»Sklavin Italia, alles Leids
Kastell,
Schiff ohne Steuermann im Wirbelwinde.
Nicht der Provinzen Herrin; nein, Bordell!
Du bietest den Lebend'gen überall
Nur Krieg: und schon zernagen sich die Leute.
Die doch umhegt ein Graben und ein Wall.
Unsel'ge, such an deinen Küsten heute.
Und schau in deine Brust, ob rings umher
Ein Ort ist, der sich Friedens noch erfreute?«
Dante, aus dem sechzehnten Gesang des »Fegefeuer«
Italien
Als in den ersten Augusttagen zu lesen war, Italien erachte den Bündnisfall nicht für gegeben, haben unsere ausrückenden Truppen das zwar gelesen, aber verstanden haben sie es nicht. Sie glaubten im Elsass die italienischen Brüder zu treffen, und die Gerüchte über italienische Truppentransporte hörten nicht auf. So unbegreiflich war unserm Volk der Tatbestand; wie es selbst im umgekehrten Fall ohne Besinnen und ohne Gedanken an eigenen Vorteil dem Bundesgenossen beigesprungen wäre, so hielt es für selbstverständlich, dass die Italiener uns beisprängen ... Unsere Aufgabe ist es jetzt, Töpfe und Schüsseln zu zerschlagen. Das Völkerrecht enthält noch keine Regeln über erpresserische Bundesgenossen: die deutschen und die österreichisch-ungarischen Bundesgenossen müssen diese Regeln erst schaffen. Es handelt sich nicht um Krieg, sondern um Razzia. Das deutsche Volk muss aus dem Traum erwachen, der es seit tausend Jahren über die Alpen zog; aus dem Traum, dass jenes schöne Land eine Geliebte sei, mit der ein Bund der Treue bestehen könne; seine Regierung ist die Dirne, die sich den Völkern Europas anbietet und sie vergiftet. Nie wird Friede zwischen uns herrschen, solange sie ihrem Gewerbe nachgeht.«
Süddeutsche Monatshefte, Juni 1915.
»Seit die Deutschen in die Geschichte eingetreten sind, haben sie sich nie auf die Heimat und ihre nächsten Aufgaben beschränken können. Voll Anerkennung und Bewunderung für jede geschichtliche Größe, haben sie alles, was menschlich ist, in ihr Gebiet hineingezogen, haben alle weltbewegenden Ideen mit voller Wärme ergriffen, und nichts ist ihnen fremd und fern gewesen, das sie sich nicht anzueignen versucht hätten. Dabei sind sie öfter als andere Nationen in die Lage gekommen, dass sie das Erreichbare und Notwendige verschmähten, um das Unmögliche zu gewinnen; sie sind mehr als andere Täuschungen, Irrgängen, Demütigungen ausgesetzt gewesen, aber sie haben mit zäher Ausdauer immer neue Wege versucht, und so haben sie auch, nachdem sie sich von dem Drucke Roms freigemacht hatten, in voller Unabhängigkeit den Austausch, den geistigen, auf den Italien und Deutschland von Natur angewiesen sind, aufs Neue begonnen.
Diese Idee von der Gemeinsamkeit aller geistigen Interessen der Menschheit und dem einheitlichen Zusammenhang aller wahren Erkenntnis haben die Deutschen niemals aufgegeben; darum huldigen sie den Stätten, von denen Kunst und Weisheit ausgegangen ist, und verbinden die Völker zu gemeinsamer Pflege des geistigen Besitzes, dessen Geltung über den Kreis der einzelnen Völker und Zeiten hinausgeht; sie sind das priesterliche Volk, welches berufen ist, in reinen Händen die ewigen Güter der Menschheit zu tragen.«
Curtius, aus: »Rom und die Deutschen.«
Ein früher Sommertag in Rom
Bereits beginnt die heiße Zeit. Während ihrer Dauer bezieht der reiche und vornehme Römer seine von grauen Terrassen umgebenen, von bunten Gärten umblühten, von schwärzlichen Hainen umschatteten Landsitze, woselbst er in al fresco ausgemalten, von Marmorsäulen getragenen Hallen, bei dem Rauschen der Brunnen seine sommerliche Siesta hält, das süßeste »Far niente« von der Welt. Oder er begibt sich mit Dienerschaft und Waffengepäck in die Modebäder seiner beiden klassischen Meeresküsten, steigt hinauf in die großen Fremdenherbergen des Engadins, hier und dort ausruhend von den gesellschaftlichen Lebensmühen des Winters, die für ihn Lebensfreuden bedeuten, die einzig von ihm gekannten, die einzig wünschenswerten und wahren.
Dagegen bleibt der römische Bürger in seiner geliebten Kapitale, in deren Häuserburgen, darin jeder Raum von früh bis spät verdunkelt ist, er sich tagsüber verkriecht, vor jedem Sonnenstrahl flüchtend. Erst gegen Abend wagt er sich hinaus ins Freie, in die sonnenlose Enge der Gassen, in den Corso Umberto vor Cafe Aragno, die Konditoreien auf Piazza Colonna und all die andern zahllosen Kühlanstalten der Ewigen Stadt. Erst gegen Sonnenuntergang erklimmt er, schön angetan, den Monte Pincio, strömt in Scharen in die Villa Borghese. Oder er zieht mit Weib und Kind vor eines der Tore in irgendeine bescheidene ländliche Trattoria.
Doch dann, nach Anbruch der Nacht, wogt Roms Volk durch Roms Straßen, füllt es Roms Plätze, schlürft Limonade, kühlt sich an Gefrorenem und Granita, schwatzt, liebelt und liebt, beklatscht die Melodien seiner musikalischen Lieblinge Mascagni, Puccini und des vergötterten Verdi. So lebt der Römer über den Sommer und freut sich seines Lebens; so lebt er Tag für Tag bis lange nach Mitternacht.
Dieses so vergnügt und dabei so genügsam lebende Rom schläft bis in den Tag hinein von seinen Sommernachtsfreuden aus. Bis spät bleiben Läden und Magazine geschlossen. Nur die Händler mit Gemüsen und Früchten breiten bereits in aller Herrgottsfrühe ihre Waren aus, die während der Nacht auf rasselnden Karren eintreffen: entweder aus den Gärten und Fruchtgefilden der Campagna oder von den Albaner- und Sabinerbergen. Jeder der Verkäufer dieser überschwänglichen Fruchtbarkeit des Südens ist unbewusst ein Künstler; denn jedes Gewölbe bildet ein Gemälde, ein mit Meisterschaft ausgeführtes Stillleben, auch was das Kolorit betrifft.
Und die Blumen in dem frühsommerlichen Rom! Besonders Nelken und Rosen. Nelken und Rosen um die hundert Wasserbecken und Springbrunnen; Nelken und Rosen auf der Spanischen Treppe; Nelken und Rosen vor den Eingängen der Kirchen und Paläste; Nelken und Rosen an allen Straßenecken; Nelken und Rosen in solchen Mengen, dass ihr Wohlgeruch die Stadt der heiligen Märtyrer Peter und Paul erfüllt und es in unserer christlichen Zeit fast ist, als wäre das Rom Viktor Emanuels noch das Rom Caligulas und Neros, in dem zu den Zirkusspielen selbst die Plebs mit Nelken und Rosen sich kränzte, mit blühendem duftendem Scharlach und Purpur.
