Harald Lesch / Jörn Müller

Sternstunden
des Universums

Von tanzenden Planeten
und kosmischen Rekorden

C. Bertelsmann

1. Auflage
© 2011 by C. Bertelsmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: R·M·E Roland Eschlbeck
und Rosemarie Kreuzer
Bildredaktion: Dietlinde Orendi
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-05686-5

www.cbertelsmann.de

Prolog

Haben Sie schon mal die Show eines Magiers besucht? Was dort vorgeführt wird, lässt die Zuschauer an ihrem Verstand zweifeln. Da verschwinden oder erscheinen Dinge wie von Zauberhand, Tauben flattern aus augenscheinlich leeren Kisten, und manchmal wird sogar ein Mensch mit einer Guillotine enthauptet, nur um sich kurz darauf wieder munter vom Schafott zu erheben. Für einen guten Zauberkünstler ist es anscheinend ein Leichtes, unsere Sinne »hinters Licht zu führen«. Unmittelbar vor unseren Augen ereignen sich Dinge, die aller Logik zu widersprechen scheinen. Wie ist das möglich? Unser Verstand fühlt sich schlichtweg betrogen. Meist reagieren wir auf solche Vorführungen mit hilflosem Staunen, so, als wäre ein Wunder geschehen. Im täglichen Leben kommen derartige Seltsamkeiten ja nicht vor. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass jedes Ereignis eine Ursache hat. Die Badewanne läuft über, weil jemand vergessen hat, den Wasserhahn zuzudrehen. Das ist einsichtig und logisch zugleich. Doch welches Geheimnis steckt hinter den Vorführungen des Illusionisten? Wie hat der »Zauberer« das bloß geschafft?

Ja, wie? In den Naturwissenschaften ist dieses unscheinbare Wörtchen »wie« von zentraler Bedeutung. Mit einem »wie« beginnen nahezu alle Verständnisfragen. Wie funktioniert das? Wie läuft dieser Prozess ab? Wie kann man sich das erklären? Am Anfang aller Bemühungen um Erkenntnis steht dieses simple Fragewort. Das gilt auch für die wohl älteste Wissenschaft der Menschheit, die Astronomie. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, grundlegende Fragen zum Universum und unserer Existenz zu klären: Wie konnte aus dem sogenannten Urknall, der »Initialzündung« allen Seins, das Universum entstehen, in dem wir heute leben, und wie laufen die Prozesse ab, die noch immer den Kosmos gestalten?

Antworten liefern im Wesentlichen zwei Verfahren. Zum einen stellt die Astronomie mithilfe geeigneter Experimente Fragen an die Natur. Die andere Methode beruht auf der gezielten Beobachtung der Vorgänge im Kosmos. Hier kommen sowohl auf der Erde als auch im Weltraum stationierte Teleskope zum Einsatz. Beide Methoden sind empirischer Natur, und beide leiden darunter, dass sich uns die Dinge nicht so darstellen, wie sie wirklich sind. Die Wahrnehmung unserer Umwelt ist zwangsweise durch unser Erkenntnisvermögen eingeschränkt. Insbesondere die Experimente laufen unter idealisierten Bedingungen ab und spiegeln die Wirklichkeit nur unzureichend wider. Folglich sind die gewonnenen Erkenntnisse nicht mit der Wahrheit gleichzusetzen. Die Astronomie, aber auch alle anderen unter dem Begriff »Naturwissenschaft« vereinten Disziplinen können prinzipiell nicht herausfinden, ob ihre Theorien und Modelle richtig sind. Sie können bestenfalls feststellen, inwieweit daraus abgeleitete Vorhersagen nicht falsch sind. Was die Naturwissenschaften jedoch so glaubhaft macht, ist die Falsifizierbarkeit ihrer Theorien. Das heißt: Naturwissenschaftliche Theorien müssen sich an Beobachtungsergebnissen und der Erfahrung messen lassen. Ob eine Theorie nicht falsch ist, darüber entscheidet als letzte Instanz das Experiment. Ziel astronomischer Forschung ist es daher nicht, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen, sondern die Wirklichkeit mit den Mitteln der empirischen Wissenschaften zu untersuchen und immer neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Trotz ihrer enormen Bandbreite sind die Naturwissenschaften nicht für alle Fragen zuständig. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Die Frage »Wie kommt es, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts?« ist eine der Kernfragen der Astronomie. In einem eigenen Kapitel werden wir dem noch ausführlich nachgehen. Die Situation ändert sich jedoch grundlegend, wenn man die Frage abändert zu: »Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?« Aus der Seinsfrage wird so urplötzlich eine Sinnfrage! Eine Frage nach dem Grund, dem Zweck, ja, nach dem tieferen Sinn dessen, was geschieht. Sinnfragen sind Fragen der Metaphysik. Diese Disziplin der Philosophie versucht Antworten zu geben auf die primären Fragen des Seins: »Gibt es einen letzten Sinn?«, »Warum existiert überhaupt die Welt?« oder »Gibt es einen Gott – und wenn ja, was können wir über ihn wissen?« Darauf vermögen die Naturwissenschaften nicht zu antworten. Fragen dieser Art stehen außerhalb der rationalen Erfahrungswelt, gehen über das Wahrnehmbare hinaus und sind einer empirischen Untersuchung unzugänglich. Der große Philosoph Immanuel Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft dazu sinngemäß gesagt: Schicksal der menschlichen Vernunft ist es, mit derartigen (also metaphysischen) Fragen belästigt zu werden, mit Fragen, die sie nicht abweisen kann, da sie ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben sind. Aber sie kann sie nicht beantworten, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. In diesem Sinne sind die modernen Naturwissenschaften für Fragen, denen ein »Warum« voransteht, der falsche Adressat.

