Stille Invasion
Roman
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ebook im be.bra verlag, 2021
© der Originalausgabe:
edition q im be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2020
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
post@bebraverlag.de
Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin
Umschlag: Manja Hellpap, Berlin (Illustrationen: Nina Pagalies)
ISBN 978-3-8393-2148-5 (epub)
ISBN 978-3-86124-752-4 (print)
www.bebraverlag.de
»Unbewaffnet schicken wir euch nicht zum Feind.« Franz Wollseifer raunt die Worte nur, schiebt den Uniformierten durch eine graue Stahltür ins düstere Nebenzimmer und öffnet seine abgewetzte Aktentasche. Er zieht ein dunkelbraunes Schulterholster hervor und eine frisch geölte Pistole.
Durch die halb geöffnete Tür fällt nur spärliches Licht aus dem großen Umkleideraum, wo einige Dutzend Männer dunkelblaue Uniformen anlegen. Wollseifer, Oberst der Staatssicherheit, drückt dem anderen die Pistole in die Rechte. Hans Kotowski, der Stasi-Major, soll die Truppe nach West-Berlin führen. Seine Handflächen sind trocken. In solchen Momenten beobachtet er sich selbst ganz genau. Der stellvertretende Minister hat ihn ausgewählt für den »besonderen Einsatz vor dem Feind« – und er hat keinen Moment gezögert. Oberst will er werden. Oberst wie Wollseifer, der einen Volvo fährt und eine Datsche in der Schorfheide hat.
Kotowski wendet den Kopf zur Seite. Der Oberst, ein gedrungener, vierschrötiger Mann Mitte sechzig im hellgrauen Anzug, riecht säuerlich. Sein Atem ist kaum zu ertragen.
»Das ist eine Westberliner Polizeipistole«, sagt Wollseifer mit gedämpfter Stimme. »Eine P1. Neun Millimeter Luger aus französischer Produktion. Gesichert, mit acht Schuss im Magazin.« Auf dem linken Griffstück, unterhalb der Seriennummer, sticht der West-Berliner Polizeistern hervor. Klein, feinkantig. Man kann ihn spüren, wenn man die Waffe in der Hand hält.
Der Oberst zieht dünne schwarze Lederhandschuhe aus seiner Aktentasche. Kotowski hat unterdessen die Uniformjacke abgelegt, das Holster über sein hellbraunes Hemd gezogen und sich wieder angekleidet. Wollseifer wischt mit einem weichen Lappen die Fingerabdrücke von der Pistole und schiebt sie dem Major ins Holster, ein Reservemagazin hinterher.
»Du wirst die Handschuhe ab jetzt tragen, bis zum Schluss. Die Pistole ist zu eurer letzten Sicherheit. Von der Westberliner Polizei und der britischen Militärpolizei habt ihr nichts zu befürchten. Die werden euch nichts tun. Die brauchen euch.« Wollseifer lacht auf. Kotowski würgt wegen der sauren Atemluft. »Aber die sogenannten Streikenden sind unberechenbar. Niemand weiß, ob nicht der eine oder andere Terrorist eine Wumme im Hosenbund hat. Zieht er die, darfst du in Selbstverteidigung schießen. Aber nur dann. Danach wirfst du die Waffe weg. Möglichst weit. Und gehst selbst langsam nach hinten ab, unauffällig. Die Genossen werden dich decken. Findet man die Pistole später, wird man den Schützen in den Reihen der Westberliner Polizei suchen. Die Waffe stammt aus ihrem Depot. Alles ist echt, auch die Seriennummer.«
Die beiden Offiziere kehren zurück in den fensterlosen Umkleideraum im Zwischengeschoss des Bahnhofs Friedrichstraße. Das graue Gebäude, 1882 eröffnet, atmet den Kalten Krieg aus jedem Nagel, jeder Niete, jedem Bolzen. Dicht neben dem Bahnhof hat die DDR eine provisorisch anmutende Halle aufgeschlagen, den »Tränenpalast«, in dem die Ausreisenden, von Freunden oder Verwandten tränenreich verabschiedet, für den Grenzübertritt kontrolliert werden. Das Verfahren ist so kalt und inhuman wie die Grenztruppen, die damit beauftragt sind und dem Ministerium für Staatssicherheit unterstehen.
Aber nicht nur deshalb ist der Bahnhof Friedrichstraße auch ein Geheimdienst-Knotenpunkt. Eine unauffällige stählerne Tür in einer Backsteinwand gestattet ein- oder ausreisenden Agenten den unkontrollierten Grenzübertritt. Der Schlüssel für die Stahltür liegt in einem Panzerschrank im Ministerium für Staatssicherheit in der Normannenstraße. Wer diesen Schlüssel überreicht bekommt oder an sich bringt, ist schon fast im Westen. Durch die Stahltür auf den Bahnsteig, rein in die nächste S-Bahn – und ab in den Westen. Mancher fliehende DDR-Agent hat aus dem Panzerschrank in der Normannenstraße auch brisante Dokumente mitgenommen, als Eintrittskarte bei westlichen Geheimdiensten.
In dem Umkleideraum stehen Holzbänke an den Wänden, darunter sind Taschen und Schuhe geschoben. Darüber in dichter Reihe Kleiderhaken, an denen die Männer Jacken und Mäntel aufgehängt haben. An der nikotingelben Decke leuchten Neonröhren. Zwei von acht sind defekt und flackern nervös. Es riecht nach dem Putzmittel für den rostroten Kunststofffußboden. Westler erkennen den Geruch auf Anhieb, für sie ist er ein Kennzeichen der DDR. Ostler nehmen ihn gar nicht wahr. In der Mitte des Raums steht ein großer, rechteckiger Holztisch, darauf zwei Motorsägen, Stemmeisen, Äxte und Schlagstöcke.
