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Autoren: Jens Lossau und Jens Schumacher

Lektorat: Jennifer Krepinsky und Oliver Hoffmann

Korrektorat: Maran Alsdorf

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

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© Feder&Schwert 2013

E-Book-Ausgabe 2013

ISBN 978-3-86762-203-5

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-180-9

Der Knochenhexer ist ein Produkt der Feder&Schwert GmbH 2013.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

„Nun aber, wie das meistens geschieht, gerade von dem Moment an, da man entschlossen war, das Ungeheuer zu verfolgen, ward es nicht mehr sichtbar.“

– Jules Verne, 20.000 Meilen unterm Meer

Prolog

Der Schlüssel hatte das Schloss noch nicht berührt, da spürte Imbert, dass etwas nicht stimmte.

Er hielt inne, das schwere Schlüsselbund in der Hand, und lauschte.

Nichts. Nur der Wind, der die Blätter der Bäume auf dem Museumsvorplatz zum Rauschen brachte, dazu aus der Ferne die gedämpften Laute der erwachenden Stadt. Die übliche Geräuschkulisse eines frühen Werktagmorgens.

Imbert zögerte. Wenn es nichts Hörbares gewesen war, was hatte ihn dann irritiert?

Mit einer geflüsterten Silbe vergrößerte er den winzigen Glutglobulus, der in Hüfthöhe zwischen ihm und dem Schloss schwebte, auf die Größe einer Männerfaust. In seinem erstarkten Licht untersuchte er die Tür, insbesondere den Bereich um die schwere Schließanlage. Doch der vom Alter nachgedunkelte Eleuterystahl war unversehrt. Keinerlei Spuren, die auf einen Einbruchsversuch hingedeutet hätten.

Kopfschüttelnd ließ Imbert den Glutglobulus wieder zusammenschrumpfen und hob die klimpernde Schlüsselsammlung. In den siebzehn Jahren, die er als Hauptschließer arbeitete, war es noch nie zu Zwischenfällen gekommen. Ein einziges Mal, anno 3214, hatten Betrunkene versucht, ins Museum einzudringen. Sie hatten sich allerdings am Vordereingang zu schaffen gemacht, wo sie prompt von einer Nachtpatrouille der Stadtwache überrascht wurden, bevor sie ernstlichen Schaden anrichten konnten. Hier, am Hintereingang, war in all den Jahren nie etwas passiert.

Das Naturhistorische Museum, gelegen im alten Zentrum Nophelets, nur wenige Steinwürfe vom königlichen Palast entfernt, war das einzige seiner Art in Sdoom und das zweitgrößte in ganz Lorgonia. Letzteres nicht nur aus architektonischer Sicht – das Gebäude mit seinen über Eck gestalteten Seitenflügeln zog sich nach Norden und Osten jeweils einen ganzen Häuserblock hin –, sondern auch, was seine Exponate anbetraf. Lediglich in Enopacla, dem ältesten aller zivilisierten Reiche, existierte eine ähnlich umfangreiche Sammlung vorgeschichtlicher Relikte und Schaustücke. Möglicherweise übertraf sie die hiesige sogar noch.

Imbert war das egal, er war nie in Enopacla gewesen. Er interessierte sich nicht für die Herkunft der Dinge. Ihm genügten ein geregelter Tagesablauf und – noch wichtiger – ein geregeltes Einkommen.

Ein letztes Mal lauschte Imbert in den erwachenden Tag hinein. Irgendetwas hatte sich seltsam angefühlt, als er vor die schmucklose Tür getreten war. Ein Kribbeln im Nacken, eine kaum wahrnehmbare Ahnung, dass etwas anders sein könnte als sonst.

Suchend drehte er den Kopf. Die Strahlen der aufgehenden Sonne, die den Vorplatz und die Säulen der mächtigen Frontarkade bereits in rotgoldenes Licht tauchten, drangen noch nicht bis in die schmale Gasse vor, in der sich der Hintereingang des Ostflügels verbarg. Das Licht des Glutglobulus reichte dennoch, um das Notwendige zu erkennen.

Alles war wie sonst. Imbert war allein, nichts regte sich. Von nirgendwo drohte Gefahr.

Achselzuckend schob er den Schlüssel ins Schloss. Was für eine Gefahr sollte hier auch lauern? Nur ein Narr käme auf die Idee, in ein Museum einzubrechen. Fraglos, einige der ausgestellten Versteinerungen, Mineralien und Skelette waren selten und besaßen aus diesem Grunde einen gewissen Wert. Doch gerade aufgrund ihrer Seltenheit wären sie auf dem Schwarzmarkt so gut wie unverkäuflich. Und gänzlich unbewacht ließ man die Sammlung vorgeschichtlicher Artefakte schließlich auch nicht.

Bevor er die Tür entriegelte, schloss Imbert kurz die Augen und konzentrierte sich. Eine Folge kehliger Silben verließ seine Lippen, Worte in der Alten Sprache. Zwei Herzschläge darauf verriet ein sanftes Aufglühen entlang des Türblatts, dass die thaumaturgische Alarmvorrichtung, mit der er selbst die Tür tags zuvor gesichert hatte, deaktiviert war.

Imbert war kein großer Thaumaturg, er führte nicht einmal einen Titel. Dass er überhaupt versiert war, hatte er erst spät gemerkt, im Alter von einundzwanzig Jahren, bei einer nächtlichen Kneipenkeilerei. In der einen Sekunde stand sein fast voller Bierkrug aus Steingut noch vor ihm auf der Theke, in der nächsten steckte er dem Zwerg, der Imberts damaliges Liebchen so dreist von der Seite angequatscht hatte, zwei Fingerbreit tief im Gesicht, angetrieben durch eine unbeabsichtigte Entladung thaumaturgischer Energie. Der Zwerg bezahlte seine Unverschämtheit mit einer gebrochenen Nase und den meisten seiner Vorderzähne. Er würde nie wieder eine Frau dumm anmachen, geschweige denn feste Nahrung zu sich nehmen.