Wie ein Magier uns immer wieder in Erstaunen versetzen kann, so präsentiert uns auch das Universum ungewöhnliche Objekte und verwirrende Vorgänge. Da gibt es Sterne, die sich regelmäßig aufblähen und wieder zusammenziehen und dabei ihre Leuchtkraft periodisch ändern. Oder aus den Tiefen des Alls erreicht uns urplötzlich ein nur Sekunden andauernder Strahlungsblitz, der mehr Energie transportiert, als unsere Sonne während ihres rund zehn Milliarden Jahre langen Sternenlebens erzeugt. Und es gibt Sterne, die einige zehntausend Male leuchtkräftiger und heißer sind als unsere Sonne. Einige sind so groß, dass selbst der Mars darin verschwinden würde, könnte man sie an die Stelle der Sonne setzen. Auch die Tatsache, dass das Element Kohlenstoff, der Grundbaustein allen Lebens, in ausreichender Menge im Universum vorkommt, verdankt sich im Grunde einem glücklichen Zufall.

All das hat nichts mit einem Wunder zu tun. Und dennoch, die Phänomene sind höchst verwunderlich. In den folgenden Kapiteln wollen wir einige merkwürdige Objekte und bizarr erscheinende Vorgänge vorstellen. Meist hat es die Astrophysiker viel Mühe gekostet, zu verstehen, was sich da tut. Nicht immer ist alles klar. Noch immer bedürfen viele Theorien einer Bestätigung durch Experiment oder Beobachtung. Der Faszination tut das jedoch keinen Abbruch (Abb. 1).

Abb. 1: Illusion oder Wirklichkeit? – Nicht immer fällt die Entscheidung leicht. Die Natur konfrontiert uns stets aufs Neue mit irrational erscheinenden Vorgängen. Nicht selten bedarf es jahrelanger Forschung, um die Phänomene zu entzaubern.

Kapitel 1

Reaktortechnik à la nature

Die älteren Leser erinnern sich vielleicht noch an die Anti-Atomkraft-Demos in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der »Schlachtruf« der Atomkraftgegner lautete damals »Atomkraft? Nein Danke«. Doch alle Proteste waren vergeblich. Bis 2004 wurden in Deutschland rund 110 Atomreaktoren zur Stromerzeugung und zu Forschungszwecken geplant. Nicht alle wurden fertiggestellt. Einige sind über das Planungsstadium nicht hinausgekommen, wurden nicht zu Ende gebaut oder nie in Betrieb genommen, viele sind mittlerweile stillgelegt worden. Anfang des Jahres 2011 waren 17 Kernkraftwerke mit einer Gesamtleistung von rund 20 Gigawatt am Netz. Angesichts des unvermeidbaren Risikos, durch einen Unfall in einem AKW ganze Landstriche radioaktiv zu verseuchen, und unter dem Eindruck des Reaktorunglücks im Kernkraftwerk Fukushima (Japan) im März 2011, bei dem es in mehreren Reaktorblöcken zu einer Kernschmelze kam, hat man in Deutschland den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Bis jedoch Wind- und Solarkraftwerke die Lücke schließen, dürfte noch einige Zeit vergehen.

Ob sich Atomkerne spalten lassen, war lange Zeit umstritten. Am 17. Dezember 1938 erbrachte der deutsche Chemiker Otto Hahn schließlich den Beweis. Zusammen mit Fritz Straßmann konnte er zeigen, dass der schwere Kern des Elements Uran in leichtere Elemente »zerplatzen« kann. Was hatte Hahn gemacht? Er hatte Uran mit Neutronen beschossen und mithilfe komplizierter chemischer Analyseverfahren die Elemente Barium und Krypton als Spaltprodukte nachgewiesen. Kurz darauf, am 6. Februar 1939, lieferte schließlich Hahns Kollegin Lise Meitner die Theorie zu diesem Experiment. Sie konnte erklären, wie es zu diesen Reaktionsprodukten gekommen war: durch Kernspaltung von Uran. Dass für diese Entdeckung allein Otto Hahn mit dem Nobelpreis geehrt wurde, kann man durchaus als ungerecht empfinden.

Doch zurück zum Uran. Wie bei allen Elementen besteht auch ein Uranatom aus einem Atomkern mit einer ihn umgebenden Elektronenhülle. Der Kern wiederum setzt sich zusammen aus sogenannten Nukleonen, den Protonen und Neutronen. Beim Uran sind es 92 Protonen und, je nach Uranisotop, 142, 143 oder 146 Neutronen. Die Atomkerne der Isotope eines Elements haben demnach immer gleich viele Protonen, sie unterscheiden sich aber in der Zahl der Neutronen. Die Summe von Protonen und Neutronen ergibt die Massenzahl des Elements. Das Uranisotop mit 142 Kernneutronen hat daher die Bezeichnung Uran 234 (U234), das mit 143 Neutronen im Kern wird Uran 235 (U235) genannt und das mit 146 Neutronen Uran 238 (U238). In der Natur kommen diese Uranisotope mit stark unterschiedlicher Häufigkeit vor. 99,2744 Prozent des Urans in den Uranlagerstätten stellt das Isotop U238 und nur 0,7202 Prozent das Isotop U235. Das Isotop U234 trägt mit vernachlässigbaren 0,0054 Prozent fast nichts zum Gesamtvorkommen bei.