Zu keiner andern Jahres- und Tageszeit ist daher Rom, das erhabene Rom, von solcher wahrhaft lieblichen Schönheit wie an einem Sommermorgen unter einem Azurhimmel, der noch nicht in verzehrenden Gluten entbrennt. Lediglich der Römer belebt zu solcher frühen Stunde die Kosmopolis am Tiber, und keine Fremdenhorden sind sichtbar; nicht einmal die blondhaarigen Söhne und Töchter Deutschlands und Albions, von denen die einen in ein römisches Straßenbild genau so schlecht passen wie die anderen. Und doch werden Rom und Italien von beiden heiß umworben, glühend geliebt.
Heiß umworben und glühend geliebt wird Rom, wird Italien vornehmlich von den Deutschen, die voll Pathos von »ihrem Italien«, von »ihrem Rom« zu sprechen pflegen, und das mit keiner anderen Berechtigung, als weil sie seit Jahrhunderten in der phantastischen Einbildung leben – eine Einbildung, vererbt von Generation auf Generation – , ihre Liebe zu Rom und Italien sei eine heilige und verleihe ihnen daher ein geistiges Besitzrecht auf das heißgeliebte Land.
Von der deutschen heiligen, weil idealen Liebe zu Italien und Rom, von der Deutschen schwerer Liebesschuld wider, sich selbst, soll auf diesen Blättern berichtet werden. Auch davon, wie sie ihre Schuld büßen müssen, gleichfalls schwer genug, wie jede Schuld gebüßt werden muss. Denn:
»Jede Schuld rächt sich auf Erden!«
Richard Voß
Es waren aber doch Fremde, die eines frühen Sommermorgens in Roms Straßenbild eine höchst unrömische Staffage bildeten, und zwar waren es Deutsche. Sie fuhren in einem Mietwagen, einer »botte«, aus dem Gassengewirr nächst der Via Babuino dem Venezianischen Platz zu. Die kleine nordische Gesellschaft bestand aus drei Personen, einem sehr ältlichen, sehr respektabeln Paar und einer nicht mehr allzu frühlingshaft jungen Dame. Schon in der Art, wie das Trio sich kleidete, waren sie als Vollblutgermanen zu erkennen. Allerdings trug der alte Herr des Sommers wegen nicht den geliebten langschößigen schwarzen Gehrock des deutschen Gelehrten, sondern ein leichtes helles Gewand. Aber wie dieses an seinem hageren, langaufgeschossenen Leibe hing, die Form seines Hutes, die Farbe seiner Krawatte und seine unförmlichen gelbbraunen Stiefel – allein dieses verriet dem Römer auf den ersten Blick einen von jenseits der Alpen, ein Erkennen seiner Nationalität, die Professor Rudolf Müller – so echt germanisch lautete des Würdigen Name – nicht gerade für ein Kompliment hielt: hatte er sich doch nahezu volle fünfzig Jahre am Strande des Tibers der edlen Malkunst befleißigt, konnte keine andere Stätte der Welt als Ort des Lebens sich vorstellen, würde es, trotz seines niemals verleugneten Deutschtums, als höchste Schmeichelei empfunden haben, wäre er von irgendeinem unschuldigen Gemüt der Ewigen Stadt für einen Römer gehalten worden, ein Glück, das ihm jedoch zu seinem geheimen Kummer niemals zuteilwurde. Hätte der Rosselenker – es war ein »Romano di Roma« – von dieser echt deutschen Schwäche seines Fahrgasts eine Ahnung gehabt und ihn als Landsmann angesprochen, so hätte er nicht nur das Doppelte der Taxe fordern dürfen, sondern er wäre außerdem mit einem königlichen Trinkgeld – einer »buona mancia reale« – belohnt worden. Das Schmerzlichste, was Professor Müller in dieser Hinsicht erleben konnte, war, dass er trotz seines so langen Verweilens in Rom von einer der mit allerlei schlechtem Kram handelnden menschlichen Schmeißfliegen beständig in schauderhaftem Deutsch als Deutscher angesprochen ward.
Diesen bald fünfzigjährigen Aufenthalt hatte er in seiner Jugend nur ein einziges Mal unterbrochen. Das war, als das schnöde Frankreich seinem Vaterlande den Krieg erklärte. Als Freiwilliger war der blondhaarige Jüngling hinausgezogen in den heiligen Kampf für Deutschlands Recht, um nach Deutschlands Sieg, mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust, zurückzukehren nach seinem geliebten Rom.
Die alte Dame neben dem ehrwürdigen Altmeister würde selbst von einem Bewohner der lateinischen Meeresküste, also von einem Halbwilden, als Germanin erkannt worden sein, wofür sie auch durchaus gehalten sein wollte, eine Tatsache, die zwischen ihr und dem Professor einen unüberbrückbaren Abgrund bildete. Sie trug einen Hut, wie sie solchen bereits vor dreißig Jahren getragen, und über ihrem großgeblümten Kattunkleid prangte eine Pelerine aus dem nämlichen grellfarbigen Stoff. Der Hut, mit mächtigen krebsroten Mohnblumen garniert, war ebenso wie der Umhang selbstverfertigt; denn die Trägerin dieser Kunstwerke hätte es für eine Schande gehalten, ihren ziemlich umfangreichen Leib von einer Schneiderin kleiden oder ihr nach Großmuttermode frisiertes Haupt von einer Putzmacherin schmücken zu lassen. Die Dame wurde von dem Herrn mit dem breitkrempigen Hut in besonders vertraulichen Augenblicken »Tante Minchen« genannt und war dessen unverehelichte Schwester, die nach dem vor sechsundzwanzig Jahren erfolgten Ableben der Frau Professorin zur Pflege eines neugeborenen Kindes und des Witwers von Naumburg an der Saale nach Rom übergesiedelt war, schweren Herzens genug. Dieser Schmerz um die verlassene Heimat hatte sich in den langen Jahren ihres römischen Aufenthalts nicht abgeschwächt. Als Tante Minchen jedoch einmal ihre Familie in Naumburg besuchte, wäre sie vor Heimweh nach Rom fast gestorben, obgleich sie an Rom und den Römern nicht das geringste Gute ließ und nicht aufhörte, Rom und die Römer mit Naumburg und den Naumburgern zu vergleichen, natürlich sehr zugunsten der idyllischen Stadt an der Saale und deren freundlichen Bewohnern.