Gleich am nächsten Tag hatte sich Imbert beim städtischen Amt für Bürgersicherheit gemeldet, wie es das Gesetz vorschrieb. Um die steigende Zahl von Unfällen durch unkontrollierte Ausbrüche thaumaturgischer Energie in den Griff zu bekommen, waren alle Versierten angehalten, sich einer rudimentären Grundausbildung in der Nutzung, oder besser. Beherrschung ihrer Kräfte zu unterziehen. Dies war leichter gesagt als getan: Für den Besuch der technisch-thaumaturgischen Akademie Nophelets fielen hohe Gebühren an, eine Einschreibung an der Universität von Orthothep setzte gar eine abgeschlossene Schulausbildung voraus. Imbert, der die Schule aufgrund seiner vielfältig ausgeprägten Desinteressen früh abgebrochen hatte, blieb nichts anderes übrig, als einen Teil der Kaunaps, die er sich mit Gelegenheitsjobs verdiente, beiseitezulegen, bis er sich den vorgeschriebenen Kurs leisten konnte.

Im Unterricht fand sich Imbert umringt von Kindern und Pubertierenden – jenen Altersklassen, in denen die Versiertheit üblicherweise entdeckt wurde. Um seine mit dem unreifen Gezücht verbrachte Zeit möglichst kurz zu halten, strengte er sich in den folgenden Zeniten enorm an und schloss den Kurs vorzeitig mit Auszeichnung ab. Auf den Geschmack gekommen, hängte Imbert ein Aufbauseminar an, ebenfalls auf eigene Kosten. Nachdem er auch dieses erfolgreich abgeschlossen hatte, beherrschte er nicht nur einfache thaumaturgische Kommunikations- und Levitationstechniken, als Thaumaturg zweiter Stufe entsprach er jetzt den Voraussetzungen einer Stellenausschreibung, die ihm zufällig ins Haus flatterte. Zwei Zenite darauf trat er seine Stellung als Hauptschließer im Naturhistorischen Museum von Nophelet an.

Imbert verdrängte die unnützen Erinnerungen und drehte den Schlüssel. Ohne die Deaktivierung des Schutzspruchs, den er jeden Abend über sämtliche Zugänge verhängte, hätte dieser einen automatisierten Signalwurf an das Präsidium der Stadtwache abgesetzt. Ihr Stützpunkt lag nur wenige Häuserblocks entfernt, sodass nicht einmal ihre vom Volk viel gescholtene Unfähigkeit die Beamten daran hindern würde, im Ernstfall binnen Minuten hier aufzukreuzen und einem unberechtigten Eindringling die Scheiße aus dem Leib zu prügeln.

Doch Imbert hatte die Auflösungsformel korrekt artikuliert. Der Alarm schwieg. Einzig ein kleiner, ferngelenkter Glutglobulus würde den diensthabenden Nachtwächter in seinem Büro davon in Kenntnis setzen, dass der Schließer das Gebäude betreten hatte und das Ende seiner Schicht erreicht war.

Imbert zog die Tür hinter sich ins Schloss und schritt, begleitet von seinem eigenen, kaum taubeneigroßen Lichtball, den fensterlosen Korridor hinab. Hinter den zahllosen Türen zu beiden Seiten herrschte Totenstille. Noch. In weniger als einer Stunde würden Kuratoren, Präparatoren und Wissenschaftler die Büros bevölkern und den für Besucher unzugänglichen Teil des Museums mit Leben füllen.

Nach wenigen Schritten beschlich Imbert ein sonderbares Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht.

Er stoppte und lauschte in das Zwielicht vor sich.

„Harmen? Sind Sie das?“

Sein Ruf verhallte unbeantwortet in dem langen Flur. Natürlich war es nicht Harmen, der ihm von seinem Kabuff neben der Haupthalle entgegenkam. Der über zwei Meter große Koloss aus Nesnilinien, der in diesem Zenit die Nachtwache versah, hätte gar keinen Grund dazu. Im Gegensatz zu einigen anderen Wächtern, mit denen Imbert sich im Laufe der Jahre angefreundet hatte und mit denen er ab und an ein morgendliches Schwätzchen hielt, war er mit Harmen nie richtig warm geworden. Das mochte damit zusammenhängen, dass der Riese von Lorgon dem Schöpfer lediglich mit dem Gemüt eines kleinen Jungen gesegnet worden war. Er war ein wenig kurzweiliger Gesprächspartner.

Sofern Harmen das durch Imberts Eintreten ausgelöste Lichtsignal überhaupt wahrgenommen hatte, wäre er jetzt vollauf damit beschäftigt, seinen Trinkschlauch und die Reste seines nächtlichen Imbisses zusammenzuräumen, seine Bewaffnung im Schrank des Kabuffs einzuschließen und sich aufbruchsfertig zu machen.

Ratlos kratzte sich Imbert am Hinterkopf. Was, bei Ubalthes, war heute nur los?

Er atmete schnüffelnd ein. Der vertraute Duft nach Staub stieg ihm in die Nase, nach altem Papier und – ganz unterschwellig – den aus lyktischem Boror-Kraut gerollten Zigarren, die Meister Sapuregel hin und wieder rauchte, der ehrwürdige Direktor des Museums.

