Ich möchte – weil es mir sehr wichtig ist – vorab ein paar Dinge klären. In diesem Buch stehen natürlich nur meine Erinnerungen. Ich habe sie so aufgeschrieben, wie ich mich erinnert habe. Es gibt logischerweise immer zwei Seiten: Yin und Yang, Sonne und Schatten. Aber in diesem Buch geht es natürlich um meine Sicht der Dinge. Falls jemand sich verletzt fühlen sollte und die Dinge ganz anders sieht, dann tut mir das leid.

1. Keine Zeit
für
Arschlöcher

Auf der Fahrt vom Krankenhaus ins Hotel fühle ich mich wie ferngesteuert. Ich schließe die Tür auf und setze mich zitternd auf den Stuhl in meinem Zimmer. Trotz der Kälte draußen bin ich komplett durchgeschwitzt. Schweiß perlt von meiner Stirn, tropft mir auf den Pulli. Ich rauche eine Zigarette nach der anderen, aber das Nikotin kann meine blanken Nerven nicht beruhigen. Die Wut in mir lässt sich kaum verdrängen.

So schnell geht das also. Ruck, zuck! wird man selber zum Arschloch. Ist ganz einfach. Leider. Ich drücke wieder eine Kippe aus und mache mir gleich die nächste an. Versuche, etwas runterzukommen. Diese blöde Kuh von Krankenschwester, ist doch wahr. Ich bin völlig zerrissen. Zwischen blanker Wut gegenüber dieser Frau und Entsetzen über meine eigene Entgleisung. Ich fühle mich im Recht, aber mir ist mein Benehmen im Nachhinein doch auch schwer peinlich. Wie konnte das nur passieren? Ich versuche, mich ganz nüchtern zu erinnern. Wie bin ich überhaupt in diese Situation geraten? Eine Situation, die mir so schnell über den Kopf gewachsen ist. Ein explosiver Cocktail aus Wut, Trauer und Hilflosigkeit.

Vor nicht mal einer Stunde saß ich noch in Mutters Krankenzimmer. Sah, wie sie litt. Die Schmerzen, die Angst in den Augen. Und der Scheißtropf mit den Schmerzmitteln leer. Ich hatte dreimal nach der Schwester gerufen, immer freundlich bittend. Und jedes Mal hatte ich nur ein leicht genervtes »kommt ja gleich, kommt ja gleich« aus dem Schwesternzimmer gehört. Kam aber keiner. Die Minuten wurden zur Ewigkeit und mit jedem schmerzvollen Atemzug meiner Mutter wurde ich noch hilfloser und gleichzeitig aggressiver. Ihr unendliches Leid sprang mir ins Genick und biss sich dort fest. Da ich das Elend nicht abschütteln konnte, musste ich mich anderweitig abreagieren. Starrte nochmal auf den leeren Tropf. Immer wieder, bis mir die kalte Wut die Knochen hinaufkroch. Fast genoss ich es, wie dieses Horrorgefühl sich langsam in mir ausbreitete. Aber irgendwann kippte es, und ich sprang wütend auf. Lief auf den Flur und suchte mein Opfer. In dem Moment hatte ich schon jegliche Beherrschung verloren, war nur noch auf Krawall gebürstet. Draußen im Gang prallte ich auf die Krankenschwester – und das Unglück nahm seinen Lauf. Ich weiß gar nicht mehr, was ich brüllte. Sie stand an der Wand, ich wutschäumend vor ihr, völlig außer Kontrolle. Sie verblüfft, angespannt und ängstlich. Ich klinkte komplett durch. Wütete wie ein Irrer. Schrie rum, warum sich hier eigentlich niemand um meine sterbende Mutter kümmerte und ob das keinen vom Personal interessieren würde. Die Rechtfertigungsversuche der verängstigten Pflegerin und das neugierige Getuschel der anderen Gestalten, die vom Lärm angezogen auf dem Flur standen und uns mit Abstand beobachteten, gingen mir am Allerwertesten vorbei. Als ich endlich merkte, dass der Druck entwichen war, mir die Stimme wegblieb und alles in mir in entsetzliche Trauer umschlug, ließ ich die Frau in Ruhe und fing bitterlich an zu weinen. Fluchtartig verließ ich das Krankenhaus, setzte mich ins Auto und fuhr zurück ins Hotel.

