ISBN: 978-3-95764-204-2
1. Auflage 2016, Altenau (Deutschland)
© 2016 Hallenberger Media GmbH, Altenau
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Alle Rechte vorbehalten.
Meiner Mutter
Bäume sind Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibt. Wir fällen sie und verwandeln sie in Papier, um unsere Leere festzuhalten.
Khalil Gibran, »Sand und Schaum«, 1926
Sie nahmen die Hochbahn. Die Trasse führte unten am Hafen entlang, vorbei an den Docks, Schleppern und Barkassen, verschwand unter der Erde und verlief dann ein Stück neben einem der vielen Kanäle. Sie kannte die Strecke. Ihr gefiel der Abschnitt, wo die Gleise auf Stelzen zwischen den Häusern hindurchglitten, großzügige Etagenhäuser mit reich geschmückten Jugendstilfassaden, die kaum beschädigt waren und eine Ahnung davon vermittelten, wie die Stadt vor dem Krieg ausgesehen hatte. Doch sie stiegen kurz davor aus. Die Haltestelle hieß Hoheluft und lag parallel zum Wasser. Ihr Begleiter sagte, nun seien sie gleich da. Auf der Treppe hinunter hatte sie das Gefühl, ihre Knie würden nachgeben. Sie griff instinktiv nach seinem Arm. Er zuckte zusammen und lächelte.
Es seien nur noch ein paar Schritte, sagte er. Sie mussten nach Norden, über den Kanal. Die Szenerie lag in frühes Abendlicht getaucht. Vierspuriges Kopfsteinpflaster, darauf die Bänder silbrig schimmernder Straßenbahngleise. Nun sah sie auch das zerbombte Areal, von dem er gesprochen hatte. Es war keine weitläufige Brache, nur zwei oder drei Fußballfelder groß. Kiesel kullerten ihr durch die Magengrube. Furcht und banges Hoffen.
Gleich würde sie den Fremden treffen, den Einsiedler, der ihren Mann angeblich gekannt hatte. Er war ihm damals in Polen begegnet, im Lager. Das wusste sie von dem Mann, der neben ihr ging.
Eigentlich hatte der sie nur bis an den Zug begleiten wollen. Dann standen sie auf dem Bahnsteig, und er druckste plötzlich herum, da sei etwas, das er ihr vor der Abreise noch sagen müsse. Er habe da etwas gehört, von einem ehemaligen Konzentrationär. Fraglich, ob es tatsächlich zutreffe, doch die Orts- und Zeitangaben stimmten überein. Dieser Mensch wisse Details, die bloß einer wissen könne, der den Betreffenden selbst gekannt habe.
Ihr Kopf schwirrte. Wenn das wahr war! Mein Gott, wenn das wirklich wahr war! Nach so langer Suche!
Er räusperte sich. Skeptischer Mund, spöttisch gekräuselte Lippen. Er wolle ihr keine falschen Hoffnungen machen. Angesichts der vielen Enttäuschungen. Seit damals. Seit dem Verrat. Seit zehn Jahren.
Es sind über zehn Jahre!, schrie es in ihr. Zehn Jahre, zwei Monate und dreizehn Tage. Jeden einzelnen davon habe ich gezählt.
Doch sie blieb stumm. Das Herz pochte ihr bis in den Hals. Die Vorstellung, dass der Fremde ihren Mann tatsächlich gekannt, er ihn atmen, reden, fluchen und lachen gehört hatte, verschlug ihr die Sprache.
Sie dachte sofort an seine Stimme. Das war das Erste gewesen, was sie an ihm bezaubert hatte. Diese Stimme, die in ihren Ohren wie Musik klang, die sie liebkoste, wenn er ihr Namen gab, sie neckte und umschmeichelte, ein ganzes Universum an Farben und Melodien.
Sie musste sofort hin. Es duldete keinen Aufschub. Sie hatten ihren Koffer zur Gepäckaufbewahrung gewuchtet. Später gehe ein anderer Zug. Sonst fahre sie eben morgen.
Jetzt sind sie beinahe da.
Die Abendluft ist kühl, schon mit einer Ahnung von Herbst darin. Sie spürt nichts davon. Ihr ist fast übel vor Nervosität. Der Hunger auf Gewissheit.
Ihr Begleiter erklärt gerade erneut, der Fremde sei wunderlich. Einer von denen, die bloß physisch der Hölle entronnen seien. Deren gequälter Geist bis heute im blassblau-grauweißen Häftlingsdrillich stecke. Ein Riese, kräftig wie ein Bär, mit verkrüppeltem Gemüt. »Nachts schreit er. Tagsüber prügelt er um sich.«
Sie zuckt die Achseln. Das schreckt sie nicht. Sie schreckt nur noch wenig.
»Er war im Krematorium«, sagt er und erzählt ihr, dass sie ihn gezwungen hätten, die nackten verkeilten Leichen aus den Gaskammern zu zerren und sie in die Öfen zu schieben. Das habe ihm einen »Knacks« verpasst. Nun lebe er wie ein Höhlenmensch. In einem Keller unter den Ruinen.
»Da kann er so laut schreien, wie er will.«
Ihre Schultern tanzen. Sie schaudert. »Wo?«, hört sie sich sagen.
»Gleich dort drüben muss es sein.« Er deutet auf die Trümmerlandschaft. »Zwischen Straßenbahndepot und Bunker. Wo früher der Schwarzmarkt war.«
Sie denkt an Zigarettenwährung und daran, dass es sie nicht interessiert, wo hier der Schwarzmarkt war. Momentan fiebert sie nur darauf, dem Höhlenmenschen gegenüberzutreten. Ihn selbst zu fragen. Und fleht, dass er klar genug sein wird, sich zu erinnern.
Zehn Jahre Selbstvorwürfe, fragen, warten, suchen, beten, hadern. Auch verzagen. Obschon sie nie wirklich verzweifelt ist. Sie hat immer gewusst, tief in ihrem Innersten, dass sie ihn eines Tages finden wird. So oder so. Sie wird ihm nahe sein. So nahe es eben geht, und sei es durch das Gedächtnis eines seiner Leidensgefährten. Nahe genug, um das zu tun, was sie sich und ihrer Liebe schuldet.
Sie hastet voraus, als ob sie den Weg kenne, so rasch, dass es dem Mann hinter ihr schwerfällt, Schritt zu halten.
Sie sind nach rechts geschwenkt, von der Straße ab auf einen Trampelpfad durch die Schuttberge. Vereinzelt stehen noch Mauerreste. Abgerissene Stahlträger ragen wie verstümmelte Finger ins Leere. Grotesk verzogene Rohrleichen, geborstene Ziegel, rot und weiß, in den Farben dieser Stadt. Kachelscherben, halbe Küchenwände, vom Regen zerwaschene Tapetenreste. Eine löwenfüßige Emaillebadewanne, die als versinkende Barke inmitten üppiger Grasbüschel treibt. Verkohltes Holz, Balkenstümpfe, ein zerquetschter Kinderwagen, Melden, Birkenschösslinge und Gestrüpp.