Nichts Auffälliges.

Kurz fühlte sich Imbert versucht, die Gaslichter zu entzünden, die im Abstand weniger Schritte aus der Wand des Flurs ragten. Doch dann schüttelte er den Kopf. Er wollte sich nicht lächerlich machen, schon gar nicht vor einem Schwachkopf wie Harmen.

Mit ausgreifenden Schritten folgte er dem Gang zum Treppenhaus. Es war kleiner und schmuckloser als die mächtige Empore, die im Besuchertrakt zu den oberen Ausstellungsräumen hinaufführte, dafür gewährte es Zugang zu den Tiefgeschossen, die der Öffentlichkeit verwehrt blieben. Dort unten, in einem Labyrinth aus Korridoren, waren die Labors der wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie die Magazine untergebracht. In ihnen lagerten Hunderttausende, wenn nicht Millionen Fossilien aus der Frühgeschichte Lorgonias, von denen bisher erst ein geringer Teil erfasst und katalogisiert war.

Imbert stoppte. Mit einer Handbewegung ließ er den Glutglobulus zum ersten Treppenabsatz emporsteigen, anschließend lenkte er ihn treppab, bis sich auch der nächsttiefere Absatz aus dem Halbdunkel schälte.

Niemand zu sehen. Das Treppenhaus war menschenleer.

Verwirrt fuhr sich Imbert mit der Hand über den Nacken. Er fühlte die Ansätze einer Gänsehaut, bei ihm normalerweise ein untrügliches Warnzeichen im Falle einer wie auch immer gearteten Bedrohung. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, wobei er sich vornahm, den wortkargen Harmen nach Auffälligkeiten während der zurückliegenden Schicht zu befragen. Doch im Grunde konnte nichts vorgefallen sein, andernfalls hätte der Wachmann sofort einen der vorgefertigten Wortwürfe abgeschickt, wahlweise an ihn, Direktor Sapuregel oder die Stadtwache.

Imbert ließ das Treppenhaus hinter sich und folgte dem Korridor um eine Ecke. Ein knappes Dutzend Schritte, dann kam die große, mit Schnitzwerk verzierte Doppeltür in Sicht, die Verbindung zwischen Verwaltungs- und Besuchertrakt.

Vor der Tür blieb er ein letztes Mal stehen. Es lag etwas in der Luft, dessen war er sich jetzt absolut sicher. Nichts Riechbares, eher eine Schwingung, fremdartig und unerklärlich … die Andeutung von etwas, das nicht sein sollte. Imbert vermochte es nicht in Worte zu fassen. Kurz ärgerte er sich darüber, dass er seine thaumaturgischen Fähigkeiten nicht schon vor Jahren in Abendkursen um eine oder zwei weitere Stufen ausgebaut hatte. Gewiss wäre ihm dann eine geeignete Technik bekannt gewesen, mit der sich herausfinden ließ, was heute anders war als an hunderten Tagen zuvor.

Imbert atmete tief ein, hob das Schlüsselbund und entriegelte die Tür.

Die große Haupthalle war der ganze Stolz von Meister Sapuregel. Über zehn Jahre lang hatte der Direktor recherchiert, gebettelt, beantragt, gekämpft und nicht zuletzt einen guten Teil des Etats investiert, den die Königin dem Museum jährlich zur Verfügung stellte, um jene Exponate nach Nophelet zu bekommen, die heute den riesigen Raum mit der umlaufenden Galerie schmückten.

Zentraler Blickfang war das Skelett eines voll ausgewachsenen Nombdur, der größten Urechse, die je über das Antlitz Lorgonias getrampelt war. Das Gerippe maß von der Spitze seines peitschenartigen Schwanzes bis zu den Nasenspitzen seiner beiden auf langen Hälsen sitzenden Schädel über achtzig Fuß. Sein Erhaltungszustand war so exzellent, dass selbst das kaiserliche Prähistorium in Enopacla nichts Vergleichbares vorzuweisen hatte.

Flankiert wurde der Koloss, der seine winzigen, maulwurfsartigen Köpfe bis zur Galerie emporreckte, zur Linken vom Gerippe einer Usurpatorechse, eines über zwanzig Fuß hohen, zweibeinigen Fleischfressers, der rund zehn Millionen Jahre vor Beginn des ersten Zyklus gelebt hatte. Zur Rechten erhob sich das nahezu komplette Knochengerüst eines Großen Wankers, eines sechsbeinigen Reptils mit vier langen, spiralartig gewundenen Hörnern auf dem Schädel. Es verdankte seinen Namen der stark voneinander abweichenden Länge seiner Gliedmaßen, aus der Prähistorologen folgerten, dass der Gang des Tiers extrem taumelnd und schwankend gewesen sein musste. Etwas weiter hinten schließlich war das Skelett eines Trichterbeißers aufgebaut, einer etwas kleineren, dafür umso selteneren Urechse, die parallel zum Auftauchen der ersten Frühmenschen hoch droben in Xamen gelebt hatte. Ihren Namen verdankte die Kreatur ihrem langgestreckten, aus vier unabhängigen Kiefern bestehenden Maul, mit dem sie fürchterliche trichterförmige Löcher in das Fleisch ihrer Beutetiere reißen konnte.

Für Imbert waren die spektakulären Exponate längst zu einem gewohnten Anblick geworden. Morgen für Morgen hatten sie ihn in den vergangenen Jahren mit gebleckten Zähnen gegrüßt, wenn er seinen Rundgang antrat und reihum die Pforten des Museums öffnete.

