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WOHIN FÜHRT DEIN WEG, ANNA

Klapentext:

Roman:

HOLZKIRCHNER G´SCHICHTEN

 

Band 3

 

WOHIN FÜHRT DEIN WEG, ANNA

 

Ein Roman von Franz Mühlbauer

 

 

 

 

 

IMPRESSUM

 

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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Redaktion und Korrektorat: Alfred Wallon

© dieser Ausgabe 2018 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

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Klapentext:

Holzkirchen ist eigentlich ein kleines und sehr idyllisches Dorf im Allgäu. Aber manchmal gibt es Menschen, die trotzdem ihre Heimat verlassen und ihr Glück in der Fremde suchen. Das denkt auch Ludwig Hafner, der eines Tages sein Heimatdorf verlässt. Auch wenn ihn seine Mutter und sein Bruder Florian vermissen, so muss das Leben auf dem Hof weitergehen – und man muss an die Zukunft denken. Deshalb beschließt Johanna Hafner, nach einer Frau für Florian zu suchen. Was sie nicht weiß: Florian hat sich bereits in die junge Anna verliebt. Und während seine Mutter konsequent die Hochzeit plant, überschlagen sich die Ereignisse: nach jahrelanger Abwesenheit kehrt Ludwig wieder nach Holzkirchen zurück. Und das hat einige Überraschungen zur Folge ...

 

 

 

Roman:

Ernst Steiner nahm einen Schluck aus dem Maßkrug und ließ sich das Bier schmecken. Dann blickte er in die Runde. Am Stammtisch hatten sich an diesem Abend einige Männer aus Holzkirchen eingefunden, die Steiner schon seit vielen Jahrzehnten kannte. Auch wenn er selbst lange Jahre in München gelebt hatte und erst nach seiner Pensionierung wieder nach Holzkirchen zurückgekehrt war, so existierte dennoch das Band der Freundschaft mit diesen Männern. Viele freuten sich darüber, dass er der Großstadt den Rücken gekehrt hatte und wieder nach Hause gekommen war. Zurück zu den Wurzeln – wie manche behaupteten. Und wenn man genau darüber nachdachte, so beeinhaltete diese Aussage so manch Wahres.

„Hast du eigentlich die Johanna Hafner noch gekannt?“, fragte der Schuster Alex, der in diesem Jahr die Schreinerei vom alten Schramml übernommen hatte und seitdem mit Erfolg weiterführte. „Es heißt, du hättest die Geschichte mit der merkwürdigen Hochzeit mitbekommen?“

Der pensionierte Kriminalbeamte musste lächeln bei diesen Worten. Weil ihm das zeigte, wie gut der junge Alex sich mittlerweile ins Dorfleben integriert hatte. Dass er sich für die alten Geschichten von damals interessierte, war ein gutes Zeichen. Nämlich dafür, dass er sich nicht nur für das Jetzt und Hier interessierte, sondern auch für die Vergangenheit.

„Warum willst das denn wissen?“, fragte Steiner.

„Es heißt, dass es damals recht turbulent bei den Hafners zugegangen ist“, meinte der Alex und winkte nach drüben zur Theke, damit man ihm einen zweiten Maßkrug brachte. „Ich bin halt neugierig und würd gerne mehr darüber wissen.“

„Das ist schön, Alex“, schmunzelte Steiner. „Ich war damals noch sehr jung und hab das Ganze nur beobachtet. Aber ich kann dir gerne das erzählen, an das ich mich noch erinnere. Die wichtigsten Ereignisse weiß ich noch. Und vielleicht erzählst du sie ja eines Tages auch deiner Familie weiter ...“

„Gerne“, nickte der Alex, während die Bedienung das Bier brachte. „Dann schieß mal los, Ernst.“

„Mach ich“, versprach Steiner. „Dann hör jetzt mal gut zu. Angefangen hat es damals mit der Leitner Toni. Das war die Hebamme in der Gegend hier. Ja, damals gab es noch einige Frauen, die diesen Beruf mit Stolz und Freude ausgeübt haben. Aber auch das ist mittlerweile Vergangenheit. Die Toni war es, die – so denke ich jedenfalls – den ganzen Stein ins Rollen gebracht hat. Auch wenn sie das vermutlich damals nicht geahnt hat ...“

 

*

 

Sie war schon ein Unikum, die Toni Leitner, Hebamme von Beruf. Hätte es damals vor achtundzwanzig Jahren im Allgäu schon so viele Urlauber gegeben wie heute, dann wäre sie bestimmt so etwas wie eine Touristenattraktion geworden.