Gleichfalls eine Vollblutdeutsche nach Aussehen und Tracht war des Professors nicht mehr allzu jugendliches Töchterlein, welches bis dahin ihr nordisches Heimatland noch mit keinem Fuße betreten hatte und das Abbild ihrer blauäugigen, blondhaarigen Mutter war. Zu ihres Vaters nicht geringem Stolz wurde sie in Rom geboren, war also in Wahrheit eine Römerin und hatte als solche bei der Taufe in der deutschen Botschaftskapelle auf dem Kapitol den Namen »Romana« empfangen. »Romana« bei diesem flachsblonden Haar, diesen vergissmeinnichtblauen Augen, dieser germanischen Anmutlosigkeit und einer Sprache, die bedenklich nach dem gewiss sehr hübschen Dialekt der guten Leute von Naumburg an der Saale sich anhörte, in dem bis heutigentags Vater und Tante redeten. Jedenfalls war der majestätische Name des guten Kindes sein Unglück: klang doch »Romana« wie ein Spottname auf Körper und Geist seiner Trägerin, die übrigens die beste Seele von der Welt war, geradezu engelhaft, der Seraph des Hauses.
Hinter dem Wagen mit diesen drei Personen fuhr ein zweiter, hoch beladen mit Gepäck, bewacht von der Dienerin des Hauses, einer gleichfalls überaus umfangreichen Persönlichkeit in sabinischer Landestracht. Auch sie war bereits ältlich, aber von welcher Rasse! Dabei ehemals eine Schönheit, noch heute eindrucksvoll, mit kohlschwarzen mächtigen Augen, die Flammen sprühen konnten, reichem gewellten Haar, gleichfalls von Rabenschwärze, und – leider etwas verfetteten – »klassischen« Zügen, Sie hieß Filomena, gehörte ganz zur Familie des Professors, war treu wie Gold und im Hause Müller eine Macht: war sie doch als Witfrau ins Haus gekommen, und zwar in der hochbedeutsamen Eigenschaft einer Amme – einer »balia« – des mutterlosen Kindes. Und was eine »balia« im Lande deutscher Sehnsucht besagen will, kann nur derjenige ermessen, der ein solches wichtiges Wesen an seinem eigenen Kinde, also gleichsam an seinem eigenen Leibe, erfahren hat. Eine Würde war's, die Herrscherinnenrechte verlieh. Dame Filomena stammte aus Olevano, nach welchem berühmten Ort – berühmt auch durch die Liebe der Deutschen – ihre Herrschaft an diesem frühen Junimorgen sich zur Sommerfrische begab. Gerade diesen Sommer wurden es volle fünfzig Jahre, dass der Mann aus dem Norden die sabinische Felsenstadt für sich entdeckt hatte. Während nahezu voller fünfzig Jahre hatte der jetzt greise Künstler Olevano in Landschaftsbildern und Figuren verherrlicht. Seine Gemälde von Stadt und Volk des Sabinergebirges waren durch die Welt gewandert und hatten zu dem Ruhm der Stätte nicht wenig beigetragen.
Dass er dieses vermocht, war des Überbescheidenen größtes Glück, ein Glück, das ihm selbst von seinen Feinden, hätte der Gute deren gehabt, von Herzen gegönnt wurde.
Professor Müller begab sich also mit den Seinen nach Olevano ins Sabinergebirge, seinem fünfzigjährigen Sommersitz. Er hätte zum großen Teil die Bahn benützen können, entweder bis Valmontone oder bis Subiaco. Aber mit der Eisenbahn nach Olevano – der alte Herr hätte sich dessen geschämt! Entehrend wäre es gewesen für einen Künstler, der zu den Beglückten gehörte, welche einstmals gleich Winckelmann und Goethe mit dem Vetturin durch die Porta del Popolo, dieser heiligen Pforte der Pilger von Norden her, in Rom eingezogen waren. Schon während seines ersten römischen Sommers war Rudolf Müller zu Fuß nach der schönen felsumschlossenen Sabinerstadt gewandert, eine Wallfahrt, von deren Weihe die junge Generation keine Ahnung besaß. Jetzt war der damals Junge ein Greis; also war es mit dem fröhlichen Wandern vorbei. Zum Glück gab es selbst in dem modernen Rom – allen Göttern Roms und Griechenlands sei Roms Metamorphose in eine neuzeitliche Großstadt geklagt! – zum Glück für dergleichen sonderbare Schwärmer gab es in der barbarisch modernisierten Kapitale des geeinigten Italien noch Landkutschen. Von einem gewissen Platz aus unter dem Kapitolinischen Felsen fuhren diese ehrwürdigen Vehikel an bestimmten Tagen der Woche aus Roms Toren nach allen Richtungen durch die Campagna bis zu den fernen Gebirgen, Volk der Campagna und der Berge als geduldige Fahrgäste, das nämliche Volk, welches seit Jahrtausenden das von Göttern und Menschen geliebte Land bewohnte, mit den nämlichen Anschauungen und Sitten, der nämlichen Lebensweise seiner Vorväter. Das aber, gerade das war es, was der deutsche Künstler leidenschaftlich liebte: unverfälschtes, urwüchsiges Volk der römischen Wildnis und Felsenberge, Dieses Volk kannte der alte Germane, und dieses Volk liebte er. Auch war es dieses Volk, das dem deutschesten aller Namen: »Müller« in der Sabinerstadt ein wohllautendes »o« anhängte, durch welchen kleinen kugelrunden Buchstaben der durch seine allzu große Häufigkeit so banale Name in den so viel klangvolleren »Muellero« verwandelt und gewissermaßen geadelt ward. Auch konnte die italienische Zunge, die noch heutigentags in der erhabenen Sprache Petrarcas, Dantes und Ariosts redete, den »Muellero« wenigstens aussprechen.
Durch das sommerliche Rom rollte die Familie in aller Frühe der Stelle zu, wo die nach Olevano über Palestrina und Genazzano fahrende Landkutsche ihrer wartete. Im Vorüberfahren grüßte der Meister auf dem Spanischen Platz das antike Brunnenschiff und die schönste Treppe der Welt, auf deren untersten Stufen bereits Wälle von Nelken und Rosen sich türmten. Er grüßte in Via Condotti – auch sie sollte die Schmach einer »Elektrischen« erfahren – Café Greco, die Stätte geweihter Erinnerungen jener Deutschen, die noch das alte, das wahre Rom gekannt hatten; und im Korso ärgerte er sich über die Zeitungsverkäufer, die mit barbarischen Stimmen einen Sieg Italiens über Tripolitanien ausschrien, einen Sieg in dem schmählichen Kriege eines Bundesgenossen Deutschlands, dieses unverbrüchlich Getreuen. Und der alte Künstler ärgerte sich auf dem Venezianischen Platz über das Denkmal Viktor Emanuels, welches dieses Herrschers ebenso unwürdig war wie Italiens Angriff auf ein wehrloses Volk von Halbwilden. Auch heute schämte sich der Greis in seine ehrliche Künstlerseele hinein über die berghohe Anhäufung antiken Marmors, schlechter Vergoldung und gemeinen Stucks, ein Monument künstlerischer Unkultur wie er kein zweites kannte. Aber dann das Kapitol! Das Kapital mit der Treppe und der Kirche von Aracoeli, der Bildsäule Mark Aurels, Michelangelos Konservatorenpalast und – der deutschen Botschaft! Bald darauf kam Piazza Montanara mit ihrem Volksgewühl inmitten eines Rom, das immer noch ein Stück des alten Rom war. Wenigstens ein Stück!
