Inhaltsverzeichnis
Barbara Berckhan, geboren 1957, ist Diplom-Pädagogin und arbeitet freiberuflich als Kommunikationstrainerin in Hamburg. Sie ist Autorin erfolgreicher Sachbücher mit einer Gesamtauflage von über 300 000 Exemplaren. Bei Heyne erschienen:
Die etwas intelligentere Art, sich gegen dumme Sprüche zu wehren. Selbstverteidigung mit Worten
Die erfolgreichere Art (auch Männer) zu überzeugen. Frauen überwinden ihre Redeangst
Einleitung
»Im Grunde liegt es daran, dass ich zu wenig Selbstvertrauen habe«, sagte die Frau zu mir. Sie hatte gerade darüber berichtet, wie schwer es ihr fällt, zu Hause und auch im Beruf sich von anderen abzugrenzen und auch mal nein zu sagen. Sie gehörte zu den Frauen, die sich oft allzu sehr für die Probleme der anderen zuständig fühlen, die eine riesengroße Antenne für anfallende Arbeiten oder ungelöste Schwierigkeiten haben und sich das alles auch ohne zögern aufladen. Wie viele andere Frauen auch wusste sie, woran es bei ihr haperte. »Aber wie komme ich zu mehr Selbstvertrauen? Und wie kann ich mich durchsetzen?«, fragte sie. Solche und ähnliche Fragen werden in den Seminaren und Trainings, die ich anbiete, sehr häufig gestellt. Das war mit ein Grund, warum ich vor einigen Jahren anfing, spezielle Selbstbehauptungstrainings für Frauen anzubieten. Das sind Seminare, in denen es darum geht, wie Frauen einerseits ihr Selbstwertgefühl stärken können, und wie sie sich andererseits anderen Menschen gegenüber gelassen und möglichst stressfrei durchsetzen können.
Das Buch, das Sie hier in den Händen halten, entstand vor allem auf Anregung der vielen Frauen, die an diesen Selbstbehauptungstrainings teilgenommen hatten. Die meisten wollten die Trainingsinhalte, die Übungen und Selbstbehauptungsstrategien gerne einmal zu Hause nachlesen oder an andere weitergeben. In dieses Buch fließen aber auch die Geschichten und Probleme vieler Frauen ein, die in den Seminaren oder auch in Einzelgesprächen über sich erzählten. Und ich greife auf die Erfahrungen zurück, die ich als Seminarleiterin in anderen, gemischten Seminaren gemacht habe, wie beispielsweise Kommunikationstrainings oder Führungskräftetrainings zum Thema Mitarbeiterführung.
In jedem Selbstbehauptungstraining wird früher oder später diese eine Frage gestellt: »Warum ist dieses Selbstbehauptungstraining nur für Frauen? Sind Männer denn nicht unsicher?« Meine Antwort lautet: »Doch, Männer sind auch unsicher. Ich denke, Männer und Frauen unterscheiden sich nicht im Ausmaß der Unsicherheit. Aber sie unterscheiden sich häufig in der Art und Weise, wie sie mit ihrer Unsicherheit umgehen.« Nach meinen Erfahrungen lastet auf den meisten Männern immer noch ein enormer Erfolgsdruck. Der Druck ließe sich ungefähr so in Worte fassen: »Ein richtiger Mann weiß immer, wo es langgeht. Er darf nicht unsicher oder ängstlich sein.« Diese traditionelle, männliche Rolle fordert von ihm, dass er allzeit »Herr der Lage« ist, tatkräftig zupacken kann und sich dabei nicht von Gefühlen und Stimmungen beeinflussen lässt. Das mag Ihnen hier beim Lesen vielleicht etwas überzogen vorkommen, und möglicherweise denken Sie auch, dass sich in den letzten Jahrzehnten doch vieles in Hinblick auf die alten Rollenbilder geändert hat. Und zum Glück stimmt das auch. Immer mehr Männer stellen dieses traditionelle und überholte Rollenmodell für sich infrage und suchen nach einer neuen Art, wie sie ihr Mannsein leben wollen.
Aber leider stelle ich auch fest, dass das alte männliche Rollenmodell immer noch eine enorme Wirkung hat. Männer, die aus dieser alten Rolle ausbrechen, bekommen nicht selten einiges an Angriffen und Spott von ihren Mitmenschen zu hören. Und so existiert zurzeit beides: Die alten Rollenmodelle werden von immer mehr Menschen infrage gestellt. Aber in den Köpfen (von Männern und Frauen) spukt auch immer noch das alte Männlichkeitsideal vom harten Kerl, der keine Angst kennt, der nicht weint und der nicht unsicher ist. Männer sind also durchaus innerlich unsicher, aber sie neigen immer noch mehr als Frauen dazu, ihre Unsicherheit und Unterlegenheitsgefühle zu verstecken. Frauen haben oft viel weniger Schwierigkeiten, zu zeigen, dass sie unsicher sind. Sie signalisieren oft sogar eine Unsicherheit, die sie innerlich gar nicht haben, um von anderen nicht als dominant oder zu hart eingestuft zu werden. Das lässt sich oft in Diskussionsrunden beobachten. Viele Frauen drücken ihre Meinung aus mit Worten wie: »Ich glaube...« oder: »Es könnte doch sein, dass...« oder: »Vielleicht wäre es sinnvoller...« Durch diese Worte klingt ihr Standpunkt vage und unbestimmt. Bei Männern lässt sich oft genau das Gegenteil feststellen. Sie nehmen aus ihren Worten jede Unsicherheit heraus. Ihre Sätze beginnen häufig mit: »Es ist doch eine unumstößliche Tatsache, dass...« oder: »Niemand kann doch heutzutage ernsthaft behaupten, dass...«, »Sie werden mir sicher zustimmen...« Und schon hört es sich so an, als würde der Mann von unumstößlichen Tatsachen und ernsthaften Fakten ausgehen, während die Frau nur ihren Glauben, ihr Vielleicht und ein Es-könnte-Sein anzubieten hat. Der Mann wirkt nach außen entschlossen und sicher. Die Frau wirkt schwankend und unsicher. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich kann jede Frau genauso reden wie ein Mann und umgekehrt. Und einige Frauen tun das bereits. Ich habe dieses Beispiel nicht ausgewählt, um Ihnen zu zeigen, wie Sie künftig in Diskussionen Ihre Meinung vertreten sollen. Mir geht es darum, zu zeigen, dass sich die alten, traditionellen Geschlechterrollen immer noch unbemerkt im alltäglichen Verhalten niederschlagen. Nur weil ein Mann vielleicht aufgrund seiner verinnerlichten Männerrolle selbstsicher nach außen wirkt, muss das nicht bedeuten, dass er sich innerlich auch wirklich selbstsicher fühlt.