Die Männer uniformieren sich schweigend. Sie sind in Gedanken schon bei dem, was kommen wird und was sie in groben Umrissen aus der Einsatzbesprechung wissen. Fünfundsechzig Mann, keiner älter als vierzig, sind unter Wollseifers Kommando hier versammelt, haben Uniformen der West-Berliner Bahnpolizei mitgebracht, die ihnen in der Kleiderkammer der Staatssicherheit angepasst worden sind. Die hat sie aus Beständen der Berliner Reichsbahndirektion beschafft.
Auf dem Bahngelände im Westen der Stadt, wo die vier Alliierten – Amerikaner, Briten, Franzosen und Sowjets – die Betriebsrechte nach dem Krieg der DDR-Reichsbahn übertragen hatten, ist zur Sicherung der Ordnung nur Bahnpolizei zugelassen, nicht aber die in Ost-Berlin und der DDR übliche Transportpolizei. Die Trapo ist militarisiert, mit Pistolen, Karabinern und Maschinengewehren bewaffnet, trägt das Hoheitszeichen der DDR – Hammer und Zirkel – silbern an der Mütze und ist dem Innenministerium unterstellt. In den Fünfzigerjahren gehörte sie sogar zum Ministerium für Staatssicherheit – und einiges davon ist erhalten geblieben. Denn die Truppe ist dicht durchsetzt von IM und OibE, Inoffiziellen Mitarbeitern und Offizieren im besonderen Einsatz des Geheimdienstes.
Die Bapo indes gibt es nur auf den West-Berliner Bahnhöfen und Transportanlagen. Mehr als Schlagstöcke hat sie nicht zur Verfügung. Ihre Uniformen tragen nicht silberne, sondern goldene Abzeichen, ohne das Staatsemblem der DDR. Und die Bahnpolizisten haben keine militärischen Ränge, sind nicht Feldwebel, Leutnants oder Majore, sondern Sekretäre, Inspektoren und Amtmänner. Immer wieder sind auch Trapos, vor allem Offiziere der Transportkriminalpolizei, auf West-Berliner Bahnanlagen beim verbotenen Einsatz erwischt worden. Es gab fast dreihundert Ermittlungsverfahren wegen Amtsanmaßung und Nötigung. Doch die verliefen alle im Sande. Der Westen wollte die DDR draußen halten, den Konflikt aber nicht auf die Spitze treiben.
Die Doppelstruktur von Trapo und Bapo aber ist Camouflage, ein Betrugsmanöver der DDR, von dem niemand im Westen weiß. Denn in Wahrheit besteht auch die Bahnpolizei in West-Berlin aus Transportpolizisten, wenn auch ohne Schusswaffen und in anderer Uniform. Die Bapo ist das Trojanische Pferd des Ostens im Westen. Am 17. Juni 1977 haben der Innen- und der Verkehrsminister der DDR in einer Geheimen Verschlusssache vereinbart: »Die Planstellen in der Abteilung Bahnpolizei werden durch Angehörige der Transportpolizei besetzt.« Die Bapo ist der Führung der Trapo unterstellt und erhält für den Dienst in West-Berlin entsprechende Ausweispapiere, die nach dauerhafter Rückkehr in die DDR eingezogen und vernichtet werden.
Die Geheime Verschlusssache »I 020845« bestimmt: »Zum Überschreiten der Staatsgrenze zwischen der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik und Westberlin (Grenzübergangsstelle Bahnhof Berlin-Friedrichstraße) erhalten die Angehörigen der Abteilung Bahnpolizei Sonderausweise der Deutschen Reichsbahn gemäß den dafür bestehenden Weisungen.«
Im kalten Licht des Umkleideraums schlüpfen die Männer hinein in ihre trojanischen Uniformen, die sie nach dem Marsch über die Mauer im Westen tarnen sollen. Es sind sorgfältig ausgewählte Kämpfer, Stasi-Leute bei der Transportpolizei, nun in westlichen Uniformen, ergänzt durch hauptamtliche Offiziere mit Nahkampfausbildung, Spezialisten aus der Zentrale. Als sich die Einheit umgezogen hat, bittet Wollseifer um Ruhe.
Die Männer wenden sich zu ihm um.
»Genossen, ich überbringe euch die Grüße und guten Wünsche des Ministers, Armeegeneral Erich Mielke. Ihr geht in einen Einsatz, wie es ihn noch nicht gegeben hat. Ihr marschiert, wie euch gestern erläutert wurde, auf den Schienen nach Westberlin. Immer nur auf den Bahnschienen. Und eure heimliche Invasion ist dem Westen willkommen. Den drei Besatzern, denen die Sowjetunion den Weg gewiesen hat, der BRD-Regierung und dem Westberliner Senat. Niemand wird euch angreifen, wenn ihr das Nest der streikenden Provokateure im Containerbahnhof Moabit ausräumt. Andere Genossen haben heute schon überall in Westberlin besetzte Stellwerke ausgehoben. Ihr werdet den unverschämten Angriff auf die Deutsche Demokratische Republik, den Versuch der Infizierung mit dem polnischen Bazillus, endgültig zurückschlagen. Auf unsere sozialistische Republik ein dreifaches … Hurra, Hurra, Hurra!« Die Männer fallen ein in die Hochrufe. »Übrigens«, endet Wollseifer, »ich sage es noch mal: Rauchen ist verboten im Einsatz. Die Glut von Zigaretten darf euch nicht verraten. Lasst die Päckchen hier.«
Der Oberst öffnet die stählerne Tür zum Bahnhof. Euphorie überschwemmt ihn. Er hat die Ehre, die Tschekisten-Ehre, diese einmalige Operation zu führen, eine stahlharte, handverlesene Truppe über die Schienen zum Feind zu schicken. Und der macht auch noch gute Miene dazu, begreift vielleicht gar nicht, was er da tut. Der militärische Sieg wird auch ein politischer sein. Wollseifer hat an der Schlussbesprechung beim Minister teilnehmen dürfen, als der noch einmal alle Details des Einsatzes in Erinnerung rief und mit dem Appell endete: »Genossen, baut keinen Mist! Das darf nicht schiefgehen! Holt den Containerbahnhof zurück und zertretet das Terroristennest! Nicht nur unsere Partei schaut auf euch, sondern auch Moskau, Washington, London, Paris und Bonn! Wann gab es das schon mal, Genossen?« Und er ist dabei, er, Franz Wollseifer, einziger Sohn unter sieben Kindern des Schusters Heinrich Wollseifer und seiner Frau Grete, Lumpenproletarier aus dem Wedding.