Was geschieht, wenn Urankerne mit Neutronen beschossen werden, hängt davon ab, welches Isotop getroffen wird und wie schnell die Neutronen sind beziehungsweise wie hoch ihre kinetische Energie ist. Zunächst wird durch den Einfang eines Neutrons Bindungsenergie frei. Man versteht darunter die Energiemenge, die man benötigen würde, um ein Neutron aus dem Kern zu lösen und unendlich weit weg zu schaffen. Bei Atomkernen, die eine gerade Anzahl an Kernneutronen aufweisen, ist die Bindungsenergie der Neutronen viel größer als bei Kernen mit einer ungeraden Anzahl von Kernneutronen. Demnach ist die frei werdende Bindungsenergie höher, wenn die Anzahl der Kernneutronen durch das eingefangene Neutron geradzahlig wird, als wenn sich eine ungerade Neutronenzahl ergibt. Der U235-Kern hat mit 143 Neutronen eine ungerade Anzahl an Kernneutronen. Durch den Einfang eines Neutrons wird sie mit 144 geradzahlig, und die frei werdende Bindungsenergie beträgt rund 6,4 Millionen Elektronenvolt. (Ein Elektron gewinnt eine Energie von 1 Million Elektronenvolt [1 MeV], wenn es durch eine Spannung von 1 Million Volt beschleunigt wird.) Beim U238-Kern ist die Anzahl der Kernneutronen vor dem Einfang mit 146 geradzahlig, und sie wird durch den Einfang eines Neutrons ungerade. Folglich ist auch die beim Einfang frei werdende Bindungsenergie mit rund 4,8 MeV deutlich kleiner als beim U235-Kern.

Die Kernspaltung wird ausgelöst, wenn die Summe aus frei werdender Bindungsenergie und kinetischer Energie des Neutrons größer ist als die sogenannte Spaltschwelle des Atomkerns. Die liegt für U235 bei rund 5,8 MeV, für U238 bei 6,3 MeV. Da beim U235-Kern die frei werdende Bindungsenergie bereits höher als die Spaltschwelle ist, kann die kinetische Energie der Spaltneutronen beliebig klein sein. U235-Kerne sind demnach besonders leicht zu spalten. Bei U238 sieht die Sache anders aus. Dort liegt die frei werdende Bindungsenergie deutlich unterhalb der Spaltschwelle. Damit es zur Kernspaltung kommt, müssen die Spaltneutronen eine kinetische Energie von mindestens 1,5 MeV haben, entsprechend der Differenz zwischen 6,3 MeV und 4,8 MeV. Mit »langsamen« Neutronen ist U238 daher praktisch nicht zu spalten.

Ob schwer oder leicht zu spalten, lässt sich auch am sogenannten Wirkungsquerschnitt ablesen. Vereinfacht ausgedrückt versteht man darunter die Fläche um den Atomkern, innerhalb derer das Neutron auftreffen muss, damit es zum Einfang mit anschließender Spaltung des Urankerns kommt. Der Wirkungsquerschnitt, der in Einheiten von 10-28 Quadratmetern, auch 1 barn genannt, angegeben wird, ist abhängig von der kinetischen Energie der Neutronen. Für Neutronen mit geringer kinetischer Energie, sogenannte thermische Neutronen, hat U235 einen Wirkungsquerschnitt von rund 600 barn. Mit wachsender Elektronenenergie wird er immer kleiner (Abb. 2). Auf die Erzeugung thermischer Neutronen kommen wir noch zu sprechen. U238 hat für langsame Neutronen einen rund 30 Millionen Mal kleineren Wirkungsquerschnitt als U235. Erst wenn die kinetische Energie der Elektronen einen Wert von 1,5 MeV erreicht, steigt er auf etwa 0,1 barn und bei einer kinetischen Energie von 10 MeV auf rund 1 barn. Im Vergleich zu U235 ist daher U238 nicht nur viel schwerer zu spalten, man würde auch einen wesentlich höheren Fluss an hochenergetischen Neutronen benötigen, um eine mit U235 vergleichbare Spaltrate zu erzielen. Kein Wunder also, dass man die Kernreaktoren mit U235 »füttert«.

Abb. 2: U235 ist besonders leicht mit langsamen Neutronen im Energiebereich um 0,025 eV zu spalten. Mit wachsender kinetischer Energie der Neutronen nimmt der Wirkungsquerschnitt für den Neutroneneinfang stark ab. Bei U238 erreicht man erst mit Neutronen oberhalb 1,5 MeV nennenswerte Spaltreaktionen.

