EDVARD HOEM
DIE HEBAMME
Roman
Aus dem Norwegischen
von Antje Subey-Cramer
Urachhaus
»Deine Ururgroßmutter, Marta Kristine«, sagte Vater,
»ist nach Christiania gegangen, um Hebamme zu werden.«
»Und dann ist sie wieder nach Hause gegangen?«, fragte ich.
»Ja, dann ist sie wieder nach Hause gegangen und nicht weniger als
fünfzig Jahre lang Hebamme gewesen.«
Alles, was ich über meine Ururgroßmutter Marta Kristine Andersdatter Nesje wusste, war das, was mir der knappe Kommentar meines Vaters fünfzig Jahre zuvor, in meiner Kindheit, eröffnet hatte. Als Erwachsener war ich mir schon lange darüber im Klaren, dass ich über sie schreiben musste. Nun war die Zeit reif.
Es sollte eine lange Reise werden – weit zurück in das Dunkel der Geschichte.
Marta Kristine benutzte als Mädchen und junge Frau den Herkunftsnamen Flovik, denn dort lebte sie bis zum Jahre 1817. Ihr Vorname lautete Marta Kristine – oder auch nur Stina, so wie sie in der Volkszählung von 1865 aufgeführt wird. Im Statsarkivet in Trondheim finden sich viele Spuren von ihr, und im Riksarkivet in Oslo kann man im Protokollbuch der Hebammenschule nachlesen, dass sie dort am 23. Juni 1822 das Examen abgelegt hat.
Das Thingbuch des Amtes Romsdal gibt über Margrethe Jakobsdatter und ihr unglückliches Schicksal Auskunft. Alle Personen, die im vorliegenden Text erwähnt werden, haben tatsächlich gelebt.
Dies ist ein Roman, geschrieben auf der Grundlage dokumentierter Fakten. Die Darstellung der Personen fußt auf vereinzelten, spärlichen Informationen. Niemand weiß mehr, wer sie waren.
Oslo, 2020 |
Edvard Hoem |
DAS ERSTE, woran sich Marta Kristine aus ihrer Kindheit erinnern konnte, war eine stürmische Bootsfahrt. Die erlebte sie an einem Tag im Oktober 1800 – in dem Jahr, in dem sie sieben wurde.
Eine große Menschenmenge war in Gjermundnes im Romsdal auf dem Weg Richtung Fjord, Männer und Frauen. Alle trugen Kleidung aus grober Wolle. Die Frauen hatten einen Schal oder ein Kopftuch umgebunden. Die Kinder waren gekleidet wie die Erwachsenen, doch hier und da sah man eine Weste mit etwas Farbe darin, eine rote Mütze oder ein blaues Tuch.
Es war herbstlich, aber nicht kalt. Die Luft war klar, an den Hängen auf beiden Seiten des Fjords verfärbte sich das Laub. Auf den höchsten Gipfeln lag Neuschnee. Alle konnten sehen, dass ein neuer Winter bevorstand. Die Bauern und Bediensteten und deren Kinder hatten sich freigenommen, um sich von Anders Knudsen, seiner Frau Karen und ihrer kleinen Tochter Marta Kristine zu verabschieden. Für sie, die die Reise antreten sollten, war es ein großer Tag in ihrem Leben. Sie zogen nach Nesje, auf die andere Seite des Romsdalsfjords. Anders Knudsen verdingte sich als Schuhmacher und Schlachter und war kaum wohlhabend zu nennen, aber er war fleißig, konnte gut mit Geld umgehen und sah voller Zuversicht aufs Leben. Er hatte von Hauptmann Nicolay Peter Dreyer ein Altenteilerhaus direkt am Fjord gekauft, für 150 Reichstaler.
Marta Kristine, die oft nur Stina gerufen wurde, schien nicht besonders bekümmert darüber, dass sie ihrem Geburtsort für immer den Rücken kehren sollte. Mit einem breiten Lächeln ging sie umher und gab Mägden und Knechten die Hand.
»Lebt wohl!«, sagte sie und knickste. »Lebt wohl!«
Sie lachten.
»Seht euch die Kleine an«, sagten sie, »es macht ihr gar nichts aus, uns zu verlassen! Sollen wir nie mehr dein fröhliches Lachen hören?«
Nein, es schien, als könne das kleine, geschäftige Wesen nicht schnell genug fortkommen. Sie unterhielt sich mit einer Lumpenpuppe, die sie unter dem Arm trug, und erklärte ihr, wie weit sie würden fahren müssen.
Es war Ebbe. Der Wind kam aus Südwest, das Boot schaukelte eine Elle unterhalb der Anlegestelle auf dem Wasser. Alles, was sie mitnahmen, befand sich in zwei Kisten und einigen Leinensäcken, die an Bord getragen worden waren: Bettwäsche und Alltagskleidung, Tassen und Töpfe; der Schusterschemel von Anders Knudsen, unter dessen Sitzfläche sich ein Kasten befand, in dem das Werkzeug aufbewahrt wurde. Die hölzernen Leisten, die er für die Anfertigung neuer Schuhe brauchte, waren zu einem Bündel zusammengeschnürt. Alles war mit Seilen an den Ruderbänken und am Steven festgezurrt. In der Mitte des Vierriemers hatte Anders einen Mast aufgerichtet – mit einer Rahe an der Spitze und Taljen auf beiden Seiten.
»Der Wind kommt aus der richtigen Richtung«, sagte er, »es wird nicht lange dauern, bis wir ankommen!«
Seine Frau stieg die Leiter hinunter. Sie bewegte sich leichtfüßig, trotz ihrer vierundvierzig Jahre. Marta Kristine stand am Rande des Anlegers. Der Vater sprang ins Boot, hob seine Tochter herunter und setzte sie auf eine Ruderbank. Er ergriff die Riemen, legte sie in die Dollen und ruderte auf den Fjord hinaus. Stina rief und winkte, und die Menschen am Anleger riefen und winkten zurück, doch schon bald konnte sie sie nicht mehr hören.
Anders Knudsen zog mithilfe der Taljen das Segel hoch, nahm ein Ruder, setzte sich achtern und steckte es durch ein Tau nach hinten raus, um damit zu steuern. Kurz darauf nahm das Boot Fahrt auf. Es war ein Boot, das sich mit seinem tiefen Kiel gut für die See eignete – gebaut für Fjorde mit ihren heftigen Windstößen. Der Wind war nun viel stärker, als er es erwartet hatte. Sie schnellten über die Wellen. Die Tochter lachte laut und trillernd, als der Wind die Segel füllte. Die Mutter rief dem Vater zu:
»Willst du, dass wir ertrinken?«
»Halt dich fest, Frau«, sagte der Vater. »Dort, wo wir hinkommen, ist es viel besser als dort, wo wir herkommen.«
Und damit hatte der Südwest sie in seiner Gewalt. Die Wellen waren nicht hoch, und Anders Knudsen ließ es darauf ankommen. Er hatte sich vorgenommen, Kurs quer über den Fjord zu nehmen, aber die Windrichtung ließ es nicht zu. Stattdessen ging es in rasender Fahrt entlang der Küste fjordeinwärts. Die Frau hielt mit beiden Händen das kleine Mädchen fest. Anders Knudsen war sechzehn Jahre jünger als seine Frau und als Draufgänger bekannt. Jedes Mal, wenn eine Welle Wasser über die Bootswand schwappen ließ, brach Stina in ihr trillerndes Gelächter aus.
