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Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Brandhorst
© Terry und Lyn Pratchett 1981
Titel der englischen Originalausgabe:
»Strata«, Colin Smythe Ltd. 1981
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2005, 2012, 2020
Deutsche Erstausgabe:
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München 1992
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagabbildung: Katarzyna Oleska
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Der Vorarbeiter eines Bergwerks hat mir ein Stück Kohle gezeigt, das eine aus dem Jahr 1909 stammende Goldmünze enthält. Ich habe ein Ammonshorn gesehen, das allem Anschein nach im fossilen Fußabdruck einer Sandale zerdrückt wurde.
Im Keller des Museums für Naturgeschichte gibt es einen Raum, der immer verschlossen bleibt. Dort befinden sich viele Kuriositäten, unter anderem der Tyrannosaurus mit einer Armbanduhr und der Schädel eines Neandertalers mit Goldplomben in den Zähnen.
Was wollen Sie in dieser Hinsicht unternehmen?
Es war natürlich ein herrlicher Tag – ein Tag wie aus dem Werbeprospekt der Company. Derzeit bot Kins Büro Ausblick auf eine palmengesäumte Lagune. Am äußeren Riff gischtete das Wasser, und auf dem Strand aus zermahlenen weißen Korallen lagen seltsam geformte Muscheln.
Kein Werbeprospekt hätte die ungeheuerliche Masse der auf Pontons ruhenden Stratamaschine gezeigt – es handelte sich um das kleine Modell für Inseln und Atolle unter fünfzehn Kilometer Durchmesser. Kin beobachtete, wie sich ein weiterer Meter Strand aus dem großen schwarzen Trichter schob.
Sie überlegte, wer die Maschine wohl steuerte. Die Struktur des Strandes verriet gestalterisches Genie. Jemand, der einen solchen Küstenstreifen schaffen konnte, mit Muscheln an genau den richtigen Stellen, verdiente Besseres. Aber vielleicht war er ein Thoreau-Typ, der Inseln mochte. Kin bekam es manchmal mit ihnen zu tun: in sich gekehrte Männer und Frauen, die nach den Vulkanspezialisten übers Meer streiften, verträumt komplexe Archipele anlegten und dabei geradezu ungebührliches Geschick offenbarten. Sie beschloß, nach dem Namen des Piloten zu fragen.
Kin beugte sich über den Schreibtisch und rief den Bereichstechniker an.
»Joel? Wer hat Dienst in der BCF3?«
»Tag, Kin. Mal sehen. Aha! Gut, nicht wahr? Gefällt’s dir?«
»Nicht schlecht.«
»Hendry sitzt an den Kontrollen. Auf deinem Schreibtisch liegen einige scheußliche Beschwerden über ihn. Du weißt schon: Er hat das Dino-Fossil …«
»Ich habe davon gelesen.«
Joel bemerkte den scharfen Unterton in Kins Stimme und seufzte.
»Nicol Plante ist seine Mixerin, und bestimmt hat sie ihm geholfen. Ich habe ihnen beiden Inseldienst gegeben, weil … Nun, bei einer Koralleninsel gerät man kaum in Versuchung.«
»Ich weiß.« Kin überlegte. »Schick Hendry zu mir. Und Nicol ebenfalls. Bestimmt erwartet uns ein anstrengender Tag. So ist es immer, wenn wir kurz vor der Fertigstellung stehen: Dann fangen die Leute an, mit gewissen Dingen herumzuspielen.«
»Es liegt am Übermut der Jugend. Jeder von uns hat sich den einen oder anderen Streich erlaubt. Bei mir waren es zwei Stiefel in einem Kohleflöz. Nicht sehr einfallsreich, wie ich zugeben muß.«
»Meinst du, ich sollte ein Auge zudrücken?«
Natürlich meinte er das. Schließlich erlaubte man jedem eine persönliche Improvisation, oder? Die Kontrolleure entdeckten sie immer, nicht wahr? Und selbst wenn man sie aus irgendeinem Grund übersah: Man konnte damit rechnen, daß zukünftige Paläontologen die Sache vertuschten, hm?
Allerdings neigten sie manchmal dazu, alles viel zu ernst zu nehmen …
»Hendry ist gut, und später könnte er großartige Arbeit leisten«, sagte Joel. »Dreh ihn nicht zu sehr durch die Mangel.«
Einige Minuten später hörte Kin, wie das Dröhnen der Maschine leise wurde und dann ganz verstummte. Kurz darauf kam ein Roboter aus dem Vorzimmer herein, und ihm folgten …
… ein untersetzter blonder junger Mann, die Haut von der Sonne hummerrot gebrannt, und ein dürres kahlköpfiges Mädchen, fast noch ein Kind. Sie blieben stehen und starrten Kin mit einer Mischung aus Furcht und Trotz an, während Korallenstaub auf den Teppich rieselte.
»Bitte nehmen Sie Platz. Etwas zu trinken? Sie scheinen halb verdurstet zu sein. Ich dachte, die Apparate verfügten über Klimaanlagen.«
Die beiden jungen Leute wechselten einen raschen Blick. Dann antwortete das Mädchen: »Frane legt Wert darauf, ein Gefühl für seine Arbeit zu bekommen.«
»Na schön. Der Kühlschrank schwebt direkt hinter Ihnen, das runde Ding dort. Bedienen Sie sich.«
Die Techniker wichen hastig beiseite, als ihnen die Kühleinheit an die Schultern stieß, lächelten nervös und setzten sich.
Sie begegneten Kin mit einer Ehrfurcht, die vages Unbehagen in ihr weckte. Nach den Akten stammten Hendry und Nicol von Kolonialplaneten, die so neu waren, daß ihr Grundgestein erst noch trocknen mußte, und Kin kam ganz offensichtlich von der Erde. Nicht von der Ganzen, Neuen, Alten, Wirklichen oder Besten Erde, sondern von der Erde, die man in den Geschichtsbüchern ›als Wiege der Menschheit‹ bezeichnete. Das Zwei-Jahrhunderte-Zeichen auf ihrer Stirn hatten sie vermutlich nie gesehen, bevor sie sich der John Company anschlossen. Außerdem: Kin war ihre Chefin und konnte sie entlassen.
