Handelnde Personen

Yvolar

ein alter Druide

Alphart

ein Wildfänger

Leffel Gilg

ein Bauer aus dem Unterland

Erwyn

Ventars Erbe

Urys

ein Zwerg

Mux

ein Kobling

Rionna

Prinzessin von Iónador

Calma

ihre Zofe

Galfyn

Häuptling des Falkenclans

Herras

sein Waffenmeister

Barand

Marschall von Iónador

Alwys

König der Zwerge

Gaetan

Bürgermeister von Seestadt

Walkar

ein Bärengänger

Fyrhack

der letzte Feuerdrache

Kaelor

ein Eisriese

Lorga

Anführer der Erle

Klaigon

Fürstregent von Iónador

Éolac

sein Seher

Muortis

Herrscher des Eises

1

Es war das Jahr des frühen Laubes.

Schon im Sommer hatten die Blätter begonnen, sich zu verfärben, und die Alten und Weisen hatten vor einem frühen und harten Winter gewarnt. Doch das war nicht die einzige düstere Prophezeiung: Überall entlang der Bennian Mar wurde in diesen Tagen von dunklen Zeichen berichtet, die Mangel und Not verhießen. Und auch der eisige Wind, der ungewöhnlich früh aus den Bergen wehte und den Geruch von Schnee und Eis in die Täler trug, schien von drohendem Ungemach zu künden.

In diesem Jahr wurden zur Sonnwendfeier besonders großzügige Opfer gebracht, und auch in den kurzen Nächten ließ man die Feuer nicht verlöschen. Es ging die Kunde, dass man seltsame und unheimliche Wesen in den Bergen gesichtet hätte, Wesen aus grauer Vorzeit.

Ein Kaufmann aus dem Süden, der nach langer Reise in Seestadt ankam, behauptete, auf der Passhöhe einem Enz begegnet zu sein, dessen Haut aus Stein gewesen wäre. Ein Holzfäller aus dem Oberland wollte einen Kobling gesehen haben, der nur aus einem Bein und einem großen Auge bestanden und ihn bedrohlich angeglotzt hätte. Ein Bilwisschnitter, so hieß es, hätte im Unterland ein ganzes Kornfeld verwüstet. Und mehrere Bauern aus dem Flusstal behaupteten gar, einen Feuerreiter gesichtet zu haben – einen Knochenmann auf einem brennenden Pferd, dessen Erscheinen von alters her als schlechtes Omen gedeutet wurde.

Die beunruhigendste Begebenheit jedoch trug sich am Ostufer des Búrin Mar zu, jenes großen Wassers, das sich von den Ufern Allagáins bis an die Gestade des Zwergenreichs erstreckt.

Am frühen Morgen des Tages Toisac, als die Bewohner von Seestadt noch schliefen, legte ein einzelnes Fischerboot vom Steg ab und fuhr auf den See hinaus. Es dämmerte bereits, und die ersten Strahlen der Sonne ließen den Nebel über dem Wasser unheimlich leuchten. In der Stille konnte man das Quaken der Flügelfrösche hören, die entlang des Ufers auf Jagd waren. Keinem der drei jungen Männer im Boot war wohl in seiner Haut, auch wenn keiner von ihnen dies offen zugegeben hätte. Denn zum einen hatte das Wetterweib einen Sturm geweissagt, zum anderen war der Tag Toisac dem Schöpfergeist geweiht, und wer dennoch arbeitete, musste mit Bestrafung rechnen.

Die drei jungen Männer jedoch missachteten das ungeschriebene Gesetz und liefen aus. Vorn am Bug stand Alored, des Tangfischers Sohn, und hielt Ausschau nach Zeichen für einen guten Fang. Für die Fischer von Seestadt war es ein schlechtes Jahr gewesen, und der frühe Winter, der sich ankündigte, würde die Ufer des Búrin Mar rasch gefrieren lassen und den Fischfang zusätzlich erschweren. Alored, der in seiner unbekümmerten Jugend auf das Geschwätz der Alten von drohendem Unheil nichts gab, wollte mit vollen Netzen zurückkehren und die Vorratskammern füllen, wollte als gefeierter Held in die Annalen von Seestadt eingehen. Seine Ehrsucht hatte seine Freunde angesteckt, und so stahlen sie sich heimlich davon und fuhren am Tag Toisac aus, um reiche Beute zu machen – ohne zu ahnen, dass sie selbst zur Beute werden sollten.

