Die Rächerin und andere römische Novellen

 

Die Rächerin

1.

Kürzlich besuchte ich in Rom einen Landsmann.

Er heißt mit Vornamen Heinrich und ist ein junger Maler von Talent. Trotzdem wird ihm schwerlich eine Zukunft blühen; denn er ist durchaus kein »Moderner«, was natürlich seine eigene Schuld ist. Er malt mit hartnäckiger Vorliebe sogenannte »klassische« Landschaften mit idealer Staffage.

Nun bewegt sich der Charakter der römischen Landschaft in dem feierlichsten Rhythmus von Linien und Farben; und die Bewohner jener Gegenden haben das Besondere, was man »Stil« nennt. Aber diese große Landschaft mit ihrem schönen Menschenschlage sollte – wenn man dergleichen heutzutage überhaupt noch abbildet – ausschließlich mit dem erbarmungslosen Blick des Naturalisten gesehen und dargestellt werden. Und das unmittelbar auf die Leinwand; denn das Skizzenbuch ist dem modernen Maler ein abgetanes Requisit seiner Kunst.

Ich sah in dem Atelier meines Bekannten Studien und Entwürfe, die mir schön und bedeutend erschienen; und in demselben Maße deuchten sie mir auch wahr. So, grade so, sah wenigstens ich die mir seit einem Menschenleben vertraute römische Landschaft mit ihrer Galerie von Figuren.

Lange stand ich betrachtend vor dem Hauptwerk des jungen Künstlers, einem umfangreichen Ölgemälde, welches die Bezeichnung »Fiammetta« hatte.

In einer öden Steppe ein einsames junges Weib. Gleich einer biblischen Frauengestalt tragt sie ein ultramarinblaues Mantelgewand, das sie von Kopf bis zu Füßen einhüllt. Beide Arme erhängen schlaff an dem feinen schlanken Leib herab. Mit weit offenen Augen schaut sie unverwandt in die Ferne. Ihre jungen leidenschaftlichen Lippen pressen sich zusammen, als ob sie ein Stöhnen erstickten. Mit ersticktem Stöhnen steht sie und wartet. Sie ist ringsum der einzige Mensch; sie scheint der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Um sie her ein Gefilde von blühenden Königskerzen, die, ebenso schlank wie die junge Frauengestalt, aus silbergrauem samtweichem Blattwerk aufwachsen, von der Sommersonne durchglüht.

Unabsehbar dehnt sich die leuchtende Landschaft. Der Dunst eines Sommertags brütet darüber wie flimmernder funkelnder Nebel. Alles ist Licht, grelles, blendendes, unbarmherziges Sonnenlicht; ist Glanz und Glut eines römischen Sciroccohimmels.

Man fühlt es: die weit hinaus Schauende ist unfähig, eine Bewegung zu tun; der sommerliche Mittagszauber römischer Wildnis hat sie gebannt. Sie wird dastehen, bis der mörderische Sonnenball endlich sinkt und weicht. Dann wird sie zu Tode ermattet davonschleichen – zu irgendeiner Hütte aus braunem verbranntem Ginstergesträuch in enger Talschlucht. Dort wird sie sich hinwerfen, wird beim ersten Morgengrauen sich wieder aufraffen, wieder hinausgehen, wieder warten ...

Ich fragte den Künstler:

»Auf wen wartet sie?«

»Auf einen, der nicht kommt.«

»Auf einen treulosen Liebhaber also?«

»Auf einen Gestorbenen.«

»Den das wunderschöne Geschöpf nicht vergessen kann?«

»Dessen gewaltsamen Tod sie sühnen muss.«

»Eine Rächerin also?«

»Ja.«

»Fiammetta existiert demnach und das Bild hat eine Geschichte?«

»Noch dazu eine wahre Geschichte.« »Die Sie kennen?«

»Die ich mit erlebte.«

»O! ... Und hat Ihre Heldin den Tod des Geliebten gesühnt?«

»Nein! Noch nicht.«

»Sie hat ihre Liebe wie ihre Rache vergessen, hat sich längst getröstet, steht jetzt und wartet auf einen, der kommt.«

»Ich glaube nicht.«

»Sie sind Idealist. Wer ist diese Fiammetta?«

»Ein Modell – natürlich.«

»In das Sie sich verliebten – natürlich. Das müssen Sie mir gelegentlich erzählen.«

»Wer versteht diese Art von Frauen? ... Aber jetzt kommen Sie. Bei den Campanelle sind heute Nachmittag die Rennen, Wir wollen die römische Aristokratie anfahren sehen. Es sind wundervolle Menschen darunter.«

Da das Wetter köstlich war: ein nicht zu heißer Maitag, so kam mir der Vorschlag ganz recht. Wir frühstückten bei Pannelli, nahmen am spanischen Platz einen Wagen und verließen die Stadt durch Porta San Giovanni in einem dichten Gewühl von Fuhrwerken und Menschen, die sämtlich dem einige Miglien entfernten Rennplatze zuströmten.


