2
In dem schicken Loft in SoHo, für das sie monatlich zweitausend Dollar Miete bezahlte, ließ Samantha Karton und Taschen fallen und warf sich auf das Sofa. Das Handy umklammernd, die Augen geschlossen, atmete sie tief durch, bis sie ihre Gefühle halbwegs im Griff hatte. Sie brauchte jetzt die aufmunternde Stimme ihrer Mutter, doch sie wollte nicht schwach und verwundbar klingen, wenn sie mit ihr sprach.
Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie gerade eines Jobs enthoben worden war, den sie im Grunde gehasst hatte. Heute Abend um sieben Uhr würde sie vielleicht einen Film anschauen oder mit Freundinnen im Restaurant sitzen, aber mit Sicherheit nicht bei laufender Zeituhr im Büro schuften. Am Sonntag könnte sie aufs Land fahren, ohne einen Gedanken an Andy Grubman und seine Berge von Unterlagen für den nächsten superwichtigen Deal zu verschwenden. Das Firmenphone, dieses lästige kleine Gerät, das drei Jahre lang förmlich mit ihr verwachsen gewesen war, hatte sie abgegeben. Sie fühlte sich befreit und herrlich unbelastet.
Die Angst, die sie trotz allem empfand, gründete auf dem Verlust des regelmäßigen Einkommens und dem plötzlichen Karriereknick. Als Angestellte im dritten Jahr bekam sie hundertachtzigtausend Dollar jährlich Grundgehalt plus einen hübschen Bonus. Das war viel Geld, doch das Leben in New York verschlang auch viel. Die Hälfte ging für Steuern weg. Samantha besaß zwar ein Sparkonto, doch das pflegte sie nur halbherzig. Mit neunundzwanzig, als Single in New York, mit einer Stelle, die im folgenden Jahr mehr Grundgehalt abwarf als im aktuellen Jahr Gehalt plus Bonus – wozu da Geld auf die hohe Kante legen? Eine Freundin, mit der sie an der Columbia University Jura studiert hatte, war nach fünf Jahren bei S&P zur Juniorpartnerin avanciert und verdiente jetzt eine halbe Million im Jahr. Samantha hatte den gleichen Plan verfolgt.
Sie hatte aber auch zwei Freunde, die nach zwölf Monaten von der Tretmühle gesprungen waren und der Hölle von S&P zufrieden den Rücken gekehrt hatten. Einer davon war jetzt Skilehrer in Vermont. An der Uni noch Herausgeber der Columbia Law Review, lebte er jetzt irgendwo an einem Fluss in einer Blockhütte und ging nur noch sporadisch ans Handy. In nur dreizehn Monaten war aus dem ehrgeizigen jungen Anwalt ein gestörter Sonderling geworden, der an seinem Schreibtisch schlief. Kurz bevor die Personalabteilung einschritt, bekam er einen Nervenzusammenbruch und zog aus der Stadt. Samantha dachte oft an ihn, meist mit einem Anflug von Neid.
Zu Erleichterung und Angst gesellte sich ein schlechtes Gewissen. Ihre Eltern hatten eine kostspielige Privatschule in Washington finanziert. Sie hatte an der Georgetown University Politologie studiert und mit Magna cum laude abgeschlossen. Das Jurastudium hatte sie mit Leichtigkeit durchlaufen und mit Auszeichnungen absolviert. Nach einem Referendariat am Bundesgericht hatte sie Stellenangebote von einem Dutzend Großkanzleien bekommen. Die ersten neunundzwanzig Jahre ihres Lebens waren von überwältigendem Erfolg und nur vereinzelten Niederlagen geprägt. So abserviert zu werden war niederschmetternd, aus dem Gebäude eskortiert zu werden erniedrigend. Es war mehr als nur ein kleiner Rückschlag in einer erfolgreichen Berufslaufbahn.