»Was siehst du, Alored?«, fragte Kilan, der nicht eben kluge Sohn des Fischhautgerbers Gumper. »Kannst du etwas sehen?«

»Nichts«, antwortete Alored missmutig. »Nicht eine einzige Flosse. Dabei müssten wir die Fischgründe längst erreicht haben.«

»Mein Vater sagt, dass sich die Gründe verlagert haben«, erklärte Berin, der Spross des Harpunenmachers Moor, dessen Zunge so spitz war wie die Spieße, die sein Vater aus Knochen schnitzte.

»Natürlich haben sie sich verlagert«, versetzte Alored unwirsch. »Aber weshalb? Die einen geben dem frühen Winter die Schuld. Andere meinen, dass uns ein Fluch der Gnomen getroffen hätte.«

»Sprich leise«, forderte Kilan, der im Heck saß und den Nachen steuerte, während Berin mit kurzen Schlägen ruderte. »Sie mögen es nicht, wenn sie so genannt werden.«

»Und wenn schon«, gab Alored zurück. »Ich fürchte mich nicht vor hergelaufenen Zwergen. Wahrscheinlich gibt es sie nicht mal.«

»Mein Vater sagt, es gibt sie.«

»Dein Vater spricht viel an langen Tagen, Berin Moor. Vor allem dann, wenn er zu viel Dunkelbier getrunken hat.«

»Was willst du damit sagen?« Wutentbrannt ließ Berin das Ruder los und sprang auf. Der Nachen geriet dadurch ins Wanken, sodass sich Kilan Gumpers rundes Gesicht sorgenvoll zerknitterte.

»Wollt ihr wohl aufhören!«, rief er. Aber die beiden jungen Männer dachten nicht daran, auch wenn sie nicht wirklich aufeinander böse waren. Alored ärgerte sich vielmehr darüber, dass sie noch keinen einzigen Fisch gefangen hatten und vielleicht leer nach Hause zurückkehren mussten, und der streitlustige Berin war ohnehin für jede Art von Händel dankbar.

Lauthals beschimpften sie einander, dass es weithin über das Wasser scholl – bis ein dumpfes, gurgelndes Geräusch aus dem Nebel drang, so unheimlich, dass es die beiden Streithähne verstummen ließ. Sodann brach auch das Gurgeln ab.

»Was war das?«, fragte Kilan in die entstandene Stille, aber weder Alored noch Berin konnten ihm eine Antwort geben.

Reglos verharrten sie, in der Mitte des breiten Bootes stehend, und starrten auf die schieferfarbene Oberfläche des Sees, die sich im weißgrauen Nebel verlor.

Wieder ließ sich das Gurgeln vernehmen, so dunkel und abgründig, als dränge es aus tiefsten Tiefen. Alored bückte sich und griff nach der Harpune, die im Bug bereitlag. Seine Handflächen, die trotz der morgendlichen Kälte feucht waren vor Schweiß, schlossen sich um den hölzernen Schaft. Erneut ein Gurgeln, diesmal auf der anderen Seite des Bootes. Was auch immer dieses unheimliche Geräusch verursachte, es bewegte sich im Wasser. Und es bewegte sich schnell …

»La-lasst uns zurückrudern zum Ufer«, stammelte Kilan furchtsam. »Es war keine gute Idee, am Toisac auszufahren.«

»Du bist ein Schisshase, Kilan Fischhautgerber«, beschied Alored ihm barsch, während ihm selbst das Herz bis in den Hals schlug. Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen starrte er in den Nebel – und sah auf einmal, wie sich die dunkle Flut des Sees teilte.