    2.

Die römische Natur trug bereits ihr farbenglühendes prächtiges Sommergewand. Die Gärten vor dem Tore waren bunt von Blumen und in den Vignen erglänzten die langen Rosenhecken über und über von Blüten. Die Campagna loderte hier von flammend rotem Mohn, leuchtete dort von goldigen Margueriten; und die Sabina lag bei der milden Tramontana in einen Schein gehüllt, der wie die Farbe blassblauer Hyazinthen leuchtete.

Wir fuhren geradenwegs auf das Albanergebirge zu. Der tusculanische Höhenzug mit seinen schimmernden Ortschaften lag in solcher Klarheit vor uns, dass ich deutlich die Terrassen, den Park der Villa Falconieri erkannte, welche ich seit einer langen Reihe von Jahren bewohnte. Hinüberdeutend bemerkte mein Gefährte: »Dort liegt die Heimat meiner Heldin.«

»Fiammetta ist aus dem Albanergebirge?«

»Aus dem Molaratal.«

»Im Molaratal hausen nur nomadisierende Hirten.«

»Zu solchen gehört sie.«

Ich kannte jene wilde Gegend genau; es war verrufenes Land. Ungezählte Male hatte ich es durchritten und jedes Mal in beständiger Erwartung eines Überfalls, ohne dass mir jedoch etwas Ernstliches zugestoßen wäre.

Ich wollte weiter nach Fiammetta fragen, als unser Wagen zur Seite wich. Gleich darauf fuhr an uns der König vorüber, der zu den Rennen wollte. Die grellrote königliche Livree machte sich prächtig.

Keine drei Minuten hatten wir unsern Weg fortgesetzt, als vor uns auf der Landstraße eine leidenschaftliche Bewegung entstand, deren Ursache wir nicht zu erkennen vermochten.

Wir hörten Rufe, Geschrei; wir sahen die Menschen zusammenlaufen und dann vorwärts eilen; wir sahen Wagen und Equipagen mitten im Wege halten, die Insassen hinausstürzen und der Menge folgen.

Etwas Ernstliches musste geschehen sein ... Was?

Das Geschrei und Gedränge nahmen zu. Es war ein Toben, ein Tosen.

Dann vernahmen wir's: ein Attentat auf den König war verübt worden; der König war unverletzt, der Attentäter festgenommen. Auch unser Wagen hielt, auch wir sprangen hinaus, liefen vorwärts.

Der König war bereits weitergefahren. Wir hörten, wie er von der Menge jauchzend gegrüßt ward. Wo das Volk sich zu einem Knäuel zusammendrängte, musste sich der Attentäter befinden. Da die Straße gesperrt war, warteten wir. Als er dann, von Karabiniers eskortiert, an uns vorüberkam, sahen wir den Unsinnigen genau; er bestieg ganz in unserer Nähe mit den Polizisten ein Gefährt. Seine Begleiter mussten ihn mit den Waffen vor der Volkswut schützen.

Es war ein noch junger Mensch, scheinbar ein Arbeiter. Sein Gesicht war fahl, die nicht unschönen Züge waren verzerrt. Aber er schien ruhig zu sein. Er mochte geahnt haben, dass es ihm misslingen würde und jetzt nur fähig sein, nichts als das eine zu denken und zu fühlen: es ist misslungen! Ganz gleich, was jetzt mit dir geschieht.

»Fiammetta!«

Der Maler neben mir stieß den Ruf aus, so laut und mit solchem Entsetzen, dass ich zusammenfuhr. Ich erkannte sie sofort. Sie stand unter der Menge, welche den Wagen mit dem Attentäter umdrängte; sie sah diesen an, mit einem Blicke – in dem Blick des jungen schönen Weibes glühte Verachtung, etwas wie unauslöschlicher Hass. Sie schien mit ihrem Blick den seinen zu zwingen, musste. Und jetzt schauten sich die beiden in die Augen, fest und tief. Ihren brennenden Blick auf sich, begann der Verbrecher heftig zu zittern.