Einen gewissen Trost fand sie in der Statistik. Seit der Lehman-Pleite waren Tausende junger Juristen auf der Straße gelandet. Es heißt, geteiltes Leid sei halbes Leid, doch im Augenblick konnte sie wenig Mitgefühl aufbringen.
»Karen Kofer, bitte«, forderte sie ihr Smartphone auf, während sie regungslos auf dem Sofa lag, um ihren Atemrhythmus zu beruhigen. »Mom, ich bin’s«, sagte sie dann. »Sie haben es getan. Ich bin rausgeflogen.« Sie biss sich auf die Lippe und kämpfte mit den Tränen.
»Das tut mir so leid, Samantha. Wann?«
»Vor etwa einer Stunde. Es kam nicht wirklich überraschend, trotzdem ist es schwer zu fassen.«
»Ich weiß, mein Schatz. Es tut mir wirklich leid.«
In der letzten Woche hatten sie über kaum etwas anderes gesprochen als über eine womöglich bevorstehende Entlassung. »Bist du zu Hause?«, fragte Karen.
»Ja, und mir geht’s gut. Blythe ist bei der Arbeit. Ich habe es ihr noch nicht erzählt. Ich hab’s noch niemandem erzählt.«
»Tut mir so leid.«
Blythe war eine Freundin und ehemalige Studienkollegin von der Columbia, die für eine andere Großkanzlei arbeitete. Sie teilten die Wohnung, aber sonst nicht viel von ihrem Leben. Wenn man fünfundsiebzig Stunden die Woche arbeitete, blieb keine Zeit übrig, die man teilen konnte. Blythes Kanzlei ging es auch nicht besonders gut, und sie rechnete mit dem Schlimmsten.
»Mir geht’s gut, Mom.«
»Glaube ich nicht. Komm doch für ein paar Tage nach Hause.«
»Zuhause« war für Samantha ein eher abstrakter Begriff. Ihre Mutter hatte eine schöne Wohnung in der Nähe des Dupont Circle, und ihr Vater wohnte in Alexandria in einem kleinen Apartment am Fluss. Sie hatte noch nie länger als vier Wochen bei einem von beiden verbracht und hatte es auch nicht vor. »Mach ich«, erwiderte sie. »Aber nicht jetzt.«
Es entstand eine längere Pause. »Was hast du denn jetzt für Pläne, Samantha?«, fragte ihre Mutter schließlich leise.
»Ich habe keine Pläne, Mom. Im Augenblick stehe ich unter Schock und kann nicht mal über die nächste Stunde hinausdenken.«
»Ich verstehe. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein.«
»Mir geht’s gut. Wirklich.« Das Letzte, was Samantha jetzt brauchte, war, dass ihre Mutter ständig in der Nähe war und sie mit wohlgemeinten Ratschlägen überschüttete.
»Unter welchen Bedingungen haben sie dich entlassen?«
»Die Kanzlei nennt es ›Beurlaubung‹. Der Deal ist, wenn wir ein oder auch zwei Jahre für eine gemeinnützige Organisation arbeiten, behalten wir unsere Krankenversicherung. Und wenn es wieder aufwärtsgeht, werden wir zurückgeholt, ohne dass wir durch die Fehlzeit Einbußen haben.«
»Klingt nach einem erbärmlichen Versuch, euch bei der Stange zu halten.« Herzlichen Dank für die deutlichen Worte, Mom ... Karen fuhr fort: »Warum hast du den Idioten nicht gesagt, sie sollen sich zum Teufel scheren?«
»Weil ich krankenversichert bleiben will, und außerdem finde ich es beruhigend zu wissen, dass es eine Chance auf Rückkehr gibt.«
»Du kannst doch überall einen Job finden.«
Da sprach mal wieder die erfolgreiche Regierungsangestellte. Karen Kofer war seit dreißig Jahren leitende Juristin im Justizministerium in Washington und hatte nie etwas anderes getan. Wie alle ihre Kollegen war sie umfassend geschützt. Was auch immer geschah – Wirtschaftsdepressionen, Kriege, Zahlungsunfähigkeit der Regierung, nationale Katastrophen, politische Umbrüche –, Karen Kofers Stelle und Gehalt waren unantastbar. Die lässige Arroganz, die viele alteingesessene Regierungsangestellte zur Schau stellten, war nicht verwunderlich. Wir sind kostbar, denn ohne uns geht nichts.