Eine Welle brandete plötzlich auf und lief auf das Fischerboot zu, erfasste es im nächsten Moment und stellte es auf. Alored und Berin verloren das Gleichgewicht und stürzten, schlugen hart gegen die Back. Im selben Augenblick erklang Kilans gellender Schrei, und ein Schatten fiel über sie, der schwärzer war als jede Nacht.

Alored warf sich herum, blickte hinauf – und erstarrte. Denn über ihm schwebte die garstigste Kreatur, die er je gesehen hatte.

Riesige, kugelförmige Fischaugen glotzten auf ihn herab, aus einem zähnestarrenden Maul drang der Gestank von Fäulnis und Verwesung. Jäh flog es heran, und die Kiefer schlossen sich mit grässlichem Mahlen, verschlangen den Nachen und seine Besatzung mit einem Biss.

So endete Alored, des Tangfischers Sohn.

2

Es hatte zu schneien begonnen.

Früher als in jedem anderen Jahr.

Alphart Wildfänger stand am Fenster und schaute den weißen Flocken zu, die im Wind tanzten, ehe sie sich über das Gras, die Bäume und die Felsen verteilten und sich zu einem weißen Schleier verwoben, der das Land bedeckte.

Die Dämmerung war hereingebrochen, ungewöhnlich früh für diese Jahreszeit – ein weiterer Hinweis darauf, dass es ein harter und strenger Winter werden würde. Die Wolken hingen tief in diesen Tagen und verhüllten die windumtosten Gipfel, und in den Nächten konnte man es in den Bergen rumoren hören. Es war ein dumpfes Pochen, ein Schlagen wie von tausend Schmiedehämmern, das den Fels erbeben und die Gipfel erzittern ließ.

Alphart dachte nicht darüber nach, was diese Geräusche zu bedeuten hatten. Er war ein einfacher Mann, der nicht viel von der weiten Welt wusste. Aber seine Instinkte, die geschult waren vom entbehrungsreichen Leben in der Wildnis, sagten ihm, dass dort im Gebirge etwas vor sich ging. Etwas Dunkles, Unheilvolles, dem der Jäger zutiefst misstraute …

Mit einer leisen Verwünschung auf den Lippen kehrte Alphart zu dem offenen, aus groben Natursteinen gemauerten Kamin zurück, in dem ein knisterndes Feuer gegen die Kälte der hereinbrechenden Nacht ankämpfte. Über den Flammen hing ein Kessel mit Wasser, das gerade zu sieden begann. Alphart nahm das Gefäß ab und gab getrocknete Brennnesseln hinein, die er in einem Mörser zerstoßen hatte. Sofort erfüllte säuerlicher Duft die kleine Hütte. Unter Wildfängern galt das Getränk als altes Hausmittel, um die Kälte des Winters aus den Knochen zu vertreiben. Bannhart würde es zu schätzen wissen, wenn er von der Jagd zurückkehrte.

Erneut trat Alphart ans Fenster und starrte hinaus. Wo sein Bruder nur blieb?

Schon vor Stunden war er ausgezogen, um nach den Fallen zu sehen, die sie im Wald ausgelegt hatten. Das war, womit die beiden Brüder ihren Lebensunterhalt verdienten: Sie waren Wildfänger – Jäger und Fallensteller, die den Sommer in den Bergen verbrachten und erst im Herbst wieder hinunter ins Tal stiegen, um die Ausbeute der vergangenen Monate zu verkaufen. Die Geschäfte gingen gut, denn Felle und Häute wurden überall in Allagáin benötigt. Wärmendes Bärenfell war bei den hohen Herren und Damen gefragt, während sich Wolfsfell seiner Strapazierfähigkeit wegen bei Söldnern und Soldaten großer Beliebtheit erfreute. Hirschhäute wiederum wurden verwendet, um Handschuhe und Stiefel zu fertigen, die geschmeidiger waren als solche aus Rindsleder, und es wurde gut dafür bezahlt. Erst vor wenigen Tagen hatten die Brüder einen Reißhirsch erlegt, dessen Haut allein genug einbringen würde, um sie über den Winter zu bringen.