Der Kühlschrank kehrte in seine Nische zurück, flog dabei in einem eleganten Bogen um ein Stück leere Luft im hinteren Bereich des Zimmers. Kin nahm sich vor, das Gerät überprüfen zu lassen.
Sie saßen in Schwebesesseln. So etwas gab es auf Kolonialwelten nicht, entsann sich Kin. Sie sah auf die Akte, bedachte die beiden Techniker mit einem einleitendstrengen Blick und schaltete den Recorder ein.
»Sie wissen, warum Sie hier sind«, begann sie. »Wenn Sie vernünftig waren, haben Sie die Vorschriften gelesen. Ich bin verpflichtet, Sie an folgendes zu erinnern: Sie können entweder mein Urteil als leitende Managerin dieses Sektors annehmen oder ein Verfahren vor dem Untersuchungsausschuß der Company-Zentrale beantragen. Wenn Sie sich für mich entscheiden, ist eine Revision ausgeschlossen. Nun?«
»Sie«, sagte das Mädchen.
»Hat Ihr Begleiter die Sprache verloren?«
»Wir wählen Sie als Richterin, Mizz«, verkündete der junge Mann mit ausgeprägtem Kredo-Akzent.
Kin schüttelte den Kopf. »Dies ist kein Prozeß. Wenn Ihnen meine Entscheidungen mißfallen, können Sie jederzeit kündigen – wenn ich Sie nicht vorher entlasse.« Sie gab den jungen Leuten Gelegenheit zum Nachdenken. Hinter jedem Angestellten der Company stand eine lichtjahrlange Schlange aus enttäuschten Bewerben – niemand kündigte.
»Nun gut, es ist registriert. Und nun für die Akte: Haben Sie am vergangenen 4. Julius die Stratamaschine BVN67 gesteuert, als Sie den Y-Kontinent erweiterten? Einzelheiten der Anklage finden Sie im schriftlichen Verweis, den Sie damals erhielten.«
»Ja, es stimmt alles«, bestätigte Hendry. Kin betätigte eine Taste.
Eine Wand des Büros verwandelte sich in einen Bildschirm, und sie blickten auf ein Luftbild, das grauen Fundamentfels zeigte. Die Struktur endete ganz plötzlich an einer tausend Meter hohen Schicht, die wie ein kolossales göttliches Sandwich wirkte. Die Stratamaschine war von der Klippe gelöst und zur Seite gelenkt worden. Beim nächsten Einsatz mußte sie von einem Jockey auf den richtigen Kurs zurückgesteuert werden – andernfalls würden die Geologen dieser Welt später eine unerklärliche Verwerfung finden.
Die Kamera zoomte eine bestimmte Stelle der Klippe heran:
In halber Höhe war ein Teil des Gesteins geschmolzen. Dort hatte man ein Gerüst errichtet, und mehrere Arbeiter mit gelben Helmen eilten aus dem Erfassungsbereich des Übertragungsmoduls. Bis auf einen. Er deutete mit einem Meßstab auf Beweisstück A und grinste: Hallo, ihr Leute in der Kontrollkommission der Company.
»Ein Plesiosaurier«, stellte Kin fest. »Völlig verkehrt für diese Schicht, aber was soll’s?« Die Kamera glitt über das halb ausgegrabene Skelett hinweg und richtete ihre Linsen nun auf einige verzerrte Rechtecke neben dem künstlichen Fossil. Kin nickte, als man Einzelheiten erkennen konnte. Das Tier hatte ein Transparent getragen, und die Aufschrift lautete:
»Schluß mit den Atomtests«, sagte sie ruhig.
Sicher war viel Arbeit dafür notwendig gewesen, wahrscheinlich mehrere Wochen. Um so etwas zu bewerkstelligen, mußte man dem Hauptcomputer der Maschine ein äußerst kompliziertes Programm eingeben.
»Wie haben Sie es herausgefunden?« fragte das Mädchen.
Jede Stratamaschine enthielt einen elektronischen Petzer – doch das war ein Firmengeheimnis. Die verräterische Vorrichtung befand sich in dem zehn Kilometer großen Ausgabeschlitz des Apparats, und ihre Aufgabe bestand darin, die Realisierung inoffizieller persönlicher Ideen zu entdecken. Sie blieb dort, bis sie etwas meldete. Früher oder später gab jeder der Versuchung nach. Jeder neue Planetendesigner mit nur einer Prise Talent fühlte sich wie ein König an den Kontrollen des Traumapparats, den man Stratamaschine nannte. Irgendwann konnte er nicht widerstehen und beschloß, sich einen Scherz mit zukünftigen Paläontologen zu erlauben und ihnen ein Rätsel aufzugeben, an dem sie verzweifelten. Manchmal wurden sie von der Company gefeuert – oder befördert.
»Magie«, behauptete Kin. »Geben Sie es zu?«
»Ja«, erwiderte Hendry. »Darf ich etwas zu unserer Verteidigung anführen?«
Er griff in eine Tasche und holte ein abgegriffenes Buch hervor. Einige Sekunden lang blätterte er und fand schließlich die gesuchte Seite.
»Äh, ich möchte einen der wichtigsten Planetendesigner zitieren«, sagte der junge Mann. »Wenn Sie gestatten …«
»Ich höre.«
»Nun, äh … ›Immerhin ist ein Planet keine Welt. Planeten sind nur Felsbrocken, aber Welten stellen ein vierdimensionales Wunder dar. Auf einer richtigen Welt muß es geheimnisvolle Berge geben, tiefe Seen mit uralten Ungeheuern, seltsame Fußspuren im Schnee an hohen Hängen, überwucherte Ruinen in endlosen Dschungeln, Glocken am Meeresgrund, Echotäler und Städte aus Gold. Das ist die Hefe in der planetaren Kruste; ohne sie wird sich nie die Phantasie der Menschen erheben.‹«
Eine kurze Pause.
»Habe ich in dem Buch auch von Dinosauriern geschrieben, die für nukleare Abrüstung eintreten, Mr. Hendry?« fragte Kin.