Dennoch, der Beschuss von U238 mit langsamen Elektronen bleibt nicht ohne Wirkung, sie können im Kern stecken bleiben. Dadurch entsteht ein instabiler U239-Kern, der sich mit einer Halbwertszeit von 23 Minuten in einen Kern des Elements Neptunium umwandelt, der wiederum mit einer Halbwertszeit von 2,4 Tagen zu Plutonium mutiert. Beide Male zerfällt dabei eines der Neutronen im Kern in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. Auf diese Weise bleibt die Massenzahl des Kerns unverändert, die Anzahl der Protonen wird jedoch um eine Einheit erhöht. Elektron und Antineutrino, das Antiteilchen eines Neutrinos, verlassen den Kern. Unter dem Begriff »Halbwertszeit« versteht man übrigens die Zeitspanne, in der von einer gegebenen Menge radioaktiver Kerne gerade die Hälfte zerfällt. Nach Ablauf von zwei Halbwertszeiten sind demnach von einer bestimmten Anzahl Kerne bereits drei Viertel zerfallen. Auch U235 kann durch Neutronenbeschuss in Neptunium umgewandelt werden. Dazu sind jedoch zwei Neutronen nötig. Mit dem ersten wird ein U236-Zwischenkern gebildet, das zweite lässt aus U236 das Uranisotop U237 entstehen, das nach einer Halbwertszeit von fast sieben Tagen zu Neptunium zerfällt. Das so gewonnene Neptuniumisotop besitzt zwei Neutronen weniger als das, welches bei einem Beschuss von U238 entsteht.

Ungleich häufiger wird jedoch der U235-Kern schon durch das erste Neutron gespalten. Durch den Einfang des Neutrons entsteht zunächst ein hoch angeregter, instabiler U236-Zwischenkern, der nur sehr kurze Zeit Bestand hat. Bereits nach einer Hundertbillionstelsekunde gibt er seine Anregungsenergie durch die Aufspaltung in zwei mittelschwere Kerne wieder ab. Je nachdem, in welche Spaltprodukte der U236-Kern zerfällt, werden dabei noch zwei oder drei schnelle Neutronen frei. Gegenwärtig sind über 250 mögliche Spaltprodukte bekannt, in die der U236-Kern zerfallen kann. In der einschlägigen Literatur wird als Beispiel meist die Spaltung in einen Krypton- und einen Bariumkern aufgeführt. Könnte man die beiden Bruchstücke und den noch »unversehrten« U235-Kern wiegen, so erhielte man ein überraschendes Ergebnis: Die beiden Spaltprodukte sind zusammen deutlich leichter als der Ausgangskern plus dem Neutron, das die Spaltung ausgelöst hat. Ein Teil der ursprünglichen Kernmasse muss demnach in Energie umgewandelt worden sein! Dass Masse und Energie einander äquivalent sind, hat uns Einstein mit seiner berühmten Gleichung E=mc2 beigebracht. Doch wo zeigt sich diese Energie? Zu etwa 90 Prozent steckt sie in der Bewegungsenergie der mit hoher Geschwindigkeit auseinanderfliegenden Bruchstücke, die restlichen 10 Prozent tragen Gammaquanten davon.

Dass die Bruchstücke auseinanderfliegen, liegt an den Protonen der Spaltprodukte. Protonen tragen eine elektrisch positive Ladung – und gleichnamige Ladungen stoßen sich ab. Demnach sollte der U235-Kern mit seinen 92 Protonen eigentlich sofort auseinanderbrechen. Dass das nicht der Fall ist, ist der starken Kernkraft zu verdanken. Im U235-Kern sind die Kernbausteine so dicht gepackt, dass sie die Protonen gegen die abstoßende elektromagnetische Kraft zusammenhalten können. Doch die starke Kernkraft kann ihre Wirkung nur über extrem kurze Entfernungen entfalten, über die Abmessungen eines Atomkerns reicht sie nicht hinaus. Ist der U235-Kern erst mal in zwei Bruchstücke aufgetrennt, so überwiegt die elektromagnetische Kraft und treibt die beiden positiv geladenen Spaltprodukte vehement auseinander. Durch Stöße mit benachbarten Atomen oder Molekülen übertragen sie ihre Bewegungsenergie an die umgebende Materie und heizen sie auf. Die Kernspaltung von einem Kilogramm U235 setzt eine Energiemenge von rund 23000 Megawattstunden frei. Das ist so viel, wie das leistungsstärkste Kernkraftwerk Isar II in Essenbach in rund 15 Stunden an elektrischer Energie erzeugt. Man könnte damit ganz Deutschland für 20 Minuten mit elektrischem Strom versorgen.

Prinzipiell können die Neutronen, die bei einer Spaltung freigesetzt werden, eine Kettenreaktion auslösen. Angenommen, bei jedem Spaltvorgang werden zwei Neutronen frei, so können damit zwei weitere Kerne gespalten werden, wobei vier Neutronen frei werden. Die spalten dann wiederum vier Kerne und bringen acht neue Neutronen hervor. Rein rechnerisch verdoppelt sich bei jedem Schritt die Anzahl der freien Neutronen und damit die Zahl der Spaltprozesse. Auf diese Weise pflanzt sich die Kernspaltung lawinenartig fort und ist nicht mehr zu bremsen, bis letztendlich keine spaltbaren Kerne mehr vorhanden sind.