Überhaupt war es ein gutes Jahr gewesen für die Jagd. So viele Tiere wie nie zuvor waren ihnen in die Fallen gegangen, und sie hatten auch zahlreiche Hirsche erlegt. Hatten sie sich in früheren Jahren oft tagelang auf die Pirsch begeben müssen, war das Wild diesmal zu ihnen gekommen. Gerade so, als hätte etwas die Tiere aus den Wäldern getrieben. Etwas, das von den Gipfeln der Berge kam …

Alphart nahm einen Schluck von dem frischen Sud und wischte sich mit dem Handrücken über den dunklen Bart. Noch immer war in der schneedurchsetzten Dämmerung keine Spur von seinem Bruder zu sehen, wenn er aus dem Fenster schaute, und der Wildfänger begann sich Sorgen zu machen.

Ob Bannhart etwas zugestoßen war?

Alphart war weder übertrieben vorsichtig noch abergläubisch. Er fürchtete sich nicht, wenn es blitzte, und auch wenn sich grollender Donner über den Bergen entlud und Hänge und Täler erzittern ließ, jagte ihm das keine Furcht ein. In letzter Zeit jedoch hatten sich eigenartige Dinge zugetragen, und der Wildfänger war nicht sicher, ob er begriff, was dort draußen vor sich ging. Er wusste nur, dass sein Bruder nicht zurückgekehrt war. Andererseits war Bannhart erfahren genug, um selbst auf sich aufzupassen.

Alles, was Alphart über das Jagen wusste, hatte er von seinem älteren Bruder gelernt. Bannhart hatte ihm beigebracht, wie man Fährten las und Fallen stellte, wie man den Pfeil treffsicher ins Ziel lenkte und das erlegte Wild ausweidete. Er kannte jeden Stein und jeden Strauch, jede Felsspalte und jede Klamm, sodass es eigentlich keinen Grund gab, sich zu sorgen.

Dennoch spürte Alphart in sich wachsende Unruhe – als wäre sein Bruder in Not und bräuchte seine Hilfe.

Wieder schaute er hinaus in die Dämmerung.

Noch immer nichts.

Inzwischen war es draußen fast dunkel geworden. Der nahe Wald war nur noch als dunkles Band auszumachen, der frisch gefallene Schnee leuchtete matt im letzten Tageslicht.

Plötzlich war das Heulen eines Wolfs zu hören.

Alphart fuhr zusammen.

Der Laut war ganz in der Nähe aufgeklungen, und wo sich ein Wolf herumtrieb, da waren gewöhnlich mehrere. Der frühe Winter trieb die Graupelze aus den Wäldern. Was, wenn Bannhart in ihre Fänge geraten war?

Noch einen Augenblick zögerte Alphart. Als erneut ein Heulen erklang, noch lauter und schrecklicher als zuvor, konnte den Jäger nichts mehr halten. Entschlossen stürzte er den Rest des Kräutersuds hinab, dann griff er nach dem Umhang aus Bärenfell und warf ihn sich über den grünen Jagdrock, an dessen Gürtel der lange Hirschfänger baumelte. Indem er Bogen und Köcher vom Haken riss, eilte der Jäger auch schon hinaus.

Die hölzerne Tür des Blockhauses fiel hinter ihm zu. Schneidende Kälte empfing ihn, aber der Wildfänger war die raue Witterung der Berge gewohnt. Im Laufschritt setzte er über die steil abfallende Bergwiese auf den Wald zu, der sich im Halbdunkel abzeichnete und aus dem ein weiteres furchteinflößendes Heulen drang. Diesmal jedoch sang der Wolf sein schauriges Lied nicht zu Ende. Jäh ging es in jämmerliches Winseln über und verstummte schließlich ganz; statt seiner war ein Knurren zu vernehmen, wie Alphart es noch nie zuvor vernommen hatte. Kein Tier im ganzen Wildgebirge gab solche Laute von sich.