»Nein, aber …«
»Wir bauen Welten. Es geht uns nicht darum, Planeten zu terraformen – das könnten Roboter erledigen. Wir konstruieren Orte, wo die menschliche Phantasie einen Nährboden findet. Wir verstecken keine seltsamen Fossilien. Denken Sie an die Spindler. Angenommen, die Kolonisten entwickeln sich ebenso. Ihr Fossil würde sie umbringen, ihnen den Verstand rauben. Meine Entscheidung lautet: drei Monate ohne Arbeit. Das gilt auch für Sie, Miss Plante. Ich will nicht einmal wissen, warum Sie diesem Dummkopf geholfen haben. Sie können gehen.«
Kin schaltete den Recorder aus.
»Wohin wollen Sie? Nehmen Sie wieder Platz. Das war nur für die Akte. Setzen Sie sich – Sie sehen schrecklich aus.«
Hendry schien kein Narr zu sein. Kin sah, wie Hoffnung in seinen Augen keimte, und sie hielt es für besser, dem wiedererwachenden Optimismus vorzubeugen.
»Was die Strafe angeht … Ich habe es ernst gemeint. Drei Monate Zwangsurlaub. Das Urteil ist aufgezeichnet; Sie können sich also den Versuch sparen, mich umzustimmen.« Mit einem dünnen Lächeln fügte Kin hinzu: »Dazu wären Sie ohnehin nicht imstande.«
»Aber bis dahin ist der Job hier erledigt«, wandte Hendry betroffen ein.
Kin hob die Schultern. »Andere Aufträge folgen bestimmt. Seien Sie nicht zu betrübt. Es ist durchaus menschlich, der Versuchung nachzugeben. Wenn Sie sich Sorgen machen, so fragen Sie Joel Chenge nach den Stiefeln, die er in einem Kohleflöz unterzubringen versuchte. Sie haben seine Karriere nicht ruiniert.«
»Und Sie, Mizz?«
»Hmm?«
Der junge Mann musterte Kin aufmerksam. »Aus Ihrem Verständnis schließe ich, daß Sie ebenfalls nicht ganz unschuldig sind. Haben auch Sie einmal Veränderungen am normalen Strataprogramm vorgenommen?«
Kin trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Eine Bergkette in Form meiner Initialen«, entgegnete sie knapp.
»Donnerwetter!«
»Ein halber Streifen mußte neu gelegt werden. Ich wäre fast rausgeflogen.«
»Und jetzt leiten Sie diesen Sektor …«
»Auch Sie könnten es eines Tages so weit bringen. Nach einigen Jahren gibt man Ihnen vielleicht einen Asteroiden, damit Sie dort einen Vergnügungspark konstruieren, für irgendeinen Milliardär. Dazu ein Rat: Verpfuschen Sie nichts; und führen Sie das, was jemand gesagt oder geschrieben hat, nie – ich wiederhole: nie – gegen die betreffende Person an. Ich bin ausgesprochen großzügig und verständnisvoll, aber jemand anders hätte Sie möglicherweise gezwungen, das Buch Blatt für Blatt aufzuessen, unter Androhung der Entlassung. In Ordnung? Gut. Gehen Sie jetzt, alle beide. Diesmal wirklich. Bestimmt erwartet uns ein anstrengender Tag.«
Hendry und Nicol eilten aus dem Büro und hinterließen eine Spur aus Korallenstaub. Kin sah, wie sich die Tür hinter ihnen schloß, und eine Zeitlang starrte sie ins Leere. Dann lächelte sie und konzentrierte sich wieder auf die Arbeit.
Beobachten Sie Kin Arad, die jetzt Design-Vorschläge für das TY-Archipel prüft:
Einundzwanzig Jahrzehnte liegen wie temporale Schuppen auf ihren Schultern. Sie trägt sie mühelos. Warum auch nicht? Menschen waren nie dazu bestimmt, alt zu werden. Gedächtnischirurgie erwies sich als hilfreich.
An ihrer Stirn glänzte jene goldene Scheibe, die viele Mehrhundertjährige trugen – sie flößte Respekt ein und ersparte Peinlichkeiten. Nicht jede Frau freute sich über die Verführungsversuche eines Mannes, der jung genug war, um ihr Ur-hoch-sieben-Enkel zu sein. Andererseits: Es gab auch ältere Frauen, die ganz bewußt auf solche Scheiben verzichteten … Derzeit schimmerte Kins Haut ebenso mitternachtsschwarz wie ihre Perücke – aus irgendeinem Grund überlebte Haar nur selten das erste Jahrhundert – und der weite Overall.
Sie war älter als neunundzwanzig Welten; in vierzehn Fällen hatte sie an der Konstruktion teilgenommen. Hinzu kamen sieben Ehen aus verschiedenen Gründen, einmal sogar unter dem Einfluß von Liebe. Gelegentlich traf sie sich mit ihren Ex-Ehemännern, um der alten Zeiten willen.
Kin blickte auf, als der Teppichreiniger sein Nest in der Wand verließ und die Sandspuren beseitigte. Langsam wanderte ihr Blick durch den Raum, als hielte sie nach etwas Ausschau. Sie neigte den Kopf zur Seite und lauschte.
Ein Mann erschien. In der einen Sekunde gab es nur leere Luft, und in der nächsten lehnte eine hochgewachsene Gestalt am Aktenschrank. Der Unbekannte bemerkte Kins Verwirrung und verneigte sich.
»Wer sind Sie, zum Teufel?« entfuhr es Arad. Sie wollte das Interkom aktivieren, aber der Mann war schneller, sprang heran und schloß die Finger höflich, aber gleichzeitig schmerzhaft fest um ihren Unterarm. Sie blieb sitzen, lächelte grimmig, holte mit der Linken aus und gab ihm eine Faust mit Ringen zu spüren.
Als er sich das Blut aus den Augen gewischt hatte, blickte Kin auf ihn hinab und hielt einen Stunner in der Hand.
»Ich rate Ihnen dringend von Aggressivität ab«, sagte sie. »Selbst drohendes Atmen würden Sie bedauern.«
»Sie scheinen eine höchst ungewöhnliche Frau zu sein«, erwiderte der Fremde und betastete sich das Kinn. Der semi-intelligente Teppichreiniger stieß ihm mehrmals an die Füße.