Kotowski geht an ihm vorbei, dann der Rest der Truppe, einer nach dem anderen. Der Oberst gibt jedem die Hand, um zu spüren, ob die Rechte feucht ist oder trocken, ängstlich oder entschlossen. Er spürt nur trockene Hände mit festem Griff. Doch da passiert ihn einer, Horst Runow, Leutnant aus der Normannenstraße, dessen Blick flackert, der die Augen niederschlägt, als Wollseifer ihm ins Gesicht blickt. Moment mal … Soll er ihn ansprechen, zurückziehen, zur Rede stellen? Hat das etwas zu bedeuten? Schwankt er etwa? Ist er eine Gefahr für seine Genossen, für den Einsatz? Ach was. Schon ist Runow weitergegangen und Wollseifer gibt dem nächsten die Hand. Bloß jetzt keine Irritation und am Ende noch alle nervös machen. Runow hat sich als zuverlässiger Tschekist bewiesen, niemals geschwankt. Gerade in diesem Streik hat er sich bewährt als Agentenführer. Deshalb hat er ihn doch ausgewählt. Das wird schon.
Kotowski geht an der Spitze, ordnet die Truppe draußen, bevor sie eine Treppe emporsteigen zu den Bahnsteigen. Vorneweg vier Kommandeure, denen er sich anschließen wird. Hinter den Kommandeuren drei Gruppen von jeweils zwanzig Uniformierten in Zweierreihen. Gummiknüppel am Gürtel, einige mit Stemmeisen, Äxten oder Motorsägen in der Hand.
Wollseifer nimmt Kotowski an der Bahnsteigkante am Arm, zieht ihn noch einmal zur Seite. »Genosse Major«, sagt er leise, »hab, wann immer du kannst, ein Auge auf Runow, er erscheint mir ein wenig rätselhaft heute. Nervös. Weich.« Kotowski wirft über die Schulter einen Blick zu Runow und nickt stumm.
Der Bahnhof ist nur spärlich beleuchtet und fast menschenleer. Reisende werden nicht mehr auf die Bahnsteige gelassen. Die letzte S-Bahn, die trotz des Streiks noch den Grenzübertritt sicherstellen sollte, ist vor gut zwanzig Minuten Richtung Charlottenburg abgefahren. Es ist kühl, der Himmel bedeckt. Der Wetterbericht verspricht, dass es nicht regnen wird. Die Stasi-Bapos klettern vom Bahnsteig hinab auf die Schienen, formieren vier Züge und laufen los. Die letzten beiden Männer lassen sich etwas zurückfallen und sichern nach hinten. Keiner spricht ein Wort. Die Truppe bewegt sich auf leisen Sohlen über die Schwellen. Zu hören ist nur das leise Klappern der Äxte und Stemmeisen, die gelegentlich an die Koppel schlagen. Kotowski geht vorn, wendet sich hin und wieder um. Seine Rechte tastet verstohlen nach der Pistole.
Als sie losmarschieren, sehen sie über sich, vor der mächtigen Glasfront am Ausgang der Bahnhofshalle, die Silhouetten zweier Doppelposten der Grenztruppen. Sie patrouillieren auf einer Stahlbrücke hin und her, die Maschinenpistolen über den Schultern. Wer es durch die Grenzkontrollen auf den S-Bahnsteig Richtung Westen geschafft und einen Zug bestiegen hat, ist fast schon raus aus der DDR. Fast. Denn bis zum allerletzten Meter sind Waffen auf ihn gerichtet.
Die Grenzer oben sind vorgewarnt, blicken neugierig hinab. Einen solchen Zug haben sie noch nicht erlebt. Als die falschen Bapos unter ihnen hindurch aus der Halle laufen, ruft einer halblaut von der Brücke, trotz des Schweigebefehls: »Sieg, Genossen!«
Es ist 19.38 Uhr. Britische Militärpolizei wartet jenseits der Mauer.
Noch nicht die Chinesen. Valentin Freytag schaut aus dem Bürofenster in der ersten Etage auf den Hauseingang, mustert den, der da geklingelt hat. Ein Mann mit längeren Haaren, etwa so alt wie er selbst, um die dreißig. Abgewetzte Jeans, leichte Windjacke, ein paar Blätter Papier zusammengerollt in der Hand. Kennt er nicht. Die Sonne taucht die Tür in grelles Licht. Es ist ein herrlich klarer Tag mit mehr als zwanzig Grad.
»Ja bitte, was wollen Sie?«, fragt er durch die Gegensprechanlage.