Ich habe mich entschieden, ein Buch zu schreiben, das speziell auf die Selbstbehauptungsprobleme von Frauen eingeht, wobei einige Themen durchaus beide, Frauen und Männer, etwas angehen. Ich denke zum Beispiel an das Thema »Der innere Kritiker und der innere Antreiber« und »Wie wir zu mehr Gelassenheit kommen«. Denn sich selbst unter Druck setzen und dabei ausbrennen, das betrifft Frauen und Männer gleichermaßen, ebenso das Thema »Umgang mit Kritik«. Da haben nach meinen Erfahrungen beide Geschlechter wirklich die gleichen Probleme. Frauen wie Männer tun sich schwer damit, ein gutes Kritikgespräch zu führen oder mit der Kritik von anderen selbstsicher umzugehen. Bei anderen Themen, wie beispielsweise der positiven Selbstdarstellung, weiß ich, dass Frauen darauf ganz anders reagieren als viele Männer. Den meisten Frauen fällt es sehr schwer, sich selbst zu loben, die eigene Leistung herauszustellen und Gutes über sich selbst zu sagen. Darüber hinaus zweifeln sie viel mehr als Männer daran, ob diese Form des Selbstlobes überhaupt erlaubt ist.
Ein anderer kritischer Punkt, der in den Trainings zur Sprache kommt, ist das Wort Selbstbehauptung. Manche meiner Teilnehmerinnen sind skeptisch, ob sie in einem Selbstbehauptungstraining überhaupt richtig sind. Wenn ich Glück habe, äußern die Teilnehmerinnen ihre Bedenken gleich zu Beginn des Seminars. Viele aber reden über ihre Zweifel erst am Schluss des Trainings. Solche Bedenken hören sich dann ungefähr so an: »Wissen Sie, Frau Berckhan, ich hatte schon Angst, wir würden hier zu einer aggressiven Emanze gemacht werden. Also das wollte ich auf keinen Fall werden.« An dieser Stelle gibt es meistens beifälliges Nicken von den restlichen Teilnehmerinnen. Nicht selten verbinden Frauen (und Männer) mit dem Wort Selbstbehauptung ein aggressives Auftreten. Manche glauben, Selbstbehauptung bestünde vorwiegend aus einem spitzen Ellenbogen und der Faust, die auf den Tisch haut. Das kann tatsächlich zur Selbstbehauptung gehören, es ist aber zugleich nur eine Facette der selbstsicheren Verhaltensweisen. Selbstbehauptung besteht nicht nur aus den dominanten und lauten Tönen. Selbstbehauptung kann auch etwas Sanftes sein wie nachgeben, zuhören, Witze machen, Ja sagen, lachen, weinen und weggehen. Gerade für Frauen, die im Alltag vorwiegend ihre dominanten, starken Seiten leben, bedeutet Selbstbehauptung oft, dass sie sich auch von ihrer schwachen Seite zeigen können. Denn eine »starke« Frau braucht oft eine große Portion Selbstsicherheit, um auch ihre Verletzbarkeit, ihr Überfordertsein oder ihren Kummer nach außen zeigen zu können.
Darüber hinaus hat Selbstbehauptung viel mit Gelassenheit zu tun. Ich verstehe unter Gelassenheit eine innere Freiheit, das Nicht-geknebelt-Sein. Wir schaffen es oft, uns selbst anzuketten, indem wir uns mit einem Muss oder Soll unter Druck setzen. In der alten, traditionellen Frauenrolle lauteten diese Knebelungen und Vorschriften oft so: »Ich muss immer nett und hilfsbereit sein« oder: »Ich sollte bescheiden sein und nicht angeben.« Aber dieses Müssen und Sollen kommt auch im modernen Gewand der Frauenemanzipation daher. Da heißt es dann zum Beispiel: »Ich muss mich durchsetzen« oder: »Ich sollte selbstbewusst sein und mich nicht unterkriegen lassen.« Dieses Muss und Soll nenne ich in diesem Buch »sich selbst Vorschriften machen«. Und jede Form von inneren Vorschriften, seien es die alten, traditionellen oder die neuen, scheinbar emanzipatorischen Vorschriften erzeugt in uns Druck, Angst und Stress. Mit Angst, Druck und Stress im Nacken können wir aber kaum selbstsicher auftreten oder flexibel und kreativ ein Gespräch führen. Wirkliche Selbstbehauptung fängt damit an, dass wir das Korsett der inneren Vorschriften lockern und uns selbst mehr erlauben. Das Gegenteil von inneren Vorschriften ist die Gelassenheit, die innere Freiheit, etwas anzustreben und zu fordern, ohne Zwang und (Selbst-)Unterdrückung. Gleich im ersten Kapitel geht es darum, warum wir uns mit Vorschriften unter Druck setzen und wie wir innerlich mehr Selbstvertrauen entwickeln können. Mir ist diese Innenansicht der Selbstbehauptung sehr wichtig. Es ist eben nicht damit getan, sich nur etwas mehr zu entspannen und sich anders zu benehmen als bisher. Das Thema Selbstbehauptung berührt wie kaum ein anderes Thema unsere Persönlichkeit, besonders unser Selbstwertgefühl. Und es ist gut möglich, dass an Ihren inneren Vorschriften gerüttelt wird, wenn Sie die Selbstbehauptungsstrategien aus diesem Buch ausprobieren. Wenn Sie zum Beispiel in einem Bewerbungsgespräch die Strategie der positiven Selbstdarstellung anwenden wollen, kann es für Sie wichtig sein, dass Sie zuerst Ihre Bescheidenheits-Vorschriften wie »Eigenlob stinkt« oder »Ich darf mich nicht selbst loben« abbauen.
Ein Aspekt ist mir bei meinem Selbstbehauptungstraining noch besonders wichtig: die Sozialverträglichkeit. Die häufigsten Selbstbehauptungssituationen entstehen im Alltag nicht mit irgendwelchen Fremden, sondern mit den Menschen, die wir kennen, mit denen wir zusammenleben oder arbeiten. Wer sich nur aggressiv und ohne Rücksicht durchsetzt, mag zwar in der Sache gewinnen, läuft aber Gefahr, die jeweilige Beziehung aufs Spiel zu setzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir bei unserer Selbstbehauptung auch die Beziehung zu unserem Gegenüber berücksichtigen. Was nicht heißt, dass es nur um Frieden und Harmonie mit anderen geht. Es ist unrealistisch, wenn wir erwarten, dass unsere Mitmenschen nur freudig applaudieren, wenn wir uns selbstsicher durchsetzen. Es geht vielmehr darum, sich einerseits sozial geschmeidig zu behaupten, zugleich aber auch dicke Luft und Spannung aushalten zu können.