Das Hotel, das seit Wochen mein Zuhause ist. Seit meine Mutter so schwer erkrankt war. Die Wände in meinem Zimmer sind stumme Zeugen meines täglichen Wechselbades aus Hoffnung, Verzweiflung und Resignation. Dabei hatte ich doch genau in diesem Hotel die schönsten Stunden meines Lebens erlebt: meine Hochzeit mit meiner wunderbaren Frau Nada. Aber jetzt sind die Freude und die schöne Erinnerung wie weggeblasen. Meine Mutter liegt ganz in der Nähe im Sterben. Die Leichtigkeit, die ich in den letzten Jahren meiner rasanten Karriere verspürt habe, spült diese Flut von Leiden und Schmerzen einfach weg. Gleichzeitig spüre ich eine Erkenntnis in mir reifen. Der Tod gehört zum Leben, auch wenn wir das gerne verdrängen. Denn erst wenn unsere Eltern sterben, wird uns klar: Wir sind die Nächsten. Nur wann?

Ich bin 52 Jahre alt. Mir fällt die Geschichte mit dem Maßband wieder ein, die mir ein guter Freund vorgeführt hat. Wir haben einen dieser unvergesslichen, wunderbaren Abende am Küchentisch verbracht. Lecker Bierchen und Wein getrunken. Über Gott und die Welt geplaudert. Gelacht und geweint, uns an gute und böse Menschen erinnert. Und dann hat er dieses verdammte kleine Maßband aus der Manteltasche geholt: »Guck mal, Hotte. Das sind 100 Zentimeter. Oder aber 100 Jahre. Wir werden laut Statistik allerdings nur 78 Jahre.« Er schnappte sich die Schere und schnitt bei 78 Zentimetern ab. »Du bist jetzt 52, also schneide ich hier auch ab.« Und dann drückte er mir diesen mickrigen, kleinen Rest vom Maßband in die Hand und sagte ernst: »Vielleicht hast du noch 26 Jahre. Aber nur vielleicht. Mach was draus, mein Freund.« Ich habe gelacht und genickt. Fand das witzig und dachte noch: »Das musste dir merken, Hotte.« Aber wie ich da so in meinem Hotelzimmer sitze, bleischwer voller trüber Gedanken, wird mir überhaupt erst klar, was mir das Maßband sagen wollte.

Vor knapp einer Stunde habe ich mich wie ein Arschloch benommen. Dabei waren mir Arschlöcher schon immer zuwider gewesen. Ich hatte nie sein wollen wie diese Typen, die mich seit meiner Kochlehre belächelten. Die mir, als ich noch mein Restaurant hatte, das Leben schwer gemacht haben mit Neid und Missgunst. Arschlöcher braucht kein Mensch, schon gar nicht, wenn uns die Lebenszeit wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Nein, das Maß ist voll. Ich will weder eine überarbeitete, unterbezahlte Krankenschwester zusammenfalten, die sich auf einer Station alleine gleichzeitig um 20 Patienten kümmern muss. Noch habe ich Lust, in Zukunft meine kostbare Lebenszeit mit unbekömmlichen Zeitgenossen zu verbringen. Es ist an der Zeit, eine wichtige Entscheidung zu treffen.

Ich bin selbst etwas verwundert, wie laut meine Stimme in dem stillen Hotelzimmer schallt. Und die Worte, die ich höre, überraschen mich nicht. Im Gegenteil, sie erfüllen mich mit großer Zufriedenheit und Zuversicht. Mit einer Zuversicht, die wie ein Leuchtturm durch die dunkle Nacht strahlt und mir Hoffnung macht. Mir wird richtig leicht ums Herz, als ich mich sagen höre: »Keine Zeit mehr für Arschlöcher. Nie mehr.«

Keine. Zeit. Für. Arschlöcher.

