Emil Ertl
Meisternovellen
Emil Ertl
Meisternovellen
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: L. Staackmann Verlag, 1930
2. Auflage, ISBN 978-3-962818-95-1
null-papier.de/62
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Inhaltsverzeichnis
Autor
Zum Geleit - Ein Vorwort
Die Rose
Barbana
Artistentragödie
Der Umweg
In der Großen Kartause
Das Konzert
Christl
Der Salto mortale
Der Spitzenschleier
Die Tonnara
Der Eliteball
Der taubstumme Börsenkönig
Schicksal
Im Strandbad
Ein Kind der Liebe
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Ihr
Jürgen Schulze
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Emil Adolf Victor Ertl (✳ 11. März 1860 in Wien; † 8. Mai 1935 ebenda) war ein österreichischer Dichter und Schriftsteller.
Emil Ertl entstammte eine Seidenweber-Familie und wuchs am Schottenfeld, im 7. Wiener Gemeindebezirk, auf. Bis 1873 besuchte er das Gymnasium in der Amerlingstraße, danach übersiedelte die Familie nach der Wiederverheiratung der verwitweten Mutter nach Meran. Ertl studierte Philosophie in Graz und Wien; 1886 wurde er im Wege der Arbeit »Utilitarismus und Positivismus – eine Untersuchung im Anschluss an Bentham, Mill, Darwin, Spencer und Comte« zum Dr. phil. promoviert. Ab 1889 war Ertl Bibliotheksbeamter, später Bibliotheksdirektor an der Technischen Hochschule Graz (Technische Universität Graz) und zuletzt in dieser Funktion in Wien.
Bekannt wurde Ertl vor allem als Schriftsteller. Zwischen den beiden Weltkriegen war er ein viel gelesener österreichischer Autor. Mit Peter Rosegger, der für ihn als Dichter ein Vorbild war, war er befreundet.
Emil Ertl starb am 8. Mai 1935 im Alter von 75 Jahren in Wien und wurde auf dem Evangelischen Friedhof Matzleinsdorf (Gruft 153) beigesetzt.
Sein Nachlass befindet sich im Bezirksmuseum Neubau. Nach dem Dichter sind Gassen und Wege in einigen österreichischen Städten, wie Wien, Wiener Neustadt, Bad Aussee und Graz, benannt.
Werksauszug
Der 70. Geburtstag Emil Ertls, der im Vorfrühling dieses Jahres ein festliches Geschehen bedeutete, hat dadurch ein sehr beredtes Zeugnis für die verehrungsvolle Liebe einer innerlich-ergriffenen Gemeinde abgelegt: er wurde zum lauten Herold für die andauernde künstlerische Geltung eines gestaltungsstarken Erzählers und darüber hinaus zum zuverlässigen Künder von dessen enger seelischer Verbundenheit mit allen jenen, für die im Wogen und Werden unserer Zeit aus dem weise verstehenden, gütigen Dichterherzen durch die Darstellung des Allgemein-Menschlichen und Ewigen die beglückende Fülle edler Geistigkeit und tiefen Gemüts verheißungsvoll aufblüht.
»Alles was der Dichter uns geben kann,« meint Schiller, »ist seine Individualität; diese muß es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden.« Gilt dieses Wort, so besteht Emil Ertl groß vor uns, ist doch so viel edler Stil in seiner Erscheinung, quillt doch aus seiner seltenen Menschlichkeit der wundersame Brunnen, dessen Tiefe sein Werk speist. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommen bei ihm aus solchem Ursprung. Dieses starke, erdverwachsene und dabei fest in göttlichem Grunde ruhende Menschentum bewirkt seine geistige Haltung, bestimmt sein bedeutendes, von allen Mächten der Seele und von reifem Weltwissen erfülltes, in Höhen und Tiefen reichendes Dichtertum.
Hieraus erklärt es sich, warum der Verfasser des vorliegenden Buches das Erbe unvergänglicher Meister in so sicheren Händen trägt, daß wir seiner Kunst bis zu diesem Tage nirgends ein Ermüden oder Welken anmerken. Bei seinen unmittelbaren Beziehungen zum Leben, aus Blut ins Blut wirkend, hat er seine Schwerpunkte, wiewohl er sich oft im Reiche der Geschichte ergangen hat, beileibe nicht in verklungenen Tagen, wir spüren bei ihm überall den lebhaften Schwung eines mit der Zeit gehenden Willens. Sein Wirklichkeitssinn führt immer wieder zu hellspüriger Beobachtung des Kleinlebens, der Einzelheit; und doch zeigen seine Dichtungen trotz feinfühliger Erbötigkeit an die Natur und das pulsende Leben, trotz sozialer Einfühlung in das Poetische des Alltags, die zuweilen eine rührende Andacht zum scheinbar Unbedeutenden in sich schließt, jene hoch über der Erscheinung stehende Auffassung, die die Gemeinschaft alles Lebens bis in die stumme Kreatur hinein begreift und heiligt. Ein Dichter soll ja auch mehr geben als nur eine Nachbildung des Lebens in seinen charakteristischen Formen. Wir hoffen von seiner Kunst, daß sie uns den verhohlenen Sinn des Daseins entschleiern, den irdischen Tageslauf bezwingen lehren und uns eine innere Durchleuchtung für Arbeit und Pflichterfüllung verleihen werde.