Mir lag von Anfang an sehr viel daran, ein Buch zu schreiben, das sich nicht nur theoretisch mit dem Thema Selbstwertgefühl und Selbstbehauptung beschäftigt, sondern ich wollte auch ganz konkrete Strategien beschreiben, mit denen Frauen sich gelassen durchsetzen können. Nun fürchten manche Frauen, dass ihr Verhalten aufgesetzt und unecht wirkt, wenn sie im Alltag plötzlich eine solche Selbstbehauptungsstrategie anwenden. Ich sehe dieses Problem auch, besonders dann, wenn die Strategie nicht zu Ihrer Persönlichkeit und der jeweiligen Situation passt. Tatsächlich sind die Strategien, die ich Ihnen hier vorstelle, nur eine Art Grundschnittmuster. Sie stehen vor der Aufgabe, dieses Grundschnittmuster für sich passend zu machen. Und zwar passend für die Situationen, in denen Sie sich durchsetzen wollen und für die Menschen, mit denen Sie es meistens zu tun haben.
Diese Selbstbehauptungsstrategien sind vergleichbar mit einer guten Hautcreme: Im Topf ist die Creme noch deutlich mit einer eigenen Farbe und einer bestimmten Festigkeit zu erkennen. Haben Sie die Creme erst einmal bei sich aufgetragen, dann verschmilzt sie mit Ihrer Haut. Sie zieht ein und ist als Creme nicht mehr zu erkennen. Eine Selbstbehauptungsstrategie, die hier im Buch noch ganz deutlich als reine Strategie beschrieben wird, ist von außen als solche nicht mehr zu erkennen, wenn Sie sie auf Ihre ganz individuelle Art und Weise anwenden. Die Selbstbehauptungsstrategie verschmilzt mit Ihrem persönlichen Stil. Dazu brauchen Sie zunächst einfach die Bereitschaft, diese Strategien auszuprobieren. Die Teilnehmerinnen meiner Selbstbehauptungstrainings erfahren die Strategien während des Seminars am eigenen Leib. In dem geschützten Rahmen eines Trainings ist es sehr leicht, etwas Neues zu wagen, weil mögliche Fehler dort keine große Tragweite haben. Ihr erstes Trainingsfeld wird wahrscheinlich der Alltag sein. Suchen Sie sich anfangs ganz bewusst harmlose Situationen aus, in denen Sie die Strategien üben können. Wählen Sie für sich solche Gelegenheiten aus, bei denen es für Sie um wenig oder nichts geht, bevor Sie die Strategien in wichtigeren Gesprächen und Verhandlungen anwenden. Entscheidend ist dabei, dass Sie sich selbst Zeit lassen und dabei liebevoll mit sich umgehen.
Was heißt hier Selbstbehauptung?
In diesem Kapitel geht es darum, wie unsere Selbstsicherheit und Gelassenheit von innen her entstehen kann. Es geht also um das seelische Fundament unserer Selbstbehauptung. Und ich beschreibe, wie wir uns selbst »klein kriegen«, wodurch wir unsere eigene Selbstsicherheit untergraben. Es ist schon viel gewonnen, wenn wir diese selbst gemachten Verunsicherungsprozesse bei uns erkennen und stoppen können. Darüber hinaus spielt bei diesem Thema natürlich das gesellschaftliche Umfeld eine große Rolle, besonders das, was ich hier die weibliche und männliche Kultur nenne. Die Spielregeln und Verhaltensmuster dieser beiden Kulturen tragen dazu bei, dass sich besonders Frauen eingeschüchtert fühlen. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels geht es darum, was Sie tun können, um Ihre innere Gelassenheit und Selbstsicherheit aufzubauen und zu stärken.
Die Ursachen der Verunsicherung
Niemand macht uns unsicher. Aber viele reden so, als sei ein Außenstehender daran schuld, dass wir unsicher werden. Da heißt es dann: »Mein Chef verunsichert mich total. Jedes Mal, wenn er mich anspricht, fühle ich mich irgendwie ertappt und werde knallrot.« Oder: »Der Freund meiner Freundin ist so überheblich, dass ich ganz schüchtern und gehemmt werde.« – »Wenn ich diese Typen in Schlips und Anzug nur von weitem sehe, geht mein Selbstbewusstsein sofort den Bach runter.« Das klingt zunächst so, als ob andere Leute für unser Selbstwertgefühl verantwortlich wären. Tatsächlich ist es aber so, dass die Gefühle und Einstellungen, die wir anderen Menschen oder bestimmten Situationen gegenüber haben, von uns selbst verursacht werden.
Um das, was geschieht, wenn wir unsicher werden, genauer erklären zu können, möchte ich Ihnen das Teile-Modell der Seele vorstellen. Ich gehe wie viele andere Psycholog (inn)en und Pädagog(inn)en davon aus, dass unsere Persönlichkeit nicht aus einem Guss besteht. Sie ist eher ein System, das sich aus verschiedenen Teilen oder Unterpersönlichkeiten zusammensetzt. Wir haben nicht ein einheitliches Selbst, sondern wir bestehen aus vielen verschiedenen Selbsten. Wir erleben diese Selbste als unterschiedliche innere Stimmen oder auch als Energien. Dieses Modell der Psyche erleichtert es uns, seelische Prozesse zu verstehen und beschreiben zu können.
Am Beispiel eines inneren Konflikts lässt sich dieses Teile-Modell der Seele gut verdeutlichen. So einen inneren Konflikt zwischen den Teilen Ihrer Persönlichkeit können Sie beispielsweise dann erleben, wenn Sie versuchen, einen guten Vorsatz in die Tat umzusetzen und es nicht schaffen. Nehmen wir einmal an, Sie haben sich fest vorgenommen, etwas für Ihre Gesundheit zu tun. Sie wollen jetzt jeden Sonntag noch vor dem Frühstück eine Runde Dauerlauf machen. Nun ist es Sonntag, aber Sie finden es im Bett so gemütlich warm. Das Wetter ist auch nicht besonders gut, und Sie drehen sich noch einmal um, dösen etwas und frühstücken dann in aller Ruhe. Der Dauerlauf findet also nicht statt, obwohl Sie es sich doch eigentlich fest vorgenommen hatten. Vielleicht ärgern Sie sich darüber, dass Sie nicht genug Willenskraft hatten, um den guten Vorsatz auch umzusetzen. Mit dem Teile-Modell der Seele ließe sich das Geschehen so erklären: Ihr Erholungs-Teil, der dafür zuständig ist, dass Sie genügend Schlaf bekommen, sich ausspannen und es bequem haben, hat über Ihren inneren Antreiber gesiegt. Ihr guter Vorsatz war nur die Entscheidung eines Teils Ihrer Seele, nämlich die Ihres inneren Antreibers. Mindestens ein anderer Teil war damit nicht einverstanden und hat das sportliche Vorhaben sabotiert. Und Ihr innerer Kritiker hat Sie dann zu guter Letzt noch dafür kritisiert, dass Sie es nicht einmal schaffen, sich aufzuraffen und Sport zu treiben. Unsere verschiedenen Selbste können sich also untereinander durchaus streiten oder sogar unterdrücken.