»Kannst du sie nicht dazu bringen, ruhig zu sein?«, rief die Mutter.
Der Vater drohte einem Seevogel, der über ihnen kreiste. Das Boot tanzte über die Wellen vorwärts. Es war nicht das erste Mal, dass Anders Knudsen an einem stürmischen Tag auf See war. Er wollte versuchen, auf die windgeschützte Seite der Kircheninsel Veøy zu kommen, damit er das Segel einholen und die Ruder greifen konnte. Er zog an den Seilen, um das Segel loszumachen, doch eine der beiden Taljen, mit denen er es hochgezogen hatte, klemmte. Wenn er das Steuerruder losließ, würden sie kentern. Die Tochter sah es ihm an:
Es ging schneller, als er gedacht hatte. Ihr Lachen verstummte jäh. Sie klammerte sich an ihre Lumpenpuppe, und dann erinnerte sie sich an nichts mehr, bis das Boot auf einer Insel weit im Inneren des Fjords anlandete und über den Strand schrappte. Sie waren gerettet, aber Karen war wütend.
»Das hättest du nicht mit mir machen dürfen!«
»Kann ich etwas dafür, dass der Wind so stark ist?«
Er sprang an Land und hielt das Boot fest, sodass sie trockenen Fußes auf sicheren Boden kommen konnten.
»Na, siehst du!«, sagte er zu seiner Frau und machte das Boot an einem Baum fest.
»Willst du nicht deinem Schöpfer danken, dass er dich neuerlich gerettet hat?«, fragte seine Frau.
»Du bist ja immer noch böse!«, sagte er. »Warte nur, bis wir da sind, dann werde ich schon dafür sorgen, dass du wieder freundlich bist!«
»Das glaub man!«, erwiderte seine Frau.
»Ich frage mich, wo wir hier sind. Ich glaube, das muss Holmsholmen sein.« Er sah an den mit Kiefern bewachsenen Felskuppen hoch. »Wie sonderbar, dass wir hier gelandet sind! Nun müssen wir warten, bis der Wind sich legt, und dann werde ich uns quer über den Fjord rudern. Für heute sind wir genug gesegelt!«
»Wenn ich nur bei lebendigem Leibe ankomme. Danach wird es eine Weile dauern, bis ich wieder mit dir in ein Boot steige!«, sagte seine Frau.
»Es ist Holmsholmen, tatsächlich«, sagte Anders. »Ob die Stange wohl immer noch da oben steht?«
»Bist du nicht ganz bei Trost? Damit haben wir nichts zu schaffen!«
»Also, ich gehe jetzt hinauf und schaue nach! Komm mit, Stina, dann siehst du einen Schädel, der auf einer Stange steckt!«
»Ich glaube, du bist verrückt«, rief seine Frau. »Auf keinen Fall nimmst du deine Tochter mit dorthin! Sie wird davon Albträume bekommen!«
»Sie wird das Leben wohl eher liebgewinnen, wenn sie sieht, wie grausam der Tod ist!«
»Alle anderen außer dir scheuen solche Orte!«
»Ich bin fertig mit allem alten Aberglauben. – Lass Mutter solange deine Puppe halten!«
Er nahm seine Tochter an die Hand und ging den schmalen Trampelpfad hinauf, der zur höchsten Ebene der Schäre führte. Dort blieben sie stehen. Einen Steinwurf entfernt steckte in einer Spalte im Felsen eine Eisenstange. Oben auf der Stange hing ein blank gescheuerter Totenschädel, umgeben von einem Rest weißen Frauenhaars, das im Wind flatterte.
Marta Kristine bekam es nicht sofort mit der Angst zu tun. Erst nach und nach begriff sie, was sie da sah. Irgendjemand hatte einer Frau den Kopf abgeschlagen, und die Frau war tot. Von dort, wo sie standen, konnte sie rings um sich her den Fjord und die Berge sehen, die Wolken im Westen und die Schaumkronen auf den Wellen.
Vom Totenkopf auf der Stange drang ein Heulen zu ihnen her. Die Landschaft verlor ihre Farben, alles wurde grau. Um sie her toste es. Sie stand da, mitten in dem Lärm, und wollte schreien, bekam aber keinen Ton heraus. Die Stimme des Vaters war wie ein Donnerschlag.
»Ach, Margrethe Jakobsdotter, unglücklich war dein Ende!«
Obwohl Marta Kristine einen trockenen Mund hatte, brachte sie die Frage hervor: »Was hat sie getan?«
»Sie hat ein Kind geboren.«
»Aber warum haben sie ihr den Kopf abgehauen?«
»Weil sie das Kind getötet hat.«
»Aber warum hat sie das Kind getötet?«
»Weil sie ihren Verstand verloren hatte, mein Kind.«
»Aber warum haben sie den Kopf auf eine Stange gesteckt?«
»Damit andere Frauen nicht das Gleiche tun, wenn sie ein Kind bekommen!«
Der Vater nahm sie an die Hand und zog sie hinter sich her. Sie drehte sich noch einmal um, doch er trieb zur Eile an: »Nun müssen wir wieder zurück zu Mutter und dem Boot!«
Die Sonne schien nicht mehr, der Himmel bezog sich. Es wurde kälter. Die Mutter saß unbewegt neben dem Boot. Sie griff nach der Hand der Tochter, als hätte sie Angst gehabt, sie nie wiederzusehen.
Der Wind legte sich wie von Zauberhand, und der Vater schob das Boot wieder ins Wasser. Da kam Marta Kristine zu sich. Sie schrie, sodass es von den Felswänden der Schäre widerhallte. Das Schreien wurde zu einem Weinen.
»Was ist mit dir?«, rief der Vater. Er ruderte mit heftigen Schlägen.
»Was habe ich gesagt?«, erwiderte die Mutter. »Was habe ich gesagt?«
»Sie ist genau wie du – sie kann nichts ertragen!«
Er ruderte, dass das Boot nur so schaukelte. Das Weinen ging in Wimmern über. Marta Kristine schlief ein – mit dem Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter.
Erst als sie sich der Anlegestelle in Flovik näherten, wachte sie auf und sah den Ort, wo sie von nun an leben sollten. Denn die Mutter rief voller Freude: »Was für ein schönes Haus! Was für ein schöner Strand!«
DAS HAUS lag direkt am Fjord. Es war mehr als eine Häuslerkate, auch wenn dieser Flecken zu einem Häuslerhof umgewandelt worden war. Anders Knudsen sollte einen jährlichen Pachtzins von zwei Reichstalern an Hauptmann Dreyer bezahlen und im Sommer Pflichtarbeit auf dem Flovik-Hof verrichten.
Sie konnten die Anlegestelle unterhalb des Hauses gar nicht schnell genug erreichen. Der Vater schlug mit dem Tau einen halben Stek, damit sich das Boot nicht mit der Flut davonmachte, und lud das Reisegepäck ab. Marta Kristine nahm ihre Lumpenpuppe, und dann liefen sie und ihre Mutter rasch zum Haus hoch. Aus dem Kaufvertrag wussten sie, dass es im Erdgeschoss eine Stube, eine Küche, eine Speisekammer und einen Verschlag für Brennholz gab; die Schlafzimmer befanden sich unter dem Dach. Die Außenverkleidung bestand aus senkrechten Planken aus Kiefernholz, wie es in dieser Gegend üblich war. Gemessen an dem, was sie kannten, erschien ihnen das Haus wie ein kleines Schloss.