All das Leid, durchzuckt es sie. Sie denkt an die Menschen, die hier einst gelebt haben, geweint, gelacht, gestöhnt, geflüstert. Sie hasst sie nicht mehr. Bei Lichte besehen hat sie sie nie gehasst. Nicht die Frauen, Kinder und Säuglinge, nicht die Alten und die Krüppel. Sie hat die in Uniform bekämpft und einige davon getötet, doch eher so, wie man Raubtiere tötet. Oder tollwütige Hunde. Weil es sein muss. Gehasst hat sie andere. Die, die sich freiwillig auf die falsche Seite schlugen, die die Wahl hatten und sich selbst verrieten. Denen hat sie bis heute nicht verziehen.
Sie sind in der Mitte des Areals angelangt. Ihr Begleiter geht noch immer hinter ihr.
Sie seien da, sagt er. Er muss sich täuschen, denkt sie. Sie entdeckt den Fremden nirgendwo. Da ist nichts, das entfernt nach einer bewohnten Behausung aussieht. Doch als sie sich umdreht, begreift sie, auch den tieferen Sinn des Satzes, dass man sich vor seinen Wünschen hüten soll. Sie hat sich eine halbe Sekunde zu spät umgedreht. Sie wird ihrem Geliebten wirklich gleich sehr nahe sein. Ihr Begleiter trägt jetzt dünne glatte Lederhandschuhe. Es ist fein gegerbte Vorkriegsware vorzüglicher Qualität, allerdings weder der Ort noch die Zeit, um sich damit zu schmücken, und sie steht unterhalb von ihm, am Rand einer Grube, von wo es kein Entrinnen gibt.
So, genau so, haben sie es bei ihm auch gemacht. Wie absurd.
Das saugende Gluckern des Stechpaddels. Sonst kein Laut. Über den Wipfeln des Werders schwebte ein Milan. Honigfarbenes Licht leckte Dunstschleier aus dem Schilfsaum. Es war kurz vor sieben. Noch hielt sich ein Rest nächtlicher Kühle, doch es versprach heiß zu werden. Immerhin hatten sich bei Sonnenaufgang zum ersten Mal seit Wochen wieder fleckige rosa Streifen am Horizont gezeigt.
Seit wir aufs Land gezogen sind, gehe ich nach dem Wachwerden oft ans Wasser. Manchmal, wenn Conny noch schläft, schnappe ich mir unsere Tochter und den Hund, radele zum Steg und mache das alte Kanu klar, das wir zusammen mit dem Haus übernommen haben. Gewöhnlich springt Bruno vorn ins Boot. Anna setze ich an die Mittelstrebe, wo ich sie packen kann, falls sie über Bord zu gehen droht. Sie ist etwas über ein Jahr alt und kletterfreudig wie eine Meerkatze. Laut Geburtsurkunde heißt sie wie der Engel, der Conny geholfen hat, sie auf die Welt zu bringen, aber wir sind dazu übergegangen, das sperrige »Angelika« zu kürzen, und bei »Anna« gelandet.
In der Frühe gehört der See den Möwen, Reihern und Enten. Vor sieben ist höchstens der Fischer unterwegs. Außer gelegentlichen Autos auf der Straße nach Ratzeburg hört man bloß Vogelzwitschern und Stille. Die Natur scheint intakt. Jung. Unberührt. Uralt. Voll Frieden.
Dann kommt der Tag.
»Hoffentlich habe ich die richtige Nummer. Spreche ich mit Jacob Fabian?«
Sie besaß eine angenehme Stimme. Lupenreines Hochdeutsch. Bühnentauglich. Ich fragte, wer sie sei.
»Mein Name ist Valerie Weiden. Ich bin die Frau von Walther Weiden.«
»Dem Schriftsteller?«
»Ja.«
Sie klang nervös und viel zu jung, um seine Frau zu sein. Wenn er es wirklich war. Aber so wahnsinnig viele Schriftsteller, die Walther Weiden hießen, konnte es eigentlich nicht geben.
»Herr Dr. Voss hat Sie mir empfohlen.«
Dr. Voss war ein grauhaariger Anwalt aus Hamburg-Eppendorf, der mir schon mehrere Aufträge besorgt hatte. Keine üble Referenz. Nur hätte er selbst anrufen müssen.
»Verzeihen Sie«, beeilte sie sich. »Im Büro läuft bloß die Ansage, und da die Sache wirklich eilt ...«
»Schon gut.«
Wir sind ein Zweimannbetrieb. Mein Partner Axel kümmert sich ums Büro. Das befindet sich im Parterre einer Zweizimmerwohnung unweit der Hamburger Sternschanze. Axel hatte sich gerade einer Hüftoperation unterzogen und war in einem Rehazentrum bei Sankt Peter-Ording. Da ich nun nicht mehr drei Treppen über ihm wohnte, sondern siebzig Kilometer nach Westen reisen musste, um seine vereinsamten Computer zu bewachen, hatten wir beschlossen, dem Büro Betriebsferien zu gönnen.
»Worum geht's?«
»Könnten Sie sich drei oder vier Tage freinehmen?«
Eigentlich hatte ich andere Pläne. Conny war mit Anna für ein verlängertes Wochenende zu ihrer Freundin Carmen nach Berlin gefahren. Ich wollte mich dem Schuppendach widmen, das um frische Schweißbahnen bettelte. Anschließend gedachte ich den Damen in die Hauptstadt zu folgen. Aber ich war neugierig. Immerhin ging es um Walther Weiden, denselben Weiden, der mich früher so beeindruckt hatte. Außerdem schwammen wir nicht in Geld. Der Schuppen konnte warten. Berlin auch.
»Ab wann?«
»Möglichst sofort. Sprechen Sie Französisch?«
»Mein Englisch ist besser.«
»Est-ce que vous pourriez imaginer de faire des recherches en France?«
»Vorstellen kann ich mir eine Menge. Was soll ich denn recherchieren?«
»Das erkläre ich Ihnen lieber persönlich. Haben Sie Zeit?«
»Zunächst wüsste ich gern, wofür.«
»Sie sollen nach Aix-en-Provence und dort etwas überprüfen.«
»Was konkret?«
»Können Sie nicht bei uns vorbeikommen?«, drängte sie. »Wir wohnen in Güster.«
Mein Wandapparat ist antik. Ein schwarzer Kasten mit vernickelter Wählscheibe und zwei Glocken obendrauf. Er klingelt markerschütternd, aber er liest die Nummer des Anrufers nicht aus. Ich hatte Weiden anderswo gewähnt. In einer exotischen Metropole wie Genf, Florenz oder München. Stattdessen lebte er mitten im verträumten Ostholstein, keine zwanzig Kilometer entfernt.