2. Mutters
Entscheidung

2013 hatte ich mir für das folgende Jahr etwas ganz Unanständiges vorgenommen: Urlaub. Ich hatte seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht, ich hätte Urlaub zu dem Zeitpunkt mit »h« geschrieben, so fremd war mir allein schon das Wort. Also habe ich mir in den Kalender für 2014 dick mit Edding eingetragen, dass ich mal zweieinhalb Monate nicht arbeite. Nix, nothing, niente. Warum? Kinders, mit 14 bin ich von der Schule direkt in die Lehre gekommen und ab da hab ich ja immer durchmalocht. Und wenn ich Urlaub hatte, dann wurde weitergeschackert. Ich brauchte ja Kohle für mein Moped und was weiß ich noch alles. Für den ganzen Blödsinn, den ich so im Leben veranstaltet habe. Spaß kost’ Geld, das heißt ja nicht umsonst so. Dann kam mein Restaurant. Bis das lief, war Urlaub so wahrscheinlich wie Hitzefrei in Grönland. Außerdem: War ja nicht so, dass ich jammernd dagesessen und gesagt hätte »oh Gott, oh Gott, ich armes Schwein hab’ keinen Urlaub«. Ich liebte meinen Laden und die Arbeit ja. Das war mein Leben, mein Ein und Alles. Aber als ich den Laden dann zumachte und wir in den Schwarzwald gezogen waren, fing das Herumreisen erst so richtig an: Dreharbeiten in Hamburg, in Köln, Tournee kreuz und quer durch die Republik … rein ins Hotel, raus aus dem Hotel. Das ganze Jahr unterwegs. Auch wenn ich Dinge machte und mit Menschen arbeitete, die mir viel Freude bereiteten wie bei »Lafer!Lichter!Lecker!« – im Juni 2014 war ich platt und fühlte mich so ausgelaugt, dass ich zu meinem Schatz sagte: »Die ersten vier Wochen vom Urlaub bleib ich nur zu Hause!« Einfach auch mal merken, dass ich da lebte: zu Hause! Ich kam meistens nur zum Wäschewaschen, -wechseln und Koffer-neu-Packen heim. Nach vier Jahren hatte ich schon fast den Eindruck gewonnen, dass es sich hier um mein Ferienhaus handelte. Ich wollte den August über so ganz banale Dinge genießen wie Rasen mähen, am Haus was machen, einkaufen, lecker kochen und nette Freunde einladen. Ein Stück normalen Alltag. Genau das wollte ich haben. Ich freute mich schon wie Bolle.

Die anderen vier Wochen wollte ich dann mit meinem Schatz nach Kroatien, damit die Sonne meinem alpinaweißen Astralkörper mal etwas gesunden Teint verpasste. Mit Nada am Strand liegen, die Schwiegereltern besuchen, mit dem Bötchen rausfahren und mal entspannt Urlaub machen. Das Motorrad mitnehmen. Und die letzten zwei Wochen – so meine Planung – würde ich mich dann auf die Tour vorbereiten. Ganz langsam und in Ruhe wieder das Kraftwerk hochfahren, ganz entspannt und vor allem ohne Stress. Ich war stolz, dass ich alles in die Wege geleitet hatte, um mich vor mir selbst zu schützen. Der Plan war genial.

