Du selbst erkennender, fühlender, wollender Mensch,
Du bist das Rätsel der Welt.
Was sie verbirgt,
In dir wird es offenbar, es wird
In deinem Geiste Licht,
In deiner Seele Wärme.
Und deines Atems Kraft
Sie bindet dir die Leibeswesenheit
An Seelenwelten
An Geistesreiche.
Sie führt dich in den Stoff,
Dass du dich menschlich findest.
Sie führt dich in den Geist,
Dass du dich geistig nicht verlierest.
Rudolf Steiner1
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Justen, Josef F.
Titelfoto: Foto auf pixabay
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783753409658
Möglicherweise ist Ihnen der Haupttitel dieses Buches (Das Götterprojekt »Mensch«) etwas plakativ oder gar sonderbar erschienen. Dieser ist aber nicht nur sachlich durchaus berechtigt, sondern auch ganz bewusst so gewählt worden, um eine klare Abgrenzung zu dem zu ziehen, was der ›unsichtbare Papst‹, die viel zitierte öffentliche Meinung bzw. der sogenannte ›Mainstream‹, heute denkt und uns zu glauben aufzwingen möchte.
Wenn man das, was mit diesem Titel gemeint ist, in wenigen Sätzen zusammenfassen möchte, könnte man es aphoristisch etwa wie folgt formulieren:
In einer ur-urfernen Vergangenheit, von der die Wissenschaft und die offizielle Geschichtsforschung nicht einmal zu träumen wagen und die auch noch sehr, sehr weit vor der Zeit lag, von welcher die biblische Schöpfungsgeschichte erzählt, wurde der Mensch von hohen und höchsten göttlich-geistigen Wesen ›geplant‹. Die Veranlagung des Menschenkeimes erfolgte bereits auf einem uralten Weltenkörper, dem sogenannten »alten Saturn«.
Mit dem Menschen wollten die Götter kein Wesen den Weltentatsachen eingliedern, das gewissermaßen eine ›Kopie‹ bereits existierender Wesen, etwa der Engelwesen, darstellt. Vielmehr liegt es im göttlichen Plan, mit dem Menschen ein ganz neuartiges und einzigartiges Wesen zu schaffen, ein Wesen, das eines Tages einen freien Willen sein Eigen nennen kann. Die Schöpfermächte wollen mit dem Menschen keine schlichten ›dienstbaren Geister‹ in die Weltenverhältnisse hineinstellen. Sie haben mit dem Menschen ein Wesen ins Weltensein gestellt, das das Göttliche in sich aufnehmen kann. Sie haben ein Wesen geschaffen, dem es in ur-urferner Zukunft, von der die meisten Menschen sich keine Vorstellung zu machen vermögen, möglich, ja geradezu vorbestimmt ist, selbst ein schöpferisches, selbstbewusstes, freies, göttlich-geistiges Wesen werden zu können. Das ist das Geheimnis des Werdens, dass jedes Wesen emporsteigen kann von einem, das nur aus der göttlichen Gnade empfängt, zu einem, das selbst produktiv werden kann, das selbst schöpferisch tätig werden kann.2
Bis zu einem bestimmten Punkt, der aber auch schon in ferner Vergangenheit liegt, haben die Götter den Menschen noch geführt und ihm alles geschenkt, wessen er zu seiner Entwicklung bedurfte. Diese Führung mussten die Götter mehr und mehr lockern, damit der Mensch eines Tages zur wahren Freiheit gelangen kann. Heute ist er erst auf dem Weg dahin. Seitdem ist es die vornehmste Aufgabe eines jeden Menschen, über einen sehr, sehr langen Zeitraum, der sich über viele Erdenleben erstreckt, seine geistig-seelische Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen und mit heiligem Ernst und in völliger Selbstbewusstheit und Freiheit voranzutreiben, um das Menschheitsziel, ein schöpferisches göttlich-geistiges Wesen zu werden, eines ururfernen Tages erreichen zu können.
Es liegt nun an jedem Einzelnen von uns, ob das große ›Götterprojekt‹ gelingen wird. Projekte können bekanntlich auch scheitern. Sollte dieses Projekt scheitern, wäre es aber kein Versagen der Götter, sondern der Menschen!
»Der Mensch ist Götter-Ideal und Götter-Ziel.
Aber dieses Hinblicken kann nicht der Quell von Überhebung
und Hochmut beim Menschen sein.
Denn er darf sich ja nur, als von ihm kommend, zurechnen,
was er in den Erdenleben mit Selbstbewußtsein
aus sich gemacht hat.«3
Einem Leser, der sich bisher noch nicht sonderlich mit spirituellen Themen befasst hat, dürfte diese Skizzierung des Menschenwesens bzw. der menschlichen Existenz und des Menschheitszieles vielleicht etwas nebulös und unverständlich anmuten.
Aber das macht nichts! Wenn einem das, was mit obigen kurzen Andeutungen gemeint ist, völlig klar wäre und keine Fragen mehr offen ließe, so gäbe es gar keine Notwendigkeit, dieses Buch zu lesen.
In diesem Buch geht es also um nichts Geringeres, als ein Licht auf die größten und wichtigsten Mysterien des Weltgeschehens zu werfen. Wir wollen in die tiefsten Untergründe des menschlichen und kosmischen Daseins eintauchen und Antworten auf existentielle Fragen finden, die sich immer mehr Menschen stellen.