»Jetzt gleich?«
»Bitte. Es ist dringend. Obwohl Weiden Ihnen sicher erklären wird, das sei es nicht. Er will sich nichts anmerken lassen, aber die Sache nimmt ihn fürchterlich mit.«
Unter ihrer säuberlich sortierten Stimme pochte Panik. Ich fragte mich, wie alt sie wohl war. Am Telefon lässt sich das schlecht schätzen. Manche klingen mit fünfzig noch wie dreißig, andere so alt, wie sie nie mehr werden.
Ich nannte ihr meine Konsultationspauschale.
»Bei Abschluss wird die Summe angerechnet. Arbeite ich ausschließlich für Sie, koste ich sechshundert pro Tag, zuzüglich Spesen und Mehrwertsteuer.«
Seit Axel und ich eine offizielle Detektei sind, haben wir feste Sätze. Früher war das anders. Da gab es Conny und Anna auch noch nicht.
»In Ordnung.«
»Wo finde ich Sie?«
»Wir wohnen direkt am Elbe-Lübeck-Kanal.«
Sie beschrieb mir den Weg ab der neuen Kanalbrücke. Ich versprach, in einer Stunde bei ihr zu sein.
Als ich Weiden das erste und bisher einzige Mal erlebt hatte, war er um die fünfzig gewesen. Obwohl das Jahrzehnte zurücklag, hatte ich die Szene sofort wieder präsent: eine Kundgebung in Hamburg, an einem kühlen grauen Herbsttag. Auf den Straßen drängen sich Tausende, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu protestieren.
Weidens Auftritt ist ein Höhepunkt. Er gilt als kontrovers, ist ein ätzender Kontrast zu dem vor Betroffenheit triefenden Dichterzwerg aus England, der der Menge eben noch lustvoll das Grauen des Atomtods ausgemalt hat.
Weiden überragt alle, die neben ihm auf der Tribüne stehen, auch intellektuell. Er ist brillant, bissig und böse. Zu böse für den Geschmack der meisten. Sein Wortwitz kommt nicht an. Als er Angst als falsches moralisches Prinzip entlarvt und das Politbüro mit den Planern aus dem Pentagon vergleicht, buht man ihn aus. Auf seinen Nachsatz, dass SS‑20-Raketen genauso human töten wie Pershings, ertrinkt die Adenauerallee in einer Pfeiforgie. Er will weiterreden, da zerplatzt ein lila Farbei auf seinem Jackett, und die verstört dreinblickenden Veranstalter zerren ihn vom Mikrofon fort.
Ich ging an den Computer und befragte das Internet. Es gab mehr Links zu Weiden, als ich in Wochen hätte anklicken können. Er war nicht nur Erfolgsautor, sondern hatte früh und hart an seinem Ruf als literarisches Enfant terrible gearbeitet, viel getrunken, Rezensenten beleidigt und Journalisten verhauen.
Ich überflog die Eckdaten. Geboren war er 1928 in Berlin, hatte Schriftsetzer gelernt und war anschließend zur See gefahren. Nach längerem Aufenthalt in Lateinamerika brachte er Anfang der Fünfziger Erzählungen über Chile heraus, die Kritiker an B. Traven erinnerten. Trotz der Lorbeeren hatte er sich danach lange nur mit Reportagen, Serien für Zeitschriften und Drehbüchern über Wasser halten können. Dann gelang ihm mit den »Blüten der Pandora« der große Wurf. Der Roman spielte in Marseille am Vorabend des Krieges. Die Hauptfiguren, der vertriebene Schriftsteller Benjamin Momm und die Sängerin Nathalie, kämpfen um ihre Liebe. Das Buch wurde auf Anhieb zum Bestseller und war Weidens Durchbruch.
Seine späteren Romane gingen ausgezeichnet. Obwohl man ihm vorwarf, künstlerisch zu verflachen und nur noch Unterhaltung zu produzieren, erzielte er phantastische Auflagen und wurde sogar in Hollywood verfilmt. Ab Ende der Achtziger war es ruhiger um ihn geworden. Doch auch seine bisher letzte Erzählung hatte es noch in die Bestsellerlisten geschafft. Vielleicht lag das an Weidens Verleger. Seit dem Erfolg der »Blüten« hatte er den nie mehr gewechselt. Alle Erstausgaben waren bei Dörling in Hamburg erschienen.
Weidens dritte Gattin hieß Valerie und war bis zu ihrer Heirat vor sieben Jahren Lektorin beim Berlin Verlag gewesen. Sonst gab die Suchmaschine nichts über sie her.
Bevor ich losfuhr, rief ich in Berlin an. Conny hatte ihr Handy auf Briefkasten geschaltet, und bei Carmen meldete sich nur der Anrufbeantworter. Das Thermometer an unserem Küchenfenster zeigt sowohl Reaumur als auch Celsius an. Es waren fünfundzwanzig respektive etwas über zweiunddreißig Grad. Conny hatte meinen alten Lada genommen und mir den ähnlich betagten Volvo-Kombi dagelassen, den wir bei Ebay ersteigert hatten, weil der 745er sich besser zum Transportieren von Brettern und Dachpappe eignete. Obwohl der Kombi außerhalb der Sonne unterm Apfelbaum geparkt war, klebte mir das Hemd nach dem Einsteigen sofort am Rücken. Ich setzte Bruno beim Löschteich hinter der Scheune des Nachbarn ab, wo sich dessen Bernersenn aalte, und fuhr über Seedorf und Hollenbek Richtung Gudow.
Die Straße schwang sich in sanften Bögen vorbei an sattgelben Weizenfeldern und jungem Mais. Hinter Gudow kamen die Ausläufer des Grambeker Forsts. Das Asphaltband glitt durch blau gefleckte Schatten. Zwischen Kiefernstämmen schimmerte der Gudower See, was mir vorübergehend die Illusion eines milderen Mikroklimas bescherte. Hier zu leben fühlte sich noch wie Urlaub an.
Conny arbeitete seit vier Monaten wieder am Mittelweg. Annas Krippe lag in St. Georg, auf unserer Route in die Stadt. Anfangs hatte Conny die Entfernung geschreckt, weil man nach Hamburg fast eine Stunde brauchte und wir selten zusammen fahren konnten. Kürzlich hatte sie allerdings entdeckt, dass es im Kloster Zarrentin eine kleine Bibliothek gab, die auch Hörbücher verlieh.
Vor einem Dreivierteljahr hatten wir noch an der Schanze gewohnt. Zu dritt wurde es uns dort allerdings zu eng. Vermutlich hätten wir uns arrangiert oder im Viertel etwas gesucht, um in Axels Nähe zu bleiben. Aber als Konrad uns sein Haus anbot, erklärte Axel, er sei schon groß und komme bestens ohne uns klar. Wenn wir wirklich aufs Land wollten, sollten wir gefälligst zuschlagen.