»Wer sind Sie?«
»Mein Name lautet Jago Jalo. Und Sie heißen Kin Arad, nicht wahr? Ja, natürlich …«
»Wie haben Sie sich Zugang verschafft?«
Der Mann drehte sich um und verschwand. Aus einem Reflex heraus feuerte Kin den Stunner ab, und ein Teil des Teppichs machte Wumm.
»Daneben«, erklang eine Stimme von der anderen Seite des Zimmers.
Wumm.
»Es war taktlos von mir, einfach so einzudringen, aber wenn Sie jetzt die Waffe weglegen würden …«
Wumm.
»Es könnte uns beiden zum Vorteil gereichen. Möchten Sie das Geheimnis der Unsichtbarkeit kennenlernen?«
Kin zögerte und ließ widerstrebend den Stunner sinken.
Der Mann erschien wieder. Er wischte sich in die Realität. Kopf und Oberkörper gewannen Konturen, als hätte ein Arm darüber gestrichen, und dann wurden die Beine sichtbar.
»Nicht übel«, sagte Kin. »Ein hübscher Trick. Wenn Sie erneut verschwinden, justiere ich die Waffe auf fächerförmige Abstrahlung, die das ganze Zimmer erfaßt. Herzlichen Glückwunsch – Sie haben es geschafft, mein Interesse zu wecken. Das ist heutzutage nicht mehr einfach.«
Der Fremde setzte sich. Kin schätzte ihn auf mindestens fünfzig, aber er konnte auch ein Jahrhundert älter sein. Die Alten bewegten sich mit einem gewissen Stil, und das war bei ihm nicht der Fall. Er sah aus, als hätte er seit Jahren auf Schlaf verzichtet: blaß, haarlos, blutunterlaufene Augen. Ein Gesicht, das man sofort wieder vergaß. Selbst sein Overall zeigte ein unscheinbares Grau. Kin hob den Stunner, als er in eine Tasche griff.
»Was dagegen, wenn ich rauche?« fragte Jago Jalo.
»Rauchen?« wiederholte Kin verwundert. »Meinetwegen. Wenn Sie unbedingt in Flammen aufgehen wollen …«
Der Mann blickte auf den Stunner, als er sich einen gelben Zylinder zwischen die Lippen steckte und ihn anzündete. Dann nahm er ihn aus dem Mund und blies Rauch von sich.
Er ist ein gefährlicher Irrer, dachte Kin.
»Ich könnte Ihnen von Materietransmission erzählen«, sagte Jalo.
»Ich auch – sie ist unmöglich«, erwiderte Kin und seufzte. Der Bursche war also nur ein Angeber und Scharlatan. Aber es gelang ihm, sich unsichtbar zu machen.
»Man behauptete auch, es sei unmöglich, Raketen durchs Weltall zu schicken«, meinte Jalo. »Goddard wurde ausgelacht. Man hielt ihn für einen großen Narren.«
»Viele Leute hielt man aus gutem Grund für Narren«, entgegnete Kin und verdrängte den Gedanken daran, wer Goddard gewesen sein mochte. »Können Sie mir einen Materietransmitter zeigen?«
»Ja.«
»Allerdings nicht sofort, nehme ich an.«
»Nein. Aber ich bin hierzu imstande.« Der Mann trat einen Schritt zur Seite, und sein linker Arm verschwand. »Es handelt sich um eine Art Tarnmantel.«
»Darf ich ihn, äh, mal sehen?«
Der Fremde nickte und streckte die leere Hand aus. Kin berührte sie und fühlte – etwas. Eine Art grobes Gewebe. Ihre Handfläche darunter schien ein wenig verschwommen zu sein, aber sie war nicht ganz sicher.
»Er beugt das Licht«, erklärte Jalo und zog den Tarnmantel mit sanftem Nachdruck aus Kins Fingern. »Um zu vermeiden, daß man ihn im Kleiderschrank verliert, gibt es diese Hinweiszone – sehen Sie?«
Kin bemerkte eine dünne krumme Linie aus orangefarbenem Licht, die nichts umgab.
»Interessant«, kommentierte sie. »Aber warum ich? Warum zeigen Sie mir das alles?«
»Weil Sie Kin Arad sind. Sie haben Beständige Schöpfung geschrieben. Sie wissen über die Großen Spindlerkönige Bescheid. Ich glaube, der Tarnmantel stammt von ihnen. Ich habe ihn gefunden. Zusammen mit vielen anderen faszinierenden Dingen.«
Kin musterte den Mann ruhig, und schließlich sagte sie: »Ich möchte gern ein bißchen frische Luft schnappen. Haben Sie schon gefrühstückt, Jago Jalo?«
Er schüttelte den Kopf. »Durch die Reise hierher ist mein Zeitgefühl durcheinandergeraten, aber ich glaube, ich könnte ein Abendessen vertragen.«
Kins Gleiter flog in einem weiten Bogen um die niedrigen Bürogebäude und dann nach Norden, zum großen Komplex auf dem W-Kontinent. Er wich der Masse von Hendrys Stratamaschine aus, deren neuer Pilot gerade einige Riffe vor der Küste schuf. Dieses Manöver erlaubte es den Insassen des Schwebers, die eindrucksvolle Sammelschüssel ganz oben auf dem Apparat zu sehen – ihr Inhalt bestand aus samtener Schwärze.
»Warum?« fragte Jalo und starrte nach unten. Kin drehte das Steuer.
»Die Maschine nimmt per Mikrowellen Energie von den Orbitalkollektoren auf. Wenn wir über die Schüssel flögen, bliebe nicht einmal Asche von uns übrig.«
»Was geschähe, wenn dem Piloten ein Fehler unterläuft und der Übertragungsstrahl die Schüssel verfehlt?«
Kin dachte darüber nach. »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Den Piloten fänden wir bestimmt niemals wieder.«
Der Gleiter passierte einige weitere Inseln. In Bottichen gezüchtete Delphine schwammen neben seinem Schatten durchs Wasser und sprangen ausgelassen über die Wellen – nach der langen Reise im Megatanker waren sie noch immer aufgeregt und verspielt. Zum Teufel mit Beständige Schöpfung!