Dann kam mein letzter Arbeitstag, das letzte Juli-Wochenende. Und mit ihm sollte sich auf einmal alles ändern. Am 31. Juli rief mich meine Mutter an und sagte: »Hallo Jung’, ich muss dir was sagen. Ich war beim Doktor. Man hat einen Tumor gefunden, ich wollte nur, dass du das schon mal weißt. Ich habe in ein paar Wochen die nächsten Untersuchungen und ich glaube, das könnte Krebs sein. Und wenn der bösartig ist, dann sieht es nicht gut für mich aus. Das wollte ich dir jetzt nur mal sagen.« Und dann legte sie auch schon auf. Da habe ich erst dreimal tief durchgeatmet und mir Mut gemacht. Ein alter Reflex, das war immer so – ob ich selbst betroffen war oder andere: Ich denk’ ja erst mal ans Gute. Ich glaube einfach generell ans Gute. Dann schnappte ich mir das Telefon und redete noch mal mit Mutter. Baute sie auf, wollte sie mit positiver Energie fluten: »Mutter, jetzt komm her, jetzt mach mal keinen Wind. Mal den Teufel nicht an die Wand. Wir haben doch gerade erst deinen 75. Geburtstag gefeiert und ich bin mir mehr als sicher, du wirst 95 und fällst dann vom Fahrrad.« Was Besseres fiel mir nicht ein, ich laberte ununterbrochen, um ihr Mut zu machen. Außerdem war ich felsenfest davon überzeugt, dass meine Mutter mindestens 95 Jahre alt würde. Weil die immer so taff war, so zäh, so frech, kokett und krawetzig. Diese Frau war für mich immer eins dieser Mutterschlachtschiffe, vor denen man sein Leben lang Respekt hat. Die jeden Sturm überstehen. Ich hatte immer einen Höllenrespekt vor meiner Mutter gehabt. Meine starke Mutter … das war schon ein komisches Gefühl, ihre Angst zu spüren. Die Unsicherheit in ihrer Stimme zu hören. Ich kannte das nicht von ihr. Und das war der Auslöser für mich: »Ich habe keine Ruhe«, sagte ich zu Nada, »ich muss zu Mutter, die braucht mich jetzt. Ich spür das. Komm, wir packen den Koffer und mieten uns in ein Hotel ein.«

Dann sind wir an meinem ersten Urlaubstag mit den schlimmsten Befürchtungen runtergefahren. Aber zu meiner völligen Überraschung war die alte Dame vollkommen entspannt. Damit hatte ich so gar nicht gerechnet.

Die ganze Fahrt über hatte ich mir ausgemalt, wie das Drama seinen Lauf nehmen würde. Das volle Programm: Badewannen voller Tränen, Papierkörbe voller Taschentücher. Heulen, Fluchen und die verständliche Angst vor dem Tod und elendem Siechtum. Pustekuchen! Mutter war hellwach im Kopf und meinte lapidar: »Ja, Jung’, da muss man sich mit abfinden. Wenn da irgendwas ist, dann müssen wir was machen, das ist halt im Alter so.« Ohne Selbstmitleid, einfach nur gnadenlos gerade war sie. Und verärgert: »Da hat man das erste Mal im Leben keine Schulden, ein bisschen Geld im Portemonnaie … will Urlaub machen und dann so was! Statt Traumschiff und Liegestuhl Wartezimmer und Kernspin-Röhre. Wat ’n Driss.«

Das ging mir an Herz und Gemüt. Also haben Nada und ich die Zeit bis zur ersten großen Untersuchung mit einem kleinen Urlaubsprogramm für Mutter gefüllt. Da waren wir zusammen im Kino, sind durch Düsseldorf spaziert, einkaufen gegangen, haben Blödsinn gemacht, waren zusammen essen und haben viel gelacht. Und die ganze Zeit habe ich gedacht: Warum haben wir das nicht all die Jahre vorher schon gemacht? Warum kriegt man den Hintern erst dann hoch, wenn Sturmwolken aufziehen? Wenn man Angst hat, dass die Zeit unwiderruflich abgelaufen ist?

Das Einzige, was mir extrem an Mutter auffiel: Sie hatte ordentlich Gewicht verloren. Klar, die war nie dick und rund, aber sie war halt so eine klassische, mollige ältere Dame, Typ Bilderbuch-Oma. Gemütlich, gesund, mit roten Apfelbäckchen. Aber nun war das mal. Mutter war schlank geworden und das hagere Gesicht zeigte die deutlichen Spuren ihres harten Lebens. Jedes Mal, wenn ich sie verstohlen von der Seite betrachtete, erfasste mich eine Welle trauriger Gedanken. Wenn Nada sie fragte, warum sie denn so viel abgenommen hätte, fühlte ich – weil Kinder so was eben sechs Kilometer gegen den Wind riechen –, dass Mutter uns stumpf ins Gesicht log: »Ich hab’ nur die Ernährung umgestellt und bewege mich viel.« Wir haben das falsche Spiel natürlich nur allzu gerne geglaubt und mitgespielt. Ihre »gesunde« Vernunft und Disziplin gelobt. Eigentlich dumm, aber nur menschlich. Sorgen und Ängste schiebt man lieber zur Seite, wenn es sein muss, auch mit Lügen. Doch so sehr Mutter sich auch bemühte, das Kartenhaus knickte langsam ein. Sie konnte nicht mehr viel laufen. Wenn wir mit ihr durch die Stadt gingen, mussten wir alle paar Minuten anhalten und Pause machen. Mutter hatte keinen Hunger mehr, wollte nicht mehr essen. Ihre Ausflüchte wurden immer banaler: »Jung’, das liegt daran, weil ich ja immer alleine bin. Da isst man nicht so viel.«