Dann trieb der Kutscher das Pferd an; der Wagen fuhr in raschem Trabe davon, hart an Fiammetta vorüber, die keine Bewegung tat. Die Menge stürzte nach, johlend und laute Verwünschungen ausstoßend. Für einen Augenblick wurde die Straße fast einsam; nur Fiammetta stand noch da. Regungslos starrte sie dem Wagen nach; jetzt aber mit dem Blick, den sie auf dem Bilde hatte. Dieser Blick sagte: er kommt nicht wieder!

Plötzlich stand der Maler neben ihr. Er flüsterte leidenschaftlich in sie hinein, wurde jedoch keines Blickes gewürdigt. Sie stand und schaute dem andern nach, dessen Wagen im Staub der Landstraße dahinfuhr, immer noch von einer heulenden Meute verfolgt.

Ich näherte mich den beiden und hörte, wie der Maler der Regungslosen zuraunte: »Er ist dein Liebhaber! Du hast ihn zu dem Scheußlichen verleitet. Das Attentat ist dein Werk, ist deine Rache für den Tod Cesares.«

Sie erwiderte nichts. Mit weit offenem starrem Blick stand sie und starrte unverwandt hin, wo jetzt nur noch eine fahle Staubwolke aufwirbelte.


 

3.

Ich lohnte den Kutscher ab, fasste meinen Bekannten unter dem Arm und führte ihn fort.

Statt den Rennen beizuwohnen, suchten wir tiefe Einsamkeit auf. Lange Zeit schwiegen wir. Unter einem Bogen der antiken Wasserleitung, wo der Boden von wildem Mohn blutrot war, lagerten wir uns und der Maler erzählte.

Vor zwei Jahren durchstreifte ich als Neuling die Campagna nach allen Richtungen. Ich war von ihr berauscht wie ein sehr junger Mensch von der Schönheit seiner ersten Geliebten. Sie erschien mir als das Hehrste und Herrlichste, was Maleraugen zu sehen vermochten, ein erfülltes Traumbild, ein Wirklichkeit gewordenes Ideal.

Je tiefer ich eindrang in die Mysterien dieser Linien und Farben, um so mehr wuchs meine Begeisterung. Ich ward ein Fanatiker der Schönheit der römischen Landschaft, mich glücklich preisend, dass ich sie mit denselben Augen sehen konnte, wie die beiden Poussins, wie Rottmann, Preller und Koch sie gesehen hatten.

Auf einer Frühlingswanderung durch das Albanergebirge kam ich – es geschah zwischen Grottaferrata und Frascati – vom Wege ab. Ich geriet auf ein überwachsenes Feld, das längs eines mir unbekannten Höhenzuges sich hinzog. Durch das dichte Unkraut gewahrte ich Überreste einer antiken Straße, deren gewaltige blaue Basaltsteine sehr bald zu Tage traten und so wohl erhalten waren, als führte der Weg zu einer bewohnten volkreichen Stätte: kein Grashalm hätte in die Fugen des Pflasters sich einzwängen können.

Den harten Stein furchten die tiefen Spuren von Wagenrädern und noch ließ sich gewahren, wie an steilen Stellen die spitzige Hacke des Straßenarbeiters die glatten Blöcke für die Hufe der Pferde rau gemacht hatte. Zu beiden Seiten befand sich ein schmaler Steg für die Fußgänger.

Und zu beiden Seiten begleiteten den Weg antike Gräber. Gruft reihte sich an Gruft. Neben einem mächtigen marmorummauerten Rundgrab des prunkvollen Kaiserreiches die Kolumbarien aus republikanischer Zeit. Sie standen in halber Zertrümmerung dem Himmel offen. In den Nischen, die einstmals die Aschenkrüge bargen, nisteten Amseln und Palombellen, den Grund füllten Blumen. Da grade Veilchenzeit war, so bedeckte den Boden ein dunkles wie Purpur leuchtendes Violett und Wohlgerüche erfüllten die Luft.

Immer noch zog sich die Straße bergan, über ein weites Hochtal hin, von einer Einsamkeit und Verlassenheit, wie ich noch nie gesehen hatte.