»Ich muss mit Ihnen reden. Es geht um eine sehr dringende Sache. Ich bleibe nicht lange.«
»Gut, kommen Sie rauf in die erste Etage, den Gang nach rechts ins hinterste Büro.«
Warum nicht, zwanzig Minuten hat er wohl noch, bevor die Chinesen kommen. Einmal im Monat schicken sie drei Diplomaten aus der Ost-Berliner Botschaft ins Reuters-Büro nach West-Berlin, um mit dem Korrespondenten die deutsch-deutsche Politik abzuklopfen. Fragen, Fragen, Fragen. Denn eigene Positionen geben sie nicht zu erkennen. Sie wollen nur hören. Interpretationen, Prognosen, Vertrauliches.
Freytag genießt die Treffen. Vor gut einem Jahr erst ist er von Bonn nach Berlin gekommen, mit bangem Herzen. Er kann sich noch an seine gemischten Gefühle erinnern, als er über die Transitstrecke fuhr. Er war noch nie in Berlin gewesen, und nun sollte er aus der geteilten Millionenstadt berichten. Kenntnisreich und schnell. Schmidt und Honecker, Mauer und Hausbesetzungen, Dissidenten und Migranten. Würde er das packen, ganz alleine? Oder scheitern?
Und nun legen die Chinesen schon Wert auf seinen Rat. Revanchieren sich mit Einladungen zu Empfängen in der Ost-Berliner Botschaft. Die sind Gold wert für seine Arbeit. Wo außer bei den Chinesen gibt es schon so etwas wie Vollversammlungen der Dissidenten und eigenwilligen Köpfe der DDR? Stundenlang und völlig ungestört kann man mit ihnen an diesen Abenden in Niederschönhausen plaudern. Bei Köstlichkeiten aus der asiatischen Küche. Die Chinesen machen sich einen Spaß daraus, die Abtrünnigen und die an den Abtrünnigen saugenden West-Journalisten einzuladen, um die feindlichen Brüder im Politbüro der SED zur Weißglut zu treiben.
Freytag denkt oft darüber nach, was aus ihm geworden ist. Dass er, ausgerechnet er, jetzt in Berlin als Korrespondent arbeitet und über die Mauer springt, wann immer es ihm beliebt. Er war Gast auf SED-Parteitagen und bei einem sowjetischen TASS-Korrespondenten mit filmreifem Schneidezahn aus Stahl sogar zu Hause eingeladen. Die Frau des Korrespondenten arbeitet in der sowjetischen Botschaft Unter den Linden. Sie und der TASS-Mann tragen zweifellos auf beiden Schultern. Auf einer für den KGB.
Eines Abends, nach einem SED-Parteitag, hatten sie die Zeit vergessen. Hatten in der Wohnung des TASS-Mannes am Gendarmenmarkt mit den noch immer kriegszerstörten Domen gegessen und getrunken, Wodka vor allem, und über Deutschland geredet. Am Ende gab der Russe unumwunden zu, dass er als Deutscher die Teilung nicht akzeptieren würde. »Ihr seid eine Nation.« Welche Offenbarung! Als Freytag auf die Uhr schaute, war es zwanzig Minuten nach Mitternacht. Panik. Er hatte einen westdeutschen Pass und die Grenzübergänge schlossen für Bundesbürger um Mitternacht. Bis dahin, spätestens, musste man die Hauptstadt der DDR verlassen haben. Der Russe beruhigte ihn. »Ich bringe dich zur Grenze.«
Im Lada fuhr er voran, Freytag folgte in seinem BMW. In einer Viertelstunde waren sie am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Der Russe stoppte, stieg aus und trat an sein Fenster. »Warte hier.« Zu Fuß lief er zu den Baracken der Grenzsoldaten. Und kam nach wenigen Minuten wieder heraus. »Fahr jetzt, es wird nichts passieren.« Freytag fiel ein Stein vom Herzen, er bedankte sich, rollte in den Grenzübergang und kurbelte das Fenster an der Fahrerseite herunter. Doch er brauchte keinen Pass zu zeigen, er brauchte auch nicht anzuhalten, man winkte ihn durch. Ganz gelassen. Der KGB entfaltete einen mächtigen Zauber.
Valentin Freytag war 1957 als bitterarmer, hungriger Flüchtlingsjunge aus Thüringen in den Westen gekommen. Der aber war nicht golden, sondern stahlhart und abweisend. Geizig. Gemein. Die erste Gabe des Westens war eine braune kurze Bleyle-Hose aus Beständen der Caritas. Ungewaschen. Vollgeschissen. Er lebte zunächst in einer Baracke, in der früher wohl Zwangsarbeiter untergebracht waren. Wenn die Bauern in dem hessischen Dorf Schweine schlachteten, Anfang Dezember, bettelte er abends, wenn es dunkel wurde, mit den Kindern anderer armer Leute vor dem Hof. Sie warfen scheppernd Emailleschüsselchen in den Hausflur und versteckten sich im Dunkeln. Der Bauer stellte dann die dampfend mit Wurstsuppe oder Geschlachtetem gefüllten Behältnisse wieder vor die Tür.
Sein Vater, der als Buchhalter im Westen keine Arbeit fand, schlug sich mit Notbeschäftigungen durch. Als Tankwart etwa und Auslieferungsfahrer für eine Musiktruhenfabrik. Später einmal gestand er Valentin, wenn er ihn und seine Schwester nicht gehabt hätte, wäre er wohl mit dem Lastwagen auf einer Autobahn an einen Brückenpfeiler gerast, um seinem hoffnungslosen Leben ein Ende zu bereiten. Und nun sitzt dieser Sohn in wichtiger Funktion an der Nahtstelle zwischen Ost und West.