Doch so problemlos wie geschildert geht das nicht vonstatten. Denn so, wie die Neutronen entstehen, sind sie nicht in der Lage, den U235-Kern zu spalten. Mit einer mittleren Energie von etwa 10 Millionen Elektronenvolt (10 MeV), was einer Geschwindigkeit von etwas mehr als einem Zehntel der Lichtgeschwindigkeit entspricht, sind sie zu schnell, um von einem U235-Kern eingefangen zu werden. Wie schon erwähnt, sinkt der Wirkungsquerschnitt mit wachsender Neutronenenergie. Von rund 600 barn für langsame Neutronen reduziert er sich auf etwa 1 barn für 10-MeV-Elektronen. Die Neutronen müssen daher zunächst mithilfe eines sogenannten Moderators abgebremst werden. Treffen die Neutronen auf die Atome beziehungsweise Moleküle der Moderatormaterie, so geben sie bei jedem Zusammenstoß einen Teil ihrer Bewegungsenergie an die Bausteine des Moderators ab. Physiker sagen dazu: Die Neutronen werden an den Atomen beziehungsweise Molekülen des Moderators gestreut. Auf diese Weise werden die Neutronen bei jedem Stoß langsamer, bis sie schließlich auf eine Geschwindigkeit abgebremst sind, die vergleichbar ist mit derjenigen der Moderatoratome. Die Geschwindigkeit der Moderatorbausteine wiederum wird bestimmt durch die Temperatur: Je höher diese ist, desto höher ist die thermische Energie, das heißt, desto schneller bewegen sich beispielsweise die H2O-Moleküle im Wasser beziehungsweise schwingen die Atome im Gitter eines Metalls hin und her. Eine Temperatur von 27 Grad Celsius entspricht einem thermischen Niveau von 0,025 Elektronenvolt (eV). Neutronen, die durch Stöße auf ein vergleichbares Niveau »abgekühlt« wurden, bezeichnet man daher auch als »thermische« Neutronen. Ihre Geschwindigkeit beträgt nur noch wenige Kilometer pro Sekunde.

Ein guter Moderator muss zwei Voraussetzungen erfüllen. Zum einen sollten seine Atome eine der Neutronenmasse ähnliche Masse besitzen, da beim Stoß zweier Körper gleicher Masse Bewegungsenergie am effizientesten übertragen wird. Zum anderen sollten die Moderatoratome möglichst keine Neutronen einfangen, da diese ansonsten für weitere Spaltprozesse verloren wären. Mit anderen Worten: Der Einfangquerschnitt für Neutronen muss so klein wie möglich sein. Wasser und Graphit erfüllen diese Bedingungen hinreichend gut, weshalb sie auch in modernen Kernreaktoren als Moderatoren Verwendung finden.

Sind damit alle Voraussetzungen für eine Kettenreaktion gegeben? Nicht ganz! Würde man wenige Kilogramm Natururan zusammenpacken, so täte sich gar nichts. Auch zusammen mit einem entsprechenden Moderator käme keine Kettenreaktion in Gang. Zwar würden einige Kerne von herumgeisternden Neutronen gespalten, aber die dabei entstehenden und in alle Richtungen davonfliegenden »Spaltneutronen« würden den Uranklotz ohne weitere Reaktionen verlassen. Die U235-Kerne sind zu »dünn gesät«, als dass ausreichend viele getroffen würden. Die sogenannte Neutronenverlustrate wäre zu groß. Um eine Kettenreaktion auszulösen, muss eine Mindestmasse an spaltbarem Material angehäuft werden, die man auch als »kritische Masse« bezeichnet. Kritisch ist eine Masse spaltbaren Materials immer dann, wenn im Mittel genau eines der bei einem Spaltvorgang frei werdenden Neutronen eine weitere Kernspaltung auslöst, während die anderen ein oder zwei Neutronen entweder das Spaltmaterial verlassen oder von nicht spaltbaren Atomkernen absorbiert werden. Mit anderen Worten: Jede Neutronengeneration bringt genau gleich viele Neutronen wie die vorausgehende hervor. Wie groß die Masse zu sein hat, hängt von der Art und der Dichte des spaltbaren Materials ab, in welcher Form das Material vorliegt und ob beziehungsweise wie viele Neutronen absorbierende Substanzen darin enthalten sind. Am kleinsten wird die Masse, wenn das spaltbare Material in Kugelform angeordnet ist. Für Uran 235 beträgt die kritische Masse rund 49 Kilogramm. Da das in der Natur vorkommende Uran nur zu 0,7 Prozent aus U235 und zu 99,3 Prozent aus U238 besteht, benötigt man insgesamt 7000 Kilogramm Natururan, um die kritische Masse von 49 Kilogramm U235 zusammenzubekommen. In Kombination mit einem entsprechenden Moderator, der auch als Neutronenreflektor fungiert, lässt sich die kritische Masse jedoch deutlich verkleinern.

Ist in einer kritischen Masse erst einmal eine Kettenreaktion angelaufen, so erlischt sie nicht mehr. Andererseits beschleunigt sie sich auch nicht. Man sagt, die Reaktionsrate ist konstant. Wird jedoch durch Hinzufügen von weiterem spaltbaren Material die kritische Masse überschritten, die Masse also »überkritisch«, so gibt es kein Halten mehr; die Reaktionsrate steigt, die Kettenreaktion wächst im Bruchteil einer Sekunde lawinenartig an und ist nicht mehr zu beherrschen. In einem Kernreaktor wäre das der »GAU«, der größte anzunehmende Unfall. Doch so weit muss es nicht kommen. Gelingt es, in die überkritische Masse Substanzen mit einem hohen Absorptionsquerschnitt für Neutronen einzubringen, so werden der Kettenreaktion überschüssige Neutronen entzogen. Man kann dazu sogenannte Steuerstäbe mit einem hohen Anteil an Bor, Cadmium oder Gadolinium verwenden, die je nach Bedarf mehr oder weniger weit in das spaltbare Material hineingeschoben und wieder herausgezogen werden. Auf diese Weise lässt sich die Reaktionsrate beeinflussen.