Wirklich seriös und umfassend können solche Fragen heute nur beantwortet werden, wenn man sie mit dem Licht der ANTHROPOSOPHIE, der Geisteswissenschaft, die der große Eingeweihte, Geisteslehrer und Menschheitsführer Dr. Rudolf Steiner, den wir in Kapitel 3 (S. 113ff.) näher vorstellen werden, vor rund 100 Jahren im Auftrage der göttlich-geistigen Welt den Menschen geschenkt hat, beleuchtet. Die unfassbar tiefen Erkenntnisse, die er aufgrund seiner jahrzehntelangen geistigen Forschungen gewinnen konnte, lüfteten den Schleier, der die Erdenwelt von den übersinnlichen Welten trennt.
Dank Rudolf Steiners Lebenswerk gibt es für jeden von uns die Möglichkeit, ein Verständnis für geistige Welten, Wesen, Pläne und Tatsachen zu gewinnen: das Studium der Anthroposophie. Die Geisteswissenschaft kann heute jeder ernsthaft bestrebte Mensch studieren, genau wie er etwa die Astronomie, Physik, Mathematik oder Medizin studieren kann. Es soll allerdings keineswegs der Eindruck erweckt werden, als sei das ein einfaches Unterfangen, das man in wenigen Jahren oder gar Monaten abschließen könnte. Das Studium der Anthroposophie, das man an keiner herkömmlichen Universität absolvieren kann, ist aus mindestens zwei Gründen komplexer, anspruchsvoller und fordernder als jedes andere Studium.
Zum einen sind die alle Lebensbereiche umspannenden Erkenntnisse, die wir der Anthroposophie verdanken, so unglaublich umfangreich, vielschichtig, weitreichend und tiefgründig, dass allein diese Fülle schon so manchen entmutigt hat. Zum anderen gibt es keinen Lehrplan, wie und in welcher Reihenfolge man vorzugehen hat, wenn man sich die extrem umfangreiche anthroposophische Literatur vornehmen möchte.
Das bis zum heutigen Tage veröffentliche Werk Rudolf Steiners umfasst über 350 Bücher. Der weitaus größte Teil dieser Bücher stellt Nachschriften seiner rund 6.000 frei gehaltenen Vorträge dar. Kein anderer Mensch hat jemals ein auch nur annähernd so gigantisches Werk hinterlassen. Wenn man diese Bücher, die gewissermaßen die Primärliteratur bilden, nur eher oberflächlich lesen wollte, würde das schon ein paar Jahre dauern. Mit Lesen allein ist aber noch nicht viel gewonnen. Man muss die Texte vielmehr – manchmal Satz für Satz – durchdenken, um ein Verständnis gewinnen oder sich diesem zumindest annähern zu können. Somit würde also ein ganzes Menschenleben kaum ausreichen!
Rudolf Steiner verwies darauf, dass er seinen Schriften ganz bewusst den Charakter aufgeprägt habe, dass der Leser durch die Gedankenanstrengung, die zum Verständnis seiner Darstellungen notwendig ist, bereits Kräfte gewinnt, um der geistigen Welt nahe kommen zu können. »Ich habe ganz bewußt angestrebt, nicht eine ›populäre‹ Darstellung zu geben, sondern eine solche, die notwendig macht, mit rechter Gedankenanstrengung in den Inhalt hineinzukommen. Ich habe damit meinen Büchern einen solchen Charakter aufgeprägt, daß deren Lesen selbst schon der Anfang der Geistesschulung ist. Denn die ruhige, besonnene Gedankenanstrengung, die dieses Lesen notwendig macht, verstärkt die Seelenkräfte und macht sie dadurch fähig, der geistigen Welt nahe zu kommen.«4
Eine sehr schöne und aus unserer Sicht besonders zutreffende Charakterisierung des Vortragswerkes von Rudolf Steiner, das heute als Nachschriften in Buchform erhältlich ist, hat Dr. Friedrich Rittelmeyer (1872 bis 1938) in seinem Buch »Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner« dargelegt: »Diese Vorträge sind ein ganz einzigartiges Geistesgut. Nicht wörtlich vorbereitet, aber innerlich offenbar aufs Sorgfältigste erwogen; nicht ohne stilistische Anstößigkeiten, nachdem nun das gesprochene Wort zum geschriebenen erstarrt ist, aber von hervorragender sachlicher Klarheit und Verständlichkeit auf schwerstem Gebiet; nicht ohne viele Wiederholungen, wie sie eine gewissenhafte Lehrtätigkeit eben erfordert, aber ohne Widersprüche trotz ihrer äußeren und inneren Fülle; nicht ohne größte Wunderlichkeiten für den, der unvorbereitet darin liest, aber immer heller in Wahrheit erstrahlend für den, der tiefer in sie eindringt – sind sie bei stets neuen wechselnden Blicken in alle Reiche der Welt zuletzt doch ein so grandioses Ganzes. Werden sie weiteren Kreisen, wie wir es als dringendes Bedürfnis empfinden, mehr erschlossen, so werden sie erst den rechten Eindruck geben von dem Überreichtum der Erkenntnisse, von der Exaktheit der Methoden und von dem Gesamtwesen der Persönlichkeit Steiners. Es spricht gewichtig für ihn, daß wohl manchmal entspannender Humor, aber nie und nirgends Gefallsucht, auch nicht ästhetische Gefallsucht, die Seele dieser Vorträge ist, sondern nur ein menschheitspädagogisches Gewissen. Nicht der Reiz wirbt um die Seelen, sondern die Wahrheit.«5