Konrad Watolla war unverheiratet und kinderlos, ein schnurriger Glasermeister aus Schlesien, der als Junge im eingeschlossenen Breslau gehockt hatte und auf dem Umweg über Bayern im Norden gelandet war. Vor Jahren hatten Axel und ich ihm geholfen, seinen Betrieb zu retten, und den betrügerischen Bankrotteur, der Watollas Firma in den Abgrund zu reißen drohte, dazu gebracht, seinen umfangreichen Verpflichtungen nachzukommen. Wir gingen damals nicht völlig legal vor, doch so, dass Konrad am Ende sämtliche Außenstände und Verzugszinsen kassierte. Seitdem hatte er einen Narren an uns gefressen.
Er lud uns häufiger in sein Häuschen auf dem Land ein, wo er die Wochenenden zu verbringen pflegte. Das lag am Schaalsee, nicht weit von der Grenze nach Mecklenburg. Ein efeuüberwucherter Backsteinbau mit verwildertem Mirabellen, Pflaumen und knorrigen Apfelbäumen drum herum. Als ich Conny das erste Mal zu ihm mitnahm, lachte die Frühherbstsonne und die Holunderbüsche ächzten unterm Gewicht der Beeren. Sie jauchzte verzückt auf, woraufhin Konrad wortlos in die Küche schlurfte und ihr eine Gartenschere holte.
Von da an fuhren wir öfter. Gelegentlich blieben wir auch über Nacht. Letzten Sommer, Anna war keine acht Wochen alt, saßen wir abends satt und zufrieden bei ihm im Hof vor seinem Freikamin. Da fragte er Conny plötzlich, ob sie sich vorstellen könne, auf dem Land zu leben.
Sie seufzte wohlig: »Wenn es da so ist wie bei dir, sofort.«
Er streifte sich über das schlecht rasierte Kinn. »Würdest du denn hier wohnen wollen?«
Sie stutzte. »Wieso?«
»Ich breche meine Zelte ab.«
»Wie bitte?«
Konrad liebte den Ort, kannte die Halbinsel des Werders wie seine Westentasche, war ständig mit dem Kanu auf dem See und bastelte beim benachbarten Bauern an alten Traktoren. Nun strich er sich das volle schlohweiße Haar zurück. Sein Blick blieb auf der Glut haften. »Hier muss eine Familie rein. Kinder, die Leben in die Bude bringen.«
»Ich dachte, du wolltest dich hier zur Ruhe setzen?«
»Daraus wird wohl nichts mehr. Meine Tumormarker sind wieder hochgegangen. Ohne Chemo geben mir die Ärzte maximal ein halbes Jahr.« Er sah auf. Sein knochiges Gesicht wirkte müde. »Ich hab geschworen, mir das nie wieder anzutun.«
Dann sprach er über den Tod und das Sterben. Er wolle sich an nichts klammern, sondern die Zeit nutzen, um seine Dinge zu ordnen. Das Leben sei gut zu ihm gewesen. Wenn er jetzt gehen müsse, sei das eben so. Er hoffe nur, es gehe ohne allzu große Quälerei ab.
Anschließend machte er uns einen Vorschlag. Als Conny rot wurde und sagte, das könnten wir beim besten Willen nicht annehmen, meinte er bloß, dass das Haus ohne Axel und mich längst der Bank gehören würde und er sich beim notariellen Verkauf ein lebenslanges Wohnrecht vorbehalte, nur für den Fall, dass die Ärzte sich täuschten.
»Vererben ist zu teuer, weil der Staat alles abgreift. Und es macht mehr Spaß, mit der warmen Hand zu geben. Dass hier keine Fremden einziehen, erleichtert mir den Abschied.« Er bleckte die Zähne. »Zumal ihr bei jeder Macke in dieser Bruchbude an mich denken werdet.«
Wir überlegten drei Tage, dann sagten wir zu. Konrad wollte unseren Einzug noch feiern, was auch gelang, obwohl er bereits im Rollstuhl saß. Wir warfen den Grill an und packten Forellen auf den Rost. Hinterher schoben wir Konrad an seine Lieblingsstelle auf dem Werder, von wo aus man auf die andere Seite des Sees zwischen Dargow und Lassahn sieht. Er sagte, er wolle sich von den Wildgänsen verabschieden. Doch es kamen auch die Graureiher, Haubentaucher und Enten. Sogar ein Fischadler ließ sich blicken. Wir lachten und heulten, und trotzdem war alles gut.
Vier Wochen später war er tot. Chemotherapie blieb ihm erspart, doch gegen Ende ging es nicht ohne Morphium. Wir beerdigten ihn an einem sonnigen Novembertag unter strahlend blauem Himmel.
Konrad wollte nicht in Hamburg begraben werden, sondern in Seedorf. Der Friedhof ist klein und liegt leicht erhöht um die Kirche herum. Von dort hat man einen schönen Blick aufs Wasser.
Ich unterquerte die Autobahn, bog rechts nach Göttin ab und rollte fünf Minuten später über die neue Kanalbrücke am östlichen Ende von Güster. Die alte bestand aus Eichenbohlen und war einspurig. Die neue ist doppelt so breit und geteert. Dafür sind die Stahlträger jetzt in geschmackvollem Türkis gehalten.
Weidens wohnten außerhalb des Orts, unweit der Kiesgruben. Sie hatte mir die Strecke so gut beschrieben, dass ich die Zufahrt über den schmalen Feldweg auf Anhieb fand. Linker Hand standen hohe Pappeln, rechts war eine Koppel mit zwei Haflingern und einer Hannoveraner Stute. Als ich auf den Hof einbog, zog sich der Himmel im Westen zu.
Violette Stockrosen, rumpeliges Kopfsteinpflaster, eine windschiefe, wettergebleichte Scheune, zwei kleine Holzschuppen und ein Bauernhaus aus Lehmfachwerk, berankt mit wildem Wein und rosa Klematis. Bellen ertönte. Ein struppiger Afghanischer Hirtenhund kam auf mich zu und beschnupperte ausgiebig meine Hose. Hinter ihm tauchte eine schlanke, hochgewachsene Frau auf, die ihn zur Ordnung rief und sich als Valerie Weiden vorstellte. Ihr Händedruck war überraschend fest und die Hand im Gegensatz zu meiner völlig unverschwitzt. Ich schätzte sie auf höchstens vierzig. Äußerlich erinnerte sie an die kühle Blonde, die sonntagabends im Ersten gelegentlich die Kommissarin gibt. Grau-grün changierende Augen, klar geschnittene, aparte Züge mit ebendem Hauch rosiger Färbung in der noblen Blässe, den die pastorale Idylle abwirft. Ich konnte sie mir sofort auf dem Rücken eines Pferdes vorstellen.
»Weiden kommt gleich. Er braucht immer, um sich von seinem Text zu lösen.«
Sie nannte ihren Mann anscheinend prinzipiell beim Nachnamen, ähnlich wie Brechts Frauen, die zu dem Genie auch nie Bertolt gesagten hatten, sondern immer nur Brecht.