Emil Ertls Muse hat dieses weihevolle Amt immer geübt, doch benötigte sie hiezu nicht immer den Schauplatz großer geschichtlicher Ereignisse, wie etwa in der gewaltigen Spiegelung der vier innerlich zusammenhängenden Romane aus den Geschicken einer österreichischen Seidenweberfamilie, sie in stolzem Bogen eine Brücke aus Napoleonischer Zeit bis herauf in unsere Tage schlagen, oder in dem für uns Deutsche gleichnisreichen Riesengemälde von Karthagos Kampf und Untergang. Ein Berufener, den längst die Erde deckt, traf denn auch ins Schwarze, wenn er, Jahre bevor die genannten Hauptwerke Emil Ertls entstanden, dessen dichterisches Können als ein vielverzweigtes und reichgestaltendes einschätzte. In einem Aufsatz, der »Ein guter Kamerad« überschrieben ist, und in dem Peter Rosegger eine Besteigung des Loser schildert, jenes aussichtsreichen Kalkgipfels, mit dem das Tote Gebirge gegen den dunkelgrünen Altausseer See abstürzt, rühmt der volkstümliche steirische Dichter in seiner Art die gewaltigen Eindrücke, die ihm die Erhabenheit der Bergwelt vermittelte, und freut sich zugleich über das offene Auge, Ohr und Verständnis, das sein um vieles jüngerer Freund und Wandergenosse von damals für das Größte und Kleinste in der Natur bekundet habe, sowie über dessen Sinn für das Geschichtliche der Gebirgsbewohner, deren wirtschaftliches Leben, ihren Volkscharakter, ihre Sitten, Kunstneigungen und Lieder. Und er fügt hinzu: »Da begriff ich, wie dieser Mann aus einem Tintentiegel Dorfgeschichten wie Stadtnovellen schreiben kann.« So zu lesen in dem letzten von Peter Rosegger noch selbst zusammengestellten Sammelband »Abenddämmerung«.
Einer Anregung des Verlages L. Staackmann in Leipzig freudig entsprechend, aus einer Anzahl verschollener älterer Novellenbände Emil Ertls, die wegen der Ungunst der Zeitverhältnisse derzeit nicht neu aufgelegt werden können, einen bunten Strauß der erlesensten solcher abwechslungsreicher Erzählungen und Geschichten, und zwar kleinsten Umfangs, zusammenzustellen, konnte ich mich der Zustimmung des Verfassers zu diesem Unternehmen umso leichter versichern, als im Laufe der Jahre nicht nur an die genannte Verlagsanstalt, sondern im Wege verschiedener Buchhandlungen auch an den Dichter selbst immer wieder Anfragen gerichtet worden sind, in welchem Band diese oder jene Geschichte zu finden sei, und auf welche Weise man sich selbe verschaffen könne; worauf denn keine andere Antwort gegeben werden konnte, als daß die betreffenden Bande gänzlich vergriffen und auch im Altbuchhandel kaum mehr aufzutreiben wären. Zehntausende schöngeistiger Werke, sagte ich mir, werden in deutschen Landen alljährlich mit mehr oder weniger Lärm auf den Markt geworfen, meist um für immer der Vergessenheit anheimzufallen. Und eine in aller Stille erblühte dichterische Schönheit, deren Duft und Farbe sich ihren Schätzern lebendig und dauernd eingeprägt hat, sollte den empfänglichen Gemütern, die ein Wiedersehen mit ihr feiern oder andere darauf aufmerksam machen möchten, für immer unzugänglich bleiben?
Schon allein aus dieser Erwägung scheint mir die Herausgabe der vorliegenden Auswahl gerechtfertigt, wobei ich mich übrigens auf ausdrücklichen Wunsch des Dichters zu der Feststellung veranlaßt sehe, daß seines Erachtens Peter Rosegger einem wohlwollenden Irrtum unterlegen sei, wenn er ihm seinerzeit die Fähigkeit zugetraut habe, »Dorfgeschichten« zu verfassen. Daß dieses nur einem Schriftsteller gelingen könne, der Gemüt und Seele jener ländlichen Umwelt, die er zum Gegenstand seiner Darstellung zu machen beabsichtige, von Jugend auf in sich eingesogen habe, dessen sei sich niemand besser bewußt als gerade er selbst, der als Heimatdichter der Großstadt seine nachhaltigsten Wirkungen dem Umstande danke, daß er seine Romangestalten dasjenige, was jeden Menschen betrifft und bewegt, in einem zum Greifen lebendigen, örtlich und zeitlich genau bestimmten und bedingten Geist habe aussprechen lassen, wozu ihn wieder nur seine von Kindheit auf bestehende Vertrautheit mit diesem Geiste und dessen Ausdrucksmitteln befähigt habe.