Für das Thema Selbstbehauptung sind einige dieser Unterpersönlichkeiten oder Selbste besonders interessant. Ob wir uns unsicher oder selbstsicher fühlen, hängt damit zusammen, welches Selbst über unser inneres »Betriebsklima« bestimmt. Und bei den meisten Menschen, Frauen wie auch Männern, beherrschen der innere Kritiker und der innere Antreiber das seelische Betriebsklima. Diese beiden möchte ich Ihnen jetzt vorstellen. Später lernen Sie dann noch andere Selbste kennen, beispielsweise Ihr inneres Kind, den liebevollen, fürsorglichen Teil Ihrer Seele und Ihr sachbezogenes Selbst. Das sind jedoch bei weitem nicht alle Teile der Seele, sondern nur diejenigen, die direkt für Ihr Selbstwertgefühl zuständig sind. Deshalb beschränke ich mich hier auf diese Selbste.
Bevor ich mit dem Kritiker und Antreiber beginne, möchte ich noch auf meine Schreibweise eingehen. Ihr innerer Kritiker kann natürlich auch eine innere Kritikerin sein. Noch genauer wäre es, wenn ich von einem kritisierenden Teil der Seele schreibe, der sowohl eine weibliche als auch eine männliche Seite oder Stimme haben kann. Ich habe mich allerdings entschieden, auf eine doppelte männliche und weibliche Schreibweise der Seelenteile zu verzichten. Ich nenne das kritisierende Selbst den inneren Kritiker, das antreibende Selbst den inneren Antreiber.
Die Tyrannei des inneren Kritikers
Sie können Ihren inneren Kritiker sehr leicht erkennen, wenn Sie darauf achten, was Sie in schwierigen Situationen innerlich zu sich selbst sagen oder was für Gedanken Ihnen durch den Kopf gehen. Zum Beispiel wenn Sie sich einen neuen Bikini oder Badeanzug kaufen wollen. Sie stehen in der Umkleidekabine und betrachten sich in dem großen Spiegel. Mal abgesehen davon, wie der neue Bikini oder Badeanzug an Ihnen aussieht, bei vielen Frauen fällt in solchen Momenten der innere Kritiker über sie her. Er meckert über ihr Aussehen, über die Figur, das Gewicht, die Hüften, die Beine, den Busen und zweifelt überhaupt, ob man sich so noch vor anderen zeigen könnte. Meist springt dann noch der engste Verbündete vom Kritiker, der innere Antreiber an. Er stellt das Programm auf, mit dem dieser Körper noch zu retten wäre. Ein Programm, das meist aus mehr Selbstdisziplin beim Essen, mehr Sport, mehr Kosmetik oder vielleicht sogar einer Schönheitsoperation besteht. Der innere Antreiber ist sozusagen der Vollzugsgehilfe, wenn es darum geht, die Meckereien des Kritikers umzusetzen.
Der innere Kritiker schaltet sich auch fast immer dann ein, wenn wir einen Fehler machen, uns irren oder uns sonstwie ein Missgeschick zustößt. Dann kommen zu der inneren Nörgelei noch Beschimpfungen und Herabsetzungen hinzu. Viele Frauen titulieren sich innerlich mit Worten wie »Ich dumme Nuss!«, »Ich blöde Kuh!«, »Ich bin doch wirklich völlig dumm im Kopf«, »Mal wieder typisch, ich Doofe am Werk.« Dabei gehen sie oft mit sich viel herabsetzender und beleidigender um, als es je ein Außenstehender tun könnte. Es bewahrheitet sich der Spruch: Wer einen guten inneren Kritiker hat, braucht keine äußeren Feinde mehr. Niemand kann uns so fertigmachen, wie wir uns selbst.
Eine weitere Vorliebe des inneren Kritikers ist der Vergleich mit anderen. Natürlich sucht er sich dafür immer solche Menschen aus, die uns etwas voraus haben, denn nur so kommen wir uns unbedeutend und minderwertig vor. Es ist auch der innere Kritiker, der unsere Gefühle abwertet. Wenn wir uns beispielsweise verletzt fühlen, eifersüchtig sind, Angst haben oder wütend sind, dann sagt er oft so etwas wie: »Ach stell dich nicht so an«, »Sei nicht so mimosenhaft«, »Du immer mit deiner blöden Angst«, »Es gehört sich nicht, wütend zu werden.« Der kritisierende Teil unserer Seele ist der Teil, der das Zarte und Empfindsame in uns oft übergeht oder lächerlich macht. Manche Frauen beschimpfen sich selbst als »Heulsuse« oder »Jammerlappen«, wenn sie weinen. Hier lautet die Botschaft des inneren Kritikers: »Was du fühlst, ist albern und dumm. Beherrsch dich endlich.«
Wenn Sie sich über Ihre Erfolge und guten Leistungen nicht wirklich freuen können oder alle Erfolge für einen puren Zufall halten, dann können Sie sicher sein, dass hier Ihr innerer Kritiker am Werk ist. Er nörgelt an Arbeitsergebnissen herum und kann sehr gut in der besten Suppe noch ein Haar finden. Vielleicht vollbringen Sie wirklich gute Leistungen, Ihre Arbeitsergebnisse finden die Anerkennung und den Beifall anderer, aber da ist eine innere Stimme, die Sie verunsichert. Eine Stimme, die Ihnen zuflüstert, dass das alles doch nicht so toll ist und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die anderen das auch merken. Es ist der innere Kritiker, der Sie glauben lässt, Sie wären nur eine Hochstaplerin.
Er kann sich bis zum Perfektionisten steigern, dem letztlich keine Leistung wirklich optimal und restlos gut erscheint. Statt dass Sie sich an dem erfreuen, was Ihnen gut gelungen ist, vergrößert er jeden noch so kleinen Schnitzer so stark, dass der winzigste Fehler wie ein riesengroßer Patzer erscheint. Und zusammen mit dem Antreiber sorgt er dafür, dass Sie nicht eher zur Ruhe kommen, bis dieser Schnitzer aus der Welt ist.