Als er jedoch heute in die Halle hinaustrat, wurde Imbert mit der Wucht eines Faustschlags klar, dass er sich mitnichten getäuscht hatte: Etwas war anders als sonst! Das vage Gefühl, das ihn beim Betreten des Gebäudes angesprungen hatte, fand Bestätigung in einem unvorhersehbaren, ganz und gar unerklärlichen Umstand.

Die Halle war leer!

Mit heruntergeklapptem Unterkiefer ließ Imbert seinen Blick von einer Seite des kuppelförmigen Saals zur anderen schweifen.

Staubpartikel tanzten wie Schneeflocken in den baumdicken Lichtstrahlen, die durch die hoch gelegenen Galeriefenster hereinfielen. Deutlich konnte er die Schautafeln mit geografischen Karten und Jahreszahlen an den Wänden erkennen, die Absperrungen aus roter Brokatkordel, um die Besucherströme tagsüber davon abzuhalten, den ausgestellten Kostbarkeiten zu nahe zu kommen. Er sah die Reihen gläserner Schaukästen am Rand der Halle … und vier riesige, leere Sockel.

„Was, in Lorgons Namen …? Harmen!“ Fassungslos stolperte Imbert vorwärts. „Harmen, wo stecken Sie? Was zum Henker ist hier los?“

Als keine Antwort erfolgte, beschleunigte er sein Tempo, eilte mit großen Schritten auf das gegenüberliegende Ende der Halle zu. Dort, hinter einer schmalen Tür mit Glaseinsatz, befand sich das Kabuff des Nachtwächters.

„Harmen? Sie verdammter, pflichtvergessener Bastard! Wie in aller Welt konnte …“

Ein platschendes Geräusch ließ Imbert verstummen. Irritiert sah er zu Boden.

Er stand mitten in einer riesigen Flüssigkeitslache. Sie war tiefrot und bedeckte einen viele Quadratfuß großen Bereich unmittelbar vor dem Sockel, auf dem eigentlich das Nombdur hätte stehen sollen.

Mit einem bangen Gefühl ließ Imbert erneut den Blick schweifen. An einem formlosen Objekt, das wenige Schritte vor ihm auf dem Boden lag, blieb er hängen.

„Harmen? Bei Ubalthes, nein!“

Mit einigen raschen Schritten war er bei dem Körper und ging neben ihm auf die Knie.

Es dauerte mehrere Augenblicke, bis Imbert sicher war, wirklich den Nachtwächter des Museums vor sich zu haben. Der massige Körperbau und die zerfetzten Reste der dunkelblauen Uniform waren klare Indizien, zugleich aber auch die einzigen. Was in einem See aus geronnenem Blut vor ihm lag, wies ansonsten nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Wachmann aus Nesnilinien auf.

Auf den ersten Blick erinnerte der Leichnam an einen großen Haufen aufgegangenen Teigs. Die Haut, unnatürlich weiß und gesprenkelt mit einem feinen Netz roter Linien und Punkte, schien dem Nachtwächter mindestens fünf Nummern zu groß zu sein. In faltigen Schürzen und Säcken hing sie von Knochen, die sich deutlich unter der losen Schicht abzeichneten.

Am schlimmsten war der Anblick des Gesichts. Wangen und Lippen hingen wie ausgeleiert seitlich am Schädel herab. Die Augäpfel waren aus den Höhlen getreten und aufgeplatzt, klebten als eitrige, geleeartige Klumpen auf der schlaffen Haut. Nur mit Mühe konnte Imbert ein Würgen unterdrücken, als er die weißen, an Hirsebrei erinnernden Bröckchen erkannte, die in Harmens absurd geweiteten Nasenlöchern klebten. Ohne Zweifel Hirnmasse.

Unartikulierte Laute ausstoßend taumelte Imbert von der Leiche fort zur Wächterkabine. Er ignorierte das Quietschen des Blutes unter seinen Stiefelsohlen, erreichte den Verschlag und löste mit zitternden Händen die vorgefertigten Wortwürfe aus, von einem Militärthaumaturgen präpariert und an sämtliche relevanten Institutionen gerichtet.

Dann torkelte er in die hinterste Ecke des Kabuffs und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

Teil 1:

Gebeine

Zweitag

– 1 –

Obwohl die Konstruktion, auf der Jorge lag, für einen Troll eindeutig zu klein war, mochte er den Raum, in dem sie stand. Vielleicht lag es an dem vorherrschenden Duft. Es roch nach Asphyxilien und Rosenkaldaven, allerdings weniger durchdringend und intensiv als an den Örtlichkeiten, wo man diesen Aromen normalerweise begegnete. Nichtsdestotrotz assoziierte ein Teil seines Trollgehirns die olfaktorischen Eindrücke sofort mit zurückliegenden Besuchen in verschiedenen Lusthäusern – den besseren Lusthäusern des Hafenviertels, nicht den schäbigen in Foggats Pfuhl, die nach Krankheit, Kot und etwas unangenehm Organischem stanken. Solche Noten fehlten hier. Der Duft in Meister Segmundts Behandlungszimmer war rein und klar, fäulnisfrei. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch von brennendem Waschbrutholz untermalte die Blütendüfte.

Jorges direkter Vorgesetzter beim IAIT, Agent Hippolit, hätte es ihm wahrscheinlich kaum abgenommen, aber Jorge war ein großer Befürworter angenehmer Düfte. Sie verliehen der Welt erst die richtige Färbung. Jeder Wohlgeruch hatte eine Farbe. Manche Gerüche waren grün oder meeresblau, andere gelb oder orange. So war das. Der Duft, der ihn jetzt umgab, hatte die Farbe fruchtbarer Erde. Ja, dachte Jorge.