Ich folgte ihr ins Haus. Das Stalltor an der Stirnseite war durch zwei großzügige Glasflügel ersetzt worden und die Tenne in eine Art Wohnsaal verwandelt, der nur deshalb nicht überdimensioniert wirkte, weil man Teile der Trennwände zu den Viehboxen stehen gelassen hatte und massige Deckenbalken die Weitläufigkeit dämpften. Der Raum war angenehm temperiert. Die Einrichtung verriet Geschmack. Eine gelungene Mischung aus antikem und modernem Design. Unter einer bunten vollbusigen Hühnergöttin von Schröder-Sonnenstern, die auf weiß gekalktem Putz prangte, stand ein breites Ledersofa. Davor hockten ein lang gestreckter, flacher Eichentisch und ein Halbkreis niedriger Sessel.
Valerie Weiden holte aus einem barocken Bauernschränkchen Gläser. Sie versorgte uns mit Wasser, nahm auf dem Sofa Platz und eröffnete mir, ihr Mann werde erpresst.
»Das hier kam vor zwei Tagen mit der Post.«
Sie schlug die langen Beine übereinander, griff neben das Sofa und förderte einen braunen Umschlag zutage, zog einen Stapel Fotokopien heraus und schob ihn mir über den Tisch zu. Sie besaß schlanke, wohlgeformte Hände und trug ziemlich teures Parfüm.
Ein Text. Offenbar literarisch. Eine Erzählung oder ein Roman. Fortlaufend nummeriert. Altertümliche Schrifttype. Keine Umlaute und kein scharfes S. Kaum leserliche Randnotizen, durchgestrichene Wörter, Handschriftliches eingefügt.
»Was ist das?«
»Eines der hinteren Kapitel aus den ›Blüten der Pandora‹.«
Meine Augen überflogen die ersten Seiten des Konvoluts.
»Er steht am alten Hafen, sieht nach Sueden, ins malvenfarbene Blau der Daemmerung, schmeckt das Salz, das ihm fast so auf den Lippen brennt wie ihr letzter Kuss. In den Duft des Meeres mengt sich der Geruch von Diesel und totem Fisch. Jeden Morgen, den der Herrgott werden laesst, stehen sie hier, die Fischer mit ihrem Fang, den sie irgendwo da draussen, weit draussen hinter dem Château d'If aus der See geholt haben, tagein, tagaus, braun gebrannte Maenner mit harten, schwieligen Haenden und sehnigen Armen, verkaufen Tintenfische und Meerwoelfe, Sardinen, Makrelen und Thun. Dann brodelt der Quai, stramme, lachende Frauen feilschen, schaekern, noergeln, hoekern, scherzen. Ein Bild wie im Frieden, das Lebensfreude und Gleichmut atmet, ein Vertrauen auf die Ordnung der Dinge, das er vor Jahren schon verloren hat.
Es ist die Zufriedenheit der Beheimateten, derer, die bleiben duerfen, die ein Recht haben, hier zu sein, die keine Aufenthaltserlaubnisse, Entlassungsscheine, Permis de Sortie brauchen, nicht staendig nachweisen muessen, dass sie nur auf Durchreise sind, ihr Visum beantragt haben und nun auf die Transits warten, fuer Spanien, Portugal oder die Vereinigten Staaten, die ihre Tage nicht vertroedeln beim Schlangestehen vor Konsulaten oder irgendwelchen Hilfskomitees, als kleiner Teil der grossen Flut der Fluechtlinge, die hier hingespuelt wurde, an den Rand Europas, aus den franzoesischen Internierungslagern, aus Deutschland, Spanien, Holland und Oesterreich, die grosse, prachtvolle, triste Canebière hinunter, als Menschenmuell des Krieges.
Nadine ist eine von ihnen. Keine wie er. Sie ist Franzoesin. Sie darf bleiben. Er ist hier fremd, kommt aus dem Land des Feindes, und es ist vollkommen egal, dass dieses Land ihn vor langer Zeit ausgebuergert hat und sein Pass nichts mehr wert ist. Fuer ihn ist hier kein Platz. Er ist heimatlos. Deshalb ist fuer ihre Liebe kein Platz, denn eine Liebe ohne Hoffnung ist ein Fluch.
Er ist es leid. Das zermuerbende Warten, die wahnwitzigen Geruechte, das sinnlose Anklammern an den schwindenden Glauben, es gaebe noch einen Ausweg. Den Dampfer nach Martinique, die Passage nach Kuba. Nein, er wird nicht hier ausharren, bis die in den graugruenen Uniformen dem Spuk von Vichy ein Ende machen, in den Sueden vorruecken und ihn holen. Er wird gehen, solange er noch die Kraft dazu hat. Allein. Nadine ist stark genug, ohne ihn zurechtzukommen. Sie weiss es bloss nicht. Er nimmt ihr die Entscheidung ab.
Der Quai des Belges liegt da wie leer gefegt. Nur eine Handvoll einsamer Figuren. Als gaebe es an diesem Abend keine Flaneure, keine haendchenhaltenden Paare, keine Clochards und auch keine mueden, ruhelosen Réfugiés. Die Sonne ist schon hinter dem Fort Saint-Nicolas versunken. Ihn froestelt. Die Masten der Boote recken sich in das sterbende Ocker der Fassaden jahrhundertealter Haeuser. Sie winken ihm zu. So winkten sie auch frueher, in einer anderen Zeit, in dem anderen Land, als das noch seines war, das er liebte, ohne es zu wissen, weil er sich als Junge nur danach sehnte, auf dem grossen Fluss hinauszufahren und andere Horizonte zu entdecken.
Er hat genug gesehen. Genug, um seine letzte Neugierde in Ekel zu verwandeln. Es wird Zeit. Gerade legt die Faehre ab, quer durch das Hafenbecken. Er wird zu der Stelle hinter dem Fort gehen, zu den hellen Felsen suedlich der Kathedrale, wo die Kinder nachmittags nach Muscheln suchen. Dort ist die Stroemung stark genug. Er wird hinausschwimmen. Richtung Afrika. Bis die gnaedige Gleichgueltigkeit des Meeres ihn in sich aufnimmt.
Er reisst sich los, will zum Panier, da sieht er eine einzelne Gestalt. Sie ist schlank und sie traegt Nadines Kleid. Sie bewegt sich wie Nadine. Jetzt winkt sie, beginnt zu laufen, direkt auf ihn zu, rutscht auf dem Pflaster aus und stuerzt, rafft sich wieder auf. Ruft seinen Namen. Es ist ihre Stimme, aber er kann es trotzdem nicht fassen. Nadine ist in der Fabrik. Er hat sie selbst vorhin bis ans Tor begleitet, sich von ihr verabschiedet. Er steht starr, wie gelaehmt, da faellt sie ihm auch schon wie eine Ertrinkende um den Hals, schluchzend vor Erleichterung, und uebersaet sein Gesicht mit Kuessen ...«
Ich brach ab und legte die Blätter zurück auf den Stapel.