Der Jäger beschleunigte seine Schritte. Dabei fühlte er, wie Furcht nach seinem Herzen griff, die Angst um seinen Bruder. Keuchend erreichte er den Saum des Waldes, brach durch das Unterholz und drang in das Halbdunkel ein, das zwischen den Bäumen herrschte.

Seine Augen brauchen einen Moment, um sich an das spärliche Licht zu gewöhnen. Aber wie alle Wildfänger hatte Alphart ausgeprägte Sinne, die denen der Tiere oft nur wenig nachstanden. Seine Augen, scharf wie die eines Falken, spähten in das Dunkel und erkannten im weichen Waldboden Spuren. Es waren die Abdrücke von Bannharts Stiefeln, noch frisch und nur einen Fingerbreit tief, was darauf schließen ließ, dass er nicht mit Beute beladen gewesen war.

Alphart folgte der Spur ins Dickicht, ungeachtet der Gefahr, die dort lauern mochte. Das Heulen der Wölfe war verstummt, ebenso wie das grässliche Knurren. Was hatte das zu bedeuten?

Der Wildfänger gelangte kurz darauf auf eine Lichtung. An diesem Ort hatten sein Bruder und er vor zwei Tagen eine Falle aufgestellt. Die Falle war leer, aber aus der dunklen Blutspur, die sich durch den frisch gefallenen Schnee zog, schloss Alphart, dass die Vorrichtung ihren Zweck erfüllt hatte. Bannhart musste die Beute mitgenommen haben, denn jenseits der Lichtung waren die Abdrücke seiner Stiefel deutlich tiefer.

Den Blick auf den Boden gerichtet und dabei aufmerksam lauschend ging Alphart der Spur nach. Er passierte eine weitere Falle und durchquerte einen Wildbach, dessen Wasser eisig kalt vom Gipfel des Dáicol stürzte. Auf der anderen Seite setzte sich die Fährte fort und führte zu einer weiteren Lichtung. Dort entdeckte der Jäger etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Es war ein Wolf, vermutlich der, dessen klägliches Heulen Alphart gehört hatte. Verendet lag das Tier auf der Lichtung, und es war klar, dass kein Jäger es getötet hatte.

Zwar gehörte es zum Handwerk eines Wildfängers, Tiere zu töten, um ihre Felle oder Häute und ihre Knochen zu verkaufen. Aber all jene, die entlang des Wildgebirges jagten, empfanden auch eine tiefe Ehrfurcht vor der Schöpfung, und es gab Regeln, die kein aufrechter Jägersmann je brach. Ein Wildfänger tötete niemals grundlos oder um des bloßen Vergnügens willen – aber genau das war geschehen.

Der Wolf war entsetzlich zugerichtet. Etwas hatte dem Tier den Bauch aufgefetzt und die Eingeweide herausgerissen. Zudem war das Rückgrat des Wolfs gebrochen, sodass er in unnatürlicher Haltung gekrümmt im blutigen Schnee lag. Alphart erinnerte sich an das jämmerliche Winseln, das er gehört hatte, und er empörte sich gegen den Frevel. Noch ehe er sich jedoch fragen konnte, wer ihn begangen hatte, zerriss ein gellender Schrei die unheimliche Stille – und voller Entsetzen erkannte Alphart die Stimme seines Bruders.

»Bannhart …?«

Ein zweiter Schrei folgte, voller Qual und Pein – und der Wildfänger begann zu laufen. Ohne Zögern drang er in das Unterholz ein und lief in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren.

»Bannhart!«, rief er dabei mit heiserer Stimme. »Wo bist du?«

Er achtete nicht darauf, dass ihm tief hängende Äste mit ihren kahlen Zweigen das Gesicht zerkratzten. Mit fliegenden Schritten setzte der Jäger durch den dunkelnden Wald, zog noch im Laufen einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne des Bogens – und im nächsten Moment erblickte Alphart seinen Bruder.

Bannhart war nicht allein.