Von der Liege ließ er seinen Blick zum wiederholten Mal durch den Behandlungsraum schweifen. Bis zu seiner Ankunft hatte er eine Art Labor erwartet, angefüllt mit erschreckenden Glaskolben, stechendem Qualm und rauchenden Kohlebecken, aber er wurde positiv überrascht. Offenbar gab es bei Meister Segmundt keinerlei thaumaturgisches Brimborium. Die Einrichtung war spartanisch, aber gemütlich. Eine Liege, leider zu kurz, mit einer braunen, weichen Decke aus Klotushaar und einer Genickstütze, die sich perfekt seinem Nacken anpasste. Die Wände bestanden aus unverputztem Mauerwerk. Es gab ein paar Bücherregale sowie eine von der Decke baumelnde Holzkonstruktion, die wahrscheinlich Kunst darstellen sollte. Durch ein großes Fenster fiel Sonnenlicht von draußen herein. Nur gedämpft drang der Straßenlärm in den dritten Stock hinauf, ein fernes, stetiges Rauschen, das ihn an die Wogen des Grünen Ozeans erinnerte.

Meister Segmundt saß neben dem Kopfende der Liege. Normalerweise mochte es Jorge nicht, wenn er sich mit jemandem im selben Raum aufhielt und seinem Gegenüber nicht in die Augen sehen konnte. Aber Meister Segmundts Erscheinung hatte von der ersten Sekunde an eine beruhigende Wirkung auf ihn ausgeübt. Dies, obwohl der Heiler ein Mensch war, auf den die Bezeichnung „vielleicht“ zutraf. Vielleicht war Meister S. ein bisschen zu klein, selbst für einen Menschen, vielleicht hatte er genau die richtige Größe. Vielleicht hatte er ein nichtssagendes Antlitz, vielleicht aber auch nur einen neutralen Gesichtsausdruck perfektioniert. Vielleicht war das Gewand, das er trug, saphirblau, vielleicht war es das Blau des Himmels. Vielleicht sprach er zu leise, vielleicht brachte er sein leicht singendes Timbre auch bewusst so zum Einsatz.

Es hatte Jorge einige Überwindung gekostet, hierherzukommen. Er hatte den Termin schon vor etlicher Zeit ausgemacht und ihn dann immer wieder verschoben. Das hatte vor allem mit seinem Selbstverständnis zu tun.

Einen Seelenheiler aufzusuchen, war ein Eingeständnis an die eigene Schwäche. Und Schwäche war ein Luxus, den Jorge sich noch nie hatte leisten können.

Auch Meister Segmundt wirkte bei Jorges Ankunft zunächst ein wenig irritiert. Er hatte zwar nichts gesagt und das professionell-neutrale Gesicht nur für einen Sekundenbruchteil verzogen, aber Jorge glaubte, ein verräterisches Zucken um seine Mundwinkel und Augen wahrgenommen zu haben. Ohne Zweifel war Meister Segmundt nicht daran gewöhnt, einem Troll ins Gehirn zu schauen. Angehörige von Jorges Rasse besuchten in der Regel keine Seelenheiler. Manche böse Zunge behauptete, das läge daran, dass Trolle gar keine Seele hätten. Aber das war natürlich totaler Unsinn, bei Batardos.

Sie hatten sich begrüßt, Jorge hatte die geforderten Kaunaps für die Behandlung gezahlt, und nun lag er auf der Liege, und Meister Segmundt saß am Kopfende, und die Geräusche drangen wie Meeresrauschen von den Straßen Nophelets zu ihnen hinauf, und Meister Segmundt, dieser Faulpelz, tat einfach gar nichts.

Irgendwann ergriff Jorge die Initiative. „Schwebt man hier nicht?“, fragte er.

Für einen kurzen Moment dachte er, Meister Segmundt sei verschwunden oder vor Langeweile eingeschlafen, doch dann erklang neben ihm die weiche, angenehme Singsangstimme:

„Es ist Ihre Zeit, Herr Jorge. Sie gehört ganz Ihnen. Und nein, man schwebt hier nicht.“

Jorge drehte den Kopf, aber er konnte Meister Segmundt in seiner gegenwärtigen Position nicht ansehen. „Mein Name ist nicht ,Herr Jorge‘, wenn’s recht ist. Ich heiße Jorge. Schluss, aus. Einfach nur Jorge.“

„Nun, Jorge, wie gesagt, es ist Ihre Zeit. Sie sind zu mir gekommen, Sie haben mich bezahlt. Es obliegt Ihnen, was Sie mit dieser Zeit anfangen möchten.“

Blaak, was sollte das denn heißen? Ganz offensichtlich war der Kerl ein fauler Sack, möglicherweise ein Scharlatan. Fläzte sich in einen Sessel und überließ dem Patienten die ganze Seelenarbeit. Was für eine Pleite.

Etwas Seltsames geschah. Jorge spürte, wie tausend Worte gleichzeitig auf seine Zunge drängten. Er schluckte sie hinunter. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Bei Batardos, weswegen war er doch gleich hier?

Er beschloss, es mit etwas simpler Konversation zu probieren, um locker zu werden.