»Nein«, widersprach Samantha. »Im Moment gibt es einfach keine Jobs. Nur falls du davon noch nichts gehört hast, wir stecken in einer Finanzkrise, und eine Depression steht vor der Tür. Kanzleien setzen im großen Stil Leute vor die Tür und machen dann zu.«
»Ich bezweifle, dass die Dinge wirklich so schlecht stehen.«
»Ach, tatsächlich? Scully & Pershing hat gerade sämtliche Neueinstellungen auf Eis gelegt. Das bedeutet, rund ein Dutzend der besten Harvard-Absolventen hat gerade erfahren, dass die Stellen, die sie im September antreten wollten, nicht mehr existieren. Dasselbe gilt für Abgänger aus Yale, Stanford und Columbia.«
»Aber du bist so gut in deinem Beruf, Samantha.«
Versuch nie, mit einem Bürokraten zu diskutieren. Samantha atmete tief durch und wollte sich schon verabschieden, als ein dringender Anruf »vom Weißen Haus« hereinkam und Karen auflegen musste, nicht ohne zu versprechen, sofort zurückzurufen, sobald sie das Land gerettet habe. Okay, Mom, sagte Samantha. Ihre Mutter war immer für sie da, wenn sie sie brauchte. Sie war ein Einzelkind, was sich rückblickend als Segen erwies angesichts des Schlachtfelds, das ihre Eltern bei der Scheidung hinterlassen hatten.
Es war ein klarer, schöner Tag, jedenfalls was das Wetter anging, und Samantha verspürte das Bedürfnis, spazieren zu gehen. Sie lief durch SoHo und anschließend durch das West Village. In einem menschenleeren Café rief sie ihren Vater an. Marshall Kofer hatte früher Schadenersatzprozesse geführt, Spezialgebiet: Flugzeugabstürze. Er hatte eine aggressive, erfolgreiche Kanzlei in Washington geleitet und an sechs von sieben Tagen der Woche rund um die Welt in Hotels übernachtet, im Zusammenhang mit seinen Prozessen oder auf der Jagd nach neuen Fällen. Er verdiente damit ein Vermögen, das er mit vollen Händen ausgab, und Samantha war als Teenager sehr wohl bewusst gewesen, dass ihre Familie weit mehr besaß als viele ihrer Mitschüler in ihrer Washingtoner Privatschule. Während ihr Vater einen hochkarätigen Prozess nach dem anderen führte, kümmerte sich ihre Mutter um sie, wobei sie beharrlich die eigene Karriere im Justizministerium vorantrieb. Wenn ihre Eltern Streit hatten, bekam Samantha nichts davon mit. Ihr Vater war ohnehin nie zu Hause. Irgendwann, niemand erfuhr jemals, wann genau, tauchte eine junge, hübsche Rechtsassistentin auf, und Marshall ließ sich auf das Abenteuer ein. Aus dem Techtelmechtel wurde eine dauerhafte Affäre, bis Karen nach ein paar Jahren misstrauisch wurde. Sie sprach ihren Mann darauf an, der nach anfänglichem Abstreiten alles zugab und dann erklärte, er wolle die Scheidung, denn er habe die Liebe seines Lebens gefunden.
In derselben Phase, in der Marshall sein Familienleben auf den Kopf stellte, traf er ein paar weitere unkluge Entscheidungen. Zum Beispiel plante er, größere Mengen seiner Einnahmen außer Landes zu bringen. In Sri Lanka war ein Jumbojet der United Asia Airlines mit vierzig Amerikanern an Bord abgestürzt. Es gab keine Überlebenden, und Marshall Kofer war wie immer als Erster vor Ort. Während er den Vergleich aushandelte, richtete er eine Reihe von Scheinfirmen in der Karibik und in Asien ein, um seine beträchtlichen Honorare über verschlungene Wege jeglichem Zugriff der Behörden zu entziehen.