Damals schien es eine gute Idee gewesen zu sein. Außerdem: Kin hatte sich mit vielen Dingen beschäftigt, aber noch nie ein Buch geschrieben. Das eigentliche Schreiben bereitete ihr kaum Schwierigkeiten. Weitaus problematischer war es, die Herstellung von Papier zu lernen und anschließend einige Spezialroboter auf die Konstruktion einer Druckerpresse zu programmieren. Das erste gedruckte Buch seit vierhundert Jahren – es erregte beträchtliches Aufsehen.
Ebenso wie die Worte zwischen den teuer produzierten Buchdeckeln. Sie berichteten kaum etwas Neues, aber irgendwie brachten sie es fertig, derzeitige Entwicklungen in der Geologie so darzustellen, daß sie den Leser fesselten. Kins Werk hatte sogar einige Sekten ins Leben gerufen.
Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte ihren Begleiter. Jalos Akzent konnte sie nicht deuten: Er sprach mit sorgfältiger Betonung, wie jemand, der ein Lernband verinnerlicht hatte und dem es noch an Übung fehlte. Seine Kleidung … Die Verkaufsautomaten von vielen Welten boten solche Overalls an. Er wirkte nicht verrückt, aber wem sah man den Wahnsinn schon an?
»Sie haben also mein Buch gelesen«, sagte Kin im Plauderton.
»Hat das nicht jeder getan?«
»So scheint es manchmal.«
Jalo sah sie aus roten Augen an.
»Es war nicht schlecht«, meinte er. »Ich hab’s während des Fluges hierher gelesen. Aber erwarten Sie keine Komplimente: Ich kenne bessere Bücher.«
Kin merkte verärgert, wie sie errötete.
»Sie haben bestimmt viele gelesen«, murmelte sie.
»Einige tausend«, bestätigte Jalo. Kin schaltete die Gleiterkontrollen auf Automatik und drehte ihren Sessel herum.
»Ich weiß genau, daß es nicht einmal ein paar hundert Bücher gibt. Von den alten Bibliotheken ist nichts übriggeblieben!«
Der Mann duckte sich unwillkürlich. »Es lag mir fern, Sie zu beleidigen.«
»Wer …«, begann Kin.
»Der Autor braucht das Papier nicht selbst herzustellen«, sagte Jalo. »Damals gab es Verlage, so wie die heutigen Produzenten von Datenfolien. Der Autor beschränkte sich darauf, die Worte zu schreiben.«
»Damals? Wie alt sind Sie?«
Der Fremde rutschte zur Seite. »Präzise Angaben sind mir leider nicht möglich«, erwiderte er. »Inzwischen hat man den Kalender mehrmals geändert. Wie dem auch sei: Ich bin etwa elfhundert Jahre alt, plusminus zehn.«
»In jener Epoche existierte noch keine Genchirurgie«, warf Kin ein. »Niemand ist so alt.«
»Aber es gab die Terminussonden«, sagte Jalo leise. Der Gleiter flog über eine Vulkaninsel, und ihr zentraler Kegel dampfte gemütlich vor sich hin, während das Techniker-Team Tests durchführte. Kin starrte ins Leere, und ihre Lippen bewegten sich zunächst lautlos.
»Jalo«, flüsterte sie. »Jalo! Der Name kam mir gleich bekannt vor! He … Wenn ich mich recht entsinne, sollten die Terminusschiffe nie zurückkehren …«
Der Mann lächelte humorlos. »In der Tat. Ich war ein Freiwilliger, wie alle anderen. Und ziemlich verrückt. Den Sonden fehlte das technische Potential, um irgendwann heimzukehren.«
Kin nickte. »Ich weiß. Ich habe eine Datenfolie gelesen. Äh.«
»Nun, Sie müssen dabei die damaligen Umstände berücksichtigen. Es erschien durchaus sinnvoll. Und mein Schiff ist natürlich nicht zurückgekehrt.«
Jalo beugte sich vor.
»Im Gegensatz zu mir.«
Das Ritz befand sich in der inoffiziellen Stadt, die innerhalb kurzer Zeit an der ersten – und jetzt letzten – Leine entstanden war. Inzwischen verschwanden die Gebäude nach und nach, glitten am Kabel zu den großen Frachtern im Orbit. In einem Monat würden die restlichen Angestellten der Company folgen – dann hatte man das letzte Schneefeld gelegt und den letzten Kolibri freigesetzt.
Während sich Kin und Jalo im Dachgarten des Restaurants unterhielten, vernahmen sie das Rasseln und Klappern der Schlepper, die zwei Kilometer entfernt an der Leine hinaufkletterten: Wie Perlen an einer Kette zogen sie nicht mehr benötigte Lagerhäuser hinter sich her. Hohe Zirruswolken nahmen sie auf, als sie sich Oberleine näherten.
Kin genehmigte sich Framusch, Loomrücken und Breasen. Jalo hatte die Speisekarte mit skeptischer Aufmerksamkeit gelesen und dann vorsichtshalber ein Dodo-Omelette bestellt. Jetzt schien er seine Wahl zu bereuen.
Kin beobachtete ihn beim Essen, doch vor ihrem inneren Auge entstanden gewisse Bilder. Sie sah den glockenförmigen Rumpf einer Terminussonde, an der Spitze die winzige Kugel mit dem Lebenserhaltungssystem des Piloten. Sie erinnerte sich an die erschreckende Logik, die zum Bau jener Ungetüme geführt hatte. Sie lautete folgendermaßen:
Es war weitaus besser, einen Menschen ins All zu schicken als eine Maschine. Selbst in völlig unbekannter Umgebung konnte ein Mensch Situationsbewertungen vornehmen und Entscheidungen treffen. Maschinen eigneten sich gut für Routineaufgaben, aber sie versagten bei Konfrontationen mit dem Unvorhergesehenen.
Es war billig, eine Maschine zu schicken: Maschinen atmeten nicht und sandten nur die gewonnenen Informationen zurück.
Menschen hingegen atmeten, die ganze Zeit über. Dadurch wurden sie teuer.
Aber es war sehr billig, einen Menschen zu schicken, ohne seine Rückkehr zu planen.
»Ist das Sellerie im Glas?« fragte Jalo.