Sie warteten auf Anders Knudsen, der keuchend mit einem Teil des Reisegepäcks ankam.
Er schlug die Tür weit auf.
»Denkt nur, sie haben sogar die Angeln geschmiert!«, sagte er. Innen war es hell, sodass sie alles begutachten konnten. Es gab einen Schornstein mit Feuerstelle in der Küche und einen gusseisernen Ofen in der Stube. Was für ein Wohlstand! Die Decken waren gestrichen, alles war hell und sauber.
»Das ist wohl nicht das schlechteste Haus hier in der Gegend«, sagte der Vater. »Wenn es einem hier nicht gut geht – wo soll es einem dann gut gehen?«
»Wir dürfen nicht vergessen, unserem Herrgott zu danken«, meinte Karen, »der so gut für alles sorgt!«
»Ja, und wir müssen Ola Nesje danken, der für den Verkauf gesorgt hat!«, erwiderte der Schuhmacher.
Es gab eine Schlafbank, einen Tisch, einen Schrank und ein eingebautes Bett. Sie öffneten ihre Säcke, wühlten in Kisten und holten hervor, was sie dabeihatten: ein paar Messer und Tassen, einen Kochtopf, Zinnteller und auch Felldecken, die sie die Bodentreppe hinauftrugen.
Bevor sie Feierabend machten, holte der Vater in einem Holzeimer Wasser von dem Brunnen, der etwas oberhalb am Hang lag. Marta Kristine tauchte einen Becher ins Wasser und trank.
»Ist das nicht gutes Wasser?«, fragte der Vater.
Sie nickte, füllte ihren Becher ein weiteres Mal und dann noch einmal.
»Nein, nun ist es genug!«, sagte die Mutter und nahm ihr den Becher aus der Hand.
»Gott bewahre«, sagte der Vater, »darf sie nicht einmal trinken, bis sie ihren Durst gestillt hat?«
»Sie schüttet so viel in sich hinein, dass sie heute Nacht ins Bett machen wird!«
»Doch nicht dieses Mädchen – sie war mit einem Jahr trocken.«
»Ja, bestimm du nur! Ich kann sie bald nicht mehr bändigen.«
»Warum soll man Kinder bändigen – sollen sie sich nicht lieber selbst bändigen?«
»Ach, dass du immer klüger sein musst als die Unterirdischen!«, entgegnete die Mutter. Sie konnte aber nicht verbergen, wie froh sie über das neue Haus war.
»Ich bin klüger«, lächelte der Vater und griff nach seiner Frau, »ich bin klüger!«
»Mach Feuer, und führ dich nicht so auf!«, sagte die Mutter.
Sie schlug seine Hand weg und begann, das Abendessen vorzubereiten. Der Vater schichtete Kleinholz auf und feuerte an. Die Mutter hängte einen Topf an den Kesselhaken über der Feuerstelle und holte den Beutel Mehl hervor, den sie aus Gjermundnes mitgebracht hatten. Eine Messerspitze Salz durfte nicht fehlen, und dann musste die Grütze kochen. Die Mutter erwärmte den letzten Rest Milch, den sie noch hatten, und goss ihn darüber. Schließlich aßen sie, ohne viele Worte.
»Es wird schön werden«, sagte der Vater.
»Nun lasst uns schlafen«, sagte die Mutter.
Sie stiegen die Treppe zum Dachboden hinauf. Der Vater trug eine Kerze, sodass sie wenigstens die Hand vor Augen sehen konnten. Er schlug die Tür zur kleinsten Bodenkammer auf.
»Hier sollst du wohnen, Stina. Wir können die Tür offen lassen, wenn du willst.«
»Ich habe keine Angst!«, antwortete die Tochter.
»Na, dann!« Der Vater blies das Licht aus. Die Tür ließ er aber trotzdem offen.
Marta Kristine legte sich unter die Felldecke. Sie hörte, wie der Vater weitersprach, jetzt etwas leiser. Die Mutter murmelte eine Antwort. Marta Kristine tat so, als sei sie eingeschlafen. Sie lag da und atmete gleichmäßig.
»Wollen mal sehen, ob wir uns in diesem neuen Haus nicht versöhnen können«, sagte der Vater.
»Nicht jetzt«, erwiderte die Mutter.
»Ach du, manchmal kannst du wirklich bockig sein.« Die Stimme des Vaters klang munter.
»Nicht, wenn das Mädchen uns hören kann«, murmelte die Mutter.
Es folgte ein dumpfer Stoß, dann war es still. Kurz darauf wurde es unruhig im Bett. Und plötzlich stand Marta Kristine glasklar vor Augen, was sie dort taten. Die Angst, die sie früher am Tag empfunden hatte, überfiel sie erneut. Das Bett knarrte, die Mutter stöhnte auf, dann wurde es still.
Marta Kristine war allein in der Welt. Sie tastete nach der Lumpenpuppe und bekam sie zu fassen. Aber die Puppe war tot. Der Kopf baumelte an einem Faden und wollte sich nicht mit dem Körper zusammentun, ganz gleich, wie oft sie versuchte, ihn wieder an seinen Platz zu drücken. Sie lag ganz still da und dachte: Ich habe meine Lumpenpuppe getötet!
Bald schliefen beide Eltern. Der Vater schnarchte, die Mutter atmete tief. Marta Kristine richtete sich im Bett auf und setzte die nackten Füße auf den Fußboden. Dann ging sie still die Treppe hinab, schob den Riegel hoch, öffnete die Tür und trat hinaus auf die Türschwelle. Es war kühl, und im Fjord spiegelte sich der Mondschein. Kalter Tau lag auf dem Gras – das spürte sie, als sie ums Haus herumging und sich in die Hocke setzte, um Wasser zu lassen. Dann ging sie zu einem kleinen Wäldchen ganz in der Nähe des Hauses, legte die tote Puppe in einen Spalt hinter einem Stein und deckte sie mit Laub zu.
ALS SIE AUFWACHTE, stand die Tür offen und ließ den neuen Tag herein. Nach der Lumpenpuppe fragte niemand. Der Vater trug Wasser ins Haus. Er wusch sich das Gesicht und die Hände. Die Mutter kochte Grütze und sang. Marta Kristine saß auf dem Deckel der Schlafbank und sah ihre Mutter an.
»Warum singst du, Mutter?«
»Weil das Wetter so schön ist, mein Kind.«
Sie ging nach draußen und gewahrte den blauen Herbsthimmel. Auf dem Waldboden lag dick das Laub – wo sie die Puppe versteckt hatte, wusste sie nicht mehr. Nun hatte sie ihr eigenes dunkles Geheimnis.
Zwischen den Birken, die am Haus standen, konnte sie die anderen Höfe sehen. Drüben am Waldrand, unterhalb der Berghänge, lagen die Häuslerhöfe. Der Vater kam und lehrte sie die Namen. Nord-Nesje thronte am weitesten oben über der Siedlung. Der Ola-Hof und der Perse-Hof in Süd-Nesje hatten einen gemeinsamen Hofplatz. Danach wandten sie sich um, damit Marta Kristine die Namen der Inseln auf der anderen Seite des Fjords lernen konnte, die der Vater bereits in Erfahrung gebracht hatte: Sie lernte den Namen der Insel Veøy, wo die Kirche stand, und den der Insel Sekken, die beinahe ein kleines Land für sich war.