»Klingt dramatisch.«
»Sie kennen den Roman?«
Ich schüttelte den Kopf. »Möglicherweise ein Fehler.«
Sie lächelte knapp und wurde wieder ernst. »In Weidens Buch heißen die Protagonisten anders, und er verwendet weniger Adjektive, ansonsten ist der Wortlaut derselbe.«
»Ja und?«
»Die Erstauflage erschien 1957 bei Dörling. Dieser Text«, sie deutete auf die Fotokopien, »entstand angeblich bereits 1940 ...« Ihr wohlgeformter Mund wurde zu einer schmalen Linie. »Vor Ihnen liegt eine Fälschung, die den Eindruck erwecken soll, die ›Blüten‹ stammten nicht aus Weidens Feder.«
Sie reichte mir einen weiteren DIN-A4-Bogen, den sie bis dahin zurückgehalten hatte. »Hier. Lesen Sie selbst.«
Der Brief war an Walther Weiden adressiert.
»Der beiliegende Textauszug dürfte Ihnen bekannt sein. Er ist datiert auf den Herbst 1940. Verfasst hat ihn Erich Weiss, der im Sommer 1943 nach Auschwitz deportiert wurde. Uns liegt der gesamte Romanentwurf vor, der bis auf geringfügige Abweichungen identisch ist mit Ihren ›Blüten‹. Sie haben sich ein halbes Jahrhundert lang mit dem geistigen Eigentum eines Ermordeten geschmückt.
Wir fordern Sie auf, an die Öffentlichkeit zu treten und den eigentlichen Urheber zu benennen. Sonst werden wir die Welt über Ihren Betrug aufklären. Wie genau, erfahren Sie ab Ende des Monats unter www-Weiden-Weiss-Blüten-Lüge.com.
Keine Unterschrift, keine weitere Forderung. Moderne Schrifttype. Laserausdruck. Neutrales Papier. Datiert auf den Fünfzehnten.
Ich gab ihr das Blatt zurück und sah durch die Tür auf die purpurnen Stockrosen im Hof.
Der Brief beschwor den Geist eines Toten herauf, direkt aus den Trümmern der Krematorien von Birkenau. Entweder jemand benutzte ihn, um Weiden zu verleumden. Oder der betrog den Ermordeten seit fünfzig Jahren um sein Andenken. Beide Varianten waren ähnlich hässlich.
»Was ist das für eine Webadresse?«
»Die Seite ist noch im Aufbau. Der Server sitzt in Taipeh ...« Valerie Weiden zupfte am Saum ihres Blusenärmels. »Weiss diente Weiden tatsächlich als Vorlage für seine männliche Hauptfigur. Das macht die Anschuldigung umso perfider ...«
Sie ließ die Information zwei Sekunden bei mir sacken.
»Im Herbst, zu seinem achtzigsten Geburtstag, bringt der Dörling Verlag Weidens Werkausgabe heraus. Zehn Bände mit Romanen, Kurzgeschichten, Essays und Drehbüchern. Die Ausgabe heißt ›Blüten der Pandora‹, so wie der Roman.«
Sie saß vorgebeugt. Ihre gefalteten Hände arbeiteten. »Kann Weiden die Anschuldigung nicht entkräften, wird er verdächtigt werden, das bekannteste Werk seiner Karriere einem jüdischen Naziopfer gestohlen zu haben. Das wäre absolut vernichtend.«
»Es gibt Anwälte, die auf Verleumdungsklagen spezialisiert sind.«
»Sicher.« Ein schwaches Lächeln. »Leider ist das Falsifikat ganz ausgezeichnet. Wir haben einen Sachverständigen bemüht, und das da«, sie deutete auf die Kopien, »wurde anscheinend auf derselben Reiseschreibmaschine getippt, die auch Weiss benutzt hat, irgendein obskures französisches Modell aus den zwanziger Jahren, und weil es sich hier um die Kopie einer Kopie handelt, dürfte es so gut wie unmöglich sein, das Machwerk als Fälschung zu entlarven. Zumindest nicht ohne die Originalvorlage.«
Ich nickte ratlos. »Wozu das Ganze? Hat der Absender sich noch mal gemeldet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wieso fordert er ein öffentliches Geständnis? Was bezweckt er damit?«
»Das ist die Preisfrage, junger Freund ...«, dröhnte ein Bariton aus dem schummrigen Halbdunkel des hinteren Teils der früheren Tenne.
Der Herr des Hauses erschien, in der Rechten ein Wasserglas voll bernsteinfarbener Flüssigkeit. Er trug Sandalen an den nackten Füßen und ausgeblichene, abgescheuerte Jeans. Sein altertümliches, bauschiges Leinenhemd war am Kragen durch lose Schnüre zusammengehalten und offenbarte eine behaarte Brust. Er blieb ein paar Meter entfernt stehen, schlürfte einen Schluck und musterte mich skeptisch.
»Also Sie sind der famose Detektiv.«
Weiden schien kaum gealtert seit dem Auftritt in Hamburg. Er wirkte gut zwanzig Jahre jünger, als der Eintrag in seinem Pass lautete, und war nach wie vor eine imposante Erscheinung: fast zwei Meter groß, breitschultrig, mit schlohweißen Locken und einem respektheischenden, an einen griechischen Gott gemahnenden Vollbart.
»Wie war noch mal Ihr Name?«
»Jacob Fabian.«
»So wie Kästners Romanheld?«
»Der Vater meiner Mutter hieß Jacob.«
»Tatsache? Welcher Jahrgang?«
»Ich oder meine Mutter?«
»Ihr Großvater mütterlicherseits.«
»Warum?«
»Jacob ist eher ungewöhnlich für die Generation zwischen ...«, Weiden sah sinnierend an die von altersschwarzen Eichenbohlen getragene Decke, »sagen wir 1885 und 1910. Es sei denn, Ihrem Opa fehlte der Ariernachweis.« Seine grauen, tief liegenden Augen fixierten mich amüsiert.
»Und selbst? Noch gedient oder nur Flakhelfer?«
Er grinste. »Hübsch pariert. Sowohl als auch. Seelower Höhen, falls Ihnen das was sagt. Abwehrschlacht an der Oder. Kein Zuckerschlecken mit sechzehn. Ich bin der Einzige aus meinem Zug, der es da rausgeschafft hat ...«
»Wie? In sowjetischer Kriegsgefangenschaft?«
»Beim Rückzug bin ich am Stadtrand von Berlin in eine Wohnung gestolpert. Dort lagen Zivilklamotten herum. Das war in Weißensee. Meine Eltern lebten in Friedrichshain. Ich hatte Glück.«
Er trank einen Schluck und ächzte laut. Es klang wie das Knarren eines verrosteten Pumpschwengels. Dann ließ er sich in einen der Sessel fallen.