»Doch nicht nur eine Einzelfrage klärt sich auf, wäre sie noch so vielbedeutend. Verschwenderisch strömen aus dem höheren Bewußtsein die Erkenntnisse in alle Reiche des Lebens hinein. Nichts, was in Steiners Schriften und Vorträgen steht, ist ja zusammengedichtet oder zusammengedacht, auch wenn es älteren Anschauungen ähnlich ist, alles ist vom höheren Bewußtseinszustand aus selbst erforscht. Das macht gerade den Fall Steiner aus, daß niemand glauben will, ein einzelner habe dies alles wirklich erforscht – was andere nicht erforschen können.«6
Wenn jemand so vorgehen möchte, dass er gleich mit dem Studium der Werke Rudolf Steiners beginnt – wie auch der Verfasser und etliche andere Menschen seit vielen Jahrzehnten vorgegangen sind –, so ist das natürlich der direkteste und wohl auch beste Weg. Hierbei stellen sich allerdings Fragen, mit welchem Buch man beginnt, mit welchem man fortsetzt usw., die nur schwer allgemeingültig zu beantworten sind. Dennoch kann jemandem, der diesen Weg wählen möchte, empfohlen werden, zunächst Steiners Bücher »Theosophie« (GA 9) und anschließend »Die Geheimwissenschaft im Umriss« (GA 13) zu studieren. Anschließend kann man sich von seinem besonderen Interesse an bestimmten Themenkomplexen oder seiner ›inneren Führung‹ leiten lassen, mit welchen Werken man fortsetzen möchte.
Wenn ein Leser, der noch nicht oder erst vor kurzer Zeit zur Anthroposophie gefunden oder sich bisher nur am Rande mit ihr befasst hat, eines der etlichen Bücher Rudolf Steiners zur Hand nimmt, in denen einige seiner unzähligen Vorträge gedruckt sind, wird sich ihm eine ganz bestimmte Schwierigkeit darbieten: In seinen Vorträgen, in denen es meistens um spezielle oder weiterführende Themen geht, war es Rudolf Steiner natürlich nicht möglich, immer wieder die grundlegenden Begriffe ausführlich zu erläutern. Er musste voraussetzen, dass diese den Zuhörern schon weitestgehend vertraut waren. Somit wird jemand, der diese Vorträge heute studieren möchte, auf etliche Fachbegriffe stoßen, die er vermutlich nicht kennt und die ihm das weitere Lesen gewaltig erschweren.
An dieser Stelle soll in nicht geordneter Reihenfolge nur eine kleine Auswahl dieser fundamentalen Begriffe angeführt werden. Diese Termini wurden größtenteils von Rudolf Steiner selbst geprägt oder zumindest als geeignet gewählt:
ÄTHERGEHIRN, ASTRALLEIB, BEWUSSTSEINSSEELE, GRUPPENSEELE, MANAS, PHANTOM DES MENSCHEN, GEDANKENSINN, ASTRALPLAN, DEVACHAN, NIRVANAPLAN, INSPIRATIVE ERKENNTNIS, AKASHA-CHRONIK, GEISTIGE WESEN DER HÖHEREN HIERARCHIEN, KYRIOTETES, GEISTER DER FORM, VOLKSGEISTER, ELEMENTARWESEN, GEISTER DER UMLAUFSZEITEN, GEDANKENWESENHEITEN, AHRIMAN, LUZIFERISCHE WESEN, KARMA, INKARNATIONSSTUFEN DER ERDE, ALTER SATURN, PRALAYA, LEMURIEN, TLAVATLI-VÖLKER, SLAWISCHE KULTUREPOCHE, KRIEG JEDER GEGEN JEDEN, NEUER JUPITER, SALOMONISCHER JESUSKNABE, MYSTERIUM VON GOLGATHA, KAMALOKA, KARMISCHES GERICHT, KAUSALLEIB, REGION DER FLIEßENDEN REIZBARKEIT, SATURNSPHÄRE, WELTENMITTERNACHT
Ein Verständnis dieser Termini ist eine wichtige – im Grunde sogar notwendige – Voraussetzung, um Steiners Vorträge wirklich verstehen zu können. Natürlich ist für jeden einzelnen Vortrag nur eine kleine Teilmenge dieser Begriffe als bekannt vorauszusetzen.
Alle diese Begriffe werden in diesem Buch – zum Teil sehr ausführlich und in einem größeren Kontext – erklärt. Im Stichwortverzeichnis (S. 579ff.) werden alle noch einmal mit Angabe der Seiten, auf denen sie im Text erläutert werden, aufgelistet. Somit eignet sich dieses Buch auch später immer wieder als Nachschlagewerk.
Mit dem vorliegenden Buch ist die Intention verknüpft, dem interessierten Leser eine recht umfassende Einführung in die aus unserer Sicht wichtigsten Themengebiete der Anthroposophie zu geben. Die grundlegenden Darstellungen vieler Bücher und Vorträge Rudolf Steiners werden hier in kompakter, gegliederter und relativ leicht verständlicher Form gegeben. Einem Leser dürfte, wenn er dieses Buch gelesen hat, auch verständlich werden, was wir oben in stark komprimierter Form über das ›Götterprojekt‹ geschrieben haben. Dieses Buch wendet sich sowohl an Leser, die einen ersten Einstieg in die Anthroposophie finden wollen, als auch an solche, die schon fortgeschritten sind.