An den ersten Tag in ihrer neuen Heimat konnte sie sich seither immer deutlich erinnern. Danach flossen die Erinnerungen aus der frühen Kindheit ineinander. Es waren schwere Zeiten, und sie sollten noch schwerer werden. Draußen in der Welt kämpften Napoleon und die Engländer um die Vorherrschaft auf dem Meer. In den Siedlungen am Romsdalsfjord und im restlichen Norwegen waren die Menschen damit beschäftigt, von Tag zu Tag ihr Überleben zu sichern. In diesem Winter gab es von allem zu wenig, das galt besonders für Brotgetreide. Mit dem Fisch aus dem Fjord retteten sie sich über den Winter. Bevor der Frühling zu weit fortschritt, kehrte Anders Knudsen an den Ort zurück, aus dem sie gekommen waren, und kaufte eine Kiste Setzkartoffeln, die er vorkeimen ließ, bevor er sie in die Erde pflanzte. Er war einer der Ersten, der in der Siedlung Kartoffeln setzte, aber die anderen taten es ihm bald nach. Kohlrabi und Speiserüben hatten sie vorher schon angebaut, doch auch diese nicht in großen Mengen.
Und schließlich grub Anders Knudsen ein kleines Stück Land um und säte einen Scheffel Getreide.
SIE BEMERKTE nicht, dass die Mutter rundlicher wurde. Die Mutter wollte sich bücken, um ein Garnknäuel vom Boden aufzuheben, aber sie kam nicht bis ganz nach unten.
»Kannst du das für mich aufheben, Stina?«
Warum konnte die Mutter das Knäuel nicht selbst aufheben? In diesem Augenblick sah sie es. Alles ging sehr schnell. Das Gesicht der Mutter lief rot an. Sie setzte sich auf die Bettkante und wimmerte, als habe sie Schmerzen.
»Ruf deinen Vater!«, sagte sie.
»Was ist los, Mutter?«
»Ruf deinen Vater, sag ich!«
Sie lief zum Vater, der unten am Fjord war und gerade ins Boot steigen wollte.
»Was ist los?«
»Mutter hat Schmerzen!«
Da kam Bewegung in ihn. Er warf ihr ein Tauende zu.
»Mach das Boot fest!«
Das war nicht der Rede wert. Sie konnte sowohl den halben Stek als auch den Kreuzknoten. Sie machte noch einen extra Doppelknoten, bevor sie hinter ihm her zum Haus hochlief.
Als sie hereinkam, hatte der Vater die Mutter ins Bett verfrachtet. Er lächelte nicht, sondern sah ratlos aus.
»Lauf zum Ola-Hof hoch!«, sagte er. »Sag, dass die Magd herkommen soll!«
Nie zuvor war sie so schnell gerannt. Sie sprang die Hügel hinauf, verfing sich in dem hohen Gras, rappelte sich auf und lief weiter, und während ihr Herz wie wild schlug, bemerkte sie den Blutgeschmack im Mund. Was würde mit ihrer Mutter geschehen? Würden sie ihr den Kopf abschlagen?
Auf dem Ola-Hof angekommen, stürzte sie durch eine offene Tür in die Küche, doch keine Menschenseele war zu sehen. Es war Mittagsstunde, das begriff sie nun. Alle hatten sich hingelegt und schliefen. Sie getraute sich nicht, sie zu wecken, und setzte sich, um zu warten. Eine schwarze Katze mit grünen Augen stand da und sah sie an – den Schwanz senkrecht in die Höhe gestreckt. Sie fühlte sich wie betäubt. Die Katze kam näher, aber Marta Kristine brachte es nicht einmal fertig, sie zu streicheln. Sie wandte sich ab. Drinnen in einer Stube tickte eine Schlaguhr. Endlich knarrte eine Tür.
»Was willst du, Mädchen?«
Da stand die Magd, kämmte ihre strubbeligen Haare und war ärgerlich, weil Marta Kristine sie anstarrte. Marta Kristine brachte kein Wort heraus.
»Warum lungerst du hier herum?«, schimpfte die Magd. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Die Mutter …«, brachte sie endlich hervor.
»Was ist mit ihr?«
»Sie bekommt ein Kind, ohne dass jemand davon weiß!«, sprudelte es endlich heraus.
Nun gab es eine große Aufregung und ein Durcheinander. Die Magd rief nach der Bäuerin, die zur Tür hereinkam, und gleich darauf liefen beide die Hügel hinab nach Flovik. Marta Kristine schaffte es nicht, Schritt zu halten. Sie hatte auch keine Lust, nach Hause zu gehen. Sie hatte Angst vor dem, was dort vor sich ging.
Große schwarze Vögel schwebten über ihr. Im Gehen starrte sie zu den Wolken hoch, und als sie sich endlich dem Haus näherte, hörte sie das Weinen eines Kindes. Als sie eintrat, stand da die Magd und wusch ein kleines rotes Wesen in einem Waschzuber. Danach wickelte sie es in große Leinentücher. Marta Kristine näherte sich dem Kind, es wimmerte. Die Mutter lag im Bett und lachte übers ganze Gesicht, als es ihr gebracht wurde.
»Ich habe noch eine Tochter bekommen!«, rief sie ihrem Mann zu. »Ich bin der glücklichste Mensch auf der Erde!«
»Es geht immer vorwärts«, erwiderte der Schuhmacher. »Bald haben wir wohl von allem doppelt so viel.«
»Warum habe ich euch nicht ausgereicht?«, fragte Marta Kristine. Sie fand nicht, dass es darüber etwas zu lachen gab.
Schlagartig schien dem Vater etwas einzufallen.
»Es ist gut, Stina«, sagte er. »Alles ist in bester Ordnung! Lass die Kleine das Kind halten!«, meinte er plötzlich. »Sie ist jetzt groß genug.«
Und dann stand Marta Kristine mit dem kleinen Wurm in den Armen da. Die Augen waren geschlossen, aber die Schwester schrie nicht mehr. Sie sah aus, als schliefe sie. Sie hatte ein großes rotes Mal unter dem einen Auge. Wer ihr das wohl mitgegeben hatte?
Die Magd wusch die Mutter. Der Vater trug einen Eimer mit dem Mutterkuchen hinaus. Er zeigte Marta Kristine den Inhalt des Eimers, bevor er ihn vergrub. All das war aus dem Körper der Mutter herausgekommen.
Am fünften Tag stand die Mutter auf und wusch sich. Sie strahlte eine Freude aus, die Marta Kristine nie zuvor bei ihr bemerkt hatte.
»Warum bist du so froh, Mutter?«
»Weil ich ein Kind geboren habe! Es gibt keine größere Freude auf der Welt, als ein Kind zu gebären.«
»Warst du genauso froh, als du mich bekommen hast?«
Die Mutter sah sie an.
»Du willst aber auch alles wissen, du«, sagte sie.
»Warst du es? Warst du da genauso froh?«
»Das war ich bestimmt. Ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern.«
Warum war alles, wie es war?