Wenn wir eigentlich viel Selbstvertrauen brauchen, wie zum Beispiel bei einem Bewerbungsgespräch oder einer Rede vor Publikum, zählt der innere Kritiker mit Vorliebe all das auf, was wir nicht können und was uns bisher danebengegangen ist. Selbst wenn wir so eine Situation nie erlebt haben oder dort nie einen Fehler machten, so kann er uns doch in glühenden Farben vor Augen führen, was alles danebengehen könnte: Wir könnten anfangen zu stottern, dummes Zeug reden, rot werden, den Faden verlieren und somit kläglich versagen. Mithilfe dieser überzeugenden inneren Bilder macht er uns Angst. Und diese Angst führt dann dazu, dass wir uns verkrampfen und unsere Leistung sinkt. Passiert uns daraufhin dann tatsächlich ein Missgeschick, kann der innere Kritiker natürlich triumphieren. Hat er uns nicht gleich gesagt, dass die Sache danebengehen wird?
Er hat ein schier unerschöpfliches Gedächtnis, wenn es darum geht, uns an peinliche Situationen, Misserfolge und andere Blamagen zu erinnern. Wenn wir uns danebenbenommen haben, dann führt er uns das gerne immer wieder vor Augen. Egal, ob es nun die letzte Party war, bei der wir uns mit Salatsoße bekleckert haben, oder ob es unser erstes Rendezvous war, bei dem uns der Reißverschluss von dem viel zu engen Minirock plötzlich geplatzt ist. Der innere Kritiker schafft es, dass uns bei diesen Erinnerungen immer wieder die Schamesröte ins Gesicht steigt.
Außerdem untergräbt der innere Kritiker unser Selbstwertgefühl, indem er uns mit anderen vergleicht. Er reibt uns dabei andere Menschen unter die Nase, die scheinbar besser oder vollkommener sind als wir. Da ist die alte Schulfreundin, die Karriere gemacht hat und so ganz nebenbei vier Kinder großgezogen hat und deren Ehe immer noch prima zu funktionieren scheint. Da ist die Kollegin, die viel schlanker ist als wir, oder die Nachbarin, die auch berufstätig ist, aber deren Fenster immer tipptopp sauber geputzt sind.
Die Hauptarbeit des inneres Kritikers besteht darin, uns Vorschriften zu machen. Solche inneren Vorschriften sind Gedanken, die wie Befehle und Anweisungen klingen: »Ich muss mich mehr anstrengen«, »Ich darf bei diesem Projekt nicht versagen«, »Es muss alles erstklassig werden«. Innere Vorschriften lassen sich meist sehr gut an Worten wie muss, soll oder darf nicht erkennen. Manchmal machen wir uns auch in Kurzform Vorschriften, indem wir uns innerlich maßregeln mit Worten wie: »Aufstehen!!!« oder: »Reiß dich zusammen!« – »Nicht nachgeben!« – »Immer lächeln.«
So machen sich viele Frauen selbst Vorschriften, mit denen sie ihre eigene Selbstbehauptung blockieren. Das drückt sich aus in Sätzen wie:
• Ich muss immer sympathisch wirken. Nur wenn mich andere Menschen nett und sympathisch finden, bin ich in Ordnung.
• Ich darf anderen, besonders mir nahe stehenden Menschen keine Bitte abschlagen. Ich darf nicht nein sagen.
• Ich darf mich nicht selbst loben. Ich muss bescheiden sein.
• Ich muss mich für andere einsetzen. Ich darf den Problemen der anderen gegenüber nicht gleichgültig und uninteressiert sein.
• Ich darf nicht direkt sagen, was ich will. Ich darf nicht fordern.
• Ich muss ständig danach streben, mich zu verbessern und perfekter zu werden.
Das Vertrackte an diesen inneren Vorschriften ist ihre Wirkung im Verborgenen. Die meisten dieser Vorschriften sind uns überhaupt nicht bewusst. Normalerweise versuchen wir Situationen, in denen unsere inneren Vorschriften verletzt werden könnten, aus dem Weg zu gehen. Und deshalb bemerken wir nicht, wie sehr wir uns damit selbst knebeln. Eine Frau mit der Vorschrift »Ich muss immer nett und sympathisch wirken« wird es vermeiden, bei anderen anzuecken, also sich beispielsweise zu beschweren oder hartnäckig auf dem eigenen Standpunkt zu bestehen. Aber angenommen, sie kommt nicht darum herum, sich doch zu beschweren, was dann? Wenn sie nun gegen ihre Nettigkeits-Vorschrift verstößt, dann wird sie wahrscheinlich Angst bekommen. Die Angst entsteht, weil an die inneren Vorschriften die Vorstellung geknüpft ist, dass etwas Schlimmes oder Schreckliches passieren wird, wenn wir die Vorschrift nicht befolgen. Es gehört zum Prinzip der inneren Vorschriften, dass sich dahinter Fantasien von Katastrophen verbergen. Schreckensbilder davon, wie ausgestoßen, einsam und missachtet wir sein werden, wenn wir uns nicht an die inneren Vorschriften halten. Das Ganze wird verständlicher, wenn wir uns anschauen, wie wir die ersten Vorschriften gelernt haben. Zuerst waren es die Eltern, die uns Vorschriften machten und uns ausschimpften – oft auch, um uns zu beschützen. Sie sagten beispielsweise: »Wenn du über die Straße gehen willst, dann bleib am Randstein stehen und sieh erst nach links und rechts, ob ein Auto kommt.« Nun gehorchen Kinder ja nicht immer, und wenn wir ohne uns umzusehen über die Straße gelaufen sind, haben sie uns vielleicht gepackt und mit ärgerlicher Stimme gedroht: »Halt! Wenn du das noch einmal machst, dann kommt ein Auto und überfährt dich! Das tut ganz furchtbar weh, und du musst ins Krankenhaus. Du musst gefälligst nach links und rechts schauen, wenn du über die Straße läufst!« Die Art, wie die Eltern mit uns sprachen, und die schlimmen Sachen, mit denen sie uns drohten, haben uns Angst gemacht. Wir wollten natürlich, dass die Eltern wieder nett zu uns sind, und außerdem wollten wir nicht überfahren werden. Also fingen wir an, uns selbst diese Vorschrift zu machen. Wir verinnerlichten die elterliche Stimme als inneren Kritiker, der sich am Straϐenrand automatisch meldet und sagt: »Ich muss erst nach links und rechts gucken, ob ein Auto kommt!« Von da an konnten wir uns selbst die Vorschriften machen, die uns bisher die Eltern machten. Das Beispiel macht auch deutlich, dass der innere Kritiker eigentlich kein böser oder dämonischer Teil in uns ist. Er ist vielmehr der Seelenteil, der uns die Zügel anlegt, um auf uns aufzupassen und uns zu beschützen.