Toni hatte ihr Leben davor in Kufstein verbracht. Und dort war sie als Gemeindeschwester und Hebamme tätig gewesen. Als sie dann in ihren wohlverdienten Ruhestand versetzt wurde, kam sie nach Holzkirchen zurück und bewohnte das kleine Häuschen des Bruders. Dieser war schon halbtaub und war es so zufrieden.

Jetzt, wo sie nicht mehr berufstätig war, lebte sie ganz so, wie es ihr passte. Dazu gehörte zuerst einmal das geliebte Tonpfeifchen, ja, und gegen einen gehörigen Schluck aus der Enzianflasche hatte sie durchaus nichts einzuwenden.

»Er ist gut für meine Gicht«, sagte sie immer augenzwinkernd. Jeder schmunzelte nur und ließ sie gewähren. Aber es dauerte nicht lange, so hieß sie nicht mehr Toni, sondern Konni. »Sie hat die Hosen an, also ist sie ein Mann«, sagten die Dörfler.

Wenn Konni gedacht hatte, sich jetzt von der Mühsal des Lebens ausruhen zu können, so irrte sie sich gewaltig. Die Holzkirchener waren ja heilfroh, dass sie bei ihnen lebte. Wenn jetzt eine ins Kindbett kam, so brauchte man nicht immer erst nach Sonthofen zu kutschieren und die Hebamme holen, nein, jetzt hatte man eine an Ort und Stelle. Außerdem verstand sich die Toni auf Heilkräuter und machte Salben und Tinkturen für viele Wehwehchen daraus.

Im Grunde genommen war es der Alten ganz recht, dass sie noch so gebraucht wurde. Erst einmal hatte sie ein großes Mundwerk, und zum anderen steckte sie zu gerne überall ihre Nase hinein. Zwar waren ihre Reden hin und wieder beißend, aber auch das schluckten die Dörfler.

Eine Schönheit war sie ganz bestimmt nicht, und darum ging man nicht einmal so fehl, wenn man sie mit einem Männernamen bedachte. In ihrer Jugend musste sie wohl darunter gelitten haben, aber jetzt, seit sie die Siebzig auf dem Buckel hatte, wagte es keiner, über ihre krummen dünnen Spinnenbeine zu lachen, oder sich über die lange Hakennase lustig zu machen. Es wäre jedem wohl auch schlecht bekommen.

Wie gesagt, auch jetzt übte sie noch immer ihren Beruf aus, wenn man sie rief, oder auch nicht. Toni hatte ein Gespür dafür und oft kam sie schon an, wenn man sie noch gar nicht gerufen hatte.

So auch bei der Johanna Hafner.

Da saß das arme Weib in der Küche auf der Ofenbank, hielt sich den Bauch und stöhnte zum Gotterbarmen. Immer wieder sah sie zur Tür und dachte, kommt der Mann denn immer noch nicht heim? Ich brauch doch jetzt die Toni.

Bei Johanna hatten die Wehen eingesetzt, und darum war sie jetzt ein wenig durcheinander und merkte gar nicht, dass heute erst Freitag war und nicht Samstag. Am Samstag kam der Mann heim. Die Woche über war er mit der Rotte weit oben im Wald beim Holzfällen, und weil der Abstieg am Abend beschwerlich war, blieben die Männer in der Jägerklause und kamen erst zum Samstag heim, nachdem sie vom Rottmeister ihren Lohn erhalten hatten.

Und als Johanna noch vergeblich auf ihren Mann wartete, ging doch tatsächlich die Tür auf und jemand steckte den Kopf in die Stube.

»Hab ich es mir doch gedacht«, sagte Toni befriedigt und schob jetzt auch noch den Rest ihres Körpers in die Stube hinein.

»Toni«, ächzte Johanna. »Du bist da, jetzt kann ja nichts mehr schief gehen.«

»Mein dicker Zeh hat so gezwickt, und da hab ich mir gedacht, das hat was zu bedeuten, geh doch mal zur Johanna, bestimmt ist es schon soweit«, meinte Toni Leitner und stellte ihre umfangreiche Tasche auf den Tisch, hängte den fadenscheinigen Mantel hinter die Tür, zog sich die schweren Bergstiefel aus und stellte diese in den Gang hinaus.