Klar, das konnte ich mir gut vorstellen. Wie schlimm muss das sein, wenn man immer alleine sitzt, sich höchstens ein kleines Bütterken macht. Wer kocht schon eine volle Mahlzeit, wenn er alleine lebt?

Dann erzählte Mutter, dass wir in meiner Kindheit und Jugend immer knapp bei Kasse gewesen waren und nie viel Fleisch gegessen hatten. Ganz selten hatte es mal einen Braten, lecker Schnitzelchen oder ’n ordentliches Butterbrot mit Leberwurst gegeben. War ja damals alles nicht finanzierbar gewesen, mein Vater war ein harter Malocher, der weiß Gott keine Reichtümer in der kargen Lohntüte hatte. Und mit dem, was man sich damals leisten konnte, war man nicht glücklich, aber zufrieden. Wie so viele andere Arbeiterfamilien dieser Nachkriegsgeneration. Als die Zeiten dann besser wurden, hatte Mutter immer mit Wonne was Deftiges verputzt. Aber davon war jetzt nicht mehr viel übriggeblieben: »Jung’, ich geh einkaufen mit Lust auf Kochschinken und Leberwurst, aber sobald ich Richtung Theke komme, wird mir so übel, dass ich rauslaufen muss.« Weil sie, angeblich, kein Fleisch, keine Wurst mehr riechen könne. Das war für mich, auch wenn es absurd klingen mag, ein Alarmzeichen. Das hörte sich für mich einfach nur falsch und gelogen an. Das war nicht meine geradlinige Mutter. Da wusste ich definitiv, dass sie sehr krank war. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich keine Lust mehr, mir ihre Ausflüchte à la »Ernährungsumstellung« und »wird schon wieder« anzuhören.

Und dann habe ich gehandelt, bei den ganzen Ärzten angerufen und vorgesprochen, damit wir die Termine schneller hinkriegen. Ich wollte nicht länger in den Nebel starren und mich ängstigen, ob die hässliche Krebsfratze auftauchen würde oder nicht. Ich wollte Gewissheit, und, wenn es so sein sollte, dem Feind ins Auge schauen.

Die gemeinsame Woche war trotzdem sehr schön. Mutter erzählte viele Geschichten noch mal, die ihr wichtig waren, und obwohl ich natürlich fast alle kannte, fielen viele von diesen alten Geschichten bei mir auf einen neuen Boden, ich ordnete sie neu ein. Natürlich hat sie uns auch darüber informiert, dass sie »schon mal was aufgeschrieben hätte«, für alle Fälle. Was sie sich vorgestellt hatte, falls »was« passieren würde.

Alles Dinge, von denen ich natürlich nix hören wollte. Mutter und Tod, das wollte ich nicht akzeptieren. Also habe ich alle ihre Gesprächsversuche zu diesem Thema ignoriert und versucht, stattdessen gute Laune zu verbreiten, Unsinn zu machen, kindisch zu sein. Wie ich das schon mein ganzes Leben lang in solchen Situationen mache, sozusagen von Kindesbeinen an. Egal wie schlecht es meiner Familie ergangen war, egal welche Schicksalsschläge das Leben mir bescherte – ich habe immer versucht, meine Ängste und Sorgen hinter der Clownsmaske zu verbergen. Einer musste ja in dem ganzen Wahnsinn gute Stimmung verbreiten. Dachte ich.