Samantha besaß einen dicken Ordner mit Zeitungsausschnitten und Ermittlungsberichten über den erbärmlichen Steuerhinterziehungsversuch ihres Vaters. Man hätte ein spannendes Buch darüber schreiben können, aber sie hatte kein Interesse daran, das zu tun. Er war aufgeflogen, auf den Titelseiten der Zeitungen bloßgestellt und schließlich zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Zwei Wochen bevor sie in Georgetown ihren Abschluss machte, war er auf Bewährung freigekommen. Heute hatte Marshall ein kleines Büro in der Altstadt von Alexandria und war seinen eigenen Worten zufolge als »Consultant« tätig und beriet Anwaltskollegen in Sammelklageprozessen. Details dazu hatte er jedoch bislang nicht verraten. Samantha war ebenso wie ihre Mutter überzeugt, dass Marshall einen Großteil seiner Beute irgendwo in der Karibik versteckt hielt. Karen wollte längst nichts mehr davon wissen.
Marshall würde nie beweisen können, was er vermutete, denn Karen würde es immer bestreiten – nämlich dass seine Exfrau bei den Ermittlungen gegen ihn die Finger im Spiel gehabt hatte. Sie bekleidete ein hohes Amt im Justizministerium und hatte ein gut funktionierendes Netzwerk.
»Dad, ich bin gefeuert worden«, sagte Samantha mit gedämpfter Stimme in ihr Handy. Das Café hatte keine weiteren Gäste, doch der Barista stand nicht weit von ihr, und sie wollte nicht, dass er etwas mitbekam.
»Oh, Sam, das tut mir leid«, sagte Marshall. »Lass hören, was passiert ist.«
Soweit sie es beurteilen konnte, hatte ihr Vater im Gefängnis nur eines gelernt, und das waren weder Demut noch Geduld, weder Verständnis noch Vergebung, noch was man sonst normalerweise an Erfahrung aus niederschmetternden Erlebnissen mitnahm. Er war ehrgeizig und rastlos wie eh und je, noch immer jederzeit bereit, die Ärmel hochzukrempeln und jeden zu überrollen, der sich ihm in den Weg stellte. Nein, aus irgendwelchen Gründen hatte Marshall Kofer gelernt zuzuhören, zumindest seiner Tochter. Langsam wiederholte sie ihren Bericht, und er folgte Wort für Wort. Sie versicherte ihm, dass alles gut ausgehen werde. Irgendwann klang er, als kämen ihm gleich die Tränen.
Unter anderen Umständen hätte er sie jetzt harsch für ihre Karriereplanung kritisiert. Er hasste die Großkanzleien, weil er jahrelang gegen sie ins Feld gezogen war. Für ihn waren sie keine Partnerschaften mit echten Anwälten, die zum Wohl ihrer Mandanten arbeiteten, sondern reine Wirtschaftskonzerne. Er konnte stundenlang darüber referieren, warum man Großkanzleien grundsätzlich misstrauen müsse. Samantha kannte alle seine Vorträge und war jetzt überhaupt nicht in der Stimmung dafür. Stattdessen aber fragte er nur: »Soll ich vorbeikommen, Sam? Ich kann in drei Stunden bei dir sein.«
»Danke, lieber nicht. Noch nicht. Gib mir einen Tag Zeit. Ich brauche eine Pause. Vielleicht fahr ich ein paar Tage weg.«
»Ich komme und hole dich ab.«
»Vielleicht, aber nicht jetzt. Mir geht’s gut, Dad, wirklich.«
»Unsinn. Du brauchst deinen Vater.«
Die Worte klangen seltsam aus dem Mund eines Mannes, den sie in den ersten zwanzig Jahren ihres Lebens praktisch nicht gesehen hatte. Immerhin gab er sich jetzt Mühe.