Seelenvergnügt, wie es nur ein Deutschrömer, nur ein alter Künstler mit jungem Herzen in seinem geliebten Italien sein kann, saß Sor Rodolfo auf dem steinharten Hochsitz der urväterlichen Landkutsche, eingeklemmt zwischen dem bäurischen Vetturin und einem geistlichen Herrn, der in Rom seinem Bischof aufgewartet hatte und nun in sein sabinisches Bergnest zurückkehrte. Des Professors Gepäck lag wohlverstaut auf dem Verdeck des mehr als ehrwürdigen Fahrzeugs, zusammen mit einem Hügel von Körben, Schachteln und allerlei geheimnisvoll Verschnürtem; des Professors weibliche Begleitung war in dem wegen des Staubes fest verschlossenen Innern des Wagens untergebracht nebst mehreren andern Mitgliedern des schönen Geschlechts. Es waren Frauen von dem doppelten Umfang der gewiss nicht gerade zierlichen Tante Minchen; Frauen mit üppigem Busen, von ihrem »busto« wie von einem Panzer umschlossen. Sie trugen Lasten spitzenbesetzter weißer Tücher auf dem Haupt und dicke Korallenketten um den bronzefarbenen Hals oder sie waren mit Goldschmuck beladen, jedes Stück monumental, dazu tief niederhängende goldene Ringe als Ohrgeschmeide. Diese Urechten spreizten ihr stattliches Beinwerk weit auseinander, hielten umfangreiche Körbe voller Esswaren fest umklammert auf dem Schoß, schwatzten mit kreischender Stimme das Blaue von Roms Sommerhimmel herab, erwiesen jedoch den beiden sogleich als Deutsche erkannten Fremdlingen alle Höflichkeit, was Fräulein Mina Müller, trotz schwerbedrückten Gemütszustandes – sie gedachte eines längst vergangenen Sommertags auf der Rudelsburg bei Kösen – huldreichst anerkannte.
Vorbei ging es am Forum und Palatin; vorbei am Konstantinsbogen und Kolosseum; vorbei an Obelisk, Palast und Kirche des Laterans zur Porta Maggiore. Alsdann auf der alten Via Labicana hinaus in die Campagna, hinein in die Sommerpracht der römischen Landschaft, wo aus den versumpften Bachläufen und um die braunroten Ruinen der Wasserleitungen grünblaues Röhricht, hoch wie Bambus, aufschoss; wo Rosen meilenlange Hecken bildeten, großblumiger Mohn die Felder mit Scharlach überzog und Lerchenchöre himmelan stiegen in einem Jubel, als wollten sie den Preis von Roms Herrlichkeit emportragen zur Gottheit.
Mit echt deutscher Ergriffenheit hatte der Professor diese Natur als Jüngling empfunden und genau ebenso tief empfand er sie an diesem leuchtenden Sommertag als Greis. Gleich ihm erging es Tausenden seiner Landsleute, denen gütige Götter Auge und Herz für dieses gelobte Land deutscher Sehnsucht geöffnet. Außer seinem sehr späten und sehr kurzen Eheglück, seiner ihm in reichlichem Maße zuteil gewordenen Anerkennung als tüchtiger Künstler, erachtete er als sein höchstes Glück, dass ihn das Schicksal schon in jungen Jahren nach Rom geführt hatte und ihm gegeben worden war, in Umrissen und Farben zu sagen, was er so leidenschaftlich liebte, so überschwänglich empfand. Sein heißer Wunsch war, alt, recht alt zu werden; nur deswegen recht alt, um in Landschaften und Figuren recht lange sein Italien verherrlichen zu können. Hätte ihm seine Frau einen Sohn geboren, so würde er dem Knaben für sein Leben nichts Höheres haben mitgeben können, als die glühende Liebe zu Italien. Aber auch seine Tochter war darin seines Geistes Kind; nur schmerzte ihn, dass ihm noch immer kein lieber Schwiegersohn eine Schar blühender Enkel in sein sonst so gesegnetes Haus gebracht hatte, gesegnet auch durch irdische Güter. Denn ein »Rudolf Müller« wurde selbst in dieser Zeit neuer und neuester Kunst von vermöglichen Romschwärmern teuer bezahlt. Allerdings nur von solchen ...
Der Tag begann heiß zu werden, ein römischer Sommertag in seiner ganzen prangenden Herrlichkeit. Das schwerfällige Fuhrwerk, von vier mit klingenden Schellen behangenen Rossen gezogen, wirbelte auf der weißen Landstraße Staub in solchen Mengen auf, dass der Professor auf seinem Hochsitz wie ein auf die Erde herabgestiegener Jupiter thronte, um dessen olympisches Haupt sich noch immer Wolkendunst sammelte. Wie durch silberne Schleier sah er die Landschaft, die scharlachfarbenen Mohnfelder, die Hecken wilder Rosen, die Bollwerke ultramarinblauer Winden und bunten Geißblattes; sah er die rotbraunen Ruinen antiker Villen und mittelalterlicher Wachttürme; sah er die Sabiner- und Albanerberge. Und er sah im Westen die ferne Meeresküste mit den schwärzlichen Wildnissen der Buschwälder.
Nachdem das Gefährt Roms Mauerring hinter sich gelassen, leuchtete dem Reisenden schon von weitem unter einem umwaldeten Felsgipfel ein schlossähnliches Gebäude entgegen. Der Berg trug einstmals die Burg von Tusculum, und das leuchtende Haus war die Villa Falconieri. Frei und stolz erhob sich der königliche Bau über den Ölwäldern und Rebenhügeln der schönsten aller Städte des alten Latium: über Frascati. Der weithin schimmernde Palast wurde von dem alten Germanen mit Begeisterung begrüßt, war er doch inmitten des römischen Berglandes ein Stück Deutschland, Eigentum des Deutschen Kaisers, zugleich ein Asyl deutscher Kunst und Gelehrsamkeit, also eine Weihestätte, von guten Menschen bewohnt. Denn für den Professor war es undenkbar, dass Kunst und Wissenschaft dem Menschen nicht den geistigen Adel verleihen sollten, wobei er jedoch nicht an sich selbst dachte, der er sich des Namens eines »Künstlers« für unwert erachtete, für solche hehre Himmlische hielt der Greis die Göttin, der er in Demut diente, als einer der Letzten und Geringsten ...
Schnell machte er mit seinen beiden Nebenmännern, dem Vetturin und dem geistlichen Herrn, Bekanntschaft, zu seinem geheimen Kummer auch von diesen beiden sogleich als Deutscher erkannt. Schuld daran konnte lediglich sein etwas mangelhaftes »R« sein, welches der Italiener so virtuos herunterschnarrt. Und wie hatte der Professor wegen dieses für die italienische Aussprache so wichtigen Buchstabens sich abgequält! Eigens zur Übung des »R« hatte er sich höchst kunstvoll einen Satz zusammengestellt und jeden Morgen und Abend als Lautgymnastik getrieben, dabei die Zunge genau in vorschriftsmäßiger Lage haltend. Die Sprachübung lautete: »Questo Nerone era un gran Imperator romano.« Aber selbst solche zungenbrecherische Lektion hatte nicht geholfen, den Italienern den unverfälschten Germanen zu verbergen.