Dann kamen die Arzttermine. Kernspintomographie oder, wie es so schön heißt, ab in die Röhre. Da habe ich mir aus Sympathie auch eine Überweisung schreiben lassen, damit Mutter nicht so viel Schiss hat. Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder Kinders? Nur – ich hatte natürlich mehr Bammel als Mutter, weil ich auf einmal darüber nachdachte, was ich denn machen würde, wenn die bei mir was Schlimmes finden. Und dann sitzt du da im Wartezimmer, das Herz rutscht dir in die Hose und die Angst kriecht dir ins Genick. Ich redete auf Mutter ein, um sie abzulenken. Bis wir aufgerufen wurden und ins Besprechungszimmer zum Professor wackelten. Der schwafelte nicht rum, sondern kam gleich zur Sache: »Ja, Frau Lichter. Die eine Niere ist drei oder vier Mal so groß, das ist nur noch ein Tumor. Leider bösartig, wie die Gewebeproben bestätigen.« Ich hörte den Mann reden wie unter einer Glocke. »Leider bösartig«, echote es. Entsetzlich! Ich traute mich kaum, zu Mutter rüberzuschauen. Kurze Pause, der Arzt sah auf ein großes Foto und kristallklar stand die nächste Hiobsbotschaft im Raum: »Gestreut in der Lunge. Tut mir leid. Das sieht wirklich nicht gut aus.« Mutter zeigte keine Regung, ich versuchte ebenfalls, gelassen zu bleiben. Dabei fühlte ich mich, als ob mich jemand stundenlang durchgeprügelt hätte.

Wir fuhren schweigend in unsere Lethargie versunken nach Hause, während mein Kopf dröhnte wie ein Braunkohlebagger. Bei Mutter angekommen, haben wir die nächsten Termine beim Onkologen in unsere Kalender eingetragen. Dann wollte sie alleine sein.

Die nächsten Tage waren grau und schwer wie Blei. Wir sprachen zwar über den Befund, aber seltsam abstrakt. Ohne irgendwelche Konsequenzen zu benennen. Die schwiegen wir tot.

Natürlich verbreiten sich schlechte Nachrichten in der Nachbarschaft auf sehr mysteriöse Weise, weil man sich nicht im Entferntesten daran erinnern kann, irgendjemandem überhaupt etwas erzählt zu haben. Die ersten Freundinnen von Mutter und Nachbarinnen klingelten an. Zu meinem großen Erstaunen reagierte Mutter sehr krass: Diejenigen, die an der Tür weinten, schickte sie rigoros weg. Egal ob gute Freundin oder nicht. Sie wurde richtig fuchtig: »Jetzt pass mal auf, nicht ihr seid krank, ich bin krank! Ihr müsst nicht weinen. Wenn ich schon nicht weine, dann müsst ihr erst recht nicht weinen. Wenn ihr hier hinkommt, dann haben wir entweder Spaß und reden anständig, aber ich will hier kein Geheule. Sonst bleibt da, wo ihr seid!« Das haben diese Menschen auch nicht richtig verstanden, glaube ich. Für die meisten war das wohl einfach sehr, sehr hart.

Hart für uns waren die nächsten Gespräche beim Onkologen. Auf meinen Wunsch hin wurde noch mal alles untersucht. Auch dieses Ergebnis war schrecklich. Gott sei Dank sprach der Professor wenigstens Klartext, zumindest habe ich das so empfunden: »Frau Lichter, wir würden von einer Operation absehen. Dieser Krebs ist nicht heilbar. Wir können operieren, ja – ob das aber dramatisch lebensverlängernd ist, kann ich Ihnen nicht versprechen. Vielleicht, aber eher nicht.« Klar, keiner der Ärzte konnte uns ernsthaft etwas versprechen, was Mutters Lebenserwartung betraf. Die haben immer gesagt: »Das kann ein halbes Jahr, das können aber auch fünf Jahre sein. Frau Lichter, wir sind nicht der liebe Gott und wir wollen auch nicht Gott spielen. Wir können nur von Erfahrungswerten reden, aber auch die werden immer mal widerlegt. Fahren Sie nach Haus und überlegen Sie ganz in Ruhe, was Sie machen möchten.«