An diesem Tag kam Marta Kristine zum ersten Mal der Gedanke, dass sie nicht länger bei ihren Eltern bleiben wollte. Sie wollte fort. Sie konnte ebenso gut gleich weggehen. Hier brauchten sie sie nicht. Sie folgte dem Weg Richtung Nord-Nesje, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich wollte. Schließlich kam der Vater hinter ihr hergelaufen.
»Wo um Himmels willen willst du denn hin?«
»Zu den blauen Bergen«, sagte sie, denn so hieß es in einem Märchen, das er ihr erzählt hatte.
»Heute Abend aber nicht mehr«, sagte der Vater, hob sie auf seine Schultern und trug sie nach Hause.
Das Mädchen, das zur Welt gekommen war, erhielt den Namen ihrer Mutter, Karen, und hieß seitdem ihr ganzes Leben lang Klein-Karen.
IM JULI begann bei Hauptmann Dreyer auf dem Flovik-Hof die Heuernte. Anders Knudsen arbeitete dort, die Kost als Lohn. Er hatte seine bald achtjährige Tochter Marta Kristine dabei. Die Mutter passte zu Hause auf das kleine Kind auf.
Wenn Marta Kristine später an ihre Kindheit zurückdachte, standen ihr die Sommer in Flovik besonders leuchtend vor Augen. Hauptmann Dreyer war den Großteil des Jahres bei seiner Kompanie, doch während der Heuernte kam er nach Hause und beteiligte sich persönlich an der Hofarbeit. Obwohl er klein gewachsen war, nahm er sich eine langstielige Sense und ging zuvorderst in der Reihe, fünf Mäher hinter sich. Dabei trieb er Kinder wie Erwachsene so unerbittlich an, dass ihnen der Schweiß herunterlief.
Zur Mittagszeit versammelten sich die Erntehelfer im Wohnhaus auf Flovik zum Essen. Dann kam die Erntegrütze auf den Tisch. Alles geschah rasend schnell. Die Erntehelfer hielten die Teller hoch, und die Magd füllte die Grütze auf. Dabei schlug sie den Schöpflöffel in die Teller, dass es knallte. Bevor sie den ersten Löffel mit Grütze zum Mund führen konnten, stimmte Hauptmann Dreyer ein Tischgebet an. Manche sangen mit, andere beugten nur den Kopf. Dann hauten sie rein. Die Holzlöffel hämmerten, die Leute schmatzten und spülten das Ganze mit Sauermilch hinunter. Danach gab es Fleischsuppe. Nie schmeckte Marta Kristine das Essen so gut wie in ihrer Kindheit auf dem Hauptmannshof.
In aller Herrgottsfrühe standen die Mäher in Reih und Glied. Sechs Männer dengelten. Sechs Sensen schwangen im Takt, und zuvorderst in der Reihe ging der Hauptmann. Alle wussten, dass er im Sommer darauf heiraten wollte, er hatte also allen Grund, sich zu spreizen, doch niemand hatte die Braut bisher zu Gesicht bekommen. Trotzdem gab es viele, die zu berichten wussten, dass sie einen Kopf größer war als der zukünftige Bräutigam. Das hörte Marta Kristine, und in einer ruhigen Minute, in der der Hauptmann dastand und eine kurze Pause einlegte, fragte sie ihn geradeheraus:
»Wie groß ist sie, deine Braut?«
Da wurde es still unter den Erntehelfern. Viele rechneten damit, dass nun der Jüngste Tag über sie hereinbrechen werde. Dreyer stutzte eine Sekunde, dann sagte er:
»Wenn ich sie küssen will, reiche ich gerade so heran.«
Dann lachte er, und die Erntehelfer lachten mit.
Nachdem er diesen Ton angeschlagen hatte, gewann er seine Leute noch mehr für sich, und Marta Kristine stellte fortan fest, dass der Schwung des Hauptmanns kühner geworden war.
So erinnerte sich Marta Kristine später an ihre Kinderjahre – als ein einziges Arbeitslied: wo die Rechenstiele ihren ungestümen Tanz tanzten, wo die Sensen im Takt schnitten – wsch, wsch –, wo die Knechte die Deichsel packten, wenn sie den Heuschlitten anspannen sollten, und der Hauptmann Hau-ruck! rief. Es war der erste lange Sommer, den Marta Kristine ihr Leben lang mit sich herumtrug – der Sommer, bevor die Heuernte vorüber war und sie und die Eltern in Flovikstrand ernten konnten, was sie auf ihrem eigenen kleinen Fleckchen Erde angebaut hatten. Braungebrannt und zufrieden waren sie nach diesem Heuerntesommer auf Flovik.
Marta Kristine war nun ein großes Mädchen und musste schon einiges mithelfen. Sie versorgte das Kleine und fütterte es mit einer Saugflasche, die aus einem Stoffbeutel mit eingeweichtem Essen bestand, angefeuchtet mit Milch. Sie lernte, einen Teig anzusetzen, und backte lefser, dünne Fladen aus Hafermehl, auf einer Eisenplatte über der Feuerstelle. Graupensuppe konnte sie auch zubereiten. Mal ging sie mit dem Vater zum Fischen, mal zog die Mutter für sie eine Kette am Webstuhl auf. Sie half, Kräuter zu sammeln, mit denen die Wolle gefärbt werden sollte. Sie bekam etwas in die Hand, lernte damit umzugehen und packte an, was verbessert werden konnte – doch was tief in ihrem Inneren vor sich ging, wusste niemand. Der Vater brachte ihr das Lesen bei. Es ging überraschend schnell. Er schrieb die Buchstaben für sie auf, und als sie sie gelernt hatte, setzte er sie zu Wörtern zusammen. Blitzartig verstand sie, wie das Ganze zusammenhing.
»Ich brauche nicht zur Schule zu gehen«, sagte sie, »ich hab das schon verstanden, das alles.«
»Gerade die, die alles verstanden haben, müssen zur Schule gehen«, sagte der Vater.
ALS DER HERBST kam, sammelten sich die Stare, und in den Bergen im inneren Romsdal fiel Schnee. Die Menschen waren auf dem Feld und holten die letzten Kartoffeln aus der Erde.
In Flovikstrand lag Klein-Karen in einer Wiege an der Tür, als eines Tages von überall her, von den Bauernhöfen und Häuslerkaten, Kinder gerannt kamen und auf das Haupthaus des Ola-Hofes zustrebten.
Schuhmacher Anders Knudsen erhob sich von seinem Stuhl. Er wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Dann erschien auch der Schulmeister, den sie Schul-Jo nannten. Den ganzen Sommer über war er mit zerrissener Hose herumgelaufen, doch nun war er gekleidet wie ein Pastor, mit weißem Hemd und schwarzem Gehrock.
»Was sehe ich da!«, versetzte der Dorfschuhmacher. »Warum wurden wir nicht benachrichtigt, dass heute die Schule beginnt? Stina soll auch zur Schule gehen!«
»Vielleicht denken sie, dass sie noch nicht alt genug ist?«, erwiderte die Mutter.
»Pah! Sie ist klüger als die anderen!«
Marta Kristine wurde ins Haus geholt, Hände und Gesicht wurden gewaschen. Sie bekam ein Kleid an – das eine, das sie besaß. Dann gingen die Mutter und das Mädchen die Hügel hinauf zum Ola-Hof. Doch als sie sich der Treppe näherten, blieb die Mutter stehen.