»Fangwurzeltriebe«, erwiderte Kin. »Die gelben Teile sollten Sie besser nicht essen – sie sind giftig. Muß ich noch lange warten?« Sie atmete tief durch. »Erzählen Sie mir von den Großen Spindlerkönigen.«
»Ich weiß nur, was ich gelesen habe«, sagte Jalo. »Und der größte Teil der entsprechenden Lektüre wurde von Ihnen verfaßt. Sind diese blauen Dinger eßbar?«
»Haben Sie eine Spindler-Stätte gefunden?« Bisher hatte man nur neun Spindler-Stätten entdeckt. Zehn, wenn man das Raumschiffwrack mitzählte. Bei einer der Fundstellen stießen die Forscher auf den Prototyp der Stratamaschine und detaillierte Informationen über Genchirurgie. Kein Wunder, daß sich die meisten Studenten für Paläontologie entschieden und nicht für Technik.
»Ich habe eine Spindler-Welt gefunden.«
»Woher wollen Sie wissen, daß sie von den Spindlern stammt?«
Jalo probierte einige Fangwurzeltriebe.
»Sie ist flach«, sagte er.
Kin hielt das für möglich.
Die Spindler waren keine Götter gewesen, obgleich ihre Leistungen an die echter Götter heranreichten. Sie hatten sich auf einem Planeten mit geringer Schwerkraft entwickelt – vermutlich. Mumien berichteten von einem Volk aus drei Meter großen Individuen, die nur neunzig Pfund wogen. Auf so dichten Planeten wie der Erde trugen die Spindler wundervolle Exoskelette, die ihre zarten Knochen davor bewahrten, angesichts der ungewohnt hohen Gravitation zu splittern. Sie hatten lange Schnauzen, Hände mit zwei Daumen, orangefarben und purpurn gestreifte Beine sowie Füße, die für einen Zirkusclown groß genug gewesen wären. Erstaunlicherweise fehlte ihnen ein Gehirn. Besser gesagt: Der ganze Körper konnte die Funktionen des Hirns wahrnehmen. Ein weiterer seltsamer Faktor kam hinzu. Bisher war es noch niemandem gelungen, den Magen eines Spindlers zu finden.
Sie sahen nicht wie Götter aus.
Ihnen stand billige Transmutation zur Verfügung, aber keine überlichtschnelle Raumfahrt. Wahrscheinlich gab es auch bei den Spindlern verschiedene Geschlechter, aber die Exobiologen hatten noch nicht feststellen können, auf welche Weise sie sich fortpflanzten.
Sie schickten Botschaften, indem sie die Wasserstofflinie im Spektrum des nächsten Sterns modulierten.
Sie waren Telepathen und litten an akuter Klaustrophobie … Sie bauten nicht einmal Häuser, und ihre Raumschiffe verblüfften selbst jene Leute, die glaubten, durch nichts mehr überrascht werden zu können.
Sie lebten fast ewig und vertrieben sich die Zeit, indem sie Planeten mit Reduktionsatmosphären besuchten – um mit ihnen zu spielen. Sie fügten der Vielfalt des Universums mutierte Algen und übergroße Monde hinzu. Sie schufen völlig neue Lebensformen. Sie nahmen eine Venus und verwandelten sie in eine Erde. Der Grund dafür ergab zumindest für Menschen Sinn, sobald man sich mit der Andersartigkeit der Spindler abfand. Ein ernstes Bevölkerungsproblem bestimmte ihr Verhalten – ernst für die Spindler.
Eines Tages hatten sie die Kruste eines Planeten mit einer Stratamaschine aufgerissen und etwas Entsetzliches entdeckt – entsetzlich für die Spindler. Während der nächsten beiden Jahrtausende, als sich die Neuigkeiten herumsprachen, starben sie an verletztem Stolz.
Seitdem waren vierhundert Millionen Jahre vergangen.
Ein Schlepper fiel an der Leine herab, und das Heulen der Bremsen durchdrang den Schallschirm. Die Leinenwächter lösten einige Ladungen vom Kabel, um die Gewichtsbelastung zu verringern, rüsteten sie mit Treibsätzen aus und schickten sie dann einige tausend Kilometer weit nach oben.
Der Schlepper passierte den Kurswandler und näherte sich dem Rangierbereich. Kin sah Jalo aus zusammengekniffenen Augen an.
»Flach«, sagte sie. »Wie die Alderson-Scheibe?«
»Vielleicht. Was ist eine Alderson-Scheibe?«
»Bisher hat noch niemand eine gebaut. Aber wenn man alle Welten eines Sonnensystems nimmt und sie zu einer Scheibe preßt, wenn man in der Mitte ein Loch für die Sonne läßt, wenn man die Unterseite mit Neutronium verkleidet, wenn …«
»Lieber Himmel! Arbeiten Sie jetzt auch mit Neutronium?«
Kin zögerte und schüttelte dann den Kopf. »Wie ich schon sagte: Bis jetzt ist noch keine Scheibenwelt gebaut oder gefunden worden.«
»Die von mir entdeckte durchmißt mehr als zwanzigtausend Kilometer.«
Ihre Blicke trafen sich, und nach einer Weile formulierte-Kin jenes Wort, auf das Jalo wartete.
»Wo?«
»Ohne mich haben Sie keine Chance, sie zu finden.«
»Und Sie glauben, daß es sich um ein Spindler-Artefakt handelt?«
»Dort gibt es Dinge, die Sie für völlig unmöglich hielten.«
»Sie machen mich neugierig. Nennen Sie mir Ihren Preis.«
Jalo antwortete nicht, griff in seine Gürteltasche und holte ein Bündel aus 10000-Tag-Scheinen hervor. Das Companygeld war härter als die Währungen der meisten Welten. Wenn man die Scheine in einer Handelsbasis der Company vorlegte, so repräsentierte jeder von ihnen fast achtundzwanzig Jahre zusätzlichen Lebens. Die Company bezahlte am besten – mit verlängerter Zukunft.
Jalo wandte den Blick nicht von Kin ab, als er einen mechanischen Kellner heranwinkte und einige Scheine in seinen Abfalltrichter warf. Jeder Instinkt drängte Kin dazu, aufzuspringen und nach den Banknoten zu greifen, aber selbst wenn man die Wissenschaft auf seiner Seite hatte: Wer seinen Instinkten nachgab, wurde nur selten älter als hundert Jahre. Der automatische Verbrenner hätte nichts von ihrer Hand übriggelassen.