Ringsum goldbrauner Tufffels, graue Ruinen, frühlingsbunte Steppe, in der Ferne begrenzt durch ein kahles bleiches Felsengebirge.

Ich sah keine Wohnstätte, vernahm keinen andern Laut als den Schrei des Falken. Ich fühlte mich, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt.

Es wurde Abend. Die Wildnis flammte auf im Purpurglanz, darüber ein gelber von Scharlach und Gold durchglühter Himmel ruhte.

Ich war so verträumt, dass ich nicht bedachte, wie schnell die Nacht einbrechen würde und ich nicht wusste, auf welchem Wege ich nach Frascati oder sonst in belebte Gegenden gelangen sollte. Da keine Fieberzeit war, hätte ich zur Not die laue Frühlingsnacht im Freien verbringen können. Aber ich war seit dem frühen Morgen gewandert und verspürte plötzlich empfindlichen Hunger.

Da vernahm ich wütendes Gebell und sah von einem Abhang herab drei mächtige Wolfshunde auf mich zu rasen. Es nahm sich schön aus, wie die großen schneeweißen Tiere durch die einbrechende Dämmerung den Berg herabsetzten. Im übrigen wäre ich nicht der erste gewesen, der in der Campagna von solchen Bestien lebendigen Leibes zerrissen worden.

Die Hunde erreichten mich, machten einige Schritte vor mir Halt, fletschten die Zähne und blieben bei ihrem Geheul. Ich ging weiter, allerdings nicht mit allzu großem Behagen. Die Hunde folgten mir, hielten sich jedoch beständig in einer kurzen Entfernung. So begleitet, setzte ich meine Wanderung fort.

Endlich ein schriller Pfiff. Sogleich verstummten die Bestien, zogen die Schweife ein, blieben zurück. Dann folgten sie mir wieder; doch ohne Geheul, bisweilen nur heiser aufbellend.

Ich gewahrte über mir auf weit vorspringendem Gestein eine schlanke Männergestalt. Es war grade noch hell genug, um sie erkennen zu können. Dunkel stand sie gegen den violett gefärbten Hintergrund des nächtlichen Himmels, an dem jetzt einzelne große Sterne aufblitzten.

Ich blieb stehen und rief hinauf: »Komm' herab und zeige mir den Weg! Halte auch deine Hunde zurück.«

»Sie tun nichts.«

»Komm' herab!«

»Ich muss nach der Herde sehen.«

»Ich bin müde. Du wirst von mir belohnt werden. Also komm'.«

Da kam er. Es hatte den Anschein, als werfe er sich von der Klippe in einen Abgrund hinab. Nach wenigen Augenblicken stand er vor mir.

Ich konnte bei der Dunkelheit nur erkennen, dass er sehr jung war, eine Gestalt hatte, wie ein antiker Ephebe und das übliche Kostüm römischer Hirten trug: Sandalen, langhaariges Ziegenfell um die Beine gebunden, eine dunkle Jacke über der Schulter hängend und den spitzen Filzhut auf dem Kopf.

Er sagte mir, dass ich mich weit vom Wege nach Frascati verirrt hatte und bot mir an, in der Hütte seines Vaters zu nächtigen: sie könnten mir ein fettes Lamm braten und erst gestern sei aus Rocca Priora frisches Brot gekommen.

Ich antwortete: ich würde mit ihm gehen.


    4.

Was ich von meinem Begleiter erfahren wollte, musste ich ihm mühsam abfragen. Denn so bereit er gewesen, mir die väterliche Gastfreundschaft anzubieten, so scheu und schweigsam verhielt er sich jetzt. Er sprach den sabinischen Dialekt; aber er drückte sich gut aus, knapp und klar. Bisweilen gebrauchte er Redewendungen, die einen klassisch gebildeten Lateiner in Entzücken versetzt hätten. Hier war also uralte Stammesart.

»Du hast mir noch nicht deinen Namen gesagt.«

»Ich heiße Cesare Latini.«

»Dein Vater ist Hirte?«

»Wir haben Ziegen und Schafe.«

»Aber ihr seid doch nicht aus dieser Gegend?«

Er stieß einen Ausruf der Verachtung aus. Dann erklärte er mir: »Aus dieser Gegend ist niemand. Das ist wildes Land. Wir sind aus Val di Pietra.«

»Wo ist das?«

»Dort drüben.«

Er deutete mit dem Kopfe nach der Sabina hinüber.