Der Besucher steigt die Treppe empor und versucht sich im ersten Stock zu orientieren. Das Haus am Savignyplatz ist von außen unscheinbar, nur kleine Schilder neben der Haustür weisen darauf hin, wer und was hier residiert: die Vertreter der wichtigsten westlichen Medien. Neben dem Reuters-Büro haben sich Korrespondenten aus Großbritannien und den USA angesiedelt, die im Kalten Krieg vom Nachrichtenhonig der Weltagentur zehren. Links vom Treppenaufgang sitzt das Berliner Büro der BBC. Sein Leiter Simon Burnett war, als er den Posten antrat, wie seine Vorgänger zum britischen Reserveoffizier ernannt und in einer nach dem Krieg beschlagnahmten Villa im Westend einquartiert worden. Der Offiziersrang erlaubt ihm nicht nur, über den Checkpoint Charlie unkontrolliert in die DDR ein-, vor allem aber ungefilzt wieder aus Ost-Berlin auszureisen. Er verschafft ihm zudem privilegierten Zugang zu alliierten Informationen. Denn der BBC-Mann arbeitet auch für den britischen Geheimdienst. Das war der Deal. Gelegentlich, wenn Freytag beim Recherchieren nicht weiterkommt, macht er sich das zunutze. »Frag doch mal deine Leute …«
Burnett fragt und kommt im Regelfall nach ein, zwei Stunden mit der Antwort aus den Verliesen des MI 6. Er macht keinen Hehl aus seiner geheimdienstlichen Anbindung. Bevor er zur BBC wechselte, hatte er als Reuters-Korrespondent in Ost-Berlin gearbeitet und exzellente Geschichten von dort geliefert. Hart an den Rand der Ausweisung brachte ihn der Bericht, wonach ein uniformierter Volkspolizist bei Rangeleien mit Jugendlichen auf dem Alexanderplatz mit einem Bierkasten erschlagen worden war. Dennoch erlaubte Ost-Berlin die Ausreise seiner erzevangelischen Frau, einer DDR-Bürgerin, als er zur BBC in den Westen der Stadt wechselte. Seither fährt Burnett sonntags mit ihr via Checkpoint Charlie zurück in den Osten, um in einer Kirche am Prenzlauer Berg im Chor zu singen. Welche Pointe! Ein britischer Agent singt in einem Ost-Berliner Kirchenchor – vermutlich umstellt von singenden Stasi-Leuten.
Der Flur nach rechts führt zum Reuters-Büro, vorbei an den Räumen anderer Korrespondenten. Leslie Bowls vom Wall Street Journal, Clive Morgan vom Daily Telegraph und Ellen Lentz von der New York Times, eine feine alte Dame, die noch die Jahrgänge des SED-Organs Neues Deutschland zu schwarzen Büchern binden lässt. Sie residiert gegenüber dem Reuters-Büro, still und zart, präzise wie ein kostbares Uhrwerk. Darüber, im zweiten Stock des Hauses, schnurrt das Berliner Landesbüro der Deutschen Presse-Agentur. Freytag allein gegen zwei Dutzend dpa-Leute, das macht ihm Spaß und bringt einen Triumph nach dem anderen. Denn der dpa-Apparat ist schwerfällig, durch Schichtpläne und Ähnliches extrem bürokratisiert.
Freytag geht dem Besucher entgegen, der die Namensschilder an den Türen ehrfürchtig studiert hat, und bittet ihn herein. Das Reuters-Büro ist altertümlich möbliert, zwei verschrammte Schreibtische stehen sich in der Mitte gegenüber, in die rechte Ecke ist noch ein dritter gezwängt. Neben der Tür gurgelt eine Kaffeemaschine vor sich hin, die das Gebräu der ersten Stunde im Laufe des Tages zu einer teerartigen, nach Küchenwürze riechenden Substanz eindampft. »Nasenbluten-Kaffee« nennt Freytag den bedenklichen Stoff. Auf den Schreibtischen stehen Aschenbecher, trotz der frühen Stunde schon gefüllt mit einem Dutzend Kippen. Der Reporter raucht filterlos, Roth-Händle oder Karo aus der DDR. Zweifelhaftes, dunkles Kraut. Über die billigen Karo in der schönen Schachtel mit den schwarz-weißen Karos heißt es in der DDR, wer die rauche, fresse auch kleine Kinder. Er liebt sie dennoch. Clive Morgan im Nachbarbüro hat auf seiner Seite eine zusammengerollte Wolldecke vor die verschlossene Verbindungstür geschoben, um zu verhindern, dass der dichte Reuters-Qualm zu ihm kriecht. Der Karo-Mann lacht nur darüber.
