheinen; er hatte zweimal geklopft, ohne eine Antwort zu bekommen. Wittmann vergaß aufzustehen, vergaß anscheinend auch, den Gruß zu erwidern, was seinen Chef dazu bewog, hereinzukommen und nach einem Blick auf die Porzellanschalen eine Hand auf seine Schulter zu legen und nur stumm dazustehen, stumm und wissend und teilnahmsvoll; ihm entging nicht die Niedergeschlagenheit seines Freundes. Eine Erklärung für seinen späten Aufenthalt in der Probierküche brauchte er seinem Chef nicht zu geben; oft genug hatte der ihn nach Feierabend aufgesucht, wenn Wittmann allein neue Mischungen zusammenstellte, wenn er seine Früchte-, seine Blüten- und Kräutertees kombinierte; doch den Grund seiner Niedergeschlagenheit glaubte er dem Freund nicht verschweigen zu dürfen. Er hob das Gesicht und blickte ihn an, aber noch bevor er ein Wort sagen konnte, schlug Detlev ihm vor, mit ihm gemeinsam nach Hause zu fahren, zum Abendessen; Detlev fand soviel Gefallen an seinem eigenen Vorschlag, daß er gleich zum Telefon ging und sagte: Ich ruf nur eben mal Susanne an, sie wird sich freuen, Willy, glaub mir; Thekla nehmen wir auf dem Heimweg mit.
Wittmann winkte ab, er bat seinen Chef, noch einen Augenblick zu warten und lud ihn ein, sich an den Probiertisch zu setzen, was Detlev zögernd, doch ohne Verwunderung tat. Nicht fest, nicht erwartungsvoll ruhte sein Blick auf Wittmann, sondern bekümmert, fast schon mitleidig. Wittmann sagte und versuchte so beherrscht und sachlich zu sein wie nur möglich: Detlev, es geht nicht mehr, es ist vorbei, und forschte im Gesicht seines Gegenübers, darauf gefaßt, einen Ausdruck der Verblüffung oder des Erstaunens entstehen zu sehen; doch Detlev reagierte nicht. Es ist vorbei, wiederholte Wittmann, seit dem Unglück auf der Nordsee hab ich’s gemerkt, seit dieser Seebestattung; auf mein Urteil ist kein Verlaß mehr, ich bin unsicher geworden, ich erschmecke nicht einmal die Grundsorten. Ob’s am Alter liegt oder an diesem Unglück auf dem Wasser – ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich fertig bin, unbrauchbar für die Stellung, die du mir gegeben hast. Du mußt es erfahren, Detlev; ich bin es dir schuldig.
Sein Chef wandte sich ab, er stand auf und trat ans Fenster, ließ das Rollo hochschnellen und blickte auf das erleuchtete Dock, in dem sie seit Wochen mit funkensprühenden Schweißbrennern und Niethämmern daran arbeiteten, ein Kreuzfahrtschiff zu strecken. Eine Weile bedachte er sich und sagte dann leise: Es ist gut, Willy, daß du davon anfängst; ich hätte es dir in diesen Tagen sagen müssen; und in bekümmertem Tonfall fügte er hinzu: Seit einiger Zeit wissen wir es, wir haben es mit Sorge festgestellt, mit Sorge und Anteilnahme, denn niemand hat vergessen, was du für dieses Haus getan hast, wieviel wir dir verdanken. Kaum hörbar und mit gesenktem Blick sagte er auch noch: Ohne deine Arbeit wären wir nicht da, wo wir heute sind. Wittmann zweifelte nicht, daß diese Anerkennung aufrichtig war, und er zweifelte ebensowenig an Detlevs Anteilnahme und daran, daß er unter dem Geständnis litt, das er früher als beabsichtigt gemacht hatte. Um ihn zu trösten, erwähnte er, daß sich im Alter wohl manche Sinnverluste einstellen, der Geschmack sei davon nicht ausgenommen, die Geschmacksempfänglichkeit, die sich bei vielen in hohen Jahren bis auf ein Drittel verringere, und es sei nun einmal so, daß man um so mehr einbüße, je mehr man besitze. Wittmann hörte ihm kaum zu, denn jetzt interessierte ihn nur noch, woher der Chef seine Fehlurteile, seine Irrtümer und mißglückten Mischbestimmungen kannte, und als er danach fragte, erhielt er die Antwort, die er sich auch selbst hätte geben können. Vom Handel, Willy, vom Verbraucher und vom Handel haben wir es erfahren – einige Mischungen wurden einfach nicht angenommen. Obwohl Wittmann merkte, daß der Chef ihn schonen, ihm bedrückende Einzelheiten ersparen wollte, bat er ihn, einige der erfolglosen Mischungen zu nennen, ihm schien viel daran gelegen, die rückläufigen Titel zu kennen, und nach längerem Drängen und Bitten nannte der Chef »Morgenblüte« und »Goldstimme«, zwei Blütentees, die Wittmann mit Rose und Jasmin aromatisiert hatte. Es war dem Chef anzusehen, daß er in der Lage gewesen wäre, andere, wichtigere Titel zu nennen, doch er beließ es bei diesen beiden und beklopfte leicht Wittmanns zusammengelegte Hände, als wollte er sagen: Mach dir nichts draus, das ist passiert und vorbei.