Die Unterhaltung der drei: des Deutschen, des Priesters und des ländlichen Rosselenkers, drehte sich ausschließlich um Italiens gegenwärtigen Krieg an der afrikanischen Küste. Als treuer Bundesgenosse der beutelustigen Halbinsel verschwieg Rudolf Müller seine Meinung über ein Abenteuer, für welches die beiden Römer nicht die leiseste patriotische Begeisterung hegten, den Krieg lediglich vom Standpunkt des praktischen Interesses betrachtend. Ihr Vaterland bedurfte in Gottes Namen einer neuen Eroberung, ganz gleich durch welche Mittel. Sogar der Vetturin fand für seine Anschauungen Worte höchsten Pathos, eine Sprache im Munde des gewöhnlichen Mannes, die des Professors schweigende Entrüstung in offenkundiges Entzücken verwandelte. Es war eben ein Volk, dessen geringste Söhne sich einer geradezu berauschenden Sprache befleißigten. Was Wunder, wenn diese begnadete Nation sich in eine Ekstase schwatzte, in der sie heilig glaubte, was sie so hinreißend auszudrücken verstand!
Und wie stolz dieses Volk auf sein Vaterland war! Die Straße führte durch ein Gelände, darin jeder Fußbreit klassisches Gebiet war, jeder Stein Weltgeschichte predigte. Der geistliche Herr war ein armer Landpfarrer in schmieriger Sutane, für den ein Gericht mit schlechtem Öl angemachter Makkaroni als Festessen galt. Aber wie kannte der Mann seine Campagna! Dass er einen Archäologen hätte beschämen können! Der Vetturin konnte weder lesen noch schreiben. Aber als er an dem hochgelegenen Colonna vorbeifuhr, erzählte er seinem deutschen Fahrgast von dem großen Geschlecht, dessen Wiege jener Ort war, und er zeigte ihm die Stätte von Gabii, wo Romulus und Remus, der Legende nach, ihre gymnastische Ausbildung genossen hatten: »Hanno fatto i loro studii!« Und gar als auf braunem Bergrücken über silbernen Olivenwaldungen Palestrina aufstieg. Da erfuhr der Deutsche aus dem Munde des Priesters die Geschichte des einst hochherrlichen Präneste mit dem gewaltigen Tempelbezirk der goldenen Fortuna, als hielte ihm ein Historiker darüber Vortrag, und der Rosselenker berichtete leuchtenden Auges von den Kämpfen der mittelalterlichen Barone jener berühmten Stadt, als hätte der Analphabet Ferdinand Gregorovius studiert.
Es war eben ein Volk, bis ins Innerste durchdrungen von dem Bewusstsein, noch immer überall dort zu herrschen, wo es einstmals vor Jahrtausenden geherrscht hatte.
Also über den halben Erdkreis!
Jetzt befand sich der Professor an dem Ort, in dem er sich nicht als Rudolf Müller, sondern als »Sor Rodolfo« fühlen durfte; also in seiner seelischen und zugleich künstlerischen Heimat. Denn hier hatte der Zwanzigjährige sich selbst erkannt; hier waren seine ersten römischen Landschaftsbilder entstanden, die schnell seinen Ruf begründeten, einen Ruf, der mit den Jahren zum Ruhm ward; hier kannte ihn jedes Kind; hier freute sich jedermann seiner Ankunft, die Jahr für Jahr am gleichen Tage erfolgte. Früher hatte er mit den Seinen den Casino Baldi bewohnt, jene allbekannte Gaststätte; allbekannt durch die Begeisterung deutscher Maler und Dichter für das herrliche Felsenland. Nicht nur die Klassiker unter den deutschen Malern: Anton Koch und Friedrich Preller, hatten in dem weißen Hause auf dem grünen Hügel glückliche Zeiten verlebt; nicht nur Viktor Scheffel, Felix Dahn und Paul Heyse in der Herberge des biederen Serafino Baldi gedacht und gedichtet – auch Rudolf Müller hatte durch seinen langjährigen Aufenthalt zu ihrem Ruhme beigetragen. In den letzten Jahren war er jedoch dem alten Hause der Baldi untreu geworden: seitdem die neue Zeit und die neue Kunst, die malende, bildhauernde und dichtende, darin ihren triumphierenden Einzug gehalten. Dieser neuen Zeit und Kunst war der Alternde und Altmodische entflohen und hatte sich in einem Hause hoch über der altertümlichen Stadt ein eigenes Heim, die »Casa Tedesca«, gegründet. Denn deutsch, urdeutsch wollte Professor Müller trotz seiner fanatischen Italienliebe sein und bleiben, Wäre er noch jung gewesen, so hätte man bei ihm von einem tragischen Konflikt sprechen können: einem guten deutschen Mägdlein angetraut, war er der Leidenschaft zu einer heißblütigen Römerin zum Opfer gefallen; nicht imstande, aus den Netzen der römischen Sirene sich zu lösen, hielt er seiner hellhaarigen und helläugigen Hausfrau die seelische Treue. Es entstand nun die Frage, welches der beiden Frauenwesen zuallerletzt als Siegerin hervorgehen würde?
In der Casa Tedesca führte Tante Minchen – ihr Bruder nannte sie in vertraulichen Augenblicken ostentativ »Minona« – als Hüterin des Herdes das Zepter. Doch war diese Herrschaft durchaus nicht unbestritten, musste im Gegenteil in heißer Fehde stets von neuem errungen werden; es schien sogar höchst zweifelhaft, wem der endgültige Sieg verbleiben würde. Die Widersacherin Tante Minchens war keine andre als Dame Filomena, Fräulein Romanas einstige Frau Amme. Wollte die Naumburgerin auf gute deutsche Art Wirtschaft führen, so hielt es Dame Filomena für natürlicher und für sie angenehmer, auf echt römische Weise zu hausen. Diese Ansicht begründete sie einfach und schlagend damit, dass ihr Herr sich nicht in seinem lieben Deutschland, sondern in ihrem schönen Italien befand. Aber trotz der römischen Minona beharrte Tante Minchen auf den Gepflogenheiten ihrer heimatlichen Saalestadt. Aus solchen gewichtigen Gründen tobte beständig der Kampf zwischen den beiden häuslichen Gewalten. Übrigens wäre ohne diesen Streit für des Professors engelgleiches Fräulein Schwester das Leben gar zu reizlos gewesen ...