»Valentin Freytag«, stellt er sich vor, »ich bin der Reuters-Korrespondent in West-Berlin. In Ost-Berlin gibt es noch einen zweiten, Ben Tyler. Wer sind Sie und was führt Sie zu mir?«
»Ich heiße Lars Prien und bin zu Ihnen gekommen, um Sie auf einen demnächst beginnenden Streik bei der S-Bahn in West-Berlin aufmerksam zu machen. Ich arbeite auf dem Containerbahnhof Moabit und werde den Streik gemeinsam mit anderen organisieren. Wir möchten enge Verbindungen zu Reuters schaffen, denn wir halten Sie für die wichtigste Agentur in Berlin. Und der Streik, das verspreche ich Ihnen, wird mächtig Staub aufwirbeln.«
Freytag bittet den Gast, Platz zu nehmen, und bietet Kaffee an. Er nutzt die gewonnene Zeit, um sich eine Zigarette anzuzünden und die Sache im Kopf zu überschlagen. Während er eingießt, schaut sich Prien im Büro um. In seinem Rücken hat er einen Turm ungeöffneter Post ausgemacht. »Öffnen Sie die Briefe und Päckchen nicht?« Freytag antwortet von der Kaffeemaschine: »Die gehören uns nicht. Stefan Heym, der DDR-Schriftsteller, ein Kommunist, der am Ende des Krieges in amerikanischer Uniform nach Deutschland zurückgekehrt ist, sich dann für den Osten entschied, dort aber bald politisch in Ungnade fiel, hat bei uns seine Postadresse. Er kommt einmal pro Woche aus Ost-Berlin, um sie zu öffnen oder abzuholen, vor allem die Post seiner West-Verlage.«
Prien weist mit einem Kopfnicken auf die Schwingtür zu einem fensterlosen Nebenraum, aus dem ein Rattern zu hören ist. »Und was verbirgt sich da?« Freytag stellt die Tassen auf einen der Schreibtische und zieht den Besucher zu dem Nebenraum. In der oberen rechten Ecke des Türrahmens ist ein Nagel eingeschlagen, an dem der Lochstreifen eines Fernschreibens hängt, der zu einer dicken Acht aufgewickelt ist. »Das hier«, Freytag lacht, »ist unser Damoklesschwert. Der Nachruf auf Rudolf Heß, der als letzter Häftling im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis sitzt. Wir als britische Agentur haben den Ehrgeiz, seinen Tod als Erste zu melden. Schließlich ist er als Hitlers Stellvertreter 1941 auf die Insel geflogen, um dort einen Separatfrieden zu vermitteln.«
Die beiden treten durch die Schwingtür in den Fernschreibraum. Fünf gewaltige Maschinen lärmen dort. Drei empfangen die Programme von Reuters Welt, Reuters Deutschland und ADN, der DDR-Nachrichtenagentur. Die vierte tickert Freytags Berichte zur Deutschland-Zentrale nach Bonn. Auf der fünften werden diese Meldungen, die im Büro nebenan auf der Schreibmaschine formuliert worden sind, auf Lochstreifen gestanzt. Ein überaus mühsames Geschäft. Im Sommer, wenn es heiß ist, sitzt Freytag hier mit nacktem Oberkörper und »punsht« seine Geschichten. Wie ein Sklave auf der Galeere. Die Hitze der Maschinen lässt den Schweiß über seinen Oberkörper rinnen. Zigaretten haben Löcher in den Fußboden gebrannt.
»Nun erzählen Sie mal in Ruhe.« Freytag lotst Prien zurück ins Büro. »Ich dachte, bei der S-Bahn in West-Berlin arbeiten Kommunisten, viele sogar Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, die hier Berufsverbot haben. Und ausgerechnet die streiken nun gegen die DDR?«
»So wird es sein«, antwortet Prien. »Ich sage Ihnen das im Vertrauen und baue einstweilen auf Ihre Verschwiegenheit. Die Leute haben einfach die Schnauze voll. Die DDR-Führung hat es zu wild getrieben, schlimmer als der schäbigste Kapitalist. Im Januar haben die angeblichen Kommunisten achtundsiebzig Kollegen in zwei Ausbesserungswerken gefeuert. Auch Schwangere und alleinerziehende Mütter. Die Betriebsgewerkschaftsleitung hat schweigend zugestimmt. Und die SEW gleich ganz das Maul gehalten. Mittags um halb zwölf wurde den Kollegen die Kündigung eröffnet und um zwölf hatten sie den Betrieb zu verlassen. Seither haben etwa siebenhundert Reichsbahner im Westen aus eigenem Entschluss gekündigt. Die verbliebenen müssen deren Arbeit mit erledigen.«
Freytag unterbricht ihn, zieht am Stummel seiner Zigarette. »Nach allem, was ich weiß, ist der Status der Reichsbahner in West-Berlin doch ziemlich kurios. Dreitausendfünfhundert sind es, oder?«
»Stimmt. Kurios ist noch zurückhaltend formuliert. Die DDR-Reichsbahn hat nach dem Krieg von den vier Alliierten das Betriebsrecht auch in West-Berlin erhalten. Das Recht, Züge auf den Schienen verkehren zu lassen. S-Bahn, Güterzüge, Personenzüge. Die Reichsbahner im Westen verdienen aber ein Viertel weniger als ihre Kollegen bei der Bundesbahn. Sie leben hier im Westen, aber die Reichsbahn-Wohnungen in den Vorkriegsmietskasernen sind verkommene Löcher. Alles ist schlechter als bei der Bundesbahn, auch die Urlaubsregelung, die Rente und die medizinische Versorgung. Wenn die Kollegen krank sind, können sie nicht zu irgendeinem Arzt gehen, sondern müssen in die Poliklinik der Reichsbahn in West-Berlin. Jeden Morgen kommen Ärzte aus dem Osten in einem Barkas-Kleinbus durch die Mauer und schließen die Poliklinik auf. Die Rentenversicherungsbeiträge werden gleich im Osten vom Lohn abgezogen. Rentner müssten eigentlich in die DDR umziehen, denn die zahlt keine Rente in West-Mark. Aber wer will schon in den Osten? Nicht mal Kommunisten. Also tut die westliche Rentenversicherung so, als hätte sie von den Reichsbahnern in West-Berlin Beiträge erhalten, und zahlt ihnen eine Mini-Rente. Alles verrückt.«
Freytag liebt diese Verrücktheit Berlins, eingefrorene Verhältnisse aus der Nachkriegszeit, denen die meisten keine Beachtung schenken. Er doch. Er hat Features darüber geschrieben, die sogar übersetzt im Reuters-Weltdienst liefen und rund um den Globus gedruckt wurden. Über den Hamburger Bahnhof etwa, direkt an der Mauer, am Grenzübergang Invalidenstraße. Britischer Sektor. Das Gebäude beherbergt das größte Signalanlagenmuseum der Welt, das aber seit dem Krieg kein Deutscher mehr betreten hat. Abgesehen von den paar Reichsbahnern, die einmal pro Woche durch die Mauer kommen, mit Ölkännchen, um die Signale beweglich zu halten. Britische Offiziere stolzieren gelegentlich mit ihren Familien dort herum, arrogant, wie man sie kennt, mit dem Stöckchen unterm Arm.