Und dann habe ich mit Mutter tage- und nächtelang überlegt, ob eine Operation Sinn macht oder nicht. Ich versuchte mit Engelszungen, Mutter von meinem Standpunkt zu überzeugen: »Mutter, du wolltest doch immer mit einem Kreuzfahrtschiff nach Venedig. Verdammt noch mal, ich habe jetzt zwei ganze Monate frei, lass uns das machen! Deine Träume leben, Spaß haben, was erleben. Pack die Koffer und los geht’s. Du kannst dich doch dann immer noch operieren lassen, wenn du unbedingt willst. Aber lass uns bitte fahren. Lass uns nach Venedig fahren, lass uns auf so ein Kreuzfahrtschiff gehen, lass uns den schönsten Urlaub deines Lebens machen!«

Ich habe geredet und geredet. Mit Milch und Honig auf der Zunge. Aber Mutter saß nur vor mir, hat zugehört und mich mit verzweifeltem Blick angesehen. Nie geweint, nie geflucht, sich nie beschwert. Bis sie ihre Entscheidung traf: »Jung’, ich könnte niemals in den Urlaub fahren und wissen, der Tod wächst in mir. Das da muss raus. Wenn ich in Venedig den Gondeln zugucke, wie soll ich mich darüber freuen, wenn ich weiß, dass mein Körper voller Krebs ist und ich sterben muss?« Ich war wie vor den Kopf gestoßen, deprimiert und auch ratlos. Ich versuchte sie weiter zu begeistern und ihre Lebenslust neu anzufeuern: »Mutter, versuch doch den Moment zu genießen. Lass uns die Reise machen und danach kommst du zu uns ins Haus. Nada hat gesagt, sie kann dich pflegen, versorgen und mit den Ärzten alles regeln. Egal was da noch kommt, wir sind für dich da. Aber lass uns, solange es geht, noch gemeinsam Spaß haben.« Ich hab immer gesagt: »Egal wie du dich auch entscheidest, wir unterstützen dich.« Aber sie ließ sich nicht erweichen, nicht beirren, nicht umstimmen. Ihre Entscheidung war einsam unumstößlich. Mutter wollte die OP, um jeden Preis.

3. Klartext
im
Krankenhaus

Auf unserer Suche nach einem guten Krankenhaus waren wir in Mönchengladbach fündig geworden. Professoren, Ärzte, Pflegepersonal und Einrichtung – alles stimmte. Die Menschen dort waren aufmerksam, höflich und Mutter fühlte sich gut aufgehoben. Unser Hotel war in Neuss und somit ganz in der Nähe. Auch der Rest der Familie und ihre Freunde aus Rommerskirchen mussten keine Weltreise unternehmen, um Mutter zu besuchen. Sie war nicht erpicht auf jeden Besuch, sondern sagte klar, wen sie sehen wollte und wen nicht. Natürlich durften wir nur die Leute über ihren Aufenthaltsort informieren, die Mutter abgesegnet hatte. Da war sie wirklich eisenhart. »Mit der will ich jetzt nicht mehr reden. Die braucht hier nicht herzukommen, die hat nur geheult bei mir – das kann ich nicht ertragen. Die kann sich wieder melden, wenn ich gesund bin, vorher will ich die nicht mehr sehen.«

Sie hat dann auch ihrer guten Nachbarin, deren Mann der beste Freund meines verstorbenen Vaters gewesen war, verboten, ins Krankenhaus zu kommen. Unfassbar. Die waren ja nicht nur Nachbarn, sondern richtige gute Freunde, die über Jahrzehnte ganz eng mit meinen Eltern Tür an Tür gelebt hatten. Da ist sie an dem Tag, wo ich sie ins Krankenhaus gefahren habe, hingegangen und hat gesagt: »So, ich möchte mich verabschieden. Ich möchte nicht, dass ihr mich im Krankenhaus besuchen kommt. Ich will nicht, dass ihr mich seht, wie ich da sterbenskrank liege. Behaltet mich so in Erinnerung, wie ich mich heute von euch verabschiedet habe, denn ich glaube nicht, dass ich wieder nach Hause komme.« Wenn ich darüber nachdenke, dann werde ich verrückt.