»Weshalb bleibt ihr nicht an euerm Ort?«

»Was sollen wir dort?«

»Eure Herde weiden.«

»Dort ist alles Stein. Wir müssen weit von Hause fort, um Weide zu finden.«

»Und ihr kommt mit euren Herden bis hierher?«

»Bis ins Molaratal.«

»So heißt es hier?«

»Nun ja.«

»Kommt ihr oft her?«

»Jedes Jahr.«

»Du und dein Vater?«

»Mein Bruder ist in Rom. Ja, und in Rom ist Fiammetta.«

Er sagte das letztere so eigentümlich, mit solchem tiefen leidenschaftlichen Tonfall, dass ich, nur um etwas zu sagen, ihn fragte: »Ist Fiammetta deine Schwester?«

Er blieb plötzlich stehen. Die Nacht war so sternenhell geworden, dass ich sein Gesicht sehen konnte. Es war ein schönes, aber in diesem Augenblick durch seinen leidenschaftlichen Ausdruck fast verzerrtes Gesicht. Und mit vor Leidenschaft bebender Stimme stieß er hervor: »Meine Schwester? Nein! Nein!«

Und nach einer Pause noch einmal: »Fiammetta meine Schwester? Fiammetta!«

Dann, als schämte er sich, wendete er sich ab und beschleunigte seinen Schritt. Ich hörte seine schweren Atemzüge.

Neugierig geworden, forschte ich nach einer Weile: »Was macht dein Bruder in Rom?«

»Modell,« lautete die lakonische Antwort.

»Und Fiammetta?«

»Auch Modell.«

Als müsste ich über diese Mitteilung höchst erstaunt sein, suchte er mir die merkwürdige Sache, dass auch Fiammetta in Rom Modell »mache«, in kurzen abgerissenen Sätzen zu erklären.

»Was wollt Ihr? Sie ist arm. Sie braucht Geld, Denn wir wollen uns heiraten. Bald! Aber wir wollen selbst eine Herde haben. Dazu brauchen wir Geld. Woher sollen wir es nehmen. Und heiraten wollen wir bald. Ja, das wollen wir.«

»Du scheinst sie sehr zu lieben?«

Er murmelte statt aller Antwort: »Und wir wollen bald heiraten.«

»Sie ist gewiss sehr schön, deine Fiammetta?«

»O sie!«

Es klang wie ein Aufschrei. Der ganze Mensch zitterte vor verhaltener Erregung. Dann fuhr er fort: »Auch sie will mich bald heiraten. Jawohl; auch sie! Sie sagt: sie wolle nicht länger warten. Im Sommer kommt sie zurück.«

»Hierher?«

»Aus Rom ins Molaratal. Im Sommer hat sie in Rom nichts zu tun. Dann verdient sie kein Geld. Dann kommt sie mit meinem Bruder her.«

»Hat sie denn keine Eltern, dass sie im Sommer zu euch kommt?«

»Ihre Eltern sind tot.. Mein Vater nahm sie zu sich, als sie noch ein Kind war, ein ganz kleines Kind. Ihr Vater war meines Vaters Brudersohn. O sie – Fiammetta!«

Aber jetzt hatten wir die Hütte des sabinischen Hirten erreicht. Das war nun ein gar seltsames Haus: ein antiker Grabtumulus. Er lag mitten in einem öden Felde und mochte zu der tusculanischen Villa irgendeines römischen Reichen oder Großen gehört haben, der seine Gruft für sich und die Seinen in seinen eigenen weiten Gärten so größenwahnsinnig aufmauern ließ. Ich bemerkte, dass das Grab von seiner prächtigen Marmorbekleidung fast vollkommen entblößt stand und sah die gewaltigen Quadern in dem duftenden Kraut der Menthe und des Thymian ringsumher liegen. Beim Sternenschein las ich auf einem der Gebälkstücke in tief gegrabenen schönen Lettern die Namen Marcus Mucius Furius.

Eine hohe, vom Blitz zersplitterte Zypresse stand totenhaft neben dem Grabmal.

Der jetzige Eingang war nicht mehr derselbe, der ehemals in die Grabkammer geführt hatte; sondern er war an irgendeiner andern Stelle in die meterdicken Wände gebrochen worden. Aus dem Innern leuchtete Feuerschein gastlich in die Nacht hinaus.