»Valerie ist davon überzeugt, dass wir Hilfe brauchen. Ich bezweifle allerdings, dass das, was ihr da vorschwebt, uns wesentlich weiterbringt.«
Mir dämmerte, was sie gemeint hatte, als sie vorhin sagte, er wolle sich nichts anmerken lassen.
»Man hat Sie ihr wärmstens empfohlen. Sie sollen effizient und verschwiegen sein. Doch mit derlei Attributen wirbt vermutlich jeder in Ihrer Branche.«
Sein Ton war ähnlich ätzend wie damals bei der Kundgebung.
»Mag sein«, erwiderte ich. »Wir schalten keine Anzeigen.«
»Tatsache? Sie leben von reiner Mundpropaganda? Interessant!« Er rüschte den Mund. »Ich musste bisher noch nie einen Privatermittler bemühen. Wie wird man so was?«
Ich fragte mich, wie viele er sich heute schon gegönnt hatte, doch ihr bittender Blick ließ mich einlenken.
»Durch meinen späteren Partner. Er sitzt im Rollstuhl. Wir wohnten im selben Haus. Ich bekam mit, dass er von irgendeinem Nachbarn terrorisiert wurde. Die Kripo zeigte kein Interesse, also half ich ihm rauszufinden, wer dahintersteckte, und sorgte dafür, dass die Kreatur auszog. Er regte an, solchen Service auch anderen anzubieten. Der Bedarf war überraschend groß, und ich konnte das Taxi, das ich seit dem Studium hatte bewegen müssen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, endlich stehen lassen.«
»Ihr Partner ist körperbehindert?«
»Seit der Geburt. Er stottert gelegentlich. Leute ohne sichtbare Verkrüppelungen unterschätzen ihn gern. Dabei dürfte er den gleichen IQ haben wie Sharon Stone.«
»Der wäre?«
»Angeblich 154. Er sieht nicht ganz so blendend aus wie Sharon, aber besitzt bestechende Qualitäten.«
»Klingt wie eine gute Romanfigur.«
»Im wahren Leben ist er auch nicht übel. Momentan muss ich leider ohne ihn auskommen, weil seine Hüfte frisch operiert ist. Aber zunächst einmal wüsste ich gern genauer, worum es geht. Wer war Erich Weiss?«
Weiden blickte auf den Hof und tätschelte nachdenklich sein Glas.
»Ein Schriftsteller aus Hamburg, den die Nazis ins Exil getrieben haben. Nach der Machtergreifung kam er wegen seiner Haltung und jüdischen Herkunft sofort auf den Index. Er war zwar erst Mitte zwanzig, aber schon einigermaßen erfolgreich. Seine beiden Romane wurden verbrannt. Man hat sie auch nach dem Krieg nie wieder aufgelegt. Leider. Weiss floh nach Prag. Später ist er dann über Österreich und die Schweiz nach Frankreich geflohen. Er war von den Nazis ausgebürgert worden. Das machte es extrem schwierig, sich im damaligen Europa zu bewegen.«
»Wie sind Sie auf ihn gekommen?«
»Durch einen älteren Autor, der mit ihm und anderen in Les Milles interniert war, dem Lager in Südfrankreich, wo man die deutschsprachigen Flüchtlinge bei Kriegsausbruch internierte. Sie wissen schon, die Spanienkämpfer, Juden und Intellektuellen.«
Er sah mich fragend an, ob ich ihm folgen konnte.
»Ja«, nickte ich. »So wie Gurs.«
»Gurs liegt im Westen, am Rand der Pyrenäen. Les Milles ist nicht weiter weg von Marseille als Ahrensburg von Hamburg. Eine Ziegelei am Rand der Stadt, mit Gleisanschluss. Weiss wurde Anfang 1940 wie die meisten zunächst entlassen, um kurz darauf, nach dem deutschen Angriff, mit ungefähr dreitausend anderen Expatriierten wieder dort eingesperrt zu werden. Schließlich landete er in Marseille. Aber anders als die übrigen Réfugiés, die dort wie Ratten im Käfig hockten und verzweifelt auf ein Schiff zu kommen suchten, entschloss er sich zu bleiben. Das lag maßgeblich an seiner Geliebten Chantal. Die hatte er kurz vor dem Krieg kennengelernt. Sie wird in dem Skript Nadine genannt und heißt bei mir Catarine. Mit ihr lebte er zusammen.«
»Geht es um ihren Nachlass?«
Valerie Weiden verneinte stumm.
»Chantal sang nebenher in Cafés. Sie soll eine gute Stimme gehabt haben ...« Weidens Blick floh aus dem Fenster auf den Hof. »Als die Wehrmacht im Herbst 1942 in den bis dahin unbesetzten Süden vorrückte, versteckte sie Weiss bei Verwandten in ihrem Dorf, und beide gingen in den Maquis.«
»Weiss war im Widerstand?«
Weiden kaute leer. »Das ist ihm auch zum Verhängnis geworden. Bei einem konspirativen Treffen flog er auf. Einer aus der Gruppe war ein Spitzel. Ursprünglich hatte Chantal gehen sollen, doch sie war misstrauisch geworden und hatte sich absichtlich verspätet. Weiss war woanders, bekam zufällig mit, dass sie verhindert war, und meinte, für sie einspringen zu müssen. Die Gestapo schaffte ihn nach Lyon zum Verhör, in die berüchtigte Suite 68 des Hotel Terminus. Die gehörte Hauptsturmführer Klaus Barbie, der Ihnen vielleicht ein Begriff ist.«
Ich nickte. Vor Jahren, parallel zum Prozess, hatte ich den Film von Marcel Ophüls gesehen und darüber gelesen, wie »der Schlächter von Lyon« nach dem Krieg mit Hilfe von Vatikan und CIC nach Bolivien entkommen war, wo er als »Fachmann für Partisanenbekämpfung« half, Che Guevara zu jagen.