Ein ›Einsteiger‹, der sich durch die Lektüre dieses Buches angesprochen fühlt, kann – nein, sollte – dann immer noch das eine oder andere Werk Rudolf Steiners oder auch eines der vielen anderen von Anthroposophen geschriebenen Bücher, die man als anthroposophische Sekundärliteratur bezeichnen kann, studieren.
Eine Bemerkung ist noch wichtig: In der Anthroposophie ist es nicht ganz so wie etwa in der Mathematik, in der ein Thema auf dem anderen aufbaut. Viele geisteswissenschaftliche Themen sind miteinander verwoben. Daher ist es unvermeidlich, dass in einigen Kapiteln manchmal schon Begriffe vorkommen, die erst in einem folgenden erklärt werden können. In solchen Fällen erfolgt immer ein Hinweis, wo dieser Begriff ausführlich erläutert wird (z.B. Kapitel 6 oder 2.4.3, S. →).
Da die Darstellungen dieses Buches sachlich weitgehend aufeinander aufbauen, sollten Sie die einzelnen Kapitel und Abschnitte in der gegebenen Reihenfolge lesen.
Eine persönliche Bemerkung sei noch erlaubt: Wenn man heute über die Erkenntnisse, die Rudolf Steiner uns mit seiner Anthroposophie vermacht hat, spricht – oder wie in diesem Fall – schreibt, fühlt man sich in einem gewissen Konflikt. Auf der einen Seite wird man von großer Freude ergriffen, allergrößte göttlich-geistige Wahrheiten seinen Mitmenschen mitteilen zu dürfen. Auf der anderen Seite muss man damit rechnen, dass man dadurch vielen als ein geradezu abenteuerlicher Phantast erscheint. Um mit Friedrich Rittelmeyer zu sprechen: »Man hat die Wahl, entweder unglaubwürdig zu scheinen, weil man das Unwahrscheinliche berichtet, oder unwahrhaftig zu sein, weil man das Unglaubliche verschweigt.«7
Wir haben uns ganz bewusst entschieden, nicht zu schweigen. Wir möchten es jedem einzelnen Leser überlassen, ob er die Erkenntnisse, die in diesem Buch dargestellt werden, annehmen kann und was er daraus machen möchte.
In den Text dieses Buches sind ganz gezielt sehr viele – zum Teil auch längere – Originalzitate Rudolf Steiners so eingeflochten worden, dass der Lesefluss nicht darunter leidet. Dadurch kann der Leser sich schon mit dem Duktus der Steinerschen Schriften und Vorträge vertraut machen, was ihm das spätere Studieren dieser Werke deutlich erleichtern dürfte.
»Diese im Text eingebetteten Zitate von Rudolf Steiner sind in einer anderen Schriftart gedruckt, um auf den ersten Blick als solche erkannt zu werden.«
»Zitate von anderen Persönlichkeiten und Bibelverse sind kursiv gedruckt.«
Josef F. Justen, Ostern 2021
Der Materialismus hat auch bis in die Religion hinein gewirkt.
Oder sind diejenigen, die wohl an die geistigen Welten glauben,
aber nicht den Willen haben, sie zu erkennen,
sind das keine Materialisten?
Das ist der Materialismus in der Religion, der da möchte,
daß sich das Geheimnis des Sechstagewerkes – wie sich die große
Weltenevolution im Sechstagewerk der Bibel auslebt –
vor seinen Augen abspielen soll, und der da spricht
von Christus Jesus als einer ›historischen Persönlichkeit‹
und vorübergeht an dem Mysterium von Golgatha.
Rudolf Steiner1
Dasjenige, was im Vorwort mit »Götterprojekt« angedeutet wurde, dürfte bei der großen Mehrheit der heutigen Menschen im günstigsten Fall auf Unverständnis stoßen. Vermutlich werden die weitaus meisten das sogar für Phantastereien halten, die nur dem Kopf eines Spinners, der nicht mit beiden Beinen fest auf dem Boden der sogenannten Realität steht, entsprungen sein können.
Das fehlende oder zumindest mangelnde Verständnis für alles Geistige, das in der heutigen Zeit vorherrschend ist, geht einher mit der Tatsache, dass wir seit knapp zwei Jahrhunderten im Zeitalter des MATERIALISMUS leben, der sich allerdings schon deutlich früher angekündigt hat und vorbereitet wurde. Das Credo des Materialismus lautet, dass alle Gedanken und Ideen Erscheinungsformen der Materie seien. Diesen Materialismus, der gerade in unseren Tagen seine abscheulichsten Blüten treibt, kann man in gewissem Sinne als die schlimmste Krankheit der gesamten Menschheitsgeschichte bezeichnen. Ein Großteil der Menschheit hat sich mit dieser Ideologie, dieser Weltanschauung infiziert. Solche Menschen, also MATERIALISTEN, glauben nur an das, was sie mit ihren Sinnen wahrnehmen, beobachten und studieren können. Sie glauben nur an die Materie. Alles, was geistiger Natur ist, halten sie für nicht existent, ja für unsinnig. Alle Weltenerscheinungen betrachten sie somit zwangsläufig als das zufällige Resultat eines ›kosmischen Würfelspiels ohne Spieler‹.