»Danke, Dad. Ich ruf dich wieder an.«
»Lass uns zusammen wegfahren, irgendwo ans Meer, und Rum trinken.«
Sie musste lachen, weil sie noch nie allein mit ihm irgendwohin gefahren war. In ihrer Kindheit hatte es ein paar hektische Ferien gegeben, die typischen Städtetrips nach Europa, die aber fast immer vorzeitig abgebrochen wurden, weil zu Hause wichtige Geschäfte drängten. Trotz der gegebenen Umstände war die Vorstellung, mit ihrem Vater ans Meer zu fahren, nicht auf Anhieb verlockend.
»Danke, Dad. Vielleicht bald, aber nicht jetzt. Ich muss mich hier um ein paar Dinge kümmern.«
»Ich kann dir einen Job besorgen. Einen richtigen Job.«
Nicht schon wieder, dachte sie, erwiderte jedoch nichts. Ihr Vater versuchte seit Jahren, sie zu überreden, als »richtige« Anwältin zu arbeiten, was seiner Ansicht nach vor allem beinhaltete, Großkonzerne für deren illegale Machenschaften vor Gericht zu bringen. In Marshall Kofers Welt mussten Unternehmen ab einer gewissen Größe entsetzliche Sünden begehen, um in der halsabschneiderischen Welt des westlichen Kapitalismus zu bestehen. Es war die Aufgabe von Anwälten – vielleicht auch ehemaligen Anwälten – wie ihm, das verbrecherische Treiben aufzudecken und mit allen Mitteln für Gerechtigkeit zu sorgen.
»Danke, Dad. Ich ruf dich wieder an.«
Es war geradezu absurd, dass ihr Vater sie nach wie vor in das Tätigkeitsfeld locken wollte, das ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Sie hatte kein Interesse an Gerichtsarbeit und öffentlichen Disputen. Sie war nicht sicher, was sie wollte – vermutlich einen ruhigen Schreibtischjob mit einem hübschen Gehalt. Vor allem weil sie eine Frau und intelligent war, hatte sie einmal eine realistische Chance gehabt, bei Scully & Pershing zur Partnerin aufzusteigen. Doch zu welchem Preis?
Vielleicht wollte sie eine solche Karriere, vielleicht auch nicht. Im Augenblick wollte sie nur durch die Straßen von Lower Manhattan ziehen, um ihre Gedanken zu ordnen. Stundenlang ließ sie sich durch Tribeca treiben. Ihre Mutter rief zweimal an, ihr Vater einmal, doch sie beschloss, nicht abzunehmen. Izabelle und Ben meldeten sich ebenfalls, aber sie hatte keine Lust zu reden. Irgendwann stand sie vor dem Moke’s Pub unweit von Chinatown und blickte für einen Augenblick durch die Fenster hinein. Beim ersten Date mit Henry waren sie hier gewesen, vor vielen Jahren. Sie hatten sich über Freunde kennengelernt. Er war ein ehrgeiziger junger Schauspieler gewesen, einer von Hunderttausenden in New York, sie hatte gerade bei S&P angefangen. Sie waren ein Jahr zusammen, dann zerbrach die Beziehung unter dem Stress ihrer gnadenlosen Bürozeiten und seiner Arbeitslosigkeit. Er ging nach Los Angeles, wo er letzten Berichten zufolge unbekannte Schauspieler in Limos durch die Gegend fuhr und als Statist in Werbeclips auftrat.
Unter anderen Umständen hätte sie Henry lieben können. Er hätte genügend Zeit, Engagement und Leidenschaft für eine Beziehung gehabt. Doch sie war immer erschöpft gewesen. Für Frauen in ihrem Beruf war es nicht ungewöhnlich, mit vierzig aufzuwachen und festzustellen, dass zehn Jahre ins Land gezogen und sie immer noch Single waren.
Sie ließ das Moke’s Pub hinter sich und wandte sich nach Norden Richtung SoHo.