„Du arbeitest also wirklich nicht mit Thaumaturgie, Meister Segmundt? Ich schwebe gar nicht. Hatte angenommen, dass ich schwebe, sobald ich mich auf dieses Ding hier lege. Ist übrigens zu kurz, die Konstruktion, wie du unschwer erkennen kannst.“

„Nein“, erklang Meister Segmundts Stimme neben ihm. „Hier gibt es keine Thaumaturgie, Jorge. Beunruhigt Sie das?“

„Hey, ich stelle hier die Fragen!“ Es tat Jorge sofort leid, dass Aggression in seiner Stimme mitschwang. Er wollte es nicht schon zu Beginn vermasseln. „Du bist also nicht versiert?“ Er schlug die Beine übereinander. „Wieso nennst du dich dann Meister? Es gibt bei uns Trollen ein Sprichwort, und das geht so: Nur Meister meistern.“

Meister Segmundt ließ ein leises Lachen ertönen. „Ja, die Trolle und ihre Sprichwörter. Dafür sind Trolle bekannt, nicht wahr?“ Es lagen weder Ironie noch Sarkasmus in seinen Worten. „Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin versiert, allerdings nur in einem recht geringen Maß. Ich darf die Bezeichnung Meister führen, weil ich eine andere Kunstform perfektioniert habe.“

„Blaak! Entweder, oder. Bist du nun, oder bist du nicht?“

„Was wissen Sie über Seelenheiler, Jorge?“

Jorge dachte nach und erzeugte ein schmatzendes Geräusch mit den Lippen. „Ihr schaut irgendwie in die Gehirne der Leute und verdreht etwas darin, damit man danach nicht mehr wahnsinnig ist. Oder so ähnlich.“

„Das ist zwar recht grob vereinfacht, aber im Grunde stimmt es. Macht Ihnen das Angst?“

Jorge unterdrückte den spontanen Impuls, aufzuspringen und sich und seine Trolltapferkeit unter Beweis zu stellen. Vielleicht waren es die beruhigenden Düfte, die ihn umgaben, aber er rührte sich nicht. Stattdessen tat er etwas, das er sonst nur selten tat: Er dachte über die Frage nach.

„Angst“, wiederholte er. „Tja, Angst … ich weiß nicht, wie ich sagen soll, aber ein Troll und Angst, also …“

„Angst ist kein Zeichen von Schwäche, Jorge. Aus therapeutischer Sicht kann ich Ihnen das versichern. Nur die Dummen fürchten nichts und laufen blind in ihr Verderben. Der Kluge empfindet, und zwar die ganze Palette an Emotionen. Dazu gehört eben auch Angst. Das ist keine Schande. Der Kluge fühlt und handelt besonnen.“

„Aus therapeutischer Sicht also.“ Jorge probierte das neue Wort gleich noch einmal aus: „The-ra-peu-tisch. Hm. Aber die Welt ist nicht ausschließlich aus therapeutischer Sicht zu erfassen, schon gar nicht hier in Nophelet. Fangen wir beispielsweise damit an, dass du gar nicht weißt, was ich beruflich mache. In meinem Beruf kann ich mir die ,ganze Palette an Emotionen‘ nicht erlauben. Ganz nebenbei: Hast du überhaupt schon mal einen Troll behandelt? Hast eben ganz schön blöd geguckt, als ich reingekommen bin.“

Eine winzige Pause entstand, ein anderer hätte sie möglicherweise nicht wahrgenommen. Jorge nahm sie wahr. Er achtete auf solche Kleinigkeiten.

„Ist das ein Problem für Sie, Jorge?“ Meister Segmundt hatte die Eigenart, Jorges Fragen sofort mit einer Gegenfrage zu beantworten.

„Sofern es für dich kein Problem ist. Ich glaube einfach nur, dass deine therapeutische Weltsicht nicht uneingeschränkt auf mich übertragbar ist.“

„Und dennoch sind Sie hierhergekommen, Jorge. Wie gesagt: Es ist Ihre Zeit. Ihre Entscheidung, was Sie damit machen.“

Sie drehten sich im Kreis. Jorge bewegte nervös die Schultern hin und her. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, sagte er.

„Die Frage ist doch, Jorge: Was ist der Grund für Ihren Besuch in meiner Praxis?“

„Praxis? Das Wort habe ich noch nie gehört. Ich dachte, dies wäre ein Behandlungszimmer.“

„Sie können auch Behandlungszimmer sagen, ganz wie es Ihnen beliebt. Wir Seelenheiler sprechen in der Regel von unserer Praxis.“

Wieder trat Schweigen ein. Jorge lauschte dem Rauschen von der Straße. Er schloss die Augen. Ohne zu wissen, welche Worte herauskommen würden, öffnete er den Mund.

„Ich arbeite beim IAIT. Dem Institut für angewandte investigative Thaumaturgie. Wir kommen immer dann zum Einsatz, wenn irgendwo ein thaumaturgisch begabtes Arschloch denkt, es müsse Ärger machen.“

„Ich kenne das IAIT. Sie sind also Agent des Instituts? Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe.“

„Allerdings. Ich arbeite mit M.H. zusammen, ich meine, mit Meister Hippolit. Er …“

„Oh, Meister Hippolit.“ Es war das erste Mal, dass Meister Segmundt ihn unterbrach. Seine Stimme hatte sich eine Winzigkeit gehoben. „Sie arbeiten tatsächlich mit dem Meister Hippolit zusammen?“

„Sag bloß, du kennst ihn, Segmundt?“

„Nun, nicht persönlich. Aber Meister Hippolit ist in Thaumaturgenkreisen fast so etwas wie eine lebende Legende. Mir war jedoch nicht bekannt, dass er noch im Dienst ist. Soweit ich mich erinnere, gab es da ein misslungenes Verjüngungsritual. Ist er heute nicht im albinotischen Körper eines Knaben gefangen?“

„Äh …? Ja, so ist das. Deswegen braucht er mich. So ist das. Ja. In der Tat.“

„Gut“, sagte Meister Segmundt. „Das finde ich wirklich gut.“

„Wie bitte, was? Du findest es gut, dass M.H. in einem verdammten Kinderkörper festsitzt?“

„Nein. Ich finde es gut, dass Sie ihm beistehen, Jorge. Zugegeben, ich kenne Sie beide nicht persönlich, aber ich kann mir vorstellen, dass Meister Hippolit Sie braucht, nicht wahr? Schon aus therapeutischer Sicht scheinen Sie viele seiner Defizite allein durch Ihre Präsenz auszugleichen. Ist es nicht so?“

So hatte Jorge das noch nie gesehen, jedenfalls nicht mit solcher Klarheit. Offenbar war Meister Segmundt nicht auf den Kopf gefallen.