Nun geben aber Eltern ihren Kindern nicht nur Verkehrsregeln mit auf den Lebensweg, sondern sie erteilen noch andere Verhaltensregeln, wie beispielsweise: »Wenn du weiterhin widersprichst, dann setzt es was!« oder: »Hör auf zu heulen, sonst gebe ich dir wirklich einen Grund zum Weinen«, »Nun reiß dich doch mal zusammen. Was sollen bloß die Leute von uns denken?«, »Sei ein braves Mädchen und tu, was man dir sagt, sonst ist Mami ganz traurig.« Manche dieser Regeln konnten wir im Laufe unseres Lebens wieder abstreifen und aussortieren. Andere Anweisungen haben wir als Vorschriften meist unbewusst übernommen und halten sie bis heute am Leben. Viele davon haben wir nie daraufhin überprüft, ob sie für unser jetziges Leben noch angemessen sind.
Natürlich stammen die Vorschriften, mit denen wir heute durchs Leben gehen, nicht nur von den Eltern. Ein Kind kann von allen Personen, die es erziehen oder betreuen, Vorschriften aufnehmen und verinnerlichen. Das können auch Verwandte wie die Großeltern oder Geschwister sein, Lehrkräfte, Nachbarn oder Freunde. Das Verinnerlichen von Vorschriften endet nicht mit der Kindheit. Die meisten von uns sind heute immer noch dabei, sich neue Vorschriften zu machen. Unser innerer Kritiker hält gerne Ausschau nach Möglichkeiten, wie wir perfekter werden können. Wenn beispielsweise eine Frauenzeitschrift Tabellen über das Idealgewicht veröffentlicht, dann wandelt der Kritiker solche Informationen gerne in Vorschriften um. Aus einem Idealgewicht macht er ein Mussgewicht, das künftig für uns gelten soll.
Hier noch einmal eine kurze Beschreibung des inneren Kritikers.
STECKBRIEF
Der innere Kritiker
Das kritisierende Selbst
... macht uns Vorschriften,
... erteilt uns Befehle,
... kontrolliert den Eindruck, den wir auf andere machen,
... droht uns mit Katastrophen, wenn wir gegen seine Vorschriften verstoßen,
... vergleicht uns mit anderen und lässt uns dabei schlechter abschneiden,
... reibt uns Fehler, Versagen und Misserfolge unter die Nase,
... entwertet unsere Erfolge und guten Ideen,
... beschimpft uns, setzt uns herab, gibt uns Schimpfnamen,
... kritisiert unser Aussehen, unsere Leistung, unsere Art und Weise mit anderen umzugehen,
... verurteilt unsere Gefühle und Bedürfnisse und entmutigt uns.
Der innere Antreiber
Ich möchte Ihnen nun den engsten Verbündeten des inneren Kritikers genauer vorstellen: den inneren Antreiber. Er setzt die Nörgeleien des Kritikers um. Er sagt uns, was wir tun müssen, um unsere Fehler auszumerzen, um besser, tüchtiger, schöner und intelligenter zu werden. Innerlich hört sich der Antreiber etwa so an: »Ich muss unbedingt mehr Sport treiben. Nicht nur einmal im halben Jahr Fahrrad fahren. Also ab sofort wird regelmäßig gejoggt.« – »Ich müsste mal wieder die Fenster putzen.« – »Ich sollte mich mehr um meine Mutter kümmern.« – »Ich muss mich beeilen.« – »Herrje, diese Haare! Ich muss unbedingt mal wieder zum Friseur.«
Der innere Antreiber liebt Zeitmanagementstrategien, bei denen es darum geht, noch mehr in noch weniger Zeit zu schaffen. Etwas langsam machen, in aller Ruhe und Schritt für Schritt vorgehen, das kann den Antreiber schier verrückt machen. Er möchte lieber sofort als später ans Ziel gelangen, und Geduld ist für ihn ein Fremdwort. Wenn er so richtig aufdreht und uns all das vorbetet, was noch zu tun ist, was noch zu verbessern wäre, worum wir uns noch kümmern müssen, dann entsteht ein ungeheurer innerer Druck, ein hausgemachter Stress. Und so haben manche Menschen tatsächlich einen inneren Antreiber, der sie schon morgens, kurz nach dem Aufwachen mit völlig widersprüchlichen Anweisungen unter Druck setzt. Diese Menschen sind, nachdem sie ihrem Antreiber zehn Minuten lang zugehört haben, vollkommen erledigt und schaffen es kaum aus dem Bett herauszukommen.
Als Druckmittel benutzt der innere Antreiber häufig die Zuckerbrot-und-Peitschen-Methode. Zum einen lockt er damit, wie wunderbar das Leben sein wird, wenn wir erst einmal den Haushalt auf Hochglanz gebracht haben, wenn die Steuererklärung fertig ist, wenn die Küche renoviert ist oder wir zehn Pfund abgenommen haben. Falls das nichts nützt, fängt er an, direkt zu drohen. Er sagt uns, was alles Fürchterliches passieren kann, wenn wir diese Vorschriften und Befehle missachten. Wir sehen innerlich Schreckensbilder eines verkommenen Haushalts, über den andere die Nase rümpfen. Wir denken plötzlich an unsere Figur, die in keine Hose und keinen Rock mehr hineinpasst, falls wir je mehr als tausend Kalorien am Tag essen. Ebenso wie der Kritiker macht uns der innere Antreiber mit diesen Katastrophenfantasien eine enorme Angst und schnürt uns in ein enges Verhaltenskorsett ein.