Kaum war Sor Rodolfo in Olevano eingetroffen, so füllte sich das Haus mit Volk jeglichen Standes, Geschlechts und Alters. Es waren die Gevatterinnen und Basen, die Neffen und Söhne der Neffen Dame Filomenas, deren Familie zu den besseren des Ortes gehörte und sogar Honoratioren zu den Ihren zählte; war doch ihr Vetter Sindakus von Olevano, also Herrscher über das Völkchen der kleinen Felsenstadt. Dieser Sindakus, Virgilio Minardi mit Namen, besaß einen einzigen Sohn, der in Rom »Advokatur« studiert hatte; und ein Advokat konnte es bekanntlich in Italien zum Deputierten, sogar zum Staatsminister bringen. Nebenbei gesagt war der junge Amerigo ein Adonis von Antlitz und Gestalt. Gegenwärtig tat der Götterjüngling nichts, rein gar nichts, lebte in seiner Vaterstadt ganz als »Signore«, beehrte tagtäglich Olevanos einziges Kaffeehaus mit seiner Gegenwart, schlürfte, je nach der Jahreszeit, entweder einen »Schwarzen« und einen Wermut oder eine Limonata und eine Granita, politisierte stundenlang beim Apotheker und Barbier mit andern im Nichtstun ihm ähnlichen Jünglingen, verzierte mit seiner schlanken, nach letzter Mode gekleideten Person, stundenlang die Piazza und wartete. Worauf wohl? Weniger auf eine Advokatur, die von ihrem Inhaber immerhin eine gewisse Tätigkeit erforderte, als vielmehr auf eine Frau, die sich in sein glattes Gesicht verlieben und deren Vermögen ihn in Stand setzen würde, sein Leben ganz als »Signore« fortzuführen. Aber hübsch, bildhübsch war der faule Bursche und das nicht nur in den schönheitsdurstigen Augen Sor Rodolfos, sondern auch für das in heimlicher Liebe entbrannte Herz der guten, leider nicht mehr allzu jugendlichen Romana, deren Reize außer in ihrem wirklich prachtvollen goldblonden Haar in einem recht ansehnlichen Vermögen bestanden, was in Olevano allgemein bekannt und gebührend geschätzt wurde.
Die Casa Tedesca wimmelte also von dem Anhang der Dame Filomena, ohne deren Willen kein Ei und keine Tomate ins Haus gelangte: stand doch der berüchtigte päpstliche Nepotismus des Mittelalters in der bella Italia auch im zwanzigsten Jahrhundert immer noch in voller Blüte, und das nicht nur bei den Großen und Gewaltigen, nicht nur bei Kardinälen, Abgeordneten und Ministern, sondern nicht minder bei den Geringsten eines elenden Gebirgsnestes. Auch gegen diese ehrwürdige Einrichtung erwies sich Tante Minchens Kampf seit bald dreißig Jahren als vollkommen machtlos. Was den Herrn des Hauses betraf, so sah dieser auch darin echtes Römertum; ja er hielt den bedenklichen Brauch geradezu für ein Stück des alten Rom, also für geheiligt. Je mehr Name Filomenas Küche mit dem altertümlichen offenen Feuerherd, Bratspieß und Rost von alt und jung, Männlein und Weiblein belebt wurde, um so heimischer fühlte sich der Professor in seinem Hause, das unter einem Hain von Edelkastanien hoch über Stadt und Land lag, mit einem Rundblick bis ins Neapolitanische hinein ...
Die ersten Tage vergingen der Familie unter den freudigen Begrüßungen der Leute von Olevano. Sie brachten ihrem ältesten Sommergast ihre Gaben dar wie Vasallen ihrem Fürsten den alljährlichen Tribut. Die einen opferten einen Fiasko Olivenöl, die andern ein Fässlein Wein: »bianco spumante« oder »rosso ascutio« von besonders vorzüglicher Qualität. Oder sie erschienen mit einem fetten Kapaun, einem Dutzend in der Schlinge gefangener Vögel: Stieglitze, Finken, Grasmücken, oder einem Bunde wilder Spargel, einem Korbe Steinpilze und andern Leckerbissen der frühsommerlichen Jahreszeit. Die Spender empfingen außer gerührtem Dank ansehnliche Gegengaben; nur beim Anblick der gewürgten Sänger des Waldes umdüsterte sich Sor Rodolfos strahlendes Antlitz. Jedes Jahr verbat er sich eindringlich derartige grausame Geschenke, jedes Jahr hielt er einen Vortrag über das Barbarische des Vogelmords und jedes Jahr ließ er sich die knusprig gebratenen Vögel herrlich schmecken. Nach dem Genusse erfolgte alsdann unweigerlich ein erneuter Ausbruch sittlicher Entrüstung, den Dame Filomena mit antiker Ruhe hinnahm, den Erzürnten durch ein Abendessen von eigenhändig gemachten Nudeln mit in Tomaten gedünsteten Pilzen wieder versöhnend. Es war dies eine Schüssel, die in solcher Vollendung im ganzen Lande Italien nur sie zu bereiten verstand. Mochte sie daher im Hause Müller Herrscherin sein und bleiben.
Im Casino Baldi wohnte unter anderen nordischen Sommergästen – das Haus wurde von der deutschen Künstlerschaft sozusagen mit Beschlag belegt – auch der Bildhauer Heinrich Weber. Er galt seinen Landsleuten für ein Genie und einen Mann der Zukunft, falls ihm eine solche beschieden sein sollte. Denn seine Freunde flüsterten von Tuberkulose, welche mörderische Krankheit gerade in seinem Alter – er stand Anfangs der Zwanzig – überaus gefährlich war. Niemand ahnte, ob der junge Künstler seinen Zustand kannte, und jedem flößte der arme Jüngling mit dem blassen, fast weißen Gesicht und dem üppigen rotblonden Gelock innige Teilnahme ein. Jeder glaubte an ihn, an seinen Genius. Der ganze Mensch hatte etwas Lichtes, Leuchtendes, und das nicht nur in seinem durchgeistigten Gesicht und Blick, sondern auch in seinem Wesen. »Apollinisch-bacchisch« nannte es der Professor, dessen Liebling und Schmerzenssohn zugleich sein Freund Heinz war: Schmerzenssohn, weil sich Heinrich Weber in seiner Kunst durchaus als »Moderner« erwies, wozu er freilich als Sohn seiner Zeit alles Recht besaß. Seine Kompositionen waren von einem Stil, dem die strenge Antike – die Antike Griechenlands und Phidias' – jede Daseinsberechtigung abgesprochen hätte: Heinrich Weber »malte« in Bronze und Marmor. Dabei welches Talent und welch prachtvoller Mensch! Aber in seiner Kunst eine Persönlichkeit, die an sich nicht rühren ließ. Der Professor galt ihm als – eben als der »gute« Sor Rodolfo. Seine Bilder würdigte er keines Blicks, was der Alte als Zeichen seines sich Überlebthabens voll schweigenden Kummers hinnahm, den Jungen wegen dessen großen Könnens laut rühmend, zugleich um die Verirrung solcher Kunst heimlich trauernd und um die Gesundheit des jungen Freundes sich sorgend. Denn: »Wenn dieses gewaltige Talent und dieser herrliche Mensch von den Göttern zu sehr geliebt werden, also jung sterben sollte – es wäre ein Jammer, nicht auszudenken!«
Einstweilen wollte der scheinbar einem frühen Tode Geweihte leben. Ja, er wollte das Leben wie einen Becher, gefüllt mit berauschendem Trunk, an die Lippen setzen; wollte den vollen Pokal leeren bis zum letzten Tropfen; und nirgends auf der Welt wurde dem Künstler sowohl wie dem Menschen das trunkenmachende Lebenselixier mit solchen glühenden duftenden Rosen bekränzt wie in Italien, wie in Rom, dessen Herrlichkeit Erhabenheit war. In dem einen fanden sich daher der Alte und der Junge: in ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Italien, wie sie in solcher Reinheit nur in dem Herzen eines jener Barbaren von jenseits der Alpen entbrennen konnte, einem Opferfeuer gleich ...