Sie saßen sich schweigend gegenüber, und unwillkürlich mußte Wittmann daran denken, daß sie sich so viele Male gegenübergesessen hatten, schon im privaten studentischen Schachclub, den Detlev einst gegründet hatte und der allen Fakultäten offenstand. Also Neuauflage: Betriebswirtschaft gegen Stoa – mit diesen Worten hatte Detlev oft ihr Spiel eingeleitet, ein elegischer, nie leichtsinniger Gegner.
Vergeblich suchte Wittmann einen bestimmten vertrauten Ausdruck im Gesicht seines Gegenübers, die etwas träge Unerschütterbarkeit von einst, die nie gespielte, herausfordernde Gelassenheit – hier, am Probiertisch, fand er ihn nicht wieder. War es ein hoher Verlust, fragte Wittmann und war nachträglich verlegen über die Direktheit seiner Frage. Der Chef machte eine beschwichtigende Geste. Nichts, was uns erschüttert, sagte er und zwinkerte Wittmann aufmunternd zu, widersprach sich aber sogleich selbst – oder hinterließ Zweifel an dem Gesagten –, indem er seinem Blick auswich und aufstand und den Telefonhörer abnahm.
Ich werde Susanne verständigen, daß ich dich und Thekla zum Abendessen mitbringe, sagte er, sagte es so entschieden und fast trotzig, als wollte er mit diesem Beschluß klarstellen, daß es für ihn vorerst nichts mehr zu besprechen gab, nicht hier und gleich, nachdem man sich schon so schwerwiegend anvertraut hatte. Die erste Etappe lag hinter ihnen, die bittere Eröffnung, das genügte einstweilen. Während der Chef seine Nummer wählte, erwog Wittmann die Konsequenzen, die sich aus seinem eingestandenen Verlust ergeben hatten: Trennung und Abschied waren unvermeidlich geworden, doch über Form und Inhalt würde wohl zu verhandeln sein, zumindest wurde Detlev darauf bestehen, als Firmenteilhaber, dem jeder Personalwechsel an gehobener Stelle schon immer unangenehm war.
Wie freudig er ihrer beider Besuch ankündigte und wie wenig Zeit er brauchte, um Susannes Einverständnis zu bekommen; so, wie er mit ihr sprach, ihr antwortete, schien sie sogar auf Wittmanns zu warten, denn einmal sagte er: Eben, das meine ich auch; und nachdem er aufgelegt hatte, wiederholte er Susannes Ansicht, daß ein Wiedersehen längst überfällig sei. Wittmann sah voraus, daß im Haus des Chefs nicht über den Abschied gesprochen werden wurde, und aus der Dringlichkeit der Einladung schloß er, daß Detlev auch jetzt nicht daran gelegen war – im Gegensatz zu ihm selbst: sein Versagen hatte ihn in eine Stimmung gebracht, in der er sich nichts so sehr wünschte wie eine radikale Sofortlösung. Ohne ihn zu beachten, sagte der Chef: So, Willy, alter Stoiker, und nun rufen wir Thekla an, damit sie sich fertigmacht. Obwohl Wittmann wußte, daß Thekla einen Vorwand finden würde, um abzusagen, ließ er ihn wählen, hörte seiner aufgeräumten Begrüßung zu, den höflichen Erkundigungen und Nachfragen, nahm seine Feststellung zur Kenntnis, daß sie beide, Detlev und er, erschöpft hier herumsäßen und daß ihnen deshalb ein erholsamer Abend zustände, und als Detlev schwieg, war ihm schon anzumerken, wie aus Unwillen und Enttäuschung leichter Ärger entstand, den er noch einmal durch gesammelte Beredsamkeit zu überwinden hoffte, dem er schließlich aber, angesichts Theklas beharrlicher Weigerung, Luft machte. Da ist nichts zu machen, sagte er, deine Frau fühlt sich anscheinend nicht gut, und außerdem erwartet sie Tony.