STECKBRIEF
Der innere Antreiber
Das antreibende Selbst
... arbeitet Hand in Hand mit dem inneren Kritiker zusammen,
... verlangt von uns Perfektion und Vollkommenheit,
... sagt uns ständig, was wir noch alles tun müssen,
... duldet keine Halbheiten und mittelmäßigen Leistungen,
... gönnt uns keine Pause,
... sagt uns, dass wir uns zusammenreißen sollen und uns anstrengen müssen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der innere Kritiker und der innere Antreiber keine bösen oder verrückten Teile unserer Persönlichkeit sind. Der Kritiker kann gut Fehler entdecken oder Verbesserungsvorschläge machen. Mein innerer Kritiker hat gerade den vorangegangenen Text gelesen und fand, dass dort zu wenig über seine positiven, nützlichen Funktionen stand. Mein innerer Kritiker versteht sich auch darauf, meine Texte auf Verständlichkeit und Anschaulichkeit hin zu überprüfen. Falls ich allzu abstrakt und zu trocken schreibe, fällt ihm das ins Auge. Der innere Kritiker hilft uns, unsere Leistungen richtig einzuschätzen. Er weiß, dass wir keine Leute operieren können, nur weil wir viele Krankenhausfilme im Fernsehen gesehen haben. Er sagt uns, wo die Grenzen unseres Könnens sind. Der innere Antreiber kann für uns ebenso nützlich sein wie der innere Kritiker. Der antreibende Teil unserer Seele hilft uns, morgens aus dem Bett zu kommen, auch dann, wenn wir absolut keine Lust dazu haben. Er ist zusammen mit dem inneren Kritiker oft der Teil, der meine Teilnehmerinnen ins Selbstbehauptungstraining schickt. Vielleicht hat Ihr innerer Antreiber Sie auch dieses Buch kaufen lassen, nach dem Motto »Du müsstest auch mal etwas für deine Selbstsicherheit tun«. Der Antreiber hilft uns, eine Sache wirklich durchzuziehen und zu Ende zu bringen, auch wenn wir zwischendurch die Lust daran verlieren. Mein innerer Antreiber sorgt zurzeit dafür, dass ich mich regelmäßig an dieses Buch setze, um daran weiterzuschreiben. Er hilft mir wirklich durchzuhalten, auch wenn ich zwischendurch Formulierungsschwierigkeiten habe und deshalb lieber ein ganz anderes Buch schreiben möchte. Mein Antreiber sorgt gemeinsam mit meinem inneren Finanzminister dafür, dass ich arbeite und genügend Geld verdiene, um sicher und bequem leben zu können.
Beide Seelenteile sind in ihrer positiven Funktion durchaus dienlich und produktiv. Sie werden erst zu einer Blockade für die Selbstbehauptung, wenn sie »ins Kraut schieϐen«, wenn sie übermächtig werden. Diese Teile der Seele können so übermächtig werden, weil sich viele Menschen sehr stark mit ihrem inneren Kritiker und ihrem inneren Antreiber identifizieren. Das heißt, sie geben diesen beiden Teilen in ihrer Seele sehr viel Macht, wobei gleichzeitig andere Teile der Seele unterdrückt werden.
Lassen Sie mich diese Form der Selbstunterdrückung anhand von einem praktischen Beispiel erklären. Maren ist eine zweiunddreißigjährige Hausfrau und Mutter zweier Kinder, im Alter von achtzehn Monaten und fünf Jahren. Sie kam zu mir in die Beratung, weil sie seit längerer Zeit mit ihrer Situation in der Familie unzufrieden war. »Ich komme mir vor wie ein Dienstmädchen, das schlecht bezahlt wird und nie Feierabend hat«, sagte sie zu Beginn des ersten Beratungsgespräches. »Mein Mann ist selbstständig, er hat einen kleinen Handwerksbetrieb. In der Woche ist er meist bis spät abends im Betrieb. Oft kommt er erst nach Hause, wenn die Kinder schon im Bett sind. Deshalb kann er mir im Haushalt auch nichts abnehmen. Was sollte er dort auch tun? Wenn er um acht oder halb neun zu Hause ist, habe ich natürlich schon alles erledigt. Und am Wochenende mache ich oft noch die Buchhaltung für den Betrieb. Ich war vor unserer Heirat Buchhalterin. Im Grunde habe ich dadurch selbst am Wochenende keine Minute für mich.« Maren gönnt sich am Tag kaum eine Ruhepause, und selbst ihr Wochenende ist mit Arbeit belegt. Ihr innerer Antreiber und ihr Kritiker haben sie fest im Griff. Auf meine Frage, ob die Kinder wenigstens vormittags in eine Spiel- bzw. Kleinkindergruppe gehen könnten, reagiert sie empört. »Nein! Eine Mutter gehört zu ihren Kindern! Ich muss nicht arbeiten gehen, und warum sollten dann meine Kinder woanders untergebracht werden? Nur damit ich vormittags die Beine hochlegen kann? Auf keinen Fall! Mein Mann und ich wollten die Kinder, und da muss man dann auch zurückstecken. « Da sprechen der Kritiker und der Antreiber von Maren Klartext! Ihre Vorschriften lauten: »Eine Mutter gehört (immer) zu ihren Kindern!« und: »Wer Kinder will, muss zurückstecken!« Genauer gesagt: »Die Mutter muss zurückstecken!« Während der Beratungsgespräche wird für Maren immer deutlicher, wie sehr ihre Unzufriedenheit und Nervosität damit zusammenhängen, dass sie sich selbst überhaupt keinen Freiraum und keine Erholungspausen gönnt. Ihr innerer Kritiker beschimpft sie mit Worten wie »faul und egoistisch«, wenn sie versucht, sich einen Freiraum zu schaffen und ihre Mutter bittet, auf die Kinder aufzupassen. Maren nutzt diese kinderfreie Zeit, um ein paar notwendige Einkäufe in der Innenstadt zu machen. »Ich habe dann meist ein furchtbar schlechtes Gewissen, wenn ich nur für mich Kleidung einkaufe. Deshalb kaufe ich immer auch ein paar Stücke für die Kinder oder für meinen Mann«, erklärt sie. Maren kann zwar sehr gut für ihre Kinder und ihren Mann sorgen, aber sie hat in ihrer Seele den Teil unterdrückt, der für sie selbst sorgen könnte. Das liebevolle Selbst, der Teil der Seele, der für ihre eigenen Bedürfnisse eintritt und ihr Ruhe, Erholung und Zeit für sich selbst verschafft, war vollkommen zurückgedrängt. Sie hat bei der Bemutterung ihrer Familie den Seelenteil, mit dem sie sich selbst bemuttern könnte, vernachlässigt. Ihr innerer Kritiker hielt das Sich-selbst-Verwöhnen-und-Pflegen für egoistisch und drohte ihr damit, dass sie eine schlechte Mutter und Ehefrau sei, wenn sie sich für sich selbst mehr Zeit nehmen würde. Für Maren war es in der Beratung wichtig, zuerst ihren inneren Kritiker und den Antreiber kennen zu lernen und sich diese inneren Stimmen bewusst zu machen, um dann anschließend den Druck und die harten Verurteilungen der beiden einzudämmen. Sie