Ein ›waschechter‹ Materialist ist natürlich auch immer Atheist – es sei denn, er stellt sich Gott als eine physische Wesenheit, die irgendwo in den Weiten des Universums residiert, vor. Dass diese Gottesvorstellung nicht von allzu weit hergeholt ist, zeigt eine Ihnen vielleicht bekannte Anekdote. Ein Astronaut prahlt: »Ich bin schon zigmal im Weltraum gewesen und habe nicht einen einzigen Engel, geschweige denn Gott gesehen.« Sein Freund, ein Gehirnchirurg, entgegnet: »Ich habe schon viele Tausend Gehirne operiert und noch nie einen Gedanken gesehen!«
Selbstverständlich kann man ein göttliches Wesen genauso wenig mit physischen Augen sehen wie man einen Gedanken, der ebenfalls etwas Geistiges repräsentiert, sehen kann. Schon die Tatsache, dass kaum einer bestreiten dürfte, dass es Gedanken gibt, zeigt, wie unsinnig es ist, nur dasjenige für existent zu halten, was man mit seinen Augen sehen oder mit seinen Ohren hören kann. Natürlich glaubt jeder vernünftige Mensch an die Naturgesetze, soweit sie bis heute erforscht sind. Aber auch diese Gesetze kann man nicht sinnlich wahrnehmen. Das, was man wahrnehmen kann, sind ihre Wirkungen, ihre Offenbarungen.
Die Materialisten nehmen für sich in Anspruch, die MATERIE bis in ihre atomare Struktur zu verstehen. Das Tragische ist jedoch, dass sie die Materie gar nicht kennen! Man kann sie nämlich erst dann wirklich kennen, wenn man das Geistige, das ursächlich hinter der Materie wirkt, berücksichtigt und beurteilen kann. »Es ist die Tragik des Materialismus, daß er nichts von der Materie weiß, wie sie in Wirklichkeit in den verschiedenen Gebieten des Daseins wirkt. Das ist gerade das Merkwürdige, daß der Materialismus so unwissend ist über die Materie. Er weiß gar nichts über die Wirkung der Materie, weil man darüber erst etwas erfährt, wenn man die in der Materie wirksame Geistigkeit, die die Kräfte darstellen, ins Auge fassen kann.«2
Was ist denn eigentlich Materie? Wo kommt sie her? Alles, was wir als »Stoff« oder »Materie« bezeichnen, urständet im Geistigen. Materie entsteht aus einer zerbrochenen, zerborstenen geistigen ›Form‹, einer Form, die man sich nicht räumlich vorstellen darf. Man kann die Materie niemals wirklich verstehen, wenn man nicht weiß, dass und wie sie aus etwas Geistigem entstanden ist! »Und wenn Sie nun ins Auge fassen zerbrochene Formen, etwas, was also dadurch entsteht, daß Formen, die noch übersinnlich sind, zerbrechen, dann haben Sie den Übergang von dem Übersinnlichen in das Sinnliche des Raumes. Und das, was zerbrochene Form ist, das ist Materie. Materie, wo sie im Weltenall auftritt, ist für den Okkultisten nichts anderes als zerbrochene, zerschellte, zerborstene Form. Wenn Sie sich vorstellen könnten, diese Kreide wäre als solche unsichtbar und sie hätte diese eigentümliche parallelepipedische Form, und als solche wäre sie unsichtbar, und jetzt nehmen Sie einen Hammer und schlagen rasch das Stück Kreide an, daß es zerstiebt, daß es in lauter kleine Stücke zerbirst, dann haben Sie die Form zerbrochen. Nehmen Sie an, in diesem Augenblicke, in dem Sie die Form zerbrechen, würde das Unsichtbare sichtbar werden, dann haben Sie ein Bild für die Entstehung der Materie. Materie ist solcher Geist, der sich entwickelt hat bis zur Form und dann zerborsten, zerbrochen, in sich zusammengefallen ist.«3
Wenn man nach den ersten Ursprüngen des Materialismus forscht, so kommt man zurück bis ins frühe Mittelalter und wird auf die Kirche hingeführt. In dieser Zeit gab es noch keine Wissenschaften im heutigen Sinne. Alle Lehren, unabhängig davon, worauf sich diese bezogen, gingen von der damaligen Kirche aus.
In jeder Religion gehört es zu den fundamentalsten Glaubensgrundsätzen, dass der Mensch zumindest noch etwas Unsterbliches, etwas Ewiges in sich trägt. Wie man etwa bei Paulus nachlesen kann, galt es in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten als eine Selbstverständlichkeit, dass der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist, das aus Körper, Seele und Geist besteht. Auf dem vierten Konzil zu Konstantinopel, das im Jahre 869 stattfand, wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass diese Dreigliederung immer mehr aufgeweicht wurde, indem der Geist verleugnet wurde. Durch diese ›Abschaffung‹ des Geistes wurde von der Kirche – vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein – eine höchst fatale Entscheidung getroffen, die den Boden bereitete, auf dem Jahrhunderte später der Materialismus sprießen konnte. Nach kirchlicher Auffassung besteht der Mensch also lediglich aus Körper und Seele, der sie einige geistige Eigenschaften zugesteht und die sie deshalb manchmal auch als Geistseele bezeichnet.