»Du wirst, lieber Freund,« fährt Emil Ertl in dem betreffenden an mich gerichteten Briefe fort, »vielleicht einen Widerspruch darin erblicken, daß sich trotzdem in meinen Werken Erzählungen genug finden, die in den mannigfachsten Umgebungen spielen, in der Stadt oder auf dem Lande, unter Gebildeten oder Bauern, großen und kleinen Leuten, Edelmenschen und Strolchen, manchmal sogar im fremdsprachigen Ausland. Indessen löst sich der scheinbare Widerspruch bei genauerer Betrachtung der Form. Der Roman, der künstlerische Ernte einbringen will, muß seine Gestalten, auch wenn sie erst als reife Menschen in ihn eintreten, von Kindheit auf, womöglich gar vor ihrer Geburt, nämlich in ihren Vorfahren kennen, muß mit ihren Beziehungen und Verhältnissen aufs Genaueste vertraut sein, um ihr geheimstes Sinnen und Trachten wissen und sie in vollster Lebensfülle, das heißt in innigstem Zusammenhang mit ihrer Umgebung darstellen. Ungefähr dasselbe, wenn auch in gewisser Abschwächung, gilt auch von jener die ehemalige »Dorfgeschichte« in sich begreifenden Erzählungsform, die zwar oft Novelle genannt wird, grundsätzlich aber so wenig zur Verschwiegenheit neigt wie der Roman und sich von diesem im wesentlichen nur durch geringeren Umfang nach Breite und Tiefe unterscheidet. Ganz anders die richtige Novelle. Sie weiß absichtlich und grundsätzlich von den handelnden Gestalten, deren Charaktereigenschaften und Schicksalen nicht mehr, als was eine bestimmte Begebenheit, die an sie herantritt, ein Ereignis oder Erlebnis, dem sie unterliegen, scheinwerferartig davon erhellt. In dem abgegrenzten Lichtkegel leuchtet dann für einen Augenblick ein Stück Wirklichkeit auf, was rechts und links davon liegt, bleibt unbekanntes Land, wird höchstens angedeutet. Man fühlt die Verwandtschaft mit der Radierung. Aus einem Lebenskreise nun, in dem ich durch Erfahrung oder Studium nicht gründlich zuhause bin, würde ich niemals wagen, einen Roman zu gestalten. Aber unbedenklich ergibt er mir, wenn das Glück hold ist, eine Novelle, kein Gemälde zwar, aber eine Radierung, die auch ihre Reize hat ...«
Soweit Emil Ertl. Es ist damit genugsam erklärt, warum der Dichter, der auf der einen Seite so strenge Anforderungen an die Kenntnis der Umwelt stellt, wie etwa in seiner oben erwähnten vierbändigen Romanreihe »Ein Volk an der Arbeit« oder in dem wuchtigen dichterischen Geschichtsdenkmal »Karthago«, anderseits vor der abwechslungsreichsten und mannigfaltigsten Stoffwahl nicht zurückschreckt. Er sieht im Roman oder der romanartigen Erzählung gewissermaßen einen zwischen begrünten und beblumten Ufern hingleitenden Strom, Bäume und Häuser, die am Rande stehen, spiegeln sich darin, sogar das Bild des Himmels, der sich darüber wölbt, wirft er zurück. Die Novelle dagegen scheint ihm herausgeschöpftem Wasser vergleichbar, das die Form des Gefäßes anzunehmen gezwungen ist, dessen Wände es umgrenzen. Die Verschiedenheit der künstlerischen Technik bedingt auch eine andere Einstellung des Schaffenden seinem Stoff gegenüber. Nach solchen Gesichtspunkten beurteilt dünkt es mich kein Überschwang, wenn die vorliegende Sammlung in nachdrucksamer Betonung eines vielerfahrenen Kunstverstandes, der den Inhalt durch Form bändigt, den Titel »Meisternovellen« trägt. Wie griffig und packend bewegt, schürzt und löst in diesen knappen kleinen Kunstwerken die bewährte Meisterhand, wie hellt sie Dunkles und Verborgenes auf, um es durch die Macht des dichterischen Wortes zu tragischen Erschütterungen zu steigern oder trostreich ausklingen zu lassen, wieviel Beobachtungsgabe und Weltkenntnis birgt der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der großen und kleinen Ereignisse in sich, die gleichsam aus dem Leben selbst herausgerissen sich in diesem Bande zusammenfinden!
Emil Ertl, in seiner Gesamterscheinung einer der vornehmsten Träger altösterreichischer Geisteskultur, ist in seinem Wesen uns Donau- und Alpendeutschen für die eigene seelische und geistige Haltung vollgültig wie wenige neben und mit ihm. Gerade aus den lauteren Quellen, aus dem Wurzelgefühl dieser Dichtung, die nicht bloß zeitvertreiben und unterhalten, die vielmehr auch Dienst an der Seele unseres Volkes tun will, ist mannigfach echte Kraft zu schöpfen. Man wird schon deshalb dem Dichter und Denker eines selten gewordenen verinnerlichten Deutschtums, der aus der andrängenden Vielfalt des buntwirbelnden Lebens durch den sanft überredenden Geigenstrich einer wundervoll gepflegten Sprache die köstlichsten Schätze hervorzuzaubern weiß, allenthalben im weiten deutschen Vaterlande gerne mit beschwingter Seele lauschen.