Anna aus der Personalabteilung erwies sich als bemerkenswert fleißig. Um siebzehn Uhr bekam Samantha eine ausführliche E-Mail mit den Namen von zehn gemeinnützigen Organisationen, die als geeignet erachtet wurden, den schwer geprüften Wesen, die gerade zwangsweise von der weltgrößten Großkanzlei beurlaubt worden waren, unbezahlte Praktika anzubieten: Sumpfschützer in Lafayette, Louisiana; ein Frauenhaus in Pittsburgh, Pennsylvania; eine Einwanderer-Initiative in Tampa, Florida; die Mountain Law Clinic in Brady, Virginia; die Sterbehilfe-Gesellschaft von Tucson, Arizona; ein Obdachlosenverein in Louisville; der Lake-Erie-Naturschutzbund. Und so weiter. Nichts davon auch nur halbwegs in der Nähe von New York.
Samantha blickte lange auf die Liste und versuchte sich vorstellen, wie es wäre, die Stadt zu verlassen. Sechs der letzten sieben Jahre hatte sie hier verbracht – drei Jahre als Studentin an der Columbia University und drei als Angestellte von S&P. Nach der Uni hatte sie bei einem Bundesrichter in Washington ihr Referendariat gemacht, war dann aber sofort nach New York zurückgekehrt. Sie hatte bislang immer in Großstädten gewohnt.
Lafayette, Louisiana? Brady, Virginia?
In einem Ton, der angesichts der Umstände viel zu fröhlich war, informierte Anna die Beurlaubten, dass die Stellen bei manchen der genannten Organisationen begrenzt seien. Anders ausgedrückt: Bewerbt euch schleunigst, sonst entgeht euch womöglich die Chance, in die Provinz zu ziehen und ein Jahr lang umsonst zu arbeiten. Samantha war nicht imstande, irgendetwas schleunigst zu tun.
Blythe sah kurz vorbei, um Hallo zu sagen und sich eine Pasta in der Mikrowelle warm zu machen. Samantha hatte ihr eine SMS mit der großen Neuigkeit geschickt, und ihre Mitbewohnerin war den Tränen nahe, als sie nach Hause kam. Nach ein paar Minuten hatte Samantha sie jedoch beruhigt und ihr versichert, dass das Leben weitergehe. Blythes Kanzlei vertrat eine ganze Reihe von Kreditgebern, und die Stimmung dort war ebenso düster wie bei Scully & Pershing. Seit Tagen hatten die beiden über kaum etwas anderes gesprochen als über ihre mögliche Entlassung. Blythe hatte die Pasta halb gegessen, da klingelte ihr Mobiltelefon. Ihr Vorgesetzter suchte sie. Und so ließ sie alles liegen und stehen und hastete um 18.30 Uhr zurück ins Büro, aus lauter Angst, die geringste Verspätung könnte sie den Job kosten.
Samantha schenkte sich ein Glas Wein ein und ließ die Badewanne mit warmem Wasser volllaufen. Sie legte sich hinein, trank und beschloss, dass sie, Geld hin oder her, die Welt der Großkanzleien hasste und nie wieder dorthin zurückkehren würde. Sie würde sich nie wieder anschreien lassen, weil sie nach Sonnenuntergang oder vor Sonnenaufgang nicht im Büro war. Sie würde sich nie wieder vom Geld verführen lassen. Sie würde noch viel mehr Dinge nie wieder tun.
Ihre finanziellen Mittel waren relativ bescheiden, aber alles in allem war die Situation nicht hoffnungslos. Sie besaß einunddreißigtausend Dollar Sparguthaben und hatte keine Schulden, abgesehen von drei Monaten Mietanteil für das Loft, die noch ausstanden. Wenn sie sich einschränkte und mit Teilzeitjobs etwas dazuverdiente, konnte sie wahrscheinlich durchhalten, bis sich der Sturm gelegt hatte. Vorausgesetzt natürlich, dass nicht tatsächlich die Welt unterging. Sie konnte sich nicht vorstellen, kellnern zu gehen oder Schuhe zu verkaufen. Andererseits hatte sie auch nicht im Traum damit gerechnet, dass ihre vielversprechende Karriere so abrupt enden würde. Die Stadt wäre bald voller Kellner und Verkäufer mit Uniabschlüssen.