»Arg kalt ist es draußen.«

»Ich konnte nicht mehr nachlegen«, ächzte die Hafnerin. »Das tut verdammt weh, ich glaube ich lege mich jetzt hin.«

»Nichts da«, sagte die Alte resolut. »Soweit ist es noch nicht, bleib du nur dort hocken.«

Johanna wollte aufbegehren, sie sehnte sich nach dem Bett, das Kreuz schien durchbrechen zu wollen, aber da kam schon wieder eine Wehe, und sie konnte nur noch stöhnen. Dabei fiel sie auf die Ofenbank und versuchte sich zusammenzurollen.

Mitten in einer Wehe, riss sie einmal die Augen auf und war sprachlos. Für Minuten vergaß sie den höllischen Schmerz und das Lachen gluckerte in ihr hoch.

Toni hatte nämlich indessen ihre Tasche ausgeräumt. Zuerst einmal zog sie sich dicke Wollstrümpfe über, vom Bruder wohlverstanden. Und weil sie so spindeldürre Beine hatte, aber Füße, so groß wie Elbkähne, wie sie selbst immer schmunzelnd sagte, blieb es nicht aus, dass die Strümpfe immerzu rutschten. Darum nahm sie in aller Ruhe ein paar Einweckringe und rollte diese über die Strümpfe.

Das sah so komisch aus, dass Johanna nicht anders konnte, sie musste lachen, obwohl sie dabei das Gefühl hatte, mitten durchzubrechen.

In dieser Nacht sollte sie noch sehr viel lachen.

Dann sah sie, wie Toni ihr Tonpfeifchen hervorkramte, Glut aus dem Ofen holte und zu schmauchen begann. Dann gingen die blanken Äuglein wieselflink in der Stube spazieren.

»Jaa, sag’ mal.. «, meinte sie möglichst gleichgültig.

Johanna wusste, Toni nahm nie Lohn an, aber wenn man sie brauchte, musste eine Enzianflasche her.

»Sie steht im Schrank, ganz unten«, flüsterte sie.

Toni fand sie sehr schnell, drückte sie liebevoll an die magere Brust und lächelte. Dann schob sie den Schaukelstuhl näher an den Kachelofen, in dem sie inzwischen ein Bullenfeuer entfacht hatte. Gläser verachtete sie in der Regel. Sie trank direkt aus der Flasche.

»Ach, ich hab noch was vergessen«, sagte sie und sprang auf.

Wenige Augenblicke später stand ein Ungetüm von Wecker auf dem Küchentisch.

»Weißt, wegen der Uhrzeit, das muss ich doch vermerken, wegen dem Register. Ich verlass mich lieber auf meine altgediente Zwiebel.«

Danach setzte sie sich wieder hin, und kleine Rauchwölkchen durchschwebten die ärmliche Küche.

»Ja«, keuchte Johanna ganz schwach. »Meinst nicht.. .«

»Ach was«, sagte die Hebamme. »Jetzt bin ich da, und nun geht alles seinen Gang. Es wird noch dauern, was willst dich da schon ins Bett legen? Hier unten in der Küche ist es doch wirklich schön gemütlich.«

Für dich ja, dachte die arme Johanna, aber für mich? Doch sie wagte nicht aufzubegehren. Die Frauen von Holzkirchen hatten alle ziemlichen Respekt vor der alten Toni.

Noch neulich hatte der Bürgermeister gesagt: »Früher, da wär so was verbrannt worden, als Hexe, jawohl.« Das hatte er auch nur gesagt, weil er wütend auf sie war; denn Toni hatte ihm mal wieder die Meinung gegeigt und ihm unmissverständlich erklärt, das Brückchen über den Wildbach müsse erneuert werden. Man könne sich dort den Tod holen.

Das hatte seine Richtigkeit, aber in der Gemeindekasse war mal wieder Ebbe und das hieß dann, der Bürgermeister musste Freiwillige aufrufen, und dazu noch selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Das tat er gar nicht gerne, schließlich war er in Holzkirchen der Großbauer und mit der Arbeit war das so eine Sache, die überließ er gern den anderen, und so hatte er denn ein Bäuchlein angesetzt.

Aber ganz laut mochte er das auch nicht sagen, das mit dem Verbrennen und Hexe und so; denn vor ein paar Wochen hatte die Toni ihm noch ein Furunkel geheilt, es saß ganz akkurat am verlängerten Rückgrat, und das war peinlich gewesen. Aber als er deswegen schon nicht mehr zum Stammtisch gehen konnte, hatte er denn in den sauren Apfel beißen müssen und die Toni kommen lassen. Drei Flaschen Enzian hatte ihn das gekostet.