»Wie …«, krächzte Kin. Sie räusperte sich. »Wie kindisch«, sagte sie. »Es sind natürlich Fälschungen.«
Jalo reichte ihr einen Methusalem-Schein – den höchsten von der Company herausgegebenen Nennwert.
»Zweihundertsiebzig Jahre«, meinte er. »Ein Geschenk.«
Kin nahm die goldene und weiße Kunststoffolie entgegen. Es gelang ihr dabei, die Hände ruhig zu halten.
Das Strukturmuster war ganz einfach, aber es gab mehr als zweihundert andere Tests, um die Echtheit von Companygeld festzustellen. Man wies häufig darauf hin, daß hypothetische Fälscher ihre unrechtmäßig erworbenen Jahre auf höchst unangenehme Weise in den Verliesen und Tresorkammern der Company verbrachten.
»Zu meiner Zeit hätte man mich reich, reich, reich genannt«, fügte Jalo hinzu.
»Oder tot, tot, tot.«
»Sie vergessen dabei, daß ich ein Terminuspilot war. Niemand von uns glaubte an die Unausweichlichkeit des eigenen Todes. Das ist bei kaum jemandem der Fall. Bisher habe ich recht behalten. Nun, überprüfen Sie den Schein. Ich versichere Ihnen, daß er echt ist.
Ich bin nicht gekommen, um zu kaufen. Nein, ich möchte Sie in meine Dienste nehmen. In dreißig Tagen kehre ich zu der – flachen Welt zurück, aus Gründen, die bald offensichtlich werden. Ich beabsichtige, weniger als ein Jahr fortzubleiben, und als Bezahlung biete ich Ihnen Antworten auf Ihre Fragen an. Den Methusalem-Schein können Sie natürlich behalten, ob Sie mein Angebot annehmen oder nicht. Rahmen Sie ihn ein; oder legen Sie ihn fürs Alter auf die hohe Kante.«
Er verschwand wie ein Dämon. Als sich Kin über den Tisch beugte, berührten ihre Hände nur leere Luft.
Später ließ sie alle Shuttles kontrollieren, die an der Leine hinaufglitten. Nicht einmal einem Unsichtbaren wäre es gelungen, die elektronischen Petzer in den Einstiegsluken unbemerkt zu passieren. Bestimmt versuchte Jalo nicht, sich an Bord einer Frachtfähre zu verstecken – die meisten von ihnen enthielten keine Luft.
Kins Vermutungen erwiesen sich als richtig. Schließlich erfuhr sie, daß Jalo unter falschem Namen ein Ticket gekauft hatte und einfach an dem Sicherheitsnetz vorbeimarschiert war, wobei er den Tarnmantel der Sichtbarkeit benutzte.
Die Nachricht kam fünfundzwanzig Tage später zusammen mit den ersten Kolonisten.
Die Hauptlinie existierte inzwischen nicht mehr: Sie war von einem Satelliten im synchronen Orbit hinaufgezogen worden, um anschließend von einem Frachter aufgenommen zu werden. Auf der neuen Welt befanden sich nur noch einige kosmetische Gruppen und beendeten die Arbeit im Bereich der Antipoden.
Kin stand auf einem Hügel, von dichtem Dschungel umgeben, und der dampfende, mit dem richtigen Geruch ausgestattete Boden war frei von offensichtlichen menschlichen Spuren. Sie wußte: Fast vierzehntausend Kilometer unter ihren Füßen eilten Menschen, Roboter und Maschinen an der Antipodenleine hoch, um die Welt den Neuankömmlingen zu überlassen und den letzten Frachter zu erreichen – ein zwanzig Kilometer großes Stahlgerippe mit Fusions-Triebwerk.
Zwar herrschte dort jetzt ein ziemliches Durcheinander, aber es handelte sich um einen geordneten Rückzug. Als letzte gingen die sogenannten Kehrer, und sie ließen scheinbar unberührtes Land zurück. Ein Werbefilm der Company hatte einmal gezeigt, wie der letzte Mann einige Meter weit an der Leine hochgezogen wurde, sich dann nach unten beugte und die eigenen Fußabdrücke verwischte. Übertrieben, ja – aber es verfehlte die Wahrheit nur um wenige Zentimeter.
Eine gute Welt. Besser als die Erde, obgleich es hieß, daß sich die Lage dort verbesserte: Die Bevölkerung war auf knapp eine Dreiviertelmilliarde gewachsen und bestand nicht mehr überwiegend aus Robotern.
Besser als die Welt ihrer Kindheit. Gelegentlich entfernte Kin unnützen Ballast aus ihrem Gedächtnis, aber einige frühe Erinnerungen bewahrte sie sich. Jetzt schauderte sie, als sie die ältesten Reminiszenzen in den Brennpunkt ihres Bewußtseins rief.
Ein Hügel wie dieser, gesäumt von einer nebelumhüllten dunklen Landschaft. Eine Sonne, die sich dem Horizont entgegenneigt. Ihre Mutter hatte sie dorthin geführt, und sie standen inmitten einer kleinen Schar, die den größten Teil der Bevölkerung eines halben Landes darstellte. Die meisten Anwesenden waren Roboter. Einer von ihnen – ein Exemplar der Klasse Acht, die Synthohaut mit Reparaturschweißnähten übersät – hob die junge Kin auf seine Schultern, damit sie besser sehen konnte.
Die Tänzer bestanden aus Stahl und Kunststoff. Nur der Geiger war ein Mensch.
Die metallenen Füße pochten auf dunklen Boden, während weiter oben einige frühe Fledermäuse Insekten jagten.
Richtige Schritte. Natürlich. Etwas anderes war auch gar nicht möglich. Es gab keine Menschen, die zögern oder stolpern konnten. Die wenigen Männer und Frauen mußten sich um weitaus wichtigere Dinge kümmern. Aber sie wußten, daß derartige Traditionen eine große Rolle spielten, und deshalb sorgten sie dafür, daß dieser Brauch von Maschinen fortgesetzt wurde – bis eines Tages wieder Menschen nach den Zügeln greifen konnten. Vor und zurück, nach rechts und links … Mit programmierter Fröhlichkeit tanzten die Roboter den Moriskentanz.
Damals beschloß Kin Arad, daß die Menschheit nicht aussterben dürfe.