»Ich bin eine Häuslerfrau«, sagte sie, »es gehört sich nicht, dass ich da eintrete. Aber du sollst hineingehen, ohne dich zu schämen. Denn du hast ein Anliegen.«
Marta Kristine sah hinter der Mutter her, als diese den Heimweg antrat – eine kleine Frau, die einmal schön gewesen war, die nun aber ihre ersten grauen Haare bekommen hatte. Einige Male in ihrem Leben sollte es wieder vor ihr auftauchen: dieses Bild von der Mutter, die das Haus auf dem Ola-Hof nicht betreten wollte.
Sie stand im Gang. Was war das für ein sonderbares Grummeln, das zu ihr drang? Es war, als habe sich ein Gewitter im Haus niedergelassen. Als sie die Tür öffnete, schwoll das Grummeln zu einem Dröhnen an. Auf Stühlen und Bänken saßen Kinder, bestimmt zwanzig an der Zahl. Die ältesten saßen mit Fingern in den Ohren da und lasen laut und alle durcheinander, während der Lehrer versuchte, den jüngsten Kindern Rechnen beizubringen.
»Wie viel ergibt sechzehn mal zwo?«, rief der Lehrer auf Dänisch, der Amtssprache, die sich für Marta Kristine seltsam anhörte, und die Antwort krakeelte ihm entgegen: »Zwoun’dreißich! Zwoun’dreißich!«
Schul-Jos Blick fiel auf sie.
»Setz dich und hör zu!«, rief er. »Hast du einen Griffel und eine Tafel dabei?«
»Ich musste so schnell laufen, dass ich vergessen hab, sie mitzunehmen!«, antwortete Marta Kristine.
Schul-Jo zischte irritiert.
»Dann werde ich dir solange meine leihen! Aber morgen musst du sie mitbringen!«
»Ehrenwort!«, erwiderte Marta Kristine. Schul-Jo hielt einen Augenblick inne. Dann lachte er trocken.
»Es finden sich also Griffel und Tafel bei dir daheim?«
»Aber ja, aber ja«, sagte sie.
Marta Kristine war aufgeregt, als sie die Schreibgeräte in ihren Händen hielt. Die Tafel des Schulmeisters war aus Schiefer und der Griffel aus einem etwas weicheren Stein. Wenn etwas gelöscht werden sollte, musste sie einen feuchten Lappen holen. Sie saß da und rieb und hörte nicht mehr, was rings um sie her geschah.
ANDERS KNUDSEN FLOVIK, wie der Vater von nun an hieß, richtete sich als Dorfschuhmacher und Schlachter ein. Durchs Schlachten verschaffte er sich Häute und Felle, dann gerbte er sie und nähte Schuhe daraus. In diesem Herbst ging er in der Siedlung umher – den Schusterschemel an zwei Lederriemen auf dem Rücken und die hölzernen Leisten in der Hand. Kam er bei einem neuen Hof an, öffnete er den Kasten an seinem Schemel und nahm Messer und Ahle, Hammer, Pech, Zwirn und Schustergarn heraus. Er zeigte seine hölzernen Leisten vor, damit die Leute sehen konnten, wie schön und schmal die Schuhe waren, die er anfertigte. Dann setzte er sich auf den Schusterschemel, bückte sich und maß die Füße der Leute.
Marta Kristine begleitete ihn, wenn keine Schule war, und sah, wie es anderswo zuging. Sie kamen zu Häuslerkaten, wo die Kinder erst ein Paar Lederschuhe bekamen, wenn sie konfirmiert wurden, und manche selbst dann nicht – sie mussten in ihren Holzpantinen vor den Altar treten. Sie besuchten aber auch große Höfe, wo neues Schuhwerk zu Weihnachten unter dem Tannenbaum lag – so groß waren die Unterschiede. Was Marta Kristine besonders auffiel, war, dass es zwei Arten von Frauen gab. Da gab es zum einen die Bäuerinnen. Sie saßen da, umringt von einer großen Kinderschar, und webten oder spannen. Sie ruhten in sich und wichen nicht vom Wege ab – es sei denn, der Tod selbst stellte sich ihnen entgegen. Aber sobald sie gebären sollten, dachten sie an ihn. Manch ein Bauer war zum zweiten oder gar zum dritten Mal verheiratet, weil so viele Frauen im Kindbett starben.
Und dann gab es die unverheirateten Mägde. Sie arbeiteten für Kost und Kleidung und hatten kein eigenes Zuhause. Sie schliefen in der Küche oder in einer Bodenkammer und im Sommer auch im Vorratshaus oder in der Scheune. Schleppten sie ein Kind mit sich herum, wurde das Kind Bankert genannt, und ein Bankert wurde für nichts und wieder nichts ausgeschimpft und genauso für nichts und wieder nichts verprügelt.
Marta Kristine sah alles und saugte es in sich auf. Was auch immer zur Sprache kam, legte sie in ihrem Gedächtnis ab – selbst wenn sie nicht alles verstand. Je älter sie wurde, desto aufmerksamer wurde sie zudem für das, was nicht gesagt wurde. Sie sah vielsagende Gesten und Leute, die lächelten – aber nicht mit den Augen. Sie sah Menschen, die sich nicht mochten und sich aus dem Weg gingen. Sie lernte Redensarten, die sie nicht ganz verstand, die sie aber bald selbst gebrauchte.
»Wenn Weibsbilder ihre Köpfe zusammenstecken – na, schönen Dank auch!«, sagte Marta Kristine. Da warfen sie ihr einen verwunderten Blick zu, und dann lachten sie. Auch Neckereien und dreckige Reden schnappte sie auf, und als sie größer wurde, begriff sie, dass es rau zugehen konnte zwischen jungen Frauen und Männern, die einander zu sehr mochten.
»Auf Stensa hat die Frau die Hosen an!«, sagte Marta Kristine.
»Was sagst du da, du verrücktes Kind!«
Doch, das hatten sie in Nord-Nesje gesagt, und dann musste es wohl wahr sein!
Da war etwas im Gang zwischen Frauenzimmern und Kerlen. Solange die Mädchen jung waren, waren die Kerle hinter ihnen her. Aber es gab auch Mädchen, die ihnen darin nicht nachstanden. Einmal stand Marta Kristine hinter einem Türspalt und beobachtete zwei junge Burschen, die auf der Treppe eines Vorratshauses saßen und große Töne spuckten. Sie waren so beschäftigt mit ihrer Prahlerei, dass sie die Magd nicht bemerkten, die sich mit einem Holzeimer voller Wasser anschlich und ihn über dem Kopf des einen auskippte. Dann ließ sie den Eimer fallen und sprang fort. Der klitschnasse Junge setzte ihr nach. Sie stürzte in die Scheune und hielt die Tür zu, doch es gelang ihm hineinzukommen. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder herauskamen. Im selben Herbst verlobten sie sich, und im Frühjahr saß das Mädchen mit einem Kind da.
Marta Kristine sah die erwachsenen Frauen in den Häusern, sah, wie schnell diese Frauen alt wurden. Manche wirkten verbraucht, obwohl sie noch nicht einmal vierzig waren. Sie wollte nicht werden wie sie. Wieso hatte sie übrigens eine Frau werden müssen? Wieso hatte sie nicht ebenso gut ein Mann werden können?