Bereits 300 Jahre zuvor wurde auf dem zweiten Konzil zu Konstantinopel ein durchaus folgenschwerer Bannspruch verhängt. Um was ging es dabei? Bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte hatten die Menschen noch gewisse hellseherische Fähigkeiten. Zumindest waren sie noch in der Lage, bestimmte geistige Dinge traumhaft wahrzunehmen. So wussten sie auch, dass ein Mensch schon da ist, schon existiert, bevor er auf der Erde geboren wird. Auch der berühmte Schriftsteller und Kirchenlehrer Origines (um 185 bis 254) vertrat die Präexistenz der menschlichen Seele. Er gewann sehr viele Anhänger, die auch noch Jahrhunderte nach seinem Tod an seinen Lehren festhielten. Vermutlich nahm die Schar seiner Anhänger solche Ausmaße an, dass die Kirche sich genötigt sah, die Lehren dieses großen Denkers auf dem zweiten Konzil zu Konstantinopel im Jahre 553 zu verurteilen. Hier wurden viele Lehren, von denen die meisten auf ihn zurückgingen, mit dem Kirchenbann belegt. Einer dieser Bannsprüche lautete: »Wenn einer die erdichtete Präexistenz der Seelen und ihre daraus folgende phantastische Wiederherstellung vertritt – so sei er im Bann.«4
Der Materialismus kommt im Grunde von der Kirche des Mittelalters. Der Glaube daran, dass eine menschliche Seele schon vor der Geburt in der geistigen Welt existiert, wurde verboten. Die Kirche lehrte, dass der Herrgott jede Seele im Zuge der menschlichen Zeugung neu erschaffe. Also konnten die Menschen, wenn sie die Laune zu einem Zeugungsakt hatten, der dann zu einer Befruchtung führte, den Herrgott zu ihrem Diener machen, indem er eine Seele erzeugen musste. Man braucht nur ein wenig darüber nachzudenken, um erkennen zu können, wie absurd diese Vorstellung ist, die auch heute noch von den Kirchen vertreten wird! Auf solche Ungereimtheiten angesprochen geben Kirchenvertreter meistens Floskeln wie »Gottes Wege sind unerforschlich!« zur Antwort. »Dagegen führt uns eine wirkliche, eine wahre Erkenntnis des Menschen dazu, daß wir sagen: Die Seele ist eben durchaus schon da, hat immer gelebt, und steigt eben einfach herunter zu dem, was ihr geboten wird durch den Menschenkeim und seine Befruchtung.«5
Da die Kirchen die Präexistenz der menschlichen Seele verleugnen, bezeichnen sie konsequenterweise auch die Reinkarnation, also das Gesetz von den wiederholten Erdenleben, sowie das damit eng verbundene Schicksals- oder Karmagesetz als Irrlehren, wie man etwa dem Katechismus der katholischen Kirche entnehmen kann. Ohne die Reinkarnationslehre, die man zu den elementarsten und zentralsten spirituellen Wahrheiten zählen muss, können viele Geschehnisse im Weltensein nicht verständlich werden. Es ist in unserer Zeit von allergrößter Bedeutung, dass wir die Lehren von den wiederholten Erdenleben und dem Karma anerkennen und zumindest ein Stück weit verstehen lernen.
Woher kommt es eigentlich, dass die Kirchen so wenig Verlässliches über Geistiges lehren können? Nun, das kommt im Wesentlichen daher, dass die Kirchen davon ausgehen, dass die göttlich-geistige Welt sich ausschließlich bis vor etwa 2.000 Jahren den Menschen geoffenbart hätte. Somit rechnen sie nur mit den Offenbarungen, die Moses, den alten Propheten, den Evangelisten sowie den Verfassern der Apostelbriefe zuteil wurden. Nur diese Persönlichkeiten halten sie für autorisiert, göttlich-geistige Wahrheiten zu verbreiten. Die kirchlichen Lehren basieren vorwiegend darauf, wie die Kirchenväter der ersten nachchristlichen Jahrhunderte diese Texte übersetzt und ausgelegt haben. Diesen Status haben sie eingefroren. Lediglich wurden einige geringfügige Änderungen oder Ergänzungen durch den einen oder anderen Konzilsbeschluss vorgenommen. Alles, was seitdem durch die sogenannten »Neuoffenbarungen«, wie sie in erster Linie in den letzten Jahrhunderten durch geistige Seher und hohe Eingeweihte, allen voran Rudolf Steiner, in die Welt gekommen sind, ignorieren sie oder lehnen sie auf das Schärfste ab.
Stellen Sie sich vor, unsere Wissenschaften würden genau so verfahren! Dann würde zum Beispiel ein heutiger Astronom sagen: »Das, was die großen Astronomen bis vor gut 500 Jahren erforscht und veröffentlicht haben, war uneingeschränkt richtig. Mehr kann man über diese Dinge nicht wissen. Es gibt seitdem nichts mehr, was noch erforscht werden könnte. Alles, was Astronomen in neuerer Zeit gesagt haben, kann nur falsch sein.« Jedem Kirchenvertreter käme das absolut absurd vor, obwohl diese prinzipiell genau so verfahren.
Bis vor gar nicht einmal allzu langer Zeit war allerdings das wenige, was die Kirchen über geistige Themen lehren, noch hinreichend. Da waren die Menschen noch nicht reif, tiefere Erkenntnisse aufnehmen zu können. Diese hätten sie noch nicht fassen und vertragen können. Da war es noch hinreichend und notwendig, dass die Menschen aus tiefstem Herzen glauben, ohne wirklich etwas wissen oder verstehen zu können. Diese Zeiten sind aber seit über hundert Jahren vorbei! Heute stellt es eine Notwendigkeit dar, dass gesicherte geistige Erkenntnisse in die Welt kommen! Heute ist es unerlässlich, dass jeder Mensch nach der Wahrheit strebt!