Toni hatte so ganz eigenartige Preise. Bei den Armen verlangte sie nichts, aber die Reichen wusste sie zu nehmen. Aber das mit dem Verbrennen war ihr dann doch zu Ohren gekommen. Toni konnte warten. Und der arme Bürgermeister würde noch sein blaues Wunder erleben. Irgendwann würde ihn wieder ein Zipperlein anfallen, und dann …

 

*

 

Über eine Stunde saß die Hebamme am Kachelofen, schaukelte sich sanft hin und her und stopfte das Pfeifchen immer wieder neu auf. Johanna stöhnte, dass es Steine hätte erweichen können.

Als Toni aufstand, dachte sie, jetzt könne sie sich endlich ins Bett schleppen. Aber nichts da. Toni holte die alte wurmstichige Wiege hervor, besah sich die dürftige Kinderausstattung und dachte, gleich morgen geh ich zu der Küfner und sie wird was aus ihren vollen Truhen rausrücken müssen. Das geht ja nicht, das arme Wurm soll anständig aufgezogen werden. Die Johanna und der Ludwig sind rechtschaffene Leute, auch wenn sie arm sind.

Danach holte sie die Kübel und stellte sie mit Wasser auf den Herd. Dann kam der Zuber dran. Alles stand parat.

»Meinst nicht?«, stammelte Johanna. Sie hatte schon ganz blutleere Lippen.

»Na«, sagte Toni. »Solange du aufbleibst, umso besser. Also, wenn ihr eine Treppe hättet, würde ich dich rauf jagen, um so schneller kommt dann das Kind. Im Bett, da zieht sich das hin. Stell dich mal hin und lauf ein bisschen, hurtig.«

Johanna dachte, die bringt mich um, ich kann doch nicht mehr, und schrie dann wieder los, weil eine neue Wehe kam.

Wenig später saß sie wie ein Jagdhund jappend auf der Ofenbank und hielt sich den Leib.

Toni saß im Schaukelstuhl, wippte vor und zurück und sagte: »Ich hab mal in einem dicken Buch gelesen, die Indianer, die machen das im Stehen. Weißt, die haben da so eine Stange im Zelt. Daran befestigen sie eine Schlaufe, hängen die Hände hinein und dann lassen sie sich fallen und hocken dann da und drücken.“

»O nein«, keuchte Johanna und musste lachen.

»Schad’, dass ihr keine Stange in der Küche habt.«

»Toni«, unterbrach Johanna die Gedanken der Hebamme.

Ungerührt sprach diese weiter.

»Weißt, hockst dich da hin, wie a Huhn auf der Stangen. Auffangen könnte ich es schon. Musst auch so drücken wie a Huhn, was meinst, Johanna?«

Die arme Frau lachte, bis ihr die Tränen kamen.

»Hör auf, hör auf, ich zerspringe sonst noch. Hühner«, keuchte sie. »Hühner gehen auch zum Eierlegen ins Nest.«

Verdutzt hörte die Alte auf zu rauchen und sagte: »Hast recht, tatsächlich, hast wirklich recht. Meinst, dass die in dem Buch gelogen haben? «

Johanna konnte einfach nicht mehr, sie musste lachen, bis sie fast ohnmächtig wurde, aber dann jagte ein spitzer Schrei die Alte aus ihrem Stuhl.

»Jetzt rasch ins Bett, sonst kriegst dein Kind noch tatsächlich in der Küche.«

Flink wie ein Wiesel konnte sie sein. Johanna merkte gar nicht, wie diese ihr die Kleider vom Leib holte. Wenige Augenblicke später lag sie endlich im Bett. Aber verflixt, dachte sie verzweifelt. Jetzt liege ich hier, und ich möchte schon wieder aufstehen. Es ist ja grässlich.

Sie warf sich herum und stöhnte.

Toni packte Johanna resolut immer wieder auf den Rücken. Befestigte am Bettpfosten einen Strick und gab ihr das Ende in die Hand.

»So, daran ziehst und drückst, verstehst!«

»Ja«, keuchte Johanna, krebsrot im Gesicht. Dann beendete ein Schrei das qualvolle Stöhnen.

»Ich hab’s.ich hab’s«, kreischte Toni.

Wenige Augenblicke später hatte sie etwas Strampelndes in der Hand, das laut schrie.

»Ein Bub, ein Bub!«

Johanna hatte verdrehte Augen und stöhnte aufs neue.

»Ich hab dir doch gesagt, es ist da, brauchst dich nicht mehr anzustrengen. Nun kommt nix mehr.«