Ich werde nie verstehen, warum sie diese Operation wollte. Wenn sie es doch so geahnt hat, dass sie nicht wiederkommt – warum hat sie sich dann diese vermaledeite Operation angetan? Warum hat sie nicht mit uns so lange auf den Tischen getanzt, wie es ihr möglich gewesen wäre? In Venedig oder weiß der Kuckuck wo. Wahrscheinlich war es ihr einfach nicht gegeben. Sie war nicht der Typ dafür. Meine Mutter war eine sehr eigenwillige Frau mit ganz klaren Vorstellungen. Auch was ihr Erscheinungsbild betraf. Einmal in der Woche ging sie zum Friseur, das hat sie durchgezogen, bis es ihr im Krankenhaus nicht mehr möglich war. Die wäre niemals ohne gemachte Haare rausgegangen, aber hallo! Die war immer picobello, wie aus dem Ei gepellt. Und Gejammer hat sie gehasst: »Jung’, man jammert nicht. Schon gar nicht vor fremden Leuten. Man jammert überhaupt nie. Beiß die Zähne zusammen und sei tapfer! Und pünktlich.« Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Mutter sich, wie viele andere ihrer Generation, das Leben ein bisschen zu schwer machte – mit diesen Tugenden aus dem Krieg und der Nachkriegszeit. Da fehlte ihr oft die Gelassenheit, die Leichtigkeit. Ihr ganzes Leben war geprägt von »Das macht man nicht«, »Was sollen bloß die Leute denken« und »Wie es in mir aussieht, das geht keinen was an«.

In der Nacht vor der OP saß ich verzweifelt an Mutters Krankenhausbett. Und da passierte etwas sehr Seltenes und Schönes. Ich merkte – nein, ich konnte es richtig fühlen –, sie wollte unbedingt mit mir reden. Es lag ihr etwas auf der Seele. Und dann habe ich sie ganz vorsichtig gefragt, was ich unbedingt noch alles von ihr wissen wollte. Ich glaube, es war ihr mehr als nur recht. Die Geschichte, die uns wohl beide an diesem Abend am meisten bewegt hat, drehte sich um ihren lieben Mann. Meinen geliebten Papa.

Mutter erzählte, wie sie meinen Vater damals in der »Gaststätte Winkler« in Rommerskirchen kennengelernt hatte. Eigentlich war die Kneipe für ein junges Mädchen wie sie natürlich tabu, aber ihr älterer Bruder wohnte mit seiner Frau im selben Ort und so traf sich die Familie an Silvester zum Feiern in der Gaststätte. An der Theke hat sie ihren Toni dann das erste Mal gesehen und ganz keck gefragt: »Wer ist das denn? Der gefällt mir aber.« Dann ist sie mir nichts, dir nichts zum Toni marschiert und die beiden haben sich angeregt unterhalten. Das blieb seinem Vater, also meinem späteren Großvater, nicht verborgen. Ein strenger Blick, ein zweiter – und dann gab es eine Ansage: »Komm, lass das junge Mädchen in Ruhe. Die ist zu jung für dich.« In der Tat war meine Mutter zehn Jahre jünger als Papa, aber hinter dieser Deutlichkeit steckte noch etwas anderes. Mein Großvater wollte einfach nicht, dass sich sein Sohn mit Frauen beschäftigte. Der sollte schuften und sonst nix.

Mein Vater Toni war zu Hause der Malocher, der Junge für alles. An seiner Ausbildung war keiner interessiert, er sollte sich gefälligst um den Hof, das Haus und die Großeltern kümmern. Den Lohn abgeben, reparieren, malochen und essen. Wenn Papa sich ein neues Fahrrad gekauft hatte, nahm es ihm sein älterer Bruder einfach weg und schmiss ihm sein kaputtes vor die Füße. Und wenn er sich beschwerte, dann interessierte das niemanden. Seinen Vater schon gar nicht. Und sein Bruder ballte nur vielsagend die Faust. Papa war so ’ne Art Aschenputtel. Der wurde einfach verschlissen. Das war früher in Arbeiterfamilien gar nicht so unüblich, dass man einen hatte, der brutal ausgenutzt wurde und alles machen musste.