Oder die ehemalige japanische Botschaft am Tiergarten, in die er durch den düsteren Keller eingestiegen ist. Das mächtige Bauwerk war leer und unbeschädigt von Bombenangriffen, auf dem Dachboden aber entdeckte Freytag ein altes hölzernes Rudergerät, mit dem sich – wer weiß – vielleicht der Botschafter einst fit gehalten hatte. Im Keller wohnte ein Freak, den man in Ruhe ließ, weil er ein Auge auf das Gebäude hatte. Der hielt Schafe, Ziegen und Hühner im verwilderten Garten. Mitten in Berlin.
»Was also werden Sie wann tun?«, fragt Freytag.
»Das sage ich Ihnen noch nicht. Sie werden aber alles rechtzeitig erfahren, und zwar als Erster von der Presse. Ich stelle mir vor, dass wir uns gegenseitig verpflichten. Sie erfahren von uns, besser gesagt: von mir, vorab alles über Aktionen und Pläne. Sie berichten zuverlässig und ausführlich über den Streik. Können wir uns darauf verständigen?«
Freytag überlegt einen Moment. Er kennt Prien nicht, darf er ihm glauben? Und wenn der Mann ein Provokateur ist, geschickt von der Staatssicherheit? Aber es ist ja noch nichts passiert. Er soll erst mal beweisen, dass der Streik überhaupt zustande kommt. Und falls er zustande kommt, wird das eine heiße Geschichte. Dieses Angebot darf er sich nicht entgehen lassen. Außerdem: Prien ist ihm sympathisch. Er wirkt aufrichtig.
»Einverstanden«, antwortet Freytag. Sie notieren ihre privaten Telefonnummern auf Zetteln und tauschen sie.
»Wir sollten die Sache von Anfang an unkompliziert halten«, sagt Prien. »Ich heiße Lars. Du kriegst in ein paar Tagen einen Anruf von mir, im Büro oder daheim.«
Als er das Haus verlässt, ist es 10.57 Uhr. Drei Chinesen kommen ihm entgegen.
Er kommt zu spät. Hat das Fahrrad genommen und ist in einen Regenguss geraten. »Tschuldigung«, sagt Prien, als er in den Gewerkschaftsraum des S-Bahnhofs Papestraße stürzt. Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) steht draußen über der Tür, drinnen, an der Wand, dämmert ein Schaukasten mit den Schwarz-Weiß-Porträts von sechs Männern und einer Frau. »Unsere Kandidaten für die Betriebsgewerkschaftsleitung.« Sie lächeln automatenhaft, wie auf Passbildern. Die Fotos sind angegilbt, die Ecken nach außen gewellt.
Prien streicht das feuchte Haar nach hinten, tritt an den Tisch und setzt sich zu den vier Männern, die auf ihn warten. Einer hat Kaffee in weißen Plastikbechern besorgt, aus dem röchelnden Automaten in der Ecke. Die vier sind zwischen dreißig und vierzig, alle mit längeren oder schulterlangen Haaren. Jeans, karierte Hemden, Lederjacken. Tiefe Furchen haben sich in die Gesichter gegraben. Freude am Leben scheinen sie kaum gehabt zu haben. Auch ihr Anführer nicht.
»Genossen«, beginnt Prien, »ich war gestern bei dem Pressemann. Ein guter Typ, glaube ich, da haben wir uns nicht getäuscht. Er wird mit uns arbeiten und kann wichtig für uns werden, weil er weiß, was sich im West-Berliner Senat tut, als Korrespondent einer britischen Agentur Verbindungen zu den Alliierten hat und im Reuters-Büro ADN empfängt, die DDR-Agentur. Wenn es gut läuft, wird er uns informieren, wenn sich da was abspielt auf einer der drei Ebenen.«
»Hält der dicht bis dahin?«, fragt ein Dunkelhaariger, der Matze genannt wird. »Wenn der plaudert, fangen sie uns womöglich ab, bevor der Streik überhaupt begonnen hat.«
Ein Mann steckt den Kopf durch die Tür. »Kollegen, was macht ihr hier? Seid ihr im FDGB? Der Raum gehört der BGL und nur sie lädt hierher ein.«
Prien knurrt über die Schulter: »FDGB! Dass ich nicht lache! Hau bloß ab, du Blinder! Ihr habt hier nix mehr zu melden. Ihr habt uns verraten und verkauft, jeden Tag. Jetzt organisieren wir uns selbst. Mach die Tür von außen zu oder du kriegst eine in die Fresse!«
Der Kopf verschwindet mit einem Ruck, die Tür schließt sich.
»Genossen, wir sollten jetzt den Blick nach vorne richten und planen, was schon zu planen ist. Ich geb mal einen Abriss, wie ich die Lage sehe.« Lars Prien beugt sich vor, stützt die Unterarme auf den Tisch und beginnt zu referieren.
Aus der Reichsbahndirektion in Ost-Berlin hat ihm jemand geflüstert, dass Ende September Lohnerhöhungen verkündet werden sollen. Aber nur Kleckerbeträge. Gleichzeitig soll ein neuer Fahrplan in Kraft treten, mit einschneidenden Kürzungen. Keine Nachtfahrten mehr.