»Barbie kriegte seine wahre Identität raus und ließ Weiss nach Drancy bringen. Er wurde nach Auschwitz deportiert ...« Weidens Stimme klang wieder rostig. »Das müssen besonders üble Transporte gewesen sein. Bei Luftangriffen hatten verschiedentlich Gefangene fliehen können, darum zwang man alle Juden, sich nackt auszuziehen, bevor man sie in die Waggons steckte.«
»Was geschah mit Chantal?«
»Sie hat überlebt.« Weiden betrachtete die Flüssigkeit in seinem Glas. »Erst Anfang der Fünfziger verliert sich ihre Spur.«
»Sie haben sie gesucht?«
»Sicher.« Er atmete schwer aus. »Zehn Jahre nach Kriegsende gab es viele, die sich an sie erinnerten. Einige waren sogar bereit, mit mir zu reden. Nur wusste keiner, wo ich sie finden konnte. Einer sagte, sie sei nach Martinique gegangen. Andere sprachen von Algerien. Wieder andere von Kanada. Eine Frau behauptete, sie sei in Polen. Doch die war auch davon überzeugt, dass Weiss noch lebe.«
»All das haben Sie in Ihrem Roman verarbeitet?«
Er schüttelte den Kopf. »Bei mir endet die Geschichte in Marseille, nach seiner zweiten Lagerhaft, bevor die beiden sich entschließen, aufs Land zu gehen. Was aus ihnen wird, bleibt offen.«
»Welcher Jahrgang ist Weiss?«
»1909. Er war neun Jahre älter als Chantal. Die beiden haben sich Ende der Dreißiger kennengelernt, als sie bereits angefangen hatte, gelegentlich in Bars aufzutreten «
»Wann ist er aus Deutschland fort?«
»Gleich ’33.«
»Wo hat er in Hamburg gelebt?«
Weiden grunzte. »Geboren ist er Kohlhöfen, beim Michel. Zuletzt gemeldet war er Rutschbahn. Unweit der heutigen Uni.«
»Rutschbahn?«
»Richtig.« Weiden warf mir einen leise amüsierten Blick zu. »In der Gegend gab es damals wohl ziemlich viele Juden.«
Ich nickte stumm. Mitte der Dreißiger war die Familie meines Vaters an den Grindel gezogen. In der Dillstraße. Die geht quer von der Rutschbahn ab. Er hatte mir auch von ihren jüdischen Nachbarn erzählt. Etwa wie er und seine Schwester den Kantor, der direkt unter ihnen wohnte, mit den Ohren auf den Dielen beim Üben belauscht hätten. Doch die meisten Anekdoten, die er mir sonst so erzählt hatte, waren weit weniger harmlos gewesen.
Ich riss mich zusammen und deutete auf den Brief. »Wozu dies Ultimatum?«
Weiden zuckte die Achseln. »Um mir Angst zu machen. Die Fälschung ist verteufelt gut gemacht, bis hin zu den Tippfehlern. Mein Verleger hat sie begutachten lassen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Der Graphologe meint, dass die Randnotizen tatsächlich von Weiss sein könnten. Definitiv will er sich allerdings erst festlegen, wenn er das Original geprüft hat.«
»Wo fanden sich denn so schnell Schriftproben von Weiss? Ich denke, der ist seit über sechzig Jahren tot?«
»Weiss ist nicht irgendein Autor. Man hat seinen Nachlass teilweise gerettet. Ich besitze selbst einige Briefe von ihm.«
»Warum schalten Sie nicht die Polizei ein?«
Weiden lachte böse auf. »Die versteht sich zu gut mit der Presse. Im Herbst erscheint meine Werkausgabe. Dreimal dürfen Sie raten, unter welchem Titel!«
»Das hat mir Ihre Frau erzählt.«
»Dann wissen Sie ja Bescheid. Als Auftakt ist eine Lesereise durch zwei Dutzend Städte geplant. Wenn diese Bombe da«, er deutete auf den Umschlag mit den Kopien, »vorher nicht entschärft ist, wird das ein einziger Spießrutenlauf.«
»Wählen Sie einen anderen Titel.«
»Zu spät.« Er grinste bitter. »Der ist seit Monaten angekündigt, im Verlagsprogramm, bei Vertreterkonferenzen, eben all dem Zauber, den solch ein Projekt verlangt. Genau darauf spekuliert derjenige, der das«, wieder zeigte er auf den Umschlag, »fabriziert hat. Er will die Sache zum Platzen bringen.«
»Was hätte er davon?«
Weiden reckte das Kinn mit dem Zeusbart in die Höhe. »Für verschiedene Leute wäre das der Triumph ihres Lebens ...«
»So? Für wen, zum Beispiel?«
»Riette Kobler, zum Beispiel. Die dürfte Ihnen ja dank ihrer TV-Show ein Begriff sein.« Er verzog das Gesicht. »Die denunziert mich schon seit Jahrzehnten als Trivialschmierfinken, weil ihr meine erotischen Szenen missfallen. Bekommt die die Chance, mir ein jüdisches Naziopfer anzuhängen, verspritzt sie so lange Gift, bis mich auch der Letzte für einen Lump hält.«
Riette Kobler war eine verknöcherte Schabracke von Anfang siebzig, stets aufwendig toupiert und mit einer ins Lila marschierenden Tönung versehen, die irgendein Literaturhasser ins Öffentlich-Rechtliche gehievt hatte, wo sie mit affektiertem Wiener Akzent Neuerscheinungen zu Tode lobte.
»Selbst wenn die Fakten sie widerlegen?«
Weiden lächelte sardonisch. »Eine Kobler lässt sich nicht von Fakten beirren. Jedenfalls nicht im Zusammenhang mit mir.«
Ich musste unwillkürlich grinsen. »Das spricht für Sie.«
»Danke«, grunzte Weiden. Er setzte das Glas an, registrierte zu spät, dass es leer war, bemerkte meinen Blick, zwang sich zu einem Achselzucken und ließ die Hand sinken. Mit einem Mal spürte ich seine Angst.
»Besser Riette Kobler als Rudolf Katzenstein«, sagte ich.
Es sollte tröstlich klingen, aber er sah aus, als habe ich ihm eine Kröte in den Hals gestopft.
Seine Frau fragte verstört: »Wie kommen Sie denn jetzt auf den?«
»Weil es naheliegt. Zumindest was die Öffentlichkeitswirkung angeht.«
Katzenstein war prominenter als Kobler. Er trug zwar nur Glatze, aber er liebte Bücher und atmete diese Leidenschaft mit jeder Pore. Romane, die Kobler zu Asche zerkaute, erblühten bei ihm zu prallem Leben. Schlechte verriss er so gnadenlos, dass der Verfasser sich guten Gewissens beide Hände abhacken konnte. Natürlich hatte auch Katzenstein eine eigene Fernsehshow, und die sah sich sogar mein Freund Paul an, der sonst freiwillig kein Buch anfasste.
Weiden stand auf und ging zu dem barocken Wandschränkchen, wo sich das Hochprozentige befand. Die Miene seiner Gattin machte deutlich, dass sie fand, er habe genug, doch er packte eine halb volle Flasche Jim Beam und goss sich nach.
»Sie auch?«
»Nein.«
Valerie Weiden wirkte angespannt. Er ignorierte sie und runzelte die Stirn.
»Grundsätzlich nicht oder nur jetzt?«
»Sowohl als auch. Was ist mit Katzenstein?«
Weiden schlurfte nippend zu seinem Sessel zurück, setzte sich wieder und legte den Kopf in den Nacken. »Der ist Teil des Problems.«
»Inwiefern?«
»Katzenstein hat schon früher mal angedeutet, die ›Blüten‹ seien nicht von mir. Beim Verriss eines meiner Bücher ...« Weiden leerte das noch nahezu volle Glas, ließ die Luft zischend zwischen den Zähnen entweichen und starrte durch das Bogenfenster in den Hof. »Aber das ist nicht das eigentliche Problem.«
»Sondern?«
»Er besitzt ein Doppel der Kopie.«