Graz, im Sommer 1930.
Heinrich Wastian.
»Du solltest aber doch auch an die Luft gehn, Papa!« sagte Frau Annie zu ihrem Mann. »Den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen –?«
Sie nannte ihn fast immer »Papa«, obgleich er nicht ihr, sondern der Papa ihrer Kinder war; aber sie sah ja alles mit den Augen der Kinder.
»Wo geht ihr hin?« fragte der Professor, zerstreut aufblickend.
»Zum Wohltätigkeitsfest. Man ist doch wenigstens den Abend ein bissel im Grünen. Und die Kinder möchten natürlich den Jahrmarkt sehn.«
»Natürlich, ja, ja, geht nur!« sagte er wie geistesabwesend.
Minni, das neunjährige Mädchen, und der zwölfjährige Rolf öffneten die Türe und schoben sich zögernd in Vaters Arbeitszimmer herein. Draußen hörte man die gedämpfte Stimme Gretlis, die im Alter zwischen diesen beiden stand: »Nicht hineingehn! Papa hat doch zu arbeiten!«
»Tür zu, bitte, es zieht!« rief der Papa. Minni und Rolf wollten zurückprallen, aber die Mama sagte: »Also rasch herein! Papa erlaubt schon, daß ihr ihm Guten Tag sagt.«
»Aber gewiß!« sagte er und malte nervös Krakelfüße auf den Rand eines Blattes, an dem er eben geschrieben hatte. »Lebt wohl und gute Unterhaltung!«
Nun trat auch Gretli ein, das schüchterne, großäugige Kind, in ihrem Strohhut mit weißen Bändern. Der Reihe nach küßten sie ihn auf die Wange, erst Minni, dann Rolf, dann Gretli, und entfernten sich gesittet und eilfertig. Im Vorzimmer sagte Mama: »Gott, was für ein Stoß Drucksachen und Briefe! Trag sie hinein, Gretli!«
»Was gibt es denn schon wieder?« fuhr der Professor auf.
»Nur Zeitschriften und Briefe, Papa,« sagte Gretli, gleichsam sich entschuldigend.
»Danke, schon recht, leg sie hin.«
Nachdem das Kind sich entfernt hatte, riß er die Briefumschläge auf und die Schleifen von all dem bedruckten Zeug, dann zündete er sich eine Zigarre an und ließ das geübte Auge über Akten und Abhandlungen, Gedrucktes und Geschriebenes gleiten. Ein paarmal dazwischen schlug er mit der flachen Hand leicht auf den Schreibtisch. Daß es immer wieder neue Ärgernisse gab, Kontroversen, Mißverständnisse! Aber was läßt sich dagegen tun? Kämpfen heißt es eben, sich und seine Überzeugung verteidigen. Gerade das nennt man Wirken im Dienst des Geistes. Gerade das nennt man Leben.
Rechter Hand auf seinem Schreibtisch lagen nebeneinander zwölf Stück wohlgespitzte Bleistifte, Kohinoor 2 B, links ein hoher Stoß Papiere, zu Quartblättern zugeschnitten. Gretlis, seines Lieblings, Geschäft war es, diese Vorräte in Ordnung zu halten. Jeden Morgen, ehe Papa sein Zimmer betrat, zerschnitt sie das Papier und spitzte die Bleistifte, deren immer genau ein Dutzend sein mußte. Manchmal kam es vor, daß am nächsten Morgen alle zwölf abgebrochen waren. Sie setzte sie wieder in Stand und legte sie nebeneinander, daß sie aussahen wie Lanzen in einem Waffenlager für Ulanen. Den Papiervorrat aber füllte sie nach wie die Danaiden das Faß. Sie war so eine von den Stillwaltenden, die man nicht hört, verdichtete Weiblichkeit im Keim, eines von jenen Kindern, die man leise aufs Haar küssen möchte und sagen: Gesegnet, wer dich einmal heimführt!
Wenn der Professor während des Schreibens auf ein physisches Hindernis stieß, konnte es ihn rasend machen. Darum hatte er sich's so eingerichtet. Das Papier brauchte man nur herzunehmen, Blatt für Blatt, und wie die Spitze so eines Bleistiftes Kohinoor 2 B über gut geglättetes Papier hingleitet, das ist ganz einzig, unvergleichlich. Er schreibt beinahe von selbst.
Gerade jetzt, während er so allein und ungestört am Schreibtisch saß, rissen ihn wieder die Gedanken hin. Was da in einer dieser Streitschriften gedruckt stand, war schlechterdings unvereinbar mit seiner wissenschaftlichen Überzeugung. Das mußte einmal gründlich widerlegt werden. Mit bestrickender Sachlichkeit und doch zugleich heißblütig, schlagfertig, vernichtend. So ein zurechtweisender Aufsatz von ihm, an ersichtlicher Stelle in der ihm zur Verfügung stehenden Zeitschrift gebracht – das sauste wie eine damaszierte Klinge durch die Luft, klebscharf geschliffen und dabei fein und geschmeidig.