„Nun ja, M.H. ist eher ein Bücherwurm. Weniger ein Faustwurm, so wie ich.“

Jetzt lachte Meister Segmundt. „Das haben Sie schön gesagt, Jorge.“ Eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: „Dann waren Sie es, der vor wenigen Zeniten zusammen mit Meister Hippolit den Elbenschlächter zu Fall brachte! Ich habe darüber gelesen. Sie sind eine kleine Berühmtheit, Jorge.“

„Berühmtheit ist in unserem Gewerbe nicht unbedingt erwünscht, wie du dir vorstellen kannst. Allein schon aus therapeutischer Sicht. Schlecht, wenn dich deine Feinde sofort erkennen und das Weite suchen, sobald du auf der Bildfläche erscheinst.“

„Das leuchtet ein.“

„Na ja, bisher funktionierte das alles ganz gut. Aber dann, wie soll ich sagen … ist etwas passiert.“

Plötzlich fühlte sich Jorge angespannt. Bilder explodierten vor seinem inneren Auge. Er hob den linken Arm und betrachtete die stahlblitzende Prothese an seinem Ende. „Kannst du dir vorstellen, dass diese Hand nicht meine echte ist?“

Er hörte, wie sich Meister Segmundt in seinem Sessel bewegte. „Ist es eine thaumaturgische oder eine rein mechanische Apparatur?“

„Ich glaube, ein bisschen von beidem. Muss M.H. bei Gelegenheit mal fragen.“

„Sie sieht gut aus. Hochwertige Arbeit. Haben Sie Probleme beim Greifen?“

„Überhaupt nicht. Aus therapeutischer Sicht greife ich nach wie vor fest und entschlossen zu. Das ist nicht das Problem. Es ist vielmehr … nun, unter anderem geht es darum, wie ich meine echte Hand verloren habe.“

Meister Segmundt schwieg.

„Es geschah, als M.H. und ich auf der Suche nach einem Mörder waren, den die Presse später den Orksammler nannte. Vielleicht hast du damals auch darüber gelesen. Eine Bestie, die Orksoldaten bei lebendigem Leib die Pumpe aus der Brust riss.“

Meister Segmundt schwieg.

„Während dieses Falles … da war diese unterirdische Grabkammer oder Höhle oder was auch immer … Ich will dich nicht mit Details langweilen, aber da war dieser Knochenberg. Zentner, Tonnen davon, alles voller Knochen. Und sie brachen über mir zusammen. Ich wurde verschüttet. Kannst du dir das vorstellen?“

Meister Segmundt schwieg.

„Und ich kam nicht mehr raus. Ich lag unter diesem Knochenberg und konnte mich nicht regen … und ich dachte: Mann, Jorge, alter Kämpfer und Erwischer, das war’s dann wohl. Eine ganz schön beschissene Art für einen Troll abzutreten, findest du nicht auch? Verschüttet unter den Gebeinen von Abertausend Toten, verdammt dazu, langsam zu verrecken.

Meister Segmundt sagte noch immer nichts.

„Kannst du dir das vorstellen? Wie es sich angefühlt hat?“

Endlich sprach Meister Segmundt. „Es muss furchtbar gewesen sein.“

„Furchtbar ist noch geprahlt!“ Jorge spürte Schweiß über sein Gesicht rinnen. „Durch ein Schwert zu sterben oder einen anständigen Schlag auf den Schädel, ist eine Sache. Aber begraben unter einem Gebirge aus Gebeinen …“

„Für einen Troll muss das entsetzlich sein“, sagte Meister Segmundt.

„In der Tat! Du scheinst zu wissen, wie wir Trolle ticken, Seg, obwohl du noch nie einen behandelt hast.“

„Ich möchte auch nicht unter Gebeinen begraben werden, Jorge.“

„Wer will das schon? Aber auch das ist noch nicht das eigentliche Problem. Normalerweise stecke ich solche Sachen weg. Locker. Aber seit jener Nacht … Verdammt, ich träume davon! Immer wieder träume ich davon. Kannst du dir das vorstellen? Hättest du gedacht, dass Trolle Albträume haben können?“

„Ich gehe davon aus, dass jedes vernunftbegabte Wesen von Albträumen heimgesucht werden kann.“

„Mich hat’s jedenfalls überrascht. Und dass mir dieser verdammte Ghoul im weiteren Verlauf des Falles die Hand abriss, machte die Sache keineswegs besser. Im Gegenteil, bei Batardos! Ein paar Zenite später – ich hatte meiner Kunsthand gerade beigebracht, selbst komplex geformte Bierkrüge sicher zu meinem Mund zu transportieren und auch komplex geformten Visagen zielsicher die Zähne auszuschlagen – stellte ich fest, dass es nicht nur Albträume waren, die ich von dieser Episode zurückbehalten hatte.“

Meister Segmundt schwieg auffordernd.