Zurück zu S&P? Ihr Ziel war es gewesen, mit fünfunddreißig Partnerin zu sein, eine von wenigen Frauen in der Führungsetage, und von ihrem schicken Eckbüro aus den Männern zu zeigen, wo es langging. Mit eigener Sekretärin, Rechtsassistentin, einem Fahrer in Rufbereitschaft, einem großzügigen Spesenkonto und einem Schrank voller Designerklamotten. Die hundert Wochenstunden würden auf ein erträgliches Maß zusammenschrumpfen. Sie würde über zwei Millionen im Jahr machen und nach zwanzig Jahren privatisieren und die Welt bereisen. Nebenbei würde sie sich einen Ehemann suchen und ein, zwei Kinder bekommen, und alles wäre perfekt.
So hatte sie sich ihr Leben vorgestellt, und es schien ein realistischer Plan gewesen zu sein.
In der Lobby des Mercer Hotels, vier Straßen von ihrem Loft entfernt, traf sie sich auf ein paar Martinis mit Izabelle. Sie hatten auch Ben eingeladen, doch der war frisch verheiratet und anderweitig beschäftigt. Die Entlassung wirkte bei jedem anders. Samantha war praktisch schon über den Schock hinweg und überlegte, wie es weitergehen sollte. Allerdings war sie auch in der glücklichen Lage, kein Studentendarlehen abbezahlen zu müssen, weil ihre Eltern die Ausbildung finanziert hatten. Izabelle hingegen war mit alten Krediten belastet und zermarterte sich den Kopf über die Zukunft. Sie nahm einen großen Schluck Martini, und der Gin stieg ihr direkt in den Kopf.
»Ich überstehe kein Jahr ohne Einkommen«, sagte sie. »Du?«
»Müsste gehen«, erwiderte Samantha. »Wenn ich mich richtig einschränke und nur noch von Suppe lebe, kann ich was sparen und in New York bleiben.«
»Ich nicht«, sagte Izabelle deprimiert und nahm noch einen Schluck. »Ich kenne einen Typ in der Prozessabteilung, der letzten Freitag geschasst wurde. Er hat fünf von den gemeinnützigen Organisationen angerufen, und alle hatten ihre Praktika schon vergeben. Hältst du das für möglich? Er hat die Personalabteilung angerufen und denen die Hölle heißgemacht, woraufhin sie meinten, sie würden noch an der Liste arbeiten und bekämen immer wieder Anfragen von Vereinen, die billige Arbeitskräfte suchten. Das heißt also, wir verlieren nicht nur unseren Job, auch der Deal funktioniert nicht richtig. Niemand will uns, nicht einmal, wenn wir umsonst arbeiten. Das ist ganz schön krank.«
Samantha nippte an dem Martini und genoss die leicht betäubende Wirkung. »Ich habe nicht die Absicht, den Deal anzunehmen.«
»Aber wie machst du das dann mit deiner Krankenversicherung? Du kannst doch nicht ohne leben.«
»Kommt auf einen Versuch an.«
»Wenn du krank wirst, verlierst du alles.«
»Ich habe nicht viel.«
»Das ist dumm, Sam.« Izabelle nahm einen weiteren Schluck, wenn auch einen etwas kleineren. »Du verzichtest also auf eine leuchtende Zukunft bei Scully & Pershing.«
»Die Kanzlei hat entschieden, auf mich zu verzichten, auf dich und viele andere. Es muss bessere Stellen und Möglichkeiten geben, Geld zu verdienen.«
»Darauf trinke ich.« Eine Bedienung trat heran, und sie bestellten die zweite Runde.