Wie ihm die Worte aufs Papier strömten, aus der Überzeugung heraus! Jede Viertelstunde krachte eine Bleistiftspitze, und sofort flog der dienstuntauglich gewordene Stift beiseite und ein anderer trat für ihn ein, aus der Reserve, die in Reih und Glied wartete, gleich kampfbereiten, todesmutigen Soldaten.
Und mit den Bleistiften, die in die Schreibtischecke flogen, flog auch die Zeit hin, ohne daß er es merkte, und er wunderte sich fast, als nach und nach ein leises Zwielicht um den Schreibtisch zu weben begann und plötzlich auch schon die Seinen vom Volksfest wieder heimkehrten, die ganze Rasselbande.
Die Kinder in ihrer Ausgelassenheit schlugen die Vorschriften gänzlich in den Wind, die ihnen Mama immer einschärfte: Papas Zimmer wie ein Heiligtum zu betrachten. Glückselig stürmten sie herein, voll von Erlebnissen, umdrängten ihn, er hörte sie erzählen, berichten, schildern, und hörte sie doch wieder nicht, seine Gedanken waren – ganz anderswo. Er plauderte mit ihnen und hatte keine Ahnung von dem, was er sagte, er dachte nur immer an seine Arbeit, die er noch krönen wollte, deren letzte Gedanken, deren wirksamste Sätze in ihren Umrissen ganz deutlich vor seinem geistigen Auge standen, und die er doch nicht hatte packen und festhalten können. Durchaus wollte er sie nicht entwischen lassen. Er wäre so gerne fertig geworden vor Einbruch der Dunkelheit, das Abendessen schmeckte ihm nicht, wenn er nicht zu einem Abschluß gekommen wäre. Und darum war er froh, als die Stimme seiner Frau ertönte: »Jetzt laßt aber Papa in Frieden, er hat noch zu arbeiten!«
»Nur ein paar Minuten noch ...« sagte er dankbar.
Eine halbe Stunde später saß er ganz vergnügt mit seiner Familie beim Abendbrot. Der Aufsatz war nicht nur vollendet, sondern sogar schon im Briefkasten, mit Umschlag und Freimarke. Er war zufrieden mit dem Artikel. Der saß! Abgetan! Fertig!
Die Kinder zeigten, was sie sich gekauft hatten auf dem Jahrmarkt. Rolf Ansichtskarten. Er sammelte natürlich, und zwar vom geographischen Gesichtspunkt aus: Gegenden, nur Gegenden. Sachen, die nicht wirklich waren, freie Erfindungen von Künstlern, liebte er nicht. Das kam ihm unsolide vor. Minni hatte sich ein wunderbares Spielzeug gekauft. Das war ein Gestell mit vier Rädern und obenauf eine Kautschukblase, die sich mächtig blähte, wenn man hineinpustete. Die langsam ausströmende Luft entfesselte den Ton eines Trompetchens und setzte zugleich das kleine Fahrzeug in Bewegung, wenn man es auf den Tisch oder Fußboden stellte. Es machte einen drolligen Eindruck, wenn das Wägelchen selbsttätig dahinrollte unter dem Blasen des Trompetchens, während der aufgeblähte Sack, den es mit sich führte, allmählich einschrumpfte.
Die Kinder unterhielten sich lange mit dem schnurrigen Spielzeug, ließen es umwenden, anhalten, bergauf und bergab fahren und bliesen es immer wieder auf, sobald ihm der Atem ausgegangen war. Belustigt sahen die Eltern zu.
»Was die Leute alles erfinden!« sagte Frau Annie.
Der Professor nickte: »Ja, und wenn man denkt, daß immerhin ein bißchen Ingenium dazu gehört, so etwas auszudenken!«
Nachdem die Kinder zu Bett geschickt waren, steckte er sich eine Zigarre an und machte Miene, sich in sein Schreibzimmer zurückzuziehen.
»Schon wieder arbeiten?« seufzte Annie.
»Mein Buch muß doch endlich ein bißchen vom Fleck kommen.«
»Deine Zigarre wenigstens rauch noch hier zu Ende?« bat sie.
Er blieb sitzen. Sie nahm das Pustewägelchen, das die Kinder zurückgelassen hatten, blies es auf und ließ es über den Teppich hinlaufen. Es arbeitete sich mühsam aber beharrlich durch das rauhe Terrain. Eine ganze Zeitlang zog es an wie eine kleine Lokomotive, indem es das Trompetchen dabei blasen ließ. Dann schrumpfte die Kautschukblase ein, knüllte sich zusammen wie eine runzliche Haut, und mit einem langgezogenen seufzenden Mißton entfloh der letzte Lebensatem. Da stand es stille und kippte ein wenig zur Seite. Der Professor und seine Frau lachen. Der Professor mußte lachen, daß ihm Tränen in die Augen traten, so komisch kam das Ding ihm vor. Er verfiel in ein fast nervöses, krankhaft überreiztes Lachen.