Der Materialismus hat sich längst auf allen Ebenen des Lebens breitgemacht. Er durchzieht – insbesondere in der europäisch-amerikanischen Welt – alle Schichten der Gesellschaft. Auch vor der Wissenschaft hat er nicht haltgemacht. »Der Materialismus in der Naturwissenschaft ist erst eine Folge des Materialismus in der Religion; es gäbe ihn nicht, wenn nicht das religiöse Leben vom Materialismus durchsetzt wäre. Diejenigen, die heute zu bequem sind, sich auf religiösem Gebiet zu vertiefen, sind dieselben, die in der Naturwissenschaft den Materialismus erzeugt haben.«1
So sehr man die Leistungen und Errungenschaften unserer Wissenschaftler anerkennen und bewundern muss, ist nicht zu übersehen, dass sie immer materialistischer geworden sind. Für göttliche Schöpferwesen ist in ihren Lehren kein Platz. Es scheint ein wenig schizophren, dass viele Wissenschaftler Gottesdienste ihrer Religionsgemeinschaft besuchen, obwohl sie nur an die Materie glauben.
Das war nicht immer so. Bis vor etwa hundert Jahren waren die meisten Wissenschaftler noch durchaus spirituell gesinnt. So sagte etwa der berühmte deutsche Physiker, Begründer der Quantenphysik und Nobelpreisträger Max Planck (1858 bis 1947) in einem Vortrag: »Und so sage ich nach meinen Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt – es ist der Menschheit nicht gelungen, das heißersehnte Perpetuum mobile zu erfinden – so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewußten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie. Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche – denn die Materie bestünde ohne den Geist überhaupt nicht –, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre! Da es aber Geist an sich ebenfalls nicht geben kann, sondern jeder Geist einem Wesen zugehört, müssen wir zwingend Geistwesen annehmen. Da aber auch Geistwesen nicht aus sich selber sein können, sondern geschaffen werden müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu benennen, wie ihn alle Kulturvölker der Erde früherer Jahrtausende genannt haben: Gott! Damit kommt der Physiker, der sich mit der Materie zu befassen hat, vom Reiche des Stoffes in das Reich des Geistes.«6
Heute werden Sie nur noch sehr wenige Wissenschaftler finden, die Max Plancks Anschauung teilen. Und diese würden ihre Ansicht wohl kaum öffentlich vertreten, da sie ansonsten damit rechnen müssten, sich in Fachkreisen der Lächerlichkeit preiszugeben.
Die Naturwissenschaftler haben bis zum heutigen Tage die uns umgebende Sinneswelt bis in die Weiten des Universums und bis ins kleinste Elementarteilchen hinein weitgehend transparent gemacht. Vieles von dem, was noch vor hundert Jahren unbekannt war, konnte mittlerweile ans Tageslicht gefördert werden. In weiteren hundert Jahren werden zahlreiche weitere Phänomene, die heute noch nicht erklärt werden können, aufgedeckt sein, wobei natürlich immer der alte Spruch gilt: »Das Wissen von heute ist der Irrtum von morgen!« Das menschliche Wesen glauben die Wissenschaftler zur Gänze verstanden zu haben, wenn sie alle Organe und Funktionen des menschlichen Körpers erforscht haben. Für eine »Seele« oder gar für einen »Geist« ist in diesen Lehren kein Platz mehr.
Das konfessionelle Christentum, also die großen christlichen Kirchen, stehen den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Errungenschaften recht ohnmächtig und hilflos gegenüber. Sie bedürfen schon gewaltiger Bemühungen und Anstrengungen, um ihre göttlich-geistigen Offenbarungen, die sie weitgehend aus der Bibel beziehen, noch länger stützen zu können. Sie halten nur noch eine Trumpfkarte in der Hand, nämlich die wohl allgemeine Einsicht, dass alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und technologischen Errungenschaften nicht dazu führen konnten, die sozialen Probleme der Menschen zu mildern oder gar zu lösen.
(Wenn hier vom »konfessionellen Christentum« bzw. von den »großen christlichen Kirchen« gesprochen wird, so muss man von diesen die »Christengemeinschaft – Bewegung für religiöse Erneuerung« klar abgrenzen. In dieser 1922 gegründeten Religionsgemeinschaft, in der es keine Dogmen gibt, werden die Erkenntnisse der Anthroposophie voll anerkannt, ohne dass von ihren Mitgliedern verlangt würde, diese anzunehmen.)
Die Leidtragenden sind natürlich die Menschen. Für die meisten Menschen ist es heute sehr schwierig, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu relativieren oder womöglich sogar die eine oder andere Aussage anzuzweifeln. Zum einen fehlt häufig die Kompetenz, das beurteilen zu können, zum anderen würde man sich in weiten Kreisen geradezu lächerlich machen, wenn man sich in gewisser Weise gegen eine als anerkannt geltende wissenschaftliche Lehre aussprechen würde.