Sie studierte die Frauen, beobachtete sie heimlich, vergaß sich und starrte sie an, bis sie sie anfauchten:
»Was glotzt du so, du Rindvieh?«
»Ich bin kein Rindvieh«, sagte sie dann.
»Warum glotzt du dann wie eine Kuh, hä?«
»Ich frage mich nur, was du mit deinen Zähnen gemacht hast!«
»Mit meinen Zähnen?! Du Glotzgöre, du!«
»Nein, nun sollen sie Stina aber in Ruhe lassen«, versetzte der Dorfschuhmacher.
»Ich sage nur, was ich sehe«, erwiderte Marta Kristine.
IM JANUAR und Februar des darauffolgenden Jahres waren acht Wochen Schule angesetzt. Marta Kristine war von der Schularbeit nun gänzlich in Anspruch genommen. Als sie einmal am Pult stand und eine Strophe aus dem Gesangbuch aufsagte, bemerkte sie nicht, dass die Tür aufging und ein Mann mit Backenbart und schwarzem Gehrock hereinkam. Erst als Schul-Jos laute Stimme ertönte, nahm sie den Besucher wahr.
»Erhebt euch für den neuen Pastor, Kinder!«
»Guten Tag, Schulmeister!«, sagte der Pastor.
»Guten Tag, Pastor Stub!«
»Sie müssen mit den Kindern Dialekt sprechen!«, sagte der Pastor.
»Wie Sie befehlen!«, erwiderte der Schulmeister. »Möchten der Herr Pastor lieber sitzen oder stehen?«
Marta Kristine hatte von ihrem Vater gelernt, dass sie allen Menschen in die Augen blicken sollte. Sie sah den Pastor unverwandt an. Der Pastor bemerkte, dass sie ihn anstarrte – die anderen Kinder hielten ihre Blicke gesenkt.
»Komm zu mir!«, sagte er, in reinem Dialekt. »Wo kommst du her?«
»Von Flovikstrand. Das ist so wahr, wie ich hier stehe.«
»Und wo liegt Flovikstrand?«, fragte der Pastor.
»Unten am Fjord. Wir sind vor einem Jahr und drei Monaten hierhergezogen.«
»Dann kennst du dich in der Siedlung noch nicht aus?«
»Doch, ich bin mit meinem Vater hier gewesen«, sagte sie, »wenn er unterwegs war, um für die Leute Schuhe zu machen.«
»Dein Vater ist Schuhmacher?«
»Ja.«
»Und geht es ihnen gut, deiner Mutter und deinem Vater?«
»Ja«, antwortete Marta Kristine, und dann setzte sie hinzu: »Und wie geht es dem Pastor?«
»Wie es mir geht? Tja, danke der Nachfrage«, entgegnete der Pastor verwundert. »Ich glaube, du bist die Erste hier im Ort, die mich fragt, wie es mir geht.«
»Und Frau und Kindern – geht es denen auch gut?«
»Ja, danke«, sagte der Pastor und lachte. »Hast du Geschwister?«
»Ich habe eine Schwester«, sagte Marta Kristine, »und sie wurde nicht geboren, ohne dass es jemand gemerkt hat.«
»Was meinst du denn damit?«
Doch darauf wollte sie nicht antworten. Stattdessen fragte sie: »Wie viele Kinder hast du?«
Sie sah, wie Schul-Jos Gesicht dunkelrot anlief, aber sie wusste nicht, ob er wütend war oder sich für sie schämte. Er warf ihr einen zornigen Blick zu, sagte aber kein Wort.
»Zehn Kinder habe ich«, antwortete der Pastor.
»Es gehört einiges dazu, so viele Münder zu stopfen!«, erwiderte Marta Kristine.
Der Pastor lachte. »Wer hat dir beigebracht, so zu sprechen?«
»Das war wohl Vater.«
»Du wirst im Leben weit kommen, du!«, sagte der Pastor.
»Ja, das habe ich vor«, sagte Marta Kristine.
»Und wie weit hast du dir so vorgestellt?« Der Pastor lachte wieder.
»Bis nach Bethlehem«, antwortete sie.
»Und warum willst du dorthin?«
»Weil dort Kinder geboren werden!«, sagte Marta Kristine.
Nun lachten die anderen Kinder, und auch Schul-Jo musste lächeln.
»Sagt das auch dein Vater?«, fragte der Pastor.
»Ja. Weißt du, wie viel sechzehn mal zwo ist?«, fragte sie dann.
»Zweiunddreißig«, sagte der Pastor.
»Nein, zwounddreißig!«, erwiderte Marta Kristine. »Das war das Erste, was ich hier in der Schule gelernt habe, das vergesse ich nicht so leicht.«
Die anderen Kinder lachten wieder.
»Worüber lachen sie denn jetzt?«, fragte der Pastor.
»Setz dich, Marta Kristine – aber sofort!«, rief Schul-Jo.
»Ja, aber ich habe den Kopf auf der Stange gesehen!«, sagte sie, und dann setzte sie sich.
»Nun bist du still!«, rief Schul-Jo.
»Bitte werd’ nicht auch noch böse!«, sagte sie zum Pastor.
»Du meinst auf Holmsholmen?«, fragte der Pastor.
»Es war so stürmisch, und dann sind wir auf Holmsholmen gelandet. Und Vater hat mir den Kopf auf der Stange gezeigt. Aber nun ist der Kopf nicht mehr da.«
»Das weißt du also auch?«, sagte der Pastor.
»Vater war eines Abends draußen auf dem Fjord fischen«, antwortete Marta Kristine, »und dann war der Kopf nicht mehr da. Die Stange war auch weg.«
»Was wisst ihr darüber?«, fragte der Pastor die anderen Kinder. Es war, als hätte er eine Schleuse geöffnet. Alle redeten durcheinander. Der Pastor hob die Hände, und nach einer Weile wurde es still.
»Wer hat den Kopf auf der Stange fortgenommen?«, fragte er.
»Das waren der Wind und der Regen«, sagte einer, der Hans hieß. Er hatte helles, beinahe weißes Haar.
»Nein, sie waren es nicht«, entgegnete der Pastor.
»Aber vielleicht hast du jemanden darum gebeten?«, fragte Marta Kristine.
»Darauf will ich nicht antworten«, sagte der Pastor.
Da verstand sie.
»Warum hast du jemanden gebeten, den Kopf herunterzuholen?«
»Dir kann man wirklich nichts vormachen«, erwiderte der Pastor. »Damit uns unsere Sünden vergeben werden.«
»Wer hat gesündigt?«
»Wir! Wir alle haben gesündigt!«
»Und gegen wen haben wir gesündigt?«
»Gegen Margrethe Jakobsdotter, der sie den Kopf abgeschlagen haben.«
»Aber ich habe nicht mitgemacht!«, rief Marta Kristine.