»Du solltest nicht so viel arbeiten, Oskar,« sagte die Frau. »Es muß ja deine Nerven angreifen und dich schließlich noch krank machen.«
»O, ich halte etwas aus,« erwiderte er behaglich. »Das Arbeiten macht mich nicht krank. Das ist ja das größte Vergnügen, das es überhaupt gibt.«
Er stand auf und ging im Speisezimmer auf und nieder, in Gedanken ... »Siehst du,« sagte er, »was die Nerven angreift, das ist, daß man keinen Dank hat. Ich meine nicht Lohn, ich meine Dank. Überall nichts als Mißverständnisse und Mißdeutungen, von allen Seiten. Und man gibt doch sein bestes hin, quält sich ab in zweifelvollen Stunden, wie man raten, nützen, helfen könnte. Man will etwas Gutes erweisen, Liebe spenden, und die, denen es zugedacht ist, verstehen es nicht, merken es kaum. Siehst du, das ist es, was manchmal ein wenig hernimmt.«
»Ja, das ist es,« seufzte sie bekümmert.
Er trat zu ihr und küßte sie auf die Stirn. »Na, das war nur so eine kleine Anwandlung ... Ich lasse mir meine Ziele nicht verrücken, und vorderhand bin ich noch obenauf.« Und mit einem Blick auf die Uhr sagte er: »Jetzt heißt es aber fleißig sein.«
Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer, blieb aber noch einmal stehn und fragte zurück: »Was hat sich denn eigentlich Gretli auf dem Jahrmarkt gekauft?«
»Gretli? Die Rose.«
»Welche Rose?«
»Nun die Rose, die sie dir brachte.«
»Die sie mir brachte?«
»Ja. Sie brachte dir doch eine Rose!«
»Eine Rose? Mir«?«
»Ja. Schon auf dem Hinweg fragte sie, ob man auch Rosen zu kaufen bekäme auf dem Jahrmarkt. Wahrscheinlich, sagte ich, die Damen verkaufen sie den Herren für die Wohltätigkeit. So kaufe ich eine Rose für Papa, sagte sie.«
»Aber sie gab sie mir doch nicht?«
»Ja, sie gab sie dir, als wir nach Hause kamen.«
»Und ich?«
»Du nahmst sie und rochst daran. Und dann fragte sie, ob sie die Blume in die kleine Bronzevase stecken dürfe, die auf deinem Schreibtisch steht.«
»Und ich?«
»Du sagtest: da darf man kein Wasser hineintun.«
»Und dann?«
»Dann brachte sie ihr kleines Porzellanväschen hinüber und fragte, ob sie die Rose hineintun und auf deinen Schreibtisch stellen dürfe.«
»Nun?«
»Da sagtest du: ja, gewiß! Aber ich merkte gleich, daß du gar nicht wußtest, wovon die Rede war, und daß dir andere Gedanken durch den Kopf gingen. Denn es flog ein Lächeln über dein Gesicht, und gleich darauf ergriffst du einen Bleistift und warfst ein paar Sätze aufs Papier.«
Er schüttelte den Kopf.
»Sollte man nicht glauben!« sagte er nachdenklich, drehte das Licht in seinem Arbeitszimmer an und warf durch die offenstehende Tür einen Blick auf seinen Schreibtisch. Da stand neben der Lampe eine kleine Porzellanvase mit einer schönen, großen, roten Rose. Es kam ihm vor wie ein Wunder.
Allerhand Gefühle wurden wach in ihm ... Da richtest du deinen Blick ins Weite und sorgst dich für Fernliegendes, vielleicht Unwirkliches; sehnst dich, indem du dich mit den Meinungen anderer herumschlägst, vergeblich nach einem einzigen kleinen guten Wort des Dankes – und bist blind für die unendliche Liebe, die still und schüchtern dich umgibt und die Stätte deiner Arbeit mit Rosen schmückt ...
Einen Augenblick stand er unschlüssig, dann drehte er sich um und schritt durchs Speisezimmer nach der gegenüberliegenden Tür.
»Muß doch sehen, ob sie noch wach ist?«
»Gretli? Ach ja! Gib ihr noch einen Gutnachtkuß, das macht sie überglücklich!«
Nach einer kleinen Weile kehrte er zurück, vorsichtig, auf den Fußspitzen: »Sie schläft schon.«
Bei einer Tasse Tee saßen wir nach dem Abendessen in dem holzgetäfelten, mit zahlreichen Jagdtrophäen geschmückten Speisesaal des Schlosses am Kamin und streckten unsere Füße gegen das offene Feuer. Es war Spätherbst, und draußen wehte ein eisiger Wind, daß die großen brennenden Buchenscheite unstet flackerten. Die trockene Wärme, die von ihnen ausstrahlte, tat uns wohl, wir hatten bis in den sinkenden Abend hinein einen weiten Weg gemacht und waren gehörig durchgeblasen worden. Um den mit Hirschleder überzogenen weichgepolsterten Lehnstuhl des Freiherrn lagen oder kauerten mehrere seiner Lieblingshunde, die seine steten Begleiter waren. Er war leidenschaftlicher Jäger und huldigte dem Jagdvergnügen in allen erdenklichen Formen. Er jagte im Felsgebirg und im Hochwald, in den Föhrenschonungen und am Flusse, auf freiem Feld und im sumpfigen Moor. Die Gegend war gebirgig mit dazwischengelagertem Hügelland und breiten Niederungen, sie gewährte so ziemlich alles, was ein Jäger sich wünschen konnte. Und der Freiherr war stets mit der gleichen Begeisterung bei der Sache, ob er auf Gemswild birschte oder Hasen schoß, ob er den Dachs grub oder den Auerhahn beschlich oder Wald- und Wasservögeln nachstellte und auf den Schnepfenstrich paßte.