Mit dem Rücken stand er vor einer alten Buche, die Axt in den Händen und aus einer Stirnwunde blutend. Sein Umhang war zerrissen, seinen Bogen hatte er weggeworfen. Fünf garstige Kreaturen umringten ihn – Wesen, wie Alphart sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Sie hatten gedrungene Körper, die in zottigen Fellen und rostigen Kettenhemden steckten. Ihre kräftigen Arme liefen in furchterregenden Klauen aus, mit denen sie schartige Schwerter und Äxte schwangen. Besonders grausig jedoch waren ihre Häupter anzusehen – kahle Schädel mit nach vorn gestülpten Schnauzen und Hauern wie bei einem Keiler.

Obwohl Alphart derlei Kreaturen noch nie gesehen hatte, wusste er, wer sie waren. In alten Geschichten wurde von ihnen berichtet, von den schweinsköpfigen Unholden, die der Überlieferung nach in den Schluchten von Düsterfels hausten, dort, wohin niemals ein Sonnenstrahl drang.

Unholde.

Erle …

Bislang hatte Alphart stets geglaubt, dass sie nur eine Erfindung der Sänger und Geschichtenerzähler wären, aber diese Kreaturen waren so wirklich, wie sie es nur sein konnten. Grunzend und brüllend umzingelten sie seinen Bruder und bedrängten ihn von allen Seiten.

Alphart verlor keine Zeit.

Schon schnellte der erste Pfeil von der Sehne seines Bogens und zuckte über die Lichtung, durchbohrte den Hals eines Erls.

Mit dem gefiederten Schaft im Nacken ging der Unhold nieder, und seine Kumpane fuhren herum, um zu sehen, woher das todbringende Geschoss gekommen war. Aus eitrig gelben Augen blitzte Alphart nackter Hass entgegen, und zum ersten Mal in seinem Leben war der Jäger gezwungen zu töten, um zu überleben.

Der nächste Pfeil schwirrte davon und traf einen weiteren Erl in die Brust. Da die Distanz nur kurz war, durchstieß das Geschoss das rostige Kettenhemd und drang tief in das Herz der Kreatur, die heulend zugrunde ging. Die übrigen Erle verfielen in zorniges Gebrüll. In blinder Wut griffen sie Alphart an, der nicht dazu kam, einen weiteren Pfeil auf die Sehne zu legen. Dafür hieb Bannhart mit der Axt zu. Das geschärfte Blatt landete im Rücken eines Erls. Die beiden verbliebenen Unholde erreichten Alphart und drangen grunzend auf ihn ein.

Der Jäger riss seinen Bogen mit beiden Händen über den Kopf, um einen Schwertstreich abzuwehren; die rostige Klinge durchschlug das Holz jedoch mühelos. Die nutzlos gewordenen Hälften des Bogens von sich werfend, wich Alphart zurück und zückte den Hirschfänger. Funken stoben, als die Jagdklinge und das Schwert des Erls aufeinandertrafen. Der Hieb des Unholds war mit derartiger Wucht geführt, dass Alphart ins Taumeln geriet. Er stolperte über eine Wurzel und fiel rücklings zu Boden. Schon war der Erl über ihm, um ihm den Todesstoß zu versetzen.

Alphart jedoch war schneller. Noch ehe der Finsterling zustoßen konnte, schnellte die Klinge des Jägers empor und bohrte sich in den aufgedunsenen Bauch der Kreatur. Schwarzes Erlblut schoss hervor, als Alphart die Klinge wieder herausriss, und er rollte sich zur Seite, um nicht unter dem fallenden Körper des Unholds begraben zu werden.

Gehetzt blickte sich der Jäger nach dem verbliebenen Gegner um, als Bannharts Warnruf erklang. Blitzschnell wandte sich Alphart um – jedoch nicht rasch genug für den Erl, der hinter ihm stand und ihn mit der Streitaxt erschlagen wollte. Schon fiel das schartige Blatt herab, um Alphart niederzustrecken, als eine schlanke Gestalt heranwischte und sich dazwischenwarf.

Bannhart …

»Nein!«

Alpharts heiserer Schrei gellte, aber auch er konnte nicht verhindern, dass sein Bruder von der ganzen schrecklichen Wucht des Hiebes getroffen wurde.