Die Hunde stürzten voraus und gleich darauf erschien in der Maueröffnung die Gestalt eines älteren Mannes, wie der Jüngling Sandalen an den Füßen, zottiges Ziegenfell um die Beine und über dem groben grauen Hemde eine Art Weste aus Schaffell.

Das war mein Wirt, Lorenzo Latini, der mich mit einigen rauen, aber wohlgemeinten Worten zum Eintreten einlud.

Das Feuer erhellte den Raum. Es brannte auf einem Boden, auf dem noch Überreste von Mosaik vorhanden waren: ein anmutiges Ornament in Schwarz und Weiß. Die Wände des kreisrunden Baus waren mit ägyptischem gelbem Marmor ausgelegt gewesen und die Decke zeigte eine vollkommen erhaltene Stuccatur, vom Rauch der Hirtenfeuer geschwärzt. An der Einrichtung dieser eigentümlichen Wohnstätte fielen mir zuerst zwei grell kolorierte große Lithographien in die Augen. Sie hingen in einer Nische, in welcher der Sarkophag des Familienoberhauptes gestanden haben mochte; das eine stellte die Madonna, das andre Giuseppe Garibaldi vor.

Das Bild des letzten alten Romantikers und großen Volkshelden war mit frischen Blumen bekränzt: mit blutroten Anemonen!

Die wenigen Geräte waren möglichst primitiv. Getrocknetes, stark duftendes Steppengras bildete für Vater und Sohn die Lagerstätte. Unter den Geschirren fiel mir ein altertümliches schönes Gefäß aus Kupfer auf und einige nach antiken Vorbildern verfertigte Tonkrüge.

Die Hirten, bei welchen in den Tibersümpfen das Zwillingspaar aufwuchs, hatten kaum anders sich gekleidet, noch anders gelebt als diese Sabiner zurzeit des Königs Umberto ...

Inzwischen hatte Cesare – oder Cé, wie sein Vater ihn rief – das verheißene fette Lamm geschlachtet. Während er das Tier vor der Hütte abhäutete und ausweidete, versuchte ich mit meinem gastfreundlichen Wirt nähere Bekanntschaft zu machen, was bei seinem schweigsamen Wesen freilich nicht leicht war.

Ich erfuhr, dass meines Gastfreundes Frau gestorben: am Fieber. Es starben so viele daran! dass er schon als Knabe mit dem Vater und dessen Herde ins Molaratal gekommen sei. Die meisten aus Val di Pietra waren Hirten, die nur im höchsten Sommer für kurze Zeit zu ihrem Heimatsort, zu ihren Frauen und Kindern zurückkehrten; und alle Leute von dort oben hielten ein solches Leben für durchaus naturgemäß, ohne darüber jemals Klage zu führen, oder Sehnsucht nach einem andern, besseren zu fühlen. Die Malaria konnte sie in Scharen dahinraffen, wenn nur ihre Herden gediehen, welche ihr ganzes Vermögen, also ihr ganzes irdisches Glück ausmachten.

Je nach der Jahreszeit trieb mein Wirt seinen lebendigen Reichtum – derselbe schien nicht groß zu sein – zu den verschiedenen Grasplätzen des ausgedehnten Hochtals: im Sommer in die Berge von Tuskulum; im Winter auf die tiefer gelegenen Weiden gegen Grottaferrata hinab. Entweder er bezog irgendeine antike Ruine oder er baute aus Ginstergestrüpp eine runde hohe Hütte mit steilem Dach, eine sogenannte Capanna. Während der heißesten Zeit pflegen die sabinischen Hirten im Freien zu nächtigen.

Im Winter mussten sie die Herden gegen die hungernden Wölfe verteidigen, die aus dem nahen Apennin herüberkamen; im Sommer galt es des Nachts durch stetig brennende Feuer das eigene Leben gegen die mörderisch wütende Malaria zu schützen.

Alle Monat begaben sie sich des Sonntags nach der nächsten Ortschaft, um eine Messe zu hören, ihre Einkäufe an Salz und Mehl zu machen und einmal alljährlich unternahmen sie eine Wallfahrt, um bei einem gnadenreichen Muttergottesbilde für das Gedeihen der Herde: für die Vermehrung der »Quattrini«, eine leidenschaftliche Fürbitte zu tun und nötigenfalls eine Wachskerze zu opfern, damit sie die Hilfe der Heiligen bezahlten, diese also als ihr Recht fordern konnten.