Wenige Tage nach Ankunft der Familie Müller erschien in Olevano auch Heinrich Weber, leidenden Aussehens, aber lodernd in Lebensgluten. In andern Jahren war er später gekommen. Diesen Frühsommer jedoch wollte er dem Volksfest der heiligen Trinität auf dem Monte Autore im Simbriotal, hoch über Subiaco, beiwohnen, eine Wallfahrt aller Völkerschaften der Felsenberge ohnegleichen in Italien. Der Professor hatte in früherer Zeit dieses Ereignis des öfteren genossen und davon dem Freunde begeisterte Schilderungen gemacht. Nun wollte dieser selbst sehen und staunen.
Allein würde er die weite Wanderung unternehmen. Nach dem Winter in Rom sehnte er sich nach Einsamkeit und innerer Einkehr, fühlte er das Bedürfnis nach neuen starken Eindrücken, nach Eindrücken, die ihm Italiens Natur und Volk geben sollten. Seit langem trug er sich mit dem Gedanken einer großen Komposition, die er bisher nur in schwankenden Gestalten geschaut. Es sollte eine Verherrlichung Italiens, eine Huldigung für das Vaterland Michelangelos sein, zugleich der monumentale Ausdruck jener Liebe der Deutschen zu dem Lande ihrer Sehnsucht, die bereits in den ältesten Zeiten deutscher Geschichte von tiefer Tragik für Deutschland war. Das Werk des jungen Künstlers sollte gewissermaßen die Verklärung dieser historischen Liebe bedeuten. Ihm war's, als sei dafür die Zeit gekommen und – als sei es für ihn die höchste Zeit ...
Im Morgengrauen brach er auf, nur das Notwendigste – es galt eine Nachtruhe auf dem Gipfel des Berges – eine warme Decke und einige bescheidene Nahrungsmittel im grünleinenen oberbayrischen Rucksack mit sich führend. Nur in den italienischen Felsengebirgen konnte es, so meinte er, einen Sommermorgen von solcher leuchtenden Herrlichkeit geben. Auf der Landstraße, die steil aufwärts nach Subiaco führte, kam er an einem Walde hochstämmiger deutscher Eichen vorüber, feierlich und geheimnisvoll wie der Hain eines alten germanischen Gottes. Die schöne Waldung war – gleich der Villa Falconieri über der Weinstadt Frascati – inmitten der sabinischen Wildnis eine Scholle deutschen Bodens, überschattet von den Bäumen, daraus einstmals deutschen Helden der Siegeskranz gewunden ward. Den Wald umgab eine Umzäunung, deren Tor das deutsche Wappen hütete: ein Adler, der stolzeste aller Vögel der Erde! Kein deutscher Wanderer ging vorbei, ohne das Symbol deutscher Größe und Kraft freudig zu grüßen, es voll Glück als Begnadigung empfindend, Deutscher zu sein, ein Sohn des Volkes, welches am Rhein fest und treu die Wacht hielt...
Höher stieg die Straße, freier ward der Blick über das Felsenland. Aus den Schluchten brauten blaue Dünste auf. Wallenden azurnen Geweben gleich zogen sie empor zu den kahlen Graten, an denen in der fahlen Farbe des Gesteins die Ortschaften klebten, jedes Dorf eine Siedlung wie von einem Urvolk bewohnt. In dieser Welt gab es kein zwanzigstes Jahrhundert; gab es nur wilde Ursprünglichkeit. Der Mensch, der in dieser stolzen Welt geboren ward, darin lebte und starb, war kein Sohn einer Kultur, welche bald diese, bald jene Form annahm, sondern er gehörte zu der Natur dieser sonnenwärts strebenden Gipfel und von brausenden Bergströmen durchfluteten Schluchten; gehörte dazu, gleich dem Fels, der Steineiche und dem Raubvogel, der zwischen Erde und Himmel mit ausgebreiteten Schwingen sich wiegte.
Auf der Passhöhe standen die Erikabäume noch in voller lichter Blüte, ein Märchenwald, der bewohnt werden konnte von dem flötenblasenden, bockbeinigen Satyr und dem rossschweifigen Faun. Auch von Dryaden und Nymphen.
Wo der Weg die Schlucht erreicht, durch welche schäumend der junge Anio braust, darüber auf kühler Klippe die Klöster Sant Benedikts sich erheben, verließ der Künstler die Landstraße und folgte dem Laufe des Bergstroms, in dessen Fluten Kaiser Nero mit goldenen Netzen den noch heute berühmten Anioforellen nachgestellt hatte. Heinrich sah die Ruinen des Kaiserpalastes aus den Wirbeln ragen und über dem Abgrund hängen und gedachte des Wandels der Zeiten: dort, wo ein menschlicher Dämon, der in Rom die ersten Christen als lebende Fackeln auflodern ließ, sein »Sabinum«, ein Asyl seiner Lüste, gegründet, wurde die Scholle durch einen Verkünder eben jenes verfolgten Glaubens von den Geistern der Vergangenheit gereinigt, so dass die Stätte, die des Heiligen Fuß betrat, für alle Zeiten geweiht war...
Immer öder, immer gewaltiger die Felsenwelt! Schluchten und von Felsblöcken sich niederstürzende Kaskaden, Klippen und Klüfte, geheimnisvolle Grotten, schwärzliche Waldungen von Steineichen. Und in solcher Landschaft Kapellen und Siedeleien, Ruinen antiker Villen und Bauten des Mittelalters wie durch Zauber an scheinbar unzugängliche Schroffen gebannt. Hoch droben noch immer die Dörfer mit höhlenartigen Behausungen unter grauen Gipfeln, die zu dem Azur eines wolkenlosen Himmels aufstiegen, und, wie die Stimme dieser Natur selbst, in Wolkenhöhen ein Adlerschrei. Nicht ein einziger Reiz dieser Schöpfung ging dem Auge und Sinn des Nordländers verloren. Es war eine monumentale Welt, erschaffen von demselben göttlichen Geist, der Michelangelo beseelt hatte, jenen Michelangelo, der den Gott der Sistina werden ließ und die Peterskuppel wölbte. Und das Volk, das diese Welt belebte! Denn der Künstler war in der ungeheuren Einsamkeit nicht einsam. Auf dem Wege zwischen Fluss und Fels zogen Pilgerscharen zu dem hohen Heiligtum der Trinität, deren Fest die Einwohner der Berge feierten, Gestalten, wie sie urwüchsiger schwer zu denken waren. Besonders die Frauen. So, genau so, fast hochmütig stolz, trug das Frauengeschlecht des Altertums sein Haupt; genau so prachtvoll frei waren noch heute dieses Geschlechtes Haltung und Gang. Männer sowohl wie Frauen hatten ihre Feiertagskleidung angelegt, die zumeist dunkel, häufig sogar schwarz war, was die Prozessionen Trauerzügen gleichen ließ. Da die Straße in Windungen aufwärts führte, sah Heinrich die dunkle Menschenwoge beständig vor sich, über sich. Jedem Zuge voraus schritten die Ältesten, Männer und Frauen. Sie waren nicht nur die Anführer ihrer Gemeinde, sondern auch deren Vorbeter und Vorsänger. Uralte Gebete und Gesänge erschallten. Zuerst schwebten die Stimmen einzelner dumpf und geisterhaft über den Abgründen; plötzlich fiel die ganze Schar ein, an den Chor der Antike erinnernd.