Die Axt fuhr tief in Bannharts rechte Schulter, und der Erl gab ein schadenfrohes Keuchen von sich. Die gelben Augen der Kreatur leuchteten vor Blutdurst, als sie ihr Mordinstrument wieder herausriss, um den wankenden Jäger mit einem zweiten Streich zu fällen.

Dass es nicht dazu kam, lag an Alphart, der Bannharts Bogen vom Waldboden aufgelesen und einen seiner eigenen Pfeile an die Sehne gelegt hatte. Der gefiederte Tod zuckte durch die Dunkelheit und bohrte sich in den weit aufgerissenen Schlund des Erls. Die Kreatur verfiel in grausiges Geheul, das Alphart beendete, indem er ein zweites und ein drittes Geschoss hinterherschickte. Mit Pfeilen gespickt kippte der Unhold nach hinten und blieb reglos liegen.

Alphart warf den Bogen von sich und eilte zu seinem Bruder, der blutüberströmt niedersank. Alphart fing ihn auf und bettete ihn auf weiches Moos.

»Bruder!«, stieß er atemlos hervor. »Was hast du getan? Dieser Streich hat mir gegolten.«

Mit gebrochenem Blick schaute Bannhart zu ihm auf, die Züge leichenblass und der Jagdrock durchtränkt von Blut aus der klaffenden Wunde.

»Alphart«, flüsterte er so leise, dass sein Bruder ihn kaum verstehen konnte, »seltsame Dinge geschehen … Erle sind in den Wäldern … dürsten nach Blut … ins Tal hinab … Leute warnen …«

»Du wirst mit mir kommen«, sagte Alphart verzweifelt.

»Nein, Bruder!« Die von Schmerz gezeichneten Züge Bannharts versuchten ein Lächeln. »Nicht dieses Mal.«

»Ich werde dich tragen.«

»Nein … noch mehr Erle kommen … bin nur eine Last für dich …«

»Unsinn, Bruder, ich …«

»Meine Reise endet, Alphart – deine hat erst begonnen …«

Die bärtigen Züge Bannharts verzerrten sich in heftigem Schmerz, und der Jäger tat einen letzten keuchenden Atemzug. Im nächsten Moment entkrampfte sich sein gepeinigter Körper, und das Leben war aus ihm gewichen.

Einen Augenblick lang kauerte Alphart am Boden und starrte auf den blutbesudelten Leib seines Bruders, weigerte sich zu begreifen, was geschehen war. Erst nach und nach sickerte die schreckliche Erkenntnis in sein Bewusstsein, und in einem heiseren Schrei brüllte Alphart seinen Schmerz und seine Trauer in die beginnende Nacht. Bannhart war nicht nur sein Bruder gewesen, sondern alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Sie waren unzertrennlich gewesen von Kindesbeinen an. Eine Welt ohne ihn konnte sich Alphart nicht vorstellen.

Der Schrei gellte durch den nächtlichen Wald und stieg zum dunklen Himmel auf, schreckte die Vögel aus den Bäumen – und wurde schaurig erwidert. Von jenseits der Tannen und moosbewachsenen Felsen drang eine Antwort – grausiges Kriegsgeheul, das Alphart durch Mark und Bein fuhr.

Noch mehr Erle …

Bannhart hatte recht gehabt. Etwas hatte die grausamen Kreaturen aus den finsteren Schluchten von Dorgaskol getrieben, wo sie sich jahrhundertelang verborgen gehalten hatten. Fast hatte die Zeit sie vergessen, und unvorsichtige Gemüter hatten sie ins Reich der Legenden verwiesen. Aber es gab sie wirklich – und sie waren zurück.

Erneut ein Kriegsschrei, näher diesmal. Und Alphart konnte spüren, wie der Boden des Waldes unter dumpfen Schritten erbebte. Die Erle waren auf dem Weg zu ihm, hatten seine Witterung aufgenommen.