»Das heißt, Genossen, es entfallen Zuschläge für Nachtarbeit und Überstunden. Und wenn man das verrechnet mit den Mini-Lohnerhöhungen, verdienen die Kollegen weniger als vorher. Dann ist Schluss mit lustig. Seit der Entlassung der Achtundsiebzig im Januar haben die Kollegen sowieso alle Illusionen über einen sozialistischen Betrieb verloren. Wenn nun noch Lohnraub dazukommt, werden sie die Brocken hinschmeißen.«
Diese spontanen Arbeitsniederlegungen, doziert Prien, sollen am 29. oder 30. September beginnen. Bis dahin bleibt noch genügend Zeit, die Kollegen zu mobilisieren. »Wir müssen die Glut anblasen, bis Flammen emporschlagen. Und dann sofort per Urabstimmung einen richtigen Streik daraus machen.« Die anderen nicken.
»An dem Tag, an dem der Laden ins Beben kommt«, fährt er fort, »bringen wir durch Kommando-Aktionen den gesamten S-Bahn-Verkehr zum Erliegen und trommeln für den nächsten Tag zu einer Vollversammlung im Containerbahnhof Moabit. Da wird der Streik beschlossen und wir wählen ein Streikkomitee. Zwanzig entschlossene Leute. Wir fünf lassen uns wählen und ich werde den Vorsitz übernehmen. Niemand wird sich darum reißen, denn wer den Kopf rausstreckt und von der Staatssicherheit ins Visier genommen wird, hat nichts mehr zu lachen, fliegt am Ende womöglich raus. Familienväter werden sich das nicht zumuten.«
Die Runde schweigt. Alle schauen Prien an, der blickt vom einen zum anderen. »Genossen, wir haben vier Jahre dafür geackert und Staub gefressen. Jetzt dürfen wir nicht schwach werden. Jetzt gilt es!«
Matze sieht Prien in die Augen. »Und was werden wir fordern?«
Prien zieht einen Zettel aus der Lederjacke und antwortet: »Ich denke, wir beginnen mit folgenden Punkten: Hundertsechzig D-Mark netto mehr im Monat, für alle. Vier Tage mehr Urlaub. Freie Arztwahl. Neues Lohngefüge, komplett. Und keine Repressalien gegen die streikenden Kollegen. Vielleicht dreht sich da noch mal was im Laufe des Streiks, wir werden sehen.«
»Und was werden wir bestreiken?«
»Wir legen den gesamten S-Bahn-Verkehr lahm und, damit’s dem Westen wehtut, auch den Güterverkehr mit der Bundesrepublik. Wenn ihr mich fragt, geht außerdem kein alliierter Militärzug mehr raus oder rein. Die kotzen mich sowieso an. Die Amerikaner, die Briten und die Franzosen müssen endlich ihre Ärsche hochkriegen, um der DDR in ihren zu treten.«
Matze wiegt den Kopf. »Was meinst du: Haben wir Chancen? Oder schlagen die uns die Zähne ein und kippen uns von den Schienen?«
»Das ist eine politische Frage, Genossen, ausschließlich. Wir haben, um es mal so zu sagen, die Polen auf unserer Seite. Wałęsa hat gesiegt, gerade hat er das Wahnsinnsabkommen mit der Regierung unterzeichnet. Erinnert ihr euch an die Bilder? Im Danziger Abkommen wurde sogar das Recht auf selbstverwaltete Gewerkschaften verbrieft, das ist gerade mal neun Tage her. Kann gut sein, dass sich die Streikbewegung Solidarność dauerhaft als Gewerkschaft gründet. Besser geht’s gar nicht für uns. Es ist der perfekte Zeitpunkt für unseren Streik. Der Westen hat Polen gefeiert. Da können die West-Alliierten nun nicht ihre Militärpolizei in Marsch setzen, wenn Kommunisten oder solche, die es mal waren, in West-Berlin gegen die DDR streiken. Und der Senat kann seine Polizei nicht gegen uns von der Kette lassen.«
»Gut. Aber die DDR …«
»Den Opas von der Bahnpolizei treten wir gegen die Schienbeine. Transportpolizei oder Stasi können sie aber nicht aus dem Osten rüberschicken, das lässt der Westen nicht zu.«
»Also müssen sie mit uns verhandeln.«
»Ich bin nicht sicher. Sie haben eine Scheißangst vor dem polnischen Bazillus. Dass der Streik, falls er erfolgreich ist, auf Betriebe in der DDR überspringt. Dann kann die Sache außer Kontrolle geraten. Der SED – und die SEW bei uns ist nur ihr erbärmlicher Wurmfortsatz – geht es am Ende immer nur um die Macht. Koste es, was es wolle.«
»Und das heißt?«
»Nur an den ersten zwei, drei Tagen des Streiks kann die DDR-Führung verhandeln. Möglichst still. Je länger der Streik aber dauert, desto unmöglicher wird es für sie, weil sie dann ihr Gesicht verlieren. Und Polen näherrückt.«
Die Runde schweigt. Jeder weiß, welche Frage jetzt noch zu beantworten ist. Prien stellt sie selbst. »Wie kommen wir da raus, wenn sich nix bewegt? Zuerst mal haben wir noch ein paar Möglichkeiten, um die Schraube weiter anzuziehen. Bis es quietscht. Ich möchte darüber heute noch nicht reden, damit kein Gequatsche aufkommt. Wir haben ja nicht nur Polen auf unserer Seite, sondern auch den Westen, jedenfalls verbal. Der Westen hat auch seine Interessen. Beide Karten müssen wir spielen. Und wenn das alles im großen Verhau endet, na, dann ist die S-Bahn am Arsch. Und die DDR hat ein Riesenproblem, Gesichtsverlust und Milliarden an Kosten. Entweder wir siegen, oder die Bahn geht vor die Hunde. Wenn ihr mich fragt: Mir ist beides gleich recht.«