Die erste von Menschenhand herbeigeführte kontrollierte Kettenreaktion gelang am 2. Dezember 1942. Gemeinsam mit einem Team von Physikern und Ingenieuren hatte der italienische Physiker Enrico Fermi an der Universität von Chicago in den Tagen zuvor einen ziemlich primitiven Kernreaktor aufgebaut. »Chicago Pile Number 1«, so der Name des Reaktors, bestand aus einer von Holzbalken gestützten, würfelförmigen Anordnung von etwas mehr als sechs Tonnen reinem Uranmetall und 34 Tonnen Uranoxid (Abb. 3). Dazwischen waren etwa 400 Tonnen an schwarzen Graphitklötzen aufgeschichtet, die als Moderator fungierten. Zur Kontrolle der Kernreaktion dienten in den Aufbau eingesteckte Cadmiumstäbe. Einige Stäbe waren durch ein Seil vor dem Hineinfallen gesichert. Falls die Kettenreaktion außer Kontrolle zu geraten drohte, so die Idee, sollte eine mit einer Axt »bewaffnete« Person das Seil durchtrennen und die Stäbe in den Reaktor fallen lassen. Auf eine Abschirmung gegen die bei der Kernspaltung frei werdende Gammastrahlung und auf eine Kühlung des gesamten Reaktors hatte man verzichtet.

Abb. 3: In dem unter Leitung des Physikers Enrico Fermi aufgebauten Kernreaktor »Chicago Pile Number 1« gelang im Dezember 1942 die erste von Menschenhand herbeigeführte kontrollierte atomare Kettenreaktion.

Nachdem man die Cadmiumstäbe über mehrere Stunden Zentimeter für Zentimeter herausgezogen hatte, war es schließlich so weit: Um 15.25 Uhr Chicagoer Ortszeit zeigten die Instrumente, dass im Uran des Reaktors eine stabile atomare Kettenreaktion ablief. Fermi entkorkte eine Flasche Chianti-wein, füllte Pappbecher, und die anwesenden Wissenschaftler tranken still auf den Erfolg. Nachträglich betrachtet war »Chicago Pile Number 1« ein ziemlich riskantes Unternehmen. Man vertraute völlig den Berechnungen Fermis. Wäre das Unternehmen schiefgegangen, wäre vermutlich eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der USA radioaktiv verseucht worden.

Heute, rund 70 Jahre später, werden Kernreaktoren weltweit zur Energieerzeugung eingesetzt. Heerscharen von Ingenieuren haben Typen wie Druckwasser-, Siedewasser-, Hochtemperatur- und Brutreaktoren entwickelt. Durch Verfahren zur Anreicherung von U235 in den Brennstäben konnte man die kritische Masse drastisch verkleinern. Die Reaktoren wurden immer leistungsfähiger, die technische Ausführung komplexer, die Sicherheitssysteme immer ausgefeilter. Und nicht zuletzt: Kernreaktoren stehen nicht im Verdacht, durch eine Erhöhung der Kohlendioxidkonzentration der Atmosphäre zum Klimawandel beizutragen. Kurzum, in den modernen »kerntechnischen Maschinen« steckt eine Menge physikalisches und technisches Know-how, auf das die Erbauer mit Recht stolz sind. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Nach wie vor ist die sichere Endlagerung der radioaktiven Abfälle ein ungelöstes Problem. Auch eine Freisetzung des radioaktiven Materials eines AKWs, sei es durch Gewalt von außen oder durch eine Kernschmelze im Inneren, würde bei Mensch und Natur enorme Schäden verursachen. Mag sein, dass der Bruch eines großen Staudammes ähnlich viele Menschenleben kosten würde. Doch nach dem Unglück könnte man umgehend mit den Aufräumarbeiten beginnen. Nach einem schwerwiegenden Unfall in einem AKW wären jedoch ganze Landstriche für Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte unbewohnbar.

Lässt man die Entwicklung von den Anfängen der Kernspaltung bis zu den heutigen Kernkraftwerken Revue passieren, könnte man zu der Auffassung gelangen, allein der menschliche Erfindergeist sei in der Lage, die nötigen Voraussetzungen für eine kontrollierte Kernspaltung zu schaffen und die technischen Klippen auf dem Wege dorthin zu umschiffen. Doch weit gefehlt! Vor rund 1,8 Milliarden Jahren hat uns die Natur in der heutigen Uranlagerstätte Oklo in Gabun, Westafrika, schon vorgemacht, wie man einen Kernreaktor baut. Fast ist man versucht zu sagen: Enrico Fermi ist nicht der Erfinder der Reaktortechnik, er hat lediglich die Natur nachgeahmt. Doch wie kam es zu dieser Entdeckung?