Indem er ein ebenso kurzes wie stilles Gebet zum Schöpfer richtete, nahm Alphart Abschied von seinem Bruder. Er schloss ihm die Augen und küsste ihn auf die Stirn, segnete ihn für seine Reise in die Ewigkeit. Dann – und das Herz wollte ihm dabei fast zerreißen – erhob er sich und nahm Bannharts Axt und Bogen an sich, benommen von Schmerz und Trauer. Erst als er knackende Zweige und ein leises Knurren vernahm, verließ er die Lichtung.

Alphart begann zu laufen, so schnell seine Beine ihn trugen. Mit scharfem Blick fand er den Weg durch die Dunkelheit, schlängelte sich zwischen den Stämmen uralter Fichten und Ahornbäume hindurch und kämpfte sich durch das Unterholz. Im Laufen fiel ihm auf, dass es still geworden war im Bergwald. Die nächtlichen Geräusche waren verstummt, selbst die Tiere schienen den Atem anzuhalten angesichts des Bösen, das in ihre Welt eingefallen war. Über bemooste Felsen, die glitschig waren vom frisch gefallenen Schnee, gelangte Alphart zu einem Bach, an dem Bannhart und er oft ihren Durst gestillt hatten, wenn sie gemeinsam auf der Jagd gewesen waren. Auch diesmal ließ sich Alphart nieder und trank einige Schlucke, aber das Wasser schmeckte schal und bitter, als hätte die Nähe der Erle es vergiftet.

Der Wildfänger wusste nicht, wie gut die Unholde im Spurenlesen waren, aber er wollte kein unnötiges Wagnis eingehen. Kurzerhand sprang er in das Bachbett und watete ein Stück stromaufwärts, um seine Fährte zu verwischen. Oberhalb des Waldes verließ er den Wasserlauf. In der Nähe gab es einen Felsvorsprung, den Alphart »Wolfsfelsen« nannte, seiner an einen Tierschädel erinnernden Form wegen. Der Jäger stellte sich auf die vorderste Kante und schaute hinab ins Tal, während eisiger Nachtwind sein Haar flattern ließ und an seinem Umhang zerrte.

Unter ihm wand sich der Ostfluss und schlängelte sich durch das Tal, umrahmt von schneebedecktem Fels und steilen Hängen, von denen Wasserfälle in die Tiefe stürzten. Jenseits davon erhob sich majestätisch der Ruadh Barran wie ein letzter Wächter vor den Klüften des Wildgebirges, dessen ferne Gipfel in der hereinbrechenden Dunkelheit nur noch zu erahnen waren. Weit im Westen hingegen verlief der Bálan Bennian, jener riesige steinerne Wall, der das Wildgebirge durchlief und an dessen Fuß Iónador lag, die Goldene Stadt.

Dorthin musste Alphart, um die Menschen zu warnen …

Der Mond stand inzwischen hoch am Himmel und tauchte die raue Landschaft in blaues Licht. Wie oft hatte Alphart an diesem Platz gestanden und sich an der Erhabenheit und der friedlichen Stille geweidet, die über dem Land seiner Ahnen lag – doch damit war es nun vorbei.

Die Berge waren in Aufruhr. Der Wildfänger konnte das Entsetzen der Natur beinahe fühlen, das Beben der Pflanzen und das Wehklagen der Tiere über das Böse, das in die Welt eingedrungen war. Schreie hallten durch die Nacht, deren schauriger Klang selbst die jahrhundertealten Bäume erzittern ließ. Und im Südosten, jenseits der weißlichen Wipfel der Bäume, sah der Jäger orangerotes Licht.

Feuer …

Es war die Blockhütte, die in Flammen stand und die Nacht mit loderndem Schein erhellte. Das Heim der Brüder brannte lichterloh; für Alphart bestand kein Zweifel daran, dass dies das Werk der Erle war.

Alphart spürte unbändige Wut durch seine Adern wallen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten, und ein grimmiger Ausdruck erschien auf seinem wettergegerbten Gesicht. Noch hatte er Pfeile genug. Alles in ihm drängte danach, zurückzukehren zur Hütte und die Unholde zu bestrafen. Sein Herz schrie nach Rache – sein Verstand jedoch widersprach.