So ist das Leben dieser Hirtenvölker seit Urväterzeit.


 5.

Jetzt kam Cé mit dem fetten Lamm, welches er an einem Spieß aus hartem Ölbaumholz befestigte und über einem gelinden Feuer zu braten begann, indessen Vater Lorenzo die zähen Blätter des geliebten bitteren Cichorienkrautes zu einem Salat verarbeitete.

Noch immer versuchte ich meinen lakonischen Wirt redselig zu machen, ohne jedoch einen rechten Erfolg zu erzielen. Plötzlich fand ich durch einen Zufall die Zauberformel, welche dieses verschlossene Gemüt für mich auftat.

»Ihr habt dort über der Madonna den Giuseppe Garibaldi hängen?«

»Giuseppe! Jawohl, den Giuseppe!«

Lorenzo tat diesen Ausruf mit einem solchen Aufleuchten seiner melancholischen Hirtenaugen; er sprach den Namen des berühmten Freiheitskämpfers mit solcher Inbrunst, dass ich sogleich begriff: der Schutzgeist des Latinischen Hauses hieß Giuseppe Garibaldi.

»Ja, so, mein wackerer Cencio, Ihr seid mit Leib und Seele Garibaldianer?«

»Herr, ich kämpfte unter Giuseppe bei Mentana!«

Und er berichtete mir von seiner Teilnahme an der berühmten Schlacht, in welcher die Garibaldianer durch die Franzosen und Päpstlichen jene empfindliche Niederlage erlitten hatten, mit einer Miene, als wäre der Tag von Mentana der große Glückstag der italienischen Nation und seines ganzen Lebens gewesen.

Ich fragte ihn, wie er aus seinen Sabinerbergen nach Mentana zu seinem vergötterten General gekommen sei?

»Wie, Herr? Durch den Checco.«

»Durch welchen Checco?«

»Ihr kennt nicht den Checco?«

»Checco? Ich kenne keinen Francesco.«

»Herr, der Checco ist ja doch der Crispi. Und sie sagen ja wohl: nicht der Umberto wäre König von Italien, sondern der Checco, wie in eurem Lande der Bismarco.«

Bei näherer Bekanntschaft mit meinem biederen Sabiner stellte sich heraus, wie er von Deutschland überhaupt nichts wusste, als dass es das Vaterland des »Bismarco« wäre. Diesen hielt er für eine Art von Giuseppe Garibaldi, der bei Sedan die Franzosen geschlagen und den Deutschen einen König gegeben hatte – sehr zum Überfluss, da er doch selber Deutschland regierte.

Ich erkundigte mich: »Aber wie wurdet Ihr denn mit dem Checco bekannt?«

»O, den kenn' ich gut. Wie meinen Bruder kenn' ich den!«

Und während, von Cé eifrig gewendet, das fette Lamm am Feuer briet, und durch das tausendjährige Römergrab ein appetitreizender Duft sich verbreitete, erzählte mir der Hirte von seinem brüderlichen Freunde, dem großen Staatsmann Francesco Crispi.

»Ja, Herr! Der Checco! Das war damals, als die Franzosen in Rom waren – Herr, nichts als Franzosen! Und was die Rothosen wohl wollten? Den Heiligen Vater schützen. Vor wem wohl? Vor seinen eigenen Söhnen? Als wäre das notwendig gewesen! Aber davon verstanden wir nichts.

Ich und der Oreste – der Oreste, Herr, war mein jüngerer Bruder – wir bezogen damals, als die Franzosen in Rom waren, mit der Herde einen Weideplatz, der an der appischen Straße lag, ganz nahe bei den Mauern und dem Tor von Sebastiano, Da konnten wir das ganze Franzosenwesen so recht mit ansehen. Denn früh morgens trieb ich die Ziegen in die Stadt hinein bis auf den spanischen Platz und verkaufte die Milch an jeden, der sie mir bezahlte. Und das muss ich sagen: Franzosen zahlten besser als die Römer. Es waren Galantuomini.

Aber auf den Giuseppe Garibaldi schimpften sie, als ob er der Teufel selber wäre. Ich hörte das Fluchen und Verwünschen mit an; denn was scherte mich der Giuseppe Garibaldi? Herr, wir waren sabinische Hirten, die in Rom ihre Ziegenmilch verkaufen wollten. Damit basta!