Während der Chef grüblerisch am Fenster stand und auf das Dock am jenseitigen Ufer des Stroms hinübersah, zog Wittmann seinen Kittel aus und hängte ihn mit dem Gefühl weg, es ein letztes Mal getan zu haben. Er befühlte die Taschen, zog die Schlüssel zum Probenmagazin heraus, das zu öffnen und zu schließen ihm allein vorbehalten war, und legte sie unübersehbar auf den Tisch. Dann sagte er: Komm, Detlev, setz dich hin, wir brauchen nur noch über den Rest zu reden; und nach einer Weile näherte sich sein Chef, kopfschüttelnd, resigniert, anscheinend machte es ihn zusätzlich verlegen, daß die Aufforderung, über das Ende einer langen Zusammenarbeit zu sprechen, von Wittmann kam. Der Chef wich ihm nicht aus. Aufgerichtet hörte er ihm zu, widersprach nicht, als Wittmann ihm das Risiko vorstellte, das mit seiner weiteren Arbeit verbunden wäre, schüttelte nicht den Kopf, als er die Verluste erwähnte, die er bereits verursacht hatte; regungslos hörte der Chef zu, doch als er schließlich – stockend, betreten und wohl nicht ohne Wehmut – seinem Freund zu danken begann, wußte Wittmann, daß seine Entscheidung im Sinne des Chefs war.
Noch vor der Abenddämmerung stieg er zu der Erlengruppe auf und hockte sich dort hin und wartete mit entsichertem Karabiner. Es war windstill im Tal, nur durch die mächtigen Kronen der Buchen ging von Zeit zu Zeit ein Rauschen, heftig und saugend, wie von einem vorüberziehenden Vogelschwarm. Enten, die das pfeifende Geräusch ihrer Schwingen ankündigte, fielen zur Nacht ein und schnitten in die dunklen Spiegel der Teiche eine schäumende Landespur. Über dem Wasser tanzten Insekten in beweglichen Säulen, sie hoben sich und fielen, stoben auseinander und organisierten sich in einem Augenblick aufs neue. Mitunter durchbrach ein Fisch die Oberfläche, krümmte im Sprung den spindelförmigen Körper und tauchte mit schwachem Platschen wieder ein.
Frank Wittmann hockte unter den Erlen, den Blick unverwandt auf die Kopfweiden gerichtet, deren wulstige Auswüchse sich deutlich vor dem Brutteich abhoben. Auf einem der faulen Gespensterbäume hatte er den ersten Kormoran gesehen, er war sicher, daß der Vogel hierher zurückkehren würde, angelockt durch die Stille und das Übermaß an Beute. Er stellte sich vor, daß dieser einzelne Kormoran, den er entdeckt hatte, ein Aufklärer, ein Melder war, von seiner Kolonie ausgeschickt, nach ergiebigen Fanggründen zu suchen; und er war entschlossen, ihn daran zu hindern, die an der Küste der Ostsee wartenden Schwärme hierherzulocken, an den Ufern des Fjords entlang, über die Wiesen und Waldstücke Angelns hinweg, in dieses Tal, zu seinen Teichen. Deutlich sah er die Fotos in dem Buch vor sich, das Kai ihm beim Mittagessen gezeigt hatte: den Vogel in gestrecktem Flug, tief eingetaucht und ebenfalls gestreckt beim Schwimmen und mit theatralisch geöffneten Schwingen, die nach jeder Unterwasserjagd trocknen müssen. Er dachte: Komm nur, komm, du wirst hier erwartet, wirst glühend empfangen, denn wir haben gelernt, uns zu wehren, wir sind fürs Teilen, aber nur mit denen, die es verdient haben, darum werden wir nicht dulden, daß …
Frank rückte vom Erlenstamm ab, der gegen seinen Rücken drückte, er blickte hinauf zu den verblassenden, kupferfarbenen Lichtstreifen über dem Hang, von wo, wie er glaubte, der Kormoran herabgesegelt kommen würde, um sich auf der Kopfweide niederzulassen. Nichts zeigte sich da, kein Vogel, kein schneller Schatten. Trotz des warmen Tages bewahrte die Erde dort, wo Wittmann hockte, eine kühle Feuchtigkeit, die Sonnenstrahlen drangen dort nicht hinein, wärmten nicht den Boden, über dem ein Geruch von süßer Fäulnis lag. Die Dämmerung fiel, der alte Fichtenwald am Ende des Tals stand nur noch als dunkle Wand, milchiger Dunst stieg von den Teichen auf. In ihrem Zwinger unten murrten die Hunde, beruhigten sich aber bald, und dann war wieder nur das Geräusch rinnenden Wassers zu hören und das sanfte Gurgeln, das es an den Staubrettern hervorrief. Das Geräusch, die Dämme, die Hügel gestochener und bereitliegender Grassoden: alles begann sich auszuwachsen, zu verformen, es büßte seine Eindeutigkeit ein und schien sich zu beleben in dem abnehmenden Licht. Frank sah hinab zu den Gebäuden, zu dem gekalkten ebenerdigen Wohnhaus, das er selbst um einen Anbau erweitert hatte; das Wohnzimmer war schon erleuchtet, er erkannte Sophies Schatten, die etwas zum Tisch trug, mühsam, gichtgeplagt; er glaubte das Seufzen seiner Frau zu hören, als sie über den Tisch gebeugt verharrte wie so oft, darauf wartend, daß ein plötzlicher Schmerz verging. Auch in Kais Zimmer flammte jetzt das Licht auf, der Junge ging gleich zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Auf halber Höhe des gegenüberliegenden Hangs, dunkel und konturlos unter den alten Kiefern, stand das Haus, für das er sich zum ersten Mal in seinem Leben verschuldet hatte; mit seinen vier Zimmern war es für Sommergäste geplant, die Stille suchten und Freude beim Wandern. Noch hatten sich die Hoffnungen, die er in den Bau setzte, nicht erfüllt – doch seine Ausdauer und sein Trotz und der Starrsinn, die Voraussetzung aller Selbstbehauptung hier im Tal, bewogen ihn, die Hoffnung nicht aufzugeben.