Vierzehn Jahre nach dem ersten von Fermi erfolgreich erprobten Kernreaktor machte sich der japanische Physiker Paul Kuroda Gedanken, ob es nicht auch Kernreaktoren geben könne, welche die Natur, vielleicht per Zufall, ohne menschliches Zutun »erbaut« hat. Anhand seiner Untersuchungen konnte er detaillierte Aussagen machen, in welchem Zeitabschnitt der Erdgeschichte die Voraussetzungen dafür besonders günstig waren, in welchem Verhältnis U235 zu U238 im Uranerz vorzuliegen hat, welche Mächtigkeit die erzhaltigen Schichten haben müssen und wie hoch deren Urangehalt sein muss. Sollte man ein Uranerz finden, in dem U235 in geringerer Konzentration als üblich vorliegt, so wäre das ein Hinweis, dass U235 durch Kernspaltungsprozesse verloren gegangen ist. Doch alle Uranerzproben, die man in den folgenden Jahren aus der ganzen Welt zusammengetragen hatte, enthielten U235 und U238 im vertrauten Verhältnis 0,7202 zu 99,2744. Die gleichen Werte findet man übrigens auch im Mondgestein und in Meteoriten, die die Erde getroffen haben.

Doch im Jahr 1972 änderte sich die Situation. In der Urananreicherungsanlage von Eurodif in Pierrelatte, Frankreich, hatte der Franzose Henri Bouzigues, ein Spezialist auf dem Gebiet der Massenspektroskopie – andere Quellen nennen den französischen Physiker Francis Perrin – aus der Oklo-Mine angeliefertes Uranerz genau untersucht. In diesen Proben betrug der Anteil von U235 anstelle von 0,7202 Prozent nur 0,7171 Prozent, rund 0,4 Prozent weniger als üblich. Vermutlich hätten die meisten Menschen diesem Ergebnis keine Bedeutung beigemessen – das sei doch Jacke wie Hose, Korinthenkackerei. Doch die Wissenschaftler ließ der Befund aufhorchen. Wieso war in den Oklo-Proben das Uranisotop U235 geringfügig abgereichert? War das vielleicht ein erster Hinweis, dass etwas von dem U235 durch Kernspaltungsprozesse verbraucht worden war?

Zunächst glaubte man nicht so recht an diese Möglichkeit. Es hätte ja sein können, dass bei Eurodif die Proben durch Uran, das schon mal in einem Reaktor als Brennstoff gedient hatte und daher einen geringeren Anteil an U235 enthielt, verunreinigt worden waren. Doch als man den Gehalt der Proben an U236 und U234 bestimmte, war dieses Argument schnell entkräftet. Denn U236 wird in Kernreaktoren erzeugt und hätte aufgrund seiner langen Halbwertszeit von 23 Millionen Jahren noch in größerer Menge in den verunreinigten Proben zu finden sein müssen. Und auch das Isotop U234 glänzte durch Abwesenheit, obwohl das in den heutigen Reaktoren verwendete Uran zunächst einen Anreicherungsprozess durchläuft, bei dem sich neben U235 auch der Anteil an U234 erhöht.

Die Zweifel an einem natürlichen Kernspaltungsreaktor waren jedoch schnell ausgeräumt, nachdem man die Uranmetall führenden Adern der Oklo-Mine näher untersucht hatte. Isotope von Elementen, wie sie als Ergebnis einer Kernspaltung entstehen, beispielsweise Thorium, waren überall reichlich zu finden. Dagegen zeigten sich die benachbarten Gesteinsschichten nahezu frei von diesen Spaltprodukten. Besonders überzeugend war eine Reihe von Neodymisotopen (Nd), nämlich die mit den Massenzahlen 142, 143, 144, 145, 146, 148 und 150. Alle sind stabil beziehungsweise haben eine Halbwertszeit von mehreren Billiarden Jahren. Das bedeutet, sie zerfallen praktisch nicht in andere Elemente. In der Natur kommen diese Isotope in einem ganz bestimmten Mengenverhältnis vor, wobei Nd142 mit 27,13 Prozent von allen den größten Anteil hat. Kennt man daher den Gehalt einer Probe an Nd142, so weiß man, welche Mengen an Nd143, Nd144 und so weiter die Probe enthält. In der Oklo-Mine waren die Verhältnisse jedoch regelrecht auf den Kopf gestellt. Der Gehalt an Nd142 war am geringsten, die Anteile der anderen Isotope waren überproportional hoch (Abb. 4). Sind diese unnatürlich großen Mengen auf Kernspaltungsprozesse zurückzuführen? Ein Blick auf die Nuklidkarte bestätigt den Verdacht. Bis auf das Isotop Nd142 stehen alle Isotope am Ende einer Reihe von Zerfallsreaktionen, die mit einem Isotop beginnen, einem Bariumisotop, das bei der Spaltung eines U235-Kerns entstanden ist. Mit anderen Worten: Ursache für die ungewöhnliche Anreicherung der Neodymisotope ist die Spaltung von U235-Atomen. Ausgenommen davon ist nur das Isotop Nd142, denn der Zerfall des Bariumisotops Ba142 setzt sich nicht bis zu Nd142 fort, sondern endet bereits bei Ce142, einem Isotop des Elements Cer. Zwar zerfällt auch Ce142 zu Nd142, da aber dessen Halbwertszeit rund 50 Billiarden Jahre beträgt, hat sich in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne von ca. 2 Milliarden Jahren praktisch nichts getan.

Abb. 4: Natürlicher prozentualer Anteil der Isotope des Elements Neodym im Vergleich zum Gehalt im Erz der Oklo-Mine.