„Da war dieser Zwischenfall in Barlyn, der Zwergenstadt. M.H. und ich ermittelten in einem Mordfall, tief unter der Erde, bei diesen bornierten, kleinwüchsigen Arschlöchern. Ich musste in einem Aufzug in ihre Minen hinabfahren … da überfiel es mich plötzlich! Dieses Gefühl des Eingesperrtseins. Ich war nie gern eingesperrt, wir Trolle brauchen unseren Freiraum. Aber dieses Gefühl … es war unnatürlich.“

Nach einem weiteren Moment des Schweigens, an dem sich Jorge rege beteiligte, sagte Meister Segmundt: „Beschreiben Sie die Panikattacke.“

„Da gibt’s nichts zu beschreiben. Es fühlte sich an, als würde eine eiskalte Hand nach meinem Herz greifen und zudrücken. Ich bekam keine Luft mehr. Ich wollte nur noch raus aus diesem Scheißkasten. Ich … ich hatte das Gefühl, sterben zu müssen.“

„Und das irritiert Sie. Sie haben den Eindruck, dass solche Gefühle sich für Sie nicht gehören, Jorge, nicht wahr?“

„Solche Gefühle sind total unnatürlich!“

„Nein, solche Gefühle sind normal.“

Jorge hielt es nicht mehr auf seiner Liege. Mit einem Ruck setzte er sich auf und drehte sich zur Seite. „Wie bitte?“, stieß er hervor.

Meister Segmundt saß regungslos in seinem Sessel. Offenbar hatte er sich während der gesamten Konversation nicht einen Millimeter bewegt. Er hielt sich das Kinn und sah Jorge mit ruhigen Augen an, die dieselbe Farbe hatten wie sein dunkelblaues Gewand. „Es ist völlig normal, dass ein so furchtbares Erlebnis Sie traumatisiert hat, Jorge. Wissen Sie, was ein Trauma ist?“

Jorge nickte, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, wovon Meister S. sprach. Offenbar las Segmundt seine Gedanken, denn er fügte hinzu: „Aus therapeutischer Sicht hatten Sie ein Erlebnis, das Sie nicht ohne Weiteres verarbeiten konnten. Ich glaube, dass das gerade für einen Troll nicht unerheblich ist. Eine echte Zwickmühle. Sie sind ein Troll und Agent des IAIT, Sie können sich solche völlig nachvollziehbaren Gefühle nicht erlauben. Und deswegen sind Sie noch immer gefangen unter den Gebeinen. Es verfolgt Sie.“

Jorge ließ den Kopf hängen. Er fühlte sich plötzlich matt und erschöpft. „Es verfolgt mich“, gab er zu. „Ich bin ein erbärmlicher Troll.“

Meister Segmundt lächelte. „Sie sind der ungewöhnlichste Troll, der mir in meinem Leben je begegnet ist, Jorge. Sie haben Mut.“

„Ich bin eine Flasche.“

„Nein. Sie hatten den Mut, hierherzukommen und mir von alldem zu erzählen. Aus therapeutischer Sicht ist das eine enorme Leistung. Sie können stolz auf sich sein.“

„Du meinst, ich bin geheilt? Ich bin nicht länger verrückt?“

Meister Segmundt verzog das Gesicht nur ganz wenig. „Wir Seelenheiler scheuen Begriffe wie ,verrückt‘ und ,normal‘, ebenso wie ,richtig‘ oder ,falsch‘. Das alles gibt es in Wahrheit nicht. Sie sind ein intelligenter Bursche, Jorge. Ursache, Wirkung. Etwas passiert, deshalb passiert etwas anderes. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Du meinst, ich bin nicht geheilt?“

„Ich glaube, Sie stehen am Beginn eines längeren Weges.“

„Blaak, eines längeren Weges?“

„Keine Sorge, Sie haben den ersten Schritt bereits getan. Jede noch so lange Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Ich würde Sie gerne auf diesem Weg begleiten.“

„Du meinst, ich soll wiederkommen?“

„Ich denke, dass Sie heute schon viel geleistet haben. Erholen Sie sich davon. Erzählen ist anstrengend, auch wenn uns das nur in den seltensten Fällen bewusst ist.“

„Du meinst, aus therapeutischer Sicht?“

Meister Segmundt lächelte. „Ganz genau.“

Jorge sprang auf. „Das passt mir gut. Ich muss sowieso weg. Hab noch einen anderen Termin, im Naturhistorischen Museum. Dort gab es irgendeinen Vorfall, muss mit M.H. ein bisschen ermitteln. Wahrscheinlich nichts Schwerwiegendes.“

Irgendwie fühlte sich Jorge mit einem Mal befreit, vielleicht, weil er es über sich gebracht hatte, Meister Segmundt den wahren Grund seines Besuches zu verraten. Aus einer instinktiven Geste heraus streckte er dem Seelenheiler die Hand entgegen.

Segmundts Händedruck war warm und fest.

„Danke, Meister S. Ich komme wieder.“

Meister Segmundt sah ihm in die Augen. „Jorge, die Käfige sind nur in unseren Köpfen. Ob Troll, ob Mensch, ob Zwerg. Meistens besitzen wir die passenden Schlüssel zu diesen Käfigen, aber manchmal benötigen wir jemanden, der uns hilft, einen verlorenen Schlüssel wiederzufinden. Das ist das ganze Geheimnis.“

Das waren nach Jorges Geschmack etwas zu viele Worte. „Wie auch immer“, sagte er. „Hat mich gefreut, Seggie. Auch aus therapeutischer Sicht.“

Meister Segmundt begleitete ihn zur Tür.

Auf dem Weg zum Museum dachte Jorge über Käfige und verloren gegangene Schlüssel nach.