Er wandte sich ab und blickte wieder zu den Kopfweiden, die in dem unentschiedenen Dunkel ihre Gestalt verändert zu haben schienen. Selbst wenn der Kormoran nun gekommen wäre, hätte er ihn als Ziel nicht auffassen können. Es knackte und raschelte, während er sich aus seinem Versteck herausarbeitete, er ließ jetzt alle Vorsicht außer acht, trat frei auf den Damm hinaus, nicht enttäuscht, sondern ruhig und entschlossen, so oft wiederzukommen und zu warten und das Nötige zu tun, bis es für ihn und seine Leute hier im Tal keine Bedrohung mehr gab oder doch nicht das, was er als Bedrohung empfand. Er sicherte den Karabiner, hängte den Lederriemen über die Schulter und trottete den Damm hinab zum Schuppen, wo er, gewiß, daß der Junge ihn nicht hervorholen würde, den Karabiner wieder nur in die Gummischürze wickelte und ihn hinter Säcken und Fischfutter verbarg. Bevor er ins Haus ging, sah er einen Lichtschein den ausgefahrenen Sandweg herabkommen, das Licht einer Fahrradlampe, das hüpfte und ausschlug und, dicht beim Haus, die Kalkwand aufschimmern ließ. Ute erkannte ihn sogleich, und ehe er noch eine Frage stellte, sagte das Mädchen schnell atmend: Ich war in Barglund, wie spät ist es eigentlich? Er hörte ihrer Stimme an, daß das vorsorglich und zur Verteidigung gesagt war, und nickte nur und öffnete die Tür.
Obwohl sie wußte, daß Berni wartend hinter dem Schuppen kniete, gedeckt durch die alte, gemauerte Feuerstelle, auf der immer noch die rostige Tonne stand, beeilte sie sich nicht bei ihrer Arbeit. Sie stand in dem kahlen, gefliesten Anbau, stand mit hochgestecktem Haar und vorgebundener Gummischürze vor dem steinernen Arbeitstisch und schlachtete Fische. Ein Ausdruck von Verdruß lag auf ihrem vollen, von Sommersprossen bedeckten Gesicht, die gekrauste Stirn unter dem niedrigen Haaransatz bestätigte ihren Widerwillen, dennoch arbeitete sie so sorgfältig, wie sie es immer getan hatte. Fisch auf Fisch holte sie aus einem gemauerten Bassin, schlug mit einem handlichen Rundholz zu, hart und treffsicher auf den Kopf, so daß in gewaltsamem Reflex das Maul aufsprang und die Augen heraustraten, und setzte dann das Messer an. Mit sicherem Schnitt schlitzte sie den Fisch von den Kiemen bis zur Afterflosse auf, drehte das Messer in der Hand, riß mit der stumpfen Seite die schillernden Eingeweide heraus und schabte das feine dunkle Schutzhäutchen ab, bis das rosafarbene Fleisch aufglänzte. Den ausgenommenen Fisch warf sie in einen geräumigen, mit Wasser gefüllten Handstein, die Eingeweide stopfte sie in einen ausgesägten Schlitz im Arbeitstisch, drückte und preßte so lange, bis der Abfall klatschend in eine Wanne fiel. Jedesmal, wenn sie die Eingeweide in den Schlitz stopfte – die gelbbraunen Batzen aus Leber und Darm, die blaßsilbernen Schwimmblasen –, seufzte sie und schloß wie erleichtert die Augen.