Fazit: Der geringe Anteil von 0,7171 Prozent an U235 im Oklo-Erz muss als das Ergebnis einer nuklearen Kettenreaktion gesehen werden, die einst in der Oklo-Mine stattgefunden hat. Wie aber hat dieser natürliche Reaktor ausgesehen, und wie hat er funktioniert? Selbstverständlich hat sich die Natur keine Gedanken über den Aufbau des Reaktors gemacht. Was sich da vor etwa 2,5 Milliarden Jahren im Erdzeitalter des Proterozoikums zusammenzufügen begann, geschah zufällig und wird von den Geologen wie folgt erklärt: Zunächst lagerten sich in einem ehemaligen Flussdelta wässrige Sedimente ab. In Spuren vorhandenes Uran wurde durch den Einfluss von atmosphärischem Sauerstoff und Wasser zu einem an Uranoxid reichen Schlamm zusammengeschwemmt und den Ablagerungen beigemischt. Später ließen geologische Prozesse das gesamte Becken einige hundert Meter absinken, wobei die Sedimentschichten zu Sandstein verdichtet wurden. Weiteres Material überhäufte den »Aufbau« und schützte so die gesamte »Konstruktion« vor der Verwitterung. Kurz darauf hob sich der Granituntergrund einseitig und kippte das Gebilde um 45 Grad zur Seite. Die Schichten zerbrachen, Wasser drang in die Risse und formte in dem porösen Sandstein von feinen Kanälen durchzogene, fünf bis zwanzig Meter lange und bis zu zwei Meter breite, mit einem Anteil von etwa 50 Prozent an nahezu reinem Uranoxid angereicherte Lagen (Abb. 5).

Abb. 5: Eine der 16 Reaktionszonen des Oklo-Reaktors. Das gelblich erscheinende Gestein enthält Reste des ursprünglichen Uranoxids.

Damit waren die Voraussetzungen für nukleare Kettenreaktionen im Uran gegeben. Die Schichten waren dick genug, um nicht alle bei einer Kernspaltung frei werdenden Neutronen entkommen zu lassen, und das Wasser in den uranhaltigen, porösen Sandsteinlagen konnte als Moderator dienen. Jedoch: So hat es nicht funktioniert. Um in Natururan mit einer U235-Konzentration von 0,7202 Prozent eine Kettenreaktion zum Laufen zu bringen, ist eine spezielle Form von Wasser nötig, die man auch als »schweres Wasser« bezeichnet. Da dieses im Gegensatz zu normalem Wasser ein deutlich schlechterer Neutronenabsorber ist, stehen nach jeder Kernspaltung mehr Neutronen für weitere Spaltprozesse zur Verfügung. Chemisch unterscheidet sich schweres Wasser nicht von normalem, physikalisch besteht jedoch ein großer Unterschied. Während das normale Wassermolekül (H2O) aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen gebildet wird, setzt sich das Molekül des schweren Wassers (D2O) aus einem Sauerstoff- und zwei Deuteronen zusammen. Deuteronen sind Isotope des Wasserstoffs. Im Gegensatz zu dem aus nur einem Proton bestehenden Kern des Wasserstoffatoms sind die Atomkerne der Deuteronen aus einem Proton und einem Neutron zusammengesetzt und praktisch doppelt so schwer wie ein Wasserstoffatom. Da auf der Erde Wasserstoff rund 7000-mal häufiger anzutreffen ist als Deuterium, ist schweres Wasser ein vergleichsweise rarer »Stoff«. Zwar gelingt es heute, schweres Wasser mittels Elektrolyse anzureichern, als natürlicher Moderator in einem vorgeschichtlichen Reaktor kam es jedoch nicht infrage.

Mit einem Gehalt von 0,7202 Prozent U235 und normalem Wasser als Moderator wäre der »Reaktor« unterkritisch geblieben. Erst ab einem Anteil von mindestens 1 Prozent U235 am gesamten Uran kommt – auch mit normalem Wasser als Moderator – eine stabile Kettenreaktion in Gang. Doch woher das zusätzliche U235 nehmen? Wieder hilft ein Blick auf die Nuklidkarte. Uran 235 ist radioaktiv und zerfällt zu Thorium. Früher gab es also mehr U235 als heute. Kennt man die Halbwertszeiten von U235 (TH = 704 Millionen Jahre) und U238 (TH = 4468 Millionen Jahre), so kann man, ausgehend von den heutigen Werten, zurückrechnen, wann der Anteil an U235 1 Prozent betrug. Das war vor rund 400 Millionen Jahren. Noch früher, vor 1,8 Milliarden Jahren, betrug der Anteil an U235 sogar 3,1 Prozent. Beste Voraussetzungen also für eine nukleare Kettenreaktion. Fehlte nur noch das als Moderator dienende Wasser. Berechnungen haben ergeben, dass in das poröse Gestein etwa 6 Prozent Wasser eingesickert sein mussten, damit die entsprechende moderierende Wirkung einsetzen konnte. Damit waren im von der Natur errichteten »Oklo-Aufbau« alle Bedingungen für den Betrieb eines Kernreaktors erfüllt. Die Neutronen, die schließlich die ersten Kerne spalteten und die Kettenreaktion einleiteten, stammten entweder aus Zusammenstößen von Teilchen der kosmischen Strahlung mit den Molekülen der Atmosphäre, oder – wahrscheinlicher – sie wurden bei einem sich gelegentlich ereignenden spontanen Zerfall von U238, beispielsweise zu Xenon und Strontium, frei. Ein natürlicher Kernreaktor war entstanden.