Die große Mehrheit der Menschen glaubt heute mit den Naturwissenschaften einen festen Boden zu haben, auf dem sie sicher stehen könne. Wenn ein solcher Mensch ganz ehrlich zu sich sein sollte, so müsste er konsequenterweise seine religiösen Vorstellungen, die er sich durch die kirchlichen Lehren gebildet hat, verwerfen. Das, was unsere Naturwissenschaftler sagen, scheint in keiner Hinsicht mit dem zusammenzupassen, was die Theologen oder Kirchenvertreter lehren. Wie könnte etwa ein Gott, der aus Himmelshöhen auf die Erde niederkam, von den Toten auferstand und wieder in den Himmel aufgefahren ist, mit modernem naturwissenschaftlichen Denken in Einklang gebracht werden? Wie könnte auf diese Art begründet werden, dass jedem Menschen ein ewiges Leben, also auch ein Leben nach seinem Tod, sowie die Auferstehung verheißen wird? Die soeben beschriebenen Ereignisse stellen aber den Mittelpunkt des christlichen Glaubens dar!
Nun verhalten sich beide Seiten, sowohl die Naturwissenschaften als auch die Kirchen, nicht unbedingt redlich. Die meisten Naturwissenschaftler sind mittlerweile so materialistisch und arrogant geworden, dass sie alles rundherum für Träumereien oder Aberglauben halten, was sich ihren Forschungen und Denkmodellen entzieht. Sie sind nicht so ehrlich zuzugeben, dass sie mit all ihren Mitteln und Methoden, die an die menschlichen Sinne gebunden sind, ausschließlich Sinnliches, niemals aber Geistiges, beobachten und studieren können. Man kann etwas nicht nur deshalb für eine Illusion halten, weil man nicht die ›Organe‹ hat, es wahrzunehmen. Kein Blindgeborener käme jemals auf die Idee, Licht und Farben als eine Illusion zu bezeichnen, nur weil ihm das entsprechende gesunde Wahrnehmungsorgan fehlt.
Die Vertreter der großen Kirchen rechnen weder mit dem freien Willen des Menschen noch mit seinen Erkenntniskräften. Sie argumentieren, dass man alles, was geistig-seelischer Natur ist, niemals mit menschlichem Erkenntnisvermögen erfassen könne. Somit verweisen sie alles Göttlich-Geistige in den Bereich des Glaubens. Die katholische Kirche, die traditionell für sich, was die Verkündung und Verbreitung geistiger Wahrheiten angeht, eine Monopolstellung reklamiert, betoniert ihre Lehren in Dogmen ein.
Trotz allem scheint die Anzahl derjenigen Menschen, die nicht im Sumpf des Materialismus versinken wollen und eine große Sehnsucht nach spirituellen Erkenntnissen haben, in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise immer mehr zuzunehmen. Viele begnügen sich allerdings mit den doch eher dürftigen Lehren ihrer Kirche. Andere suchen in einer der zahlreichen esoterischen Kreise und Strömungen nach Befriedigung ihres Erkenntnisdurstes.
Auch wenn man sich tunlichst vor Verallgemeinerungen hüten sollte, muss doch gesagt werden, dass das, was in vielen esoterischen Schulen, Zirkeln, Kreisen und dergleichen gelehrt wird, nicht zeitgemäß ist. Zu sehr wird hier an das Gefühlsmäßige und zu wenig an das klare und objektive Denken des Menschen appelliert. Außerdem kann man in vielen Fällen nicht davon sprechen, dass man hier an das wirklich Geistige heranreicht. Das Geistige stellt man sich oftmals eher doch als etwas Materielles vor, das lediglich dünner, feiner und ›durchsichtiger‹ ist.
Wenn es der Menschheit nicht gelingen sollte, den Materialismus als eine Verirrung unserer Zeit zu erkennen und zu überwinden, läuft sie Gefahr, ihr Seelisch-Geistiges immer mehr zu verlieren und zu automatenhaften Wesen zu werden. »Es werden durch das Fest-darin-Stecken im Materialismus nicht bloß Menschen erzeugt, die schlecht denken über das Leibliche, Seelische und Geistige, sondern es werden materiell denkende und materiell fühlende Menschen erzeugt. Das heißt, der Materialismus bewirkt, daß der Mensch ein Denkautomat wird, daß der Mensch ein Wesen wird, das als physisches Wesen denkt, fühlt und will. Und es ist nicht bloß die Aufgabe der Anthroposophie, an die Stelle einer falschen Weltanschauung eine richtige zu setzen – das ist eine theoretische Forderung –, das Wesen der Anthroposophie heute besteht darin, daß angestrebt wird nicht nur eine andere Idee, sondern eine Tat: das Geistig-Seelische wieder herauszureißen aus dem Leiblich-Physischen, den Menschen heraufzuheben in die Sphäre des Geistig-Seelischen, damit er nicht ein Denk-, Fühl- und Empfindungsautomat sei. Die Menschheit steht heute in der Gefahr [...], das Seelisch-Geistige zu verlieren.«7
Es soll zum Abschluss dieses einleitenden Kapitels der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass immer mehr Menschen in den gigantischen und bedrohlichen Nebelschwaden des Materialismus, in dem mittelalterlichen Dunst der konfessionellen Kirchen sowie in den rosaroten Wolken der ›Blümchenesoterik‹ den Leuchtturm der Anthroposophie zu erkennen vermögen und ihm folgen werden.
Hab Achtung vor dem Menschenbild,
Und denke, daß, wie auch verborgen,
Darin für irgendeinen Morgen
Der Keim zu allem Höchsten schwillt!
Christian Friedrich Hebbel
Das entscheidende Wort, das der Begriff »