»Doch, das hast du leider doch«, sagte der Pastor. »Wir alle haben mitgemacht, weil wir Menschen sind.«
»Aber wir waren nicht dabei!«, riefen die anderen Kinder durcheinander. »Wir waren noch nicht einmal geboren.«
»Ich begreife es auch nicht«, sagte der Pastor nachdenklich. »Aber es ist so.«
DANN KAM der lange Sommer. Marta Kristine lief barfuß umher, und die Haut unter ihren Füßen wurde hart wie Leder. Wenn sie am Ufer entlanglief, sah sie manchmal das Pastorenboot. Der Pastor wohnte auf der großen Insel mitten im Fjord, auf Veøy, wo die steinerne Kirche stand. Vor langer Zeit hatte sich dort eine größere Siedlung befunden, mit vielen Häusern, und die Leute waren hinübergerudert und hatten dort eingekauft, weil die Insel mitten im Fjord lag. Nun lebte nur noch der Pastor dort – mit zehn Kindern und Mägden und Knechten. Wenn Gottesdienst war, machten sich die Leute aus Nesje dorthin auf den Weg. Sie ruderten und segelten hinüber, sofern der Wind nicht zu stark war. Der Pastor musste immer das Boot nehmen, wenn er zu seinen Gemeindegliedern unterwegs war. Aber er ruderte nicht selbst. Es gab drei oder vier Bauernjungen, die das übernahmen, und der Pastor, den die Leute Stubben nannten, saß achtern – auf dem Hinweg wie auf dem Rückweg. Wenn Marta Kristine den Pastor sah, dachte sie an das, was er gesagt hatte – dass alle schuldig waren. Sie wünschte mehr darüber zu erfahren, wie alles zusammenhing. Wenn sie mit den Eltern in die Kirche ging, war ihr Blick fast die ganze Zeit auf Stubben gerichtet, aber es gelang ihr nicht, mit ihm zu sprechen. Einmal, als er nach dem Gottesdienst im Vorraum der Kirche stand, war sie ihm so nah, dass sie seinen Talar hätte berühren können, aber es sah nicht aus, als könne er sich an sie erinnern.
Winter und Frühling vergingen. Als die Schule im dritten Jahr begann, saß sie immer neben Hans, der drei Jahre älter war als sie. Er war ihr Kamerad. Er war nicht hinter ihr her, und er lachte sie nicht aus, so wie die anderen Jungen, wenn sie zu eifrig redete und sich in etwas hineinsteigerte. Er war nachdenklich, manchmal fast abwesend. Er war nie wütend. Er war dreizehn Jahre alt. Sie selbst würde zwischen den Jahren zehn werden.
Es war an einem Vormittag im Herbst. Hans’ Mutter war krank. Sie lag oben in einer Dachkammer im Bett, aber Alt-Ola, ihr Mann, hatte entschieden, dass der Unterricht auf dem Ola-Hof stattfinden sollte, obwohl seine Frau krank war. Der Ola-Hof war der größte Hof im Ort, deshalb war er der Ansicht, dass die Schule dort stattfinden sollte – auch wenn seine Frau bettlägerig war.
Durch die Decke zum Dachboden hörten sie, wie Hans’ Mutter hustete. Dann gab es eine fast unmerkliche Pause im Lesegemurmel, denn alle wussten, wohin ein solcher Husten führte. Nur Hans tat so, als ob er es nicht merke. Aber er merkte es – Stina sah, dass er bei jedem Hustenanfall, den seine Mutter bekam, ganz steif wurde.
In der Stube stand eine Schlaguhr, die den ganzen Tag über tickte. Als die Pause kam und die anderen Kinder ein Tischgebet sprachen, aßen und dann zur Tür hinausliefen, um zu spielen, lief sie nicht mit den anderen, weil sie sah, dass Hans nach oben ging, um mit seiner Mutter zu sprechen.
Als es wieder losging, stimmte der Schulmeister einen Choral an, um alle Unruhestifter zur Ruhe zu bringen. Doch Hans kam nicht, bevor der Choral zu Ende war, und als er endlich erschien, war es, als sähe er sie alle nicht. Er war so abwesend, als sollte er in ein weit entferntes Land reisen.
»Was ist mit dir, Hans?«, fragte Schul-Jo.
Hans saß da und blinzelte.
»Mutter ist tot«, sagte er schließlich. Es wurde ganz still im Raum. Sie hörten nur die Schlaguhr, die tickte und tickte, bis Schul-Jo hinüberging und das Pendel mit der Hand anhielt.
»Hans’ Mutter ist tot«, sagte er. »Ihr könnt nach Hause gehen.«
Marta Kristine wollte nicht nach Hause gehen.
»Warum sollen wir nach Hause gehen, wenn Hans’ Mutter tot ist?«
»Wir wollen angesichts des Todes innehalten«, sagte Schul-Jo. »Für heute ist die Schule zu Ende.«
»Sollen wir hier innehalten?«
»Nein, ihr sollt nach Hause gehen und schweigen.«
»Warum sollen wir schweigen?«
»Damit Hans’ Mutter in Frieden ruhen kann.«
»Aber sie kann uns jetzt nicht mehr hören«, sagte Marta Kristine.
»Wir gehen nach Hause, damit ihre Nächsten in Ruhe trauern können.«
»Aber ich möchte hierbleiben.«
Sie wollte nicht, dass Hans allein blieb. Obwohl er gar nicht mehr allein war: Seine großen Geschwister waren hereingekommen, einer nach dem anderen, mit Ausnahme seiner zweitältesten Schwester, die bereits gestorben war. Die Schwester, die Ingeborg geheißen hatte, starb in dem Jahr, in dem Stina nach Flovik gekommen war. Auch Ola, der älteste Bruder, war nicht anwesend, ebenso Guri, die nächstälteste Schwester. Sie war in Nord-Nesje verheiratet, kam aber kurze Zeit später nach Hause. Die anderen Geschwister von Hans standen an der Tür, während die Schulkinder ihre Sachen zusammenpackten. Stina stand neben Hans, der immer noch auf seinem Stuhl saß. Sie streckte ihre Hand aus und strich ihm über das Haar.
Schul-Jo war ganz außer sich.
»Was machst du da?«, rief er. »Willst du wohl Hans in Ruhe lassen!«
Da sah sie, dass Hans weinte – so sehr, dass seine Schultern bebten. Aber es kam kein Laut. Sie wollte sich nicht von ihm trennen.
»Willst du wohl nach Hause gehen, Marta Kristine? Sofort!«, rief der Schulmeister. In diesem Augenblick kam Ola, Hans’ ältester Bruder, herein und sagte: »Es ist das Beste, wenn Stina bei Hans bleibt, Schulmeister!«
FÜNF JAHRE lang besuchten sie zusammen die Schule, Marta Kristine und Hans. Fand keine Schule statt, kam sie trotzdem zu ihm. Wenn es dämmerte, begleitete er sie zurück nach Flovikstrand. Sie liefen durch das Wäldchen bis zum Hof. Er blieb ein paar Schritte vom Haus entfernt stehen, und sie ging rückwärts und sah ihn dort warten, bis sie den Türriegel berührte.
Sie hatte keinen anderen Freund als Hans. Und sie wollte auch keinen anderen Freund haben. Wenn sie einmal groß war, wollte sie seine Frau werden und zehn Kinder bekommen. Das sagte sie ihm, und obwohl er ein großer Junge war, antwortete er Ja – mit großem Ernst.
Hans’ Eltern waren wohlhabend. Von seiner Mutter erbte er 33 Reichstaler, die als Anteil im Hof steckten. Außerdem erbte er 36 Reichstaler in bar, vier Reichstaler als Anteil an der Kirche zu Veøy, eine Tonne Hafer 1