brauchte dringend ein liebevolles Selbst, das sie den »Ich-verwöhne-mich-Teil« nannte. Allmählich fing sie an, ihre inneren Vorschriften zu entrümpeln. Sie legte diejenigen ab, durch die sie sich automatisch ein schlechtes Gewissen machte oder durch die sie sich unnötig unter Druck setzte. Und dabei setzte sie sich auch mit ihrer Angst, keine gute Mutter und Ehefrau zu sein, auseinander. Sie entwickelte langsam mehr und mehr Selbstwertgefühl und änderte einige Dinge in ihrem Alltag. Sie bat ihren Mann stundenweise eine Buchhalterin einzustellen, damit sie am Wochenende mehr Freizeit hatte. Das war anfangs nicht ganz einfach, weil ihr Mann der Meinung war, dass die Personalkosten für eine Buchhalterin überflüssig seien, schließlich habe er ja eine gelernte Buchhalterin geheiratet. Aber Maren war mittlerweile innerlich davon überzeugt, dass es für sie wichtig sei, wenigstens am Wochenende etwas ausspannen zu können. Sie konnte ihrem Mann klar machen, dass letztlich die ganze Familie mehr davon hatte, wenn sie sich erholen und wieder auftanken konnte. Für ihre beiden Kinder fand sie außerdem an drei Vormittagen in der Woche eine Spielgruppe in der Nachbarschaft. Bei ihrem letzten Beratungsgespräch erklärte sie mir lachend, dass sie jetzt auch ein Kulturprogramm gestartet hätte. Sie und ihr Mann würden wieder regelmäßig ausgehen. Zwar nicht so häufig wie vor der Geburt ihres ersten Kindes, aber immerhin würden sie miteinander Zeit verbringen. »Mal nicht nur als Eltern herumlaufen, sondern sich auch wieder als Liebespaar fühlen«, sagte sie schmunzelnd. Maren traf sich jetzt auch häufiger mit ihren Freundinnen und fing wieder an, Bilder zu malen. Ein Hobby, das sie damals aufgab, als sie das erste Kind bekam. Ich finde, dass Marens Veränderungen ein schönes Beispiel dafür sind, dass der Prozess der Selbstbehauptung zunächst bei uns selbst beginnt. Es gilt zunächst einmal, sich bewusst zu machen, welche Selbste innerlich unterdrückt werden, welche Teile der Persönlichkeit sozusagen in den Untergrund geschickt wurden. Diese unterdrückten Teile der Persönlichkeit hervorzuholen und im Alltag aufleben zu lassen, ist ein Akt von Selbstbehauptung sich selbst gegenüber. Und wenn wir selbst von der Berechtigung unserer Wünsche und Forderungen überzeugt sind, können wir auch andere davon leichter überzeugen.
Wie der Knacks im Selbstwertgefühl entsteht
Vielleicht haben Sie auch bei sich festgestellt, dass Ihr innerer Kritiker und Ihr innerer Antreiber viel zu Ihrer Verunsicherung beitragen. Lassen Sie uns zunächst bei der Frage bleiben, wodurch diese Teile der Seele so mächtig und einflussreich geworden sind. Wie kommt es, dass der Kritiker zusammen mit dem Antreiber eine solche seelische Alleinherrschaft errichten konnten? Ich habe bereits erwähnt, dass der Kritiker und der Antreiber in uns auch so etwas wie eine Schutz- und Aufpasserfunktion haben. Jetzt möchte ich Ihnen den Teil der Seele vorstellen, auf den die beiden aufpassen. Es ist unser empfindsames, gefühlvolles und zugleich völlig schutzloses Selbst: das innere Kind. Das innere Kind ist der Teil unserer Seele, der unsere ganz ursprünglichen Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche in sich trägt. Es ist auch der Teil, in dem unsere Kreativität, Genussfähigkeit und Lebensfreude angesiedelt sind. Wenn Sie sich über Bäume und Blumen freuen können, wenn Sie aus vollem Herzen herumalbern, wenn Sie sich in jemanden verlieben und ganz offenen Herzens sind, dann sind Sie mit Ihrem inneren Kind verbunden. Aber das Kind in Ihnen kann sich nicht nur über die ersten Schneeflocken im Winter freuen oder lachend durch das gefallene Herbstlaub stapfen, es ist auch zugleich völlig schutzlos. Daher reagiert es sehr verletzt auf die Bosheiten anderer Leute, es hat Angst, allein zu sein, und kann sehr wütend werden, wenn es ungerecht behandelt wird. Es bezieht das, was andere Leute sagen, meist sofort auf sich. Wenn uns jemand unfreundlich behandelt, weil er schlechte Laune hat, glaubt das Kind in uns, dass es selbst schuld daran hat und fühlt sich persönlich gekränkt. Ihr inneres Kind ist zugleich dasjenige Selbst, das mögliche seelische Verletzungen aus der Kindheit gespeichert hat. Dieser Teil Ihrer Seele weiß um die Demütigungen und Beschämungen, die Sie als Kind möglicherweise erlitten haben. Es ist wichtig zu verstehen, dass das innere Kind aus einer spielerischen, spontanen und lebenslustigen Seite besteht, zum anderen aber auch hilflos, ängstlich, traurig und bedürftig ist.
STECKBRIEF
Das innere Kind
Der empfindsame Teil der Seele
... ist sehr gefühlvoll und verletzlich,
... hat ursprüngliche Bedürfnisse und Sehnsüchte,
... trägt in sich die Lebensfreude, Genussfähigkeit und Kreativität,
... hat die seelischen Verletzungen der Kindheit gespeichert,
... kann sehr hilflos und verängstigt sein,
... bezieht die Reaktionen anderer Menschen auf sich.
Ihr inneres Kind ist auch der Teil Ihrer Seele, in dem Ihr grundlegendes Selbstwertgefühl verankert ist. Lassen Sie mich deshalb einmal genauer darauf eingehen, wie das Selbstwertgefühl in uns entsteht und wie es angeknackst werden kann.
Das Selbstwertgefühl des Kindes wird durch den Kontakt mit anderen Menschen geprägt. Zuallererst sind das die Menschen, bei denen es aufwächst, meistens die Eltern. Durch die Art, wie die Eltern und andere mit ihm umgehen, mit ihm reden und es versorgen, erfährt das Kind, wer es ist. Erlebt das Kind, dass es grundsätzlich willkommen ist, geliebt und zuverlässig versorgt wird, dann entsteht in ihm ein Selbstwertgefühl, das sich ungefähr so in Worte fassen lässt: »Ich bin willkommen. Ich bin in Ordnung, so wie ich bin. Ich bin jemand, mit dem sich andere gern beschäftigen. Meine Wünsche und Bedürfnisse sind akzeptabel. Ich kann vertrauen.« Später, wenn das Kind älter wird, seine Umgebung erkundet und entdeckt, dass es ein Mädchen oder ein Junge ist, erfährt es im positiven Fall auch so etwas wie: »Es ist vollkommen in Ordnung, dass ich ein Mädchen (ein Junge) bin. Ich kann neugierig sein, etwas schaffen und lernen. Ich bin in Ordnung, wenn ich meine Gefühle ausdrücke und wenn ich nein sage.«