Es hatte nicht viel gefehlt. Ohne die Roboter wäre der Mensch ohne Überlebenschance geblieben.
Während die synthetischen Gestalten vor dem Hintergrund eines blutroten Himmels umherhüpften, entschied Kin, sich der Company anzuschließen …
Der erste große Gleiter flog über die Wipfel, fiel ins Gras, stieß gegen einen Baum, drehte sich einmal um die eigene Achse und verharrte.
Nach einigen Minuten klappte die Luke auf, und ein Mann stieg aus. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte.
Kin beobachtete, wie er sich wieder aufrichtete und am Rand der Schleuse festhielt. Zwei weitere Männer folgten, dann drei Frauen. Nach einer Weile bemerkten sie Kin.
Sie hatte sich große Mühe gegeben. Ihre Haut glänzte nun wie reines Silber, und das schwarze Haar – dünne Neonfäden leuchteten darin – bildete einen guten Kontrast dazu. Es wehte kein Wind, aber Entladungen statischer Elektrizität blähten ihren Umhang eindrucksvoll auf. Man durfte keine Einzelheiten vernachlässigen. Diese Leute kamen auf eine völlig neue Welt. Wahrscheinlich hatten sie bereits eine Verfassung geschrieben, die in goldenen Lettern Freiheit garantierte. Sie verdienten eine würdevolle Begrüßung. Um sich der harten Wirklichkeit zu stellen, blieb ihnen später noch ausreichend Zeit.
Weitere Gleiter näherten sich, und jener Mann, der als erster ausgestiegen war, kletterte nun den Hügelhang hinauf. Kin sah seinen Pionierbart, das kalkweiße Gesicht. Und sie bemerkte auch die silberne Scheibe in seiner Stirn, die im Licht der aufgehenden Sonne glitzerte.
Er erreichte die Kuppe, atmete ruhig und bewegte sich mit der routinierten Mühelosigkeit der meisten Hundertjährigen. Als er lächelte, zeigte er spitz geschliffene Zähne.
»Kin Arad?«
»Bjorne Chang?«
»Nun, hier sind wir. Heute kommen insgesamt zehntausend. Sie haben gute Luft geschaffen. Was ist das für ein Geruch?«
»Dschungel«, erklärte Kin. »Pilze. Verwesende Pumas. Der anregende Duft von den Blüten verborgener Orchideen.«
»Was Sie nicht sagen«, erwiderte Chang gelassen. »Nun, wir werden sehen.«
Kin lachte. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich bin überrascht. Eigentlich habe ich einen jungen Burschen mit kantigem Kinn und einem Pflug erwartet …«
»Und mit einer unter den Arm geklemmten Verfassung. Ich weiß, ich weiß. Ein solcher Typ leitete die Kolonie auf Landsprung. Haben Sie von Landsprung gehört?«
»Ich erinnere mich an einige Bilder.«
»Dort hat man eine Woche lang über die Regierungsform diskutiert. Und das erste errichtete Gebäude war eine Kirche. Dann schlug der Winter zu. Ich bin zu jener Zeit auf dem Nordkontinent gewesen. Der Winter dort kann ziemlich grausam sein.«
Kin schlenderte über den Hang, und Chang begleitete sie.
»Wir wollten nicht, daß Kolonisten starben«, antwortete sie schließlich. »Wir haben sie vor dem Klima gewarnt.«
»Aber Sie versäumten, sie auf die Ungerechtigkeit des Universums hinzuweisen. Die Siedler waren zu jung, um an Verfolgungswahn zu leiden.«
»Und Sie?«
»Ich? Nun, ich bin davon überzeugt, daß ich es auf mich selbst abgesehen habe. Darum baten mich diese Siedler, ihnen zu helfen. Ich gehe jetzt auf die Hundertneunzig zu. Ich möchte nicht sterben, und deshalb werde ich immer auf das Wetter achten, nur in seichtem Wasser schwimmen und nichts essen, bis ich die Ergebnisse einer genauen Laboranalyse kenne. Ich bin sogar bereit, den Kopf einzuziehen, um nicht von Meteoriten getroffen zu werden. Mein Vertrag verpflichtet mich dazu, hier fünf Jahre zu verbringen, und diese Zeit will ich überleben.«
Kin nickte. Sein Selbstvertrauen stimmte auch sie zuversichtlich.
Aber sie wußte, daß es nicht so einfach war. Die Theorie sah folgendes vor: Je älter man wurde, desto mehr achtete man darauf, in der Nähe eines genchirurgischen Zentrums und einer Company-Niederlassung zu bleiben, wo man seine Tagesscheine in sorgfältig berechnete Langlebigkeitsbehandlungen eintauschen konnte – für jeden Tag wurden genau vierundzwanzig Stunden zusätzliches Leben garantiert. Nur die Company bezahlte in Tagen, und nur die Company nahm derartige Behandlungen vor. Legte man wirtschaftliche Maßstäbe an, so mußte man zwangsläufig zu dem Schluß gelangen, daß der Company praktisch alles gehörte.
Doch es gab auch wirtschaftliche Regeln, über die sich niemand hinwegsetzen konnte, zum Beispiel das Gesetz von der fallenden Profitrate. Mit zwanzig verhielt man sich vorsichtig und ging kein Risiko ein: Wer für die Company arbeitete, den erwarteten Jahrhunderte. Man vergeudete sie nicht, indem man zu schnell fuhr oder ein ausschweifendes Leben führte.
Nach dem zweihundertsten Geburtstag sah die Sache anders aus. Dann hatte man alles gesehen, sich mit allen interessanten Dingen beschäftigt. Dann kamen neue Erfahrungen nur den veränderten Wiederholungen der alten gleich. Mit dreihundert war man wahrscheinlich tot. Nicht durch Selbstmord, zumindest nicht ganz. Man beschloß nur, noch höhere Berge zu ersteigen, den freien Fall länger dauern zu lassen und bei Wanderungen über den Merkur schwierigere Routen zu nehmen. Irgendwann ließ einen dabei das Glück im Stich.
Langeweile schuf wachsende Unruhe. Mit dem Tod teilte die Natur mit, daß es Zeit wurde, die Sache etwas ruhiger angehen zu lassen.
Deshalb