Ich dass mein Bruder sechzehn, ich selber erst achtzehn Jahre war. Was wussten also wir von diesen Sachen?

Wir wussten vom Heiligen Vater und von der Madonna und – damit basta!

Da war's im Oktober, dass die Franzosen auf der appischen Straße nach Albano und Velletri marschierten und der Weg ganz bunt von ihnen war. Sie zogen ins Albanergebirg, wo die Leute, so sagten uns die andern Hirten, den Giuseppe Garibaldi zum König haben wollten. Dafür sollten sie nun von den Franzosen totgeschlagen werden. Was das die Franzosen wohl anging?

Einige Tage darauf kam plötzlich der Oreste über das Feld hergelaufen: auf der Straße liege ein erstochener Mann! Ich fragte nur, ob es ein Franzose sei? Denn dann hätte der Mann mich nichts geschert. Aber es war kein Franzose. Also ging ich mit meinem Bruder hin, obgleich damals auf den römischen Straßen viele Erstochene zu finden waren.

Richtig war's ein Landsmann! Er war in die Seite getroffen, aber er lebte noch. Also hoben wir ihn auf, trugen ihn in unsere Capanna, verbanden ihn mit heilsamen Kräutern und halfen ihm mit dem Leben davon.

Solange er noch sprechen konnte, hatte er uns erzählt, dass er von seinem Hauptmann aus Albano abgeschickt worden sei, um dem General Garibaldi Briefe nach Monterotondo zu bringen; dass die Franzosen ihm aufgelauert, die Briefe abgenommen und ihn dann niedergestoßen hätten. Und er sagte uns: er wäre Sizilianer aus der Gegend von Girgenti und hieße Francesco Crispi.

Das also war der Checco, der in unsres Capanna lag und der ohne meinen Bruder und mich elend umgekommen wäre. Und er musste bei uns bleiben, denn er hatte das Wundfieber. Als er wieder zu seinen Sinnen kam, sagte er uns: einer von uns müsste sogleich nach Monterotondo laufen zum General Garibaldi und diesem eine Botschaft ausrichten. Da ich die längeren Beine hatte, so lief ich; und ich sollte dem General sagen: er möge um alles in der Welt keinen Angriff auf Rom unternehmen, sondern mit allen seinen Leuten von Monterotondo abziehen ins Sabinergebirge, vorerst nach Tivoli. Nachdem ich dem Checco diese Worte vielmals vorgesagt hatte, lief ich mitten in der Nacht davon. Bereits vor Sonnenaufgang kam ich in Monterotondo an und war gleich mitten unter den Rothemden. Und als ich sagte, ich sei vom Checco geschickt, brachten sie mich zum General. Der wohnte im Dom, wo auch sein Pferd stand – gerade hinter dem Altar! Die ganze Kirche war rot von den Hemden der Garibaldianer. Der General schlief noch – im Beichtstuhl! Sie weckten ihn aber und er kam sogleich heraus. Alle die Rothemden drängten zu ihm und schrien ihn an, als käme er vom Himmel herab. Herr, da begriff ich dummer Junge, was ein Mensch auf Erden sein kann – was der Giuseppe Garibaldi war in Italien.

Ich sagte ihm alles vom Checco und was ich ihm ausrichten sollte. Aber da wurde er böse. Er schwur, dass er dennoch in Rom einziehen und die Fremden vertreiben oder sterben wollte. Und alle die Rothemden schrien: sie wollten sterben mit ihrem General. Und ich – Herr, ich schrie auch.

Bis dahin hatte ich mich um Giuseppe Garibaldi weniger gekümmert, als um ein krankes Lamm. Aber jetzt plötzlich wollte ich sterben mit ihm. Ob für Rom oder für irgendeine andre Sache, galt mir gleich. Herr, wie kommt so etwas nur über einen Menschen, der doch kein unvernünftiges Tier ist?

Der General stieg auf die Kanzel, setzte sich und schrieb Briefe. Die Tinte stand vor ihm in einem silbernen Kelch. Aber die Madonna und die Heiligen werden darüber nicht böse gewesen sein – es war ja doch der Vater Giuseppe!

Auch an den Checco schrieb der General einen Brief.

Bevor ich wieder heimkehrte, machte ich mir aus blutrotem