Welch sonderbarer Schwärmer und Phantast selbst solch Moderner sein konnte! Tag und Weg, Landschaft und Staffage erfüllten den jungen Bildhauer mit phantastischen Vorstellungen. Unter den Pilgerzügen – auch aus den Abruzzen und den Volskerbergen waren sie herbeigekommen – befand sich eine überaus eigentümliche Frauengestalt. Sie schritt vor ihm her auf den vielen Windungen des Felsenpfades, groß und schlank, von einem wundervollen Ebenmaß. Unwillkürlich entkleidete sie Heinrichs Künstlerphantasie ihrer düsteren Gewänder und er glaubte niemals solche Frauenherrlichkeit gesehen zu haben. Ihre Gesichtszüge konnte er nicht erkennen. Sie musste jung sein und – ja, und schön! Ganz seltsam, ganz wunderbar schön!
Auch das war bei dieser einen ungewöhnlich: sie schritt getrennt von den Genossinnen, gleichsam als sei sie eine Gemiedene, eine Verfemte. Nur um so freier schien sie das Haupt zu tragen, nur um so stolzer war ihre Haltung. So wenigstens deuchte es Heinrich in seiner phantasierenden Stimmung, der er verfallen war. Immer wieder musste er denken: wo gibt es eine Welt, dieser ähnlich? Wo ein Volk, diesem gleich? Wo eine Frauengestalt aus dem Volke von solcher herben Hoheit?
Italien!
Je länger er in Italien lebte, um so heftiger ergriff ihn die Liebe zu diesem Lande; um so klarer erkannte er, was Italien dem Deutschen war: eben das geliebte Land! Eine Liebe war's, die des Deutschen Gemüt bis in seine Tiefen erfüllte, wahrlich kein schlechter, kein unwürdiger Teil seines Wesens ...
Erst bei anbrechender Dämmerung erreichte der junge Künstler sein Ziel. Unter einer im Sonnenuntergangsfeuer brennenden gewaltigen Klippe orangefarbenen Gesteins lag das Sanktuarium, gegründet von Jüngern Sant Benedikts, geschmückt mit verblassenden Fresken, erfüllt von wallendem Weihrauchgewölk, dem die Gestalten der betenden und büßenden Pilger gleich schemenhaften Schatten entstiegen, umbraust von betäubend duftenden Dämpfen, daraus die Lichter zahlloser Opferkerzen aufzuckten, mystischen Flammen gleich.
Gleich einer mystischen Flamme empfand der Deutsche in dieser Stunde seine Liebe zu Italien. Sie lebte als heilige Glut in den Herzen von Tausenden und aber Tausenden seines Vaterlands!
Als heilige Lohe sollte sie dem Herzen der Deutschen erhalten bleiben.
Eine Sommerphantasie war's, ein Sommernachtstraum unter dem Sternenhimmel des Südens.
Alle die zur Anbetung der dreieinigen Gottheit gekommen waren, übernachteten hoch oben in der Öde. Die jungen Burschen hatten Holz mitgebracht, Äste des knorrigen Ölbaums mit silbernem Blattwerk, Zweige wilder Myrten, bedeckt mit schimmernden Blüten, gelbgoldige Ginsterstauden. Rings um das ehrwürdige Heiligtum loderten die Feuer. Bei den knisternden Bränden nächteten, in Familien und Genossenschaften geteilt, die Pilger. Der flackernde Schein fiel auf Gestalten, wie aus einer um Jahrhunderte zurückliegenden Welt. Eine jede könnte dem Künstler als Modell dienen.
Sie schmausten und tranken. Aus den strohumflochtenen Foglietten floss der heimatliche Rebensaft in der Farbe des Bernsteins und des Scharlachs. Aber nirgends wurde die Luft laut, und das dumpfe Psalmieren währte beinahe die ganze Nacht. Immer wieder begannen die Ältesten mit Gebet und Gesang; immer wieder fiel der Chor ein. Eine kraftvolle Frauenstimme schwebte über all den Stimmen der einen Schar, einer einsamen Seele gleich, die sich selbst ausschließt von der Gemeinschaft des Menschen.
Ob es wohl die Stimme jener einsam Schreitenden war?
Bei dieser stummen Frage erwachte Heinrichs Künstlerphantasie von neuem. Um eine solche Phantasie ist es ein wunderlich Ding: wovon sie gepackt wird, davon kommt sie nicht wieder los. Das ergreift von ihr Besitz und ruht nicht eher, als bis es erschaffen ward, bis es Gestalt annahm, eine geheimnisvolle Macht, die den Künstler zwingt, seinen innerlichen Gebilden Form, Seele, Leben zu geben...
Heinrich fühlte sich durch die Fülle der Eindrücke erregt. Beständig sah er im Geist die vor ihm herschreitende hohe Frauengestalt, lauschte er auf die über allen andern Stimmen schwebende geheimnisvolle Stimme. Einmal – es geschah vor Jahren in Rom – hatte er geträumt: in einer Felsenöde schreite das Schicksal in Gestalt einer grau Verhüllten Frau vor ihm her. Er hatte versucht, sie zu erreichen. Aber sie blieb über ihm, vor ihm. Er ging schneller und schneller. Aber er erreichte sie nicht. Schließlich schrie er der gelassen vor ihm Herschreitenden zu: »Und wenn du mein Unglück wärst, ich will dich erreichen! Hörst du, ich will!« Plötzlich blieb die Frau stehen, und er stürzte auf sie zu. Sie schien leblos, ein Phantom, ein Schemen. Es überlief ihn. Trotzdem breitete er nach dem Spukbilde die Arme aus. Da entschleierte sie sich langsam, langsam. Er sah ein Antlitz von einer Schönheit, die nicht von dieser Welt war. Er taumelte, raffte sich auf, wollte die graue Gestalt an sich reißen, konnte plötzlich kein Glied rühren, fühlte sich entgeistert, entseelt. Mit einem Schrei erwachte er.
Seltsam! Nie wieder hatte er jenes weit zurückliegenden Traumes gedacht; hatte völlig vergessen, was ihm damals wie eine Vision erschienen war. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, und das mit solcher Deutlichkeit, als sei es ein Traum der letzten Nacht gewesen. Gerade wie damals packte ihn auch jetzt wieder die Empfindung: vor dir her schreitet dein Schicksal, und seinem Schicksal kann der Mensch nicht entgehen.
Wer mochte die Sängerin sein?
Irgend ein Weib aus einem Felsennest der Abruzzen oder dem Volskischen, den Sabinerbergen.