Diesmal hatte er, während die Wetterfahne auf dem Giebel des Schlosses im wehenden Winde ächzte, von seinen Hunden gesprochen und stellte mir einige seiner Lieblinge vor, die treu und aufmerksam an seiner Seite saßen oder zu seinen Füßen lagen und sich an der strahlenden Wärme des offenen Feuers behagen ließen wie wir selbst. Da waren zwei edle, weißbraune Jagdspaniels, Tiere, die ernst und verständig dreinschauten wie kluge Menschen, dann der listige Dachshund »Steffel«, dem die Kalfakternatur auf der Nase geschrieben stand, endlich »Waldmann« und »Waldine« ein paar Prachtexemplare von roten, stichelhaarigen Hochgebirgsbracken.
»In früheren Jahren,« sagte ich, »erinnere ich mich, wiederholt eine unscheinbare, häßliche schwarze Hündin unter Ihren Begleitern gesehen zu haben. Was war das eigentlich für ein Tier? Ich gestehe, ich wunderte mich im stillen, daß Sie unter Ihren prächtigen Hunden einen Köter von so zweifelhafter Herkunft duldeten.«
Der Freiherr lachte.
»Das will ich gern glauben, daß Sie sich darüber wunderten. Aber meine »Barbana« war ein ganz ausgezeichneter Kerl, und ich vermisse sie schwer, seit sie tot ist. Wollen Sie erfahren, wie ich zu dem Tier kam?«
Er tat ein paar Züge aus der Zigarre und fuhr fort: »Das war in der Inselzone des ehemals österreichischen Küstenlandes, in der uralten Patriarchenstadt Grado, der Perle der friaulischen Lagune. Was mich oft dahin lockte, war die Jagd, die Jagd auf Wassergeflügel, die in ganz eigentümlicher Weise in den Lagunen betrieben wird. Man bedient sich nämlich dabei einer Flinte, die eigentlich eine Art Kanone ist. Sie ist doppelt so lang wie ein Mensch und besitzt ein ungewöhnlich großes Kaliber. Man legt sie der Länge nach auf das Boot, so daß dieses gewissermaßen zur Lafette wird, und rudert des nachts oder am dämmernden Morgen in die weite Lagune hinaus, um das Wassergeflügel beim ersten Frühschein zu überrumpeln.
An einem schönen, friedlichen Herbsttag kehrte ich wieder einmal von einem solchen Jagdausflug zurück, schon im sinkenden Abend. Wie wir uns langsam rudernd dem Hafen von Grado nähern, da bemerke ich von meinem Boot aus auf der Ufermauer des Städtchens eine große Menschenansammlung und auf dem Brackwasser davor viele Boote. Und von Zeit zu Zeit sah ich es hoch aufspritzen, gerade als ob schwere Gegenstände von Bootsleuten in die Flut geschleudert würden, und jedesmal, wenn es einen Plumps machte und das Wasser aufspritzte, erhob sich unter den Menschen am Ufer ein Geheul, halb wie Freudengeschrei, halb wie das Wehklagen von Weibern und Kindern.
Mein Ruderer, den ich fragte, was das zu bedeuten hätte, erzählte mir, eine Hundesteuer sei eingeführt worden in Grado, weshalb die Leute sich verschworen hätten, ihre Hunde zu ertränken. Große Steine hätte man ihnen um den Hals gehängt und würfe sie von den Booten aus ins Wasser; nicht ein einziger würde am Leben bleiben, im ganzen Ort!
Ich war empört über eine solche Grausamkeit. Wir hatten uns den Booten genähert, und ich sah jetzt ganz deutlich, wie zwei Männer einen schwarzen Hund an den Beinen in der Luft hin und her schwenkten. Dann ließen sie die Beine los, und das arme Tier platschte ins Wasser. Wieder erhob sich ein Gejohle am Ufer; es schienen die meisten, die dort standen, kein Mitleid zu kennen mit den grausam hingeopferten Tieren.
Der schwarze Hund, der soeben ins Wasser geschleudert worden, kämpfte einen verzweifelten Kampf um sein Leben. Trotzdem ihm ein kindskopfgroßer Stein am Halse hing, hielt er sich doch noch über Wasser. Mit einem Blicke, in dem die Todesangst brannte, spähte er um sich, wohin er sich retten könnte. Und ich bemerkte, daß er gerade auf mein Boot zusteuerte, um seinen Henkern zu entrinnen.
Er schwamm wie ein Seehund, aber die Last am Halse zog gewaltig; keuchend, nach Luft schnappend, näherte er sich: den Blick vergesse ich nie, den er auf mich gerichtet hielt! Es war, als ob ein ertrinkender Mensch in Todesangst mir entgegenschrie: Rette mich, ich will dir dienen und es dir danken mein Leben lang!
Rasch entschlossen befahl ich meinem Bootsmann, ihm entgegenzurudern. Er sank schon unter, da glitt mein Fahrzeug an die Stelle, und mit glücklichem Griff erwischte ich den armen Kerl an einem Bein, das gerade noch einmal zum Vorschein kam, und hob ihn nicht ohne Mühe ins Boot.
Es war ein mittelgroßes schwarzes Tier ohne jede Rasse, eine Hündin. Ich schnitt ihr den schweren Feldstein vom Halse, sie lag erschöpft, triefend und leise wimmernd auf dem Boden meines Fahrzeugs und leckte meine Stiefel. Als ich ans Land stieg, folgte sie mir auf dem Fuße, gerade, als wäre ich immer ihr Herr gewesen. Zu Hause gab ich ihr zu fressen und dachte nach, was weiter geschehen sollte. Der Besitz des Tieres war für mich eine Verlegenheit. Einen so rasselosen, fast lächerlichen Köter konnte ich nicht brauchen. Aber da ich einmal sein Lebensretter geworden war, verfiel ich auf den Gedanken, die Hündin gegen reichliches Kostgeld einem Flickschuster zu übergeben, den ich als gutmütigen und rechtlichen Mann kannte. Der brave Schuster, der eine zahlreiche Familie zu ernähren hatte, ließ sich durch mein Anbot bestimmen und nahm den Hund in seine Obhut. Abgemacht!
Bald darauf hatte ich noch im Morgengrauen einen meiner Jagdausflüge angetreten. Ich befand mich bereits mitten in den Lagunen, als ich etwas Schwarzes unter der Bootsbank liegen sah. Irgendein Kleidungsstück? Ich stieß mit dem Fuße daran. Ein leises Winseln – meine Hündin war es. Im Schutze der Dunkelheit hatte sie sich in das Boot geschlichen und mich so gezwungen, sie mitzunehmen.
Mein Ärger verlor sich aber bald. Denn nun sollte ich etwas ganz Unerwartetes erleben.
Ich hatte langst darauf verzichtet, meine Vorstehhunde in den Lagunen zu verwenden, sie versagten hier völlig. Das Brackwasser war ihnen zu salzig, der Wellenschlag machte sie kopfscheu, ich nahm sie gar nicht mehr mit. Leute in hohen Wasserstiefeln suchten das erlegte Geflügel zusammen, was nicht auf trockene oder ganz seichte Stellen fiel, war verloren.
Welche Überraschung nun, wie nach dem ersten Schuß mein schwarzer Köter mit einem großen Satz über Bord springt und sich in die Fluten stürzt.
Die witternde Nase voraus, durchschnitt er die Wellen, ich war gespannt, ob er das Federwild zerbeißen oder sich sonst irgend etwas zuschulden kommen lassen würde, was nicht weidgerecht ist. Aber nichts davon; er brachte den ganzen Abschuß mit einer solchen Gewissenhaftigkeit an mein Boot, daß ein jeder meiner Bracken sich ein Beispiel daran hätte nehmen können.
Ich hob das Tier nach getaner Arbeit in das Fahrzeug, lobte es und kraute ihm den Kopf. Da sah es mit einem solchen Ausdruck von – fast möchte ich sagen – beglückter Dankbarkeit zu mir auf, daß ich schier ergriffen davon wurde. Und es stand nun fest bei mir, daß ich keinen Versuch mehr machen wollte, die Hündin wegzugeben. War sie auch nicht von adliger Geburt, so verstand sie doch ihre Sache so gut, ja besser als irgendeiner meiner Reinrassigen. Ich behielt sie also bei mir und nannte sie »Barbana« nach der Laguneninsel, an der vor Jahren die Hochflut ein absonderliches Gnadenbild sollte angeschwemmt haben, wie mir auch von denselben Wellen dies sicherlich nicht alltägliche Geschöpf zugetragen worden.
»Barbana« blieb von da ab meine stete Begleiterin auf meinen Jagdausflügen in die Lagune. Ich räumte ihr einen ebenbürtigen Platz an der Seite meiner vornehmsten Jagdhunde ein, und sie hat sich dessen durchaus würdig erwiesen, ja, ich muß gestehen, daß kaum ein andrer von meinen Hunden – ohne dem Waldmann oder gar der Waldine nahetreten zu wollen – die gleiche Fähigkeit besaß, auch meine unausgesprochenen Wünsche zu erraten und mir meine Befehle gleichsam von den Augen abzulesen.
Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß sie ihr ganzes Leben lang jenen fürchterlichen Augenblick in der Erinnerung behalten hat, wo sie, den Stein um den Hals, mit dem Tode rang und ich ihr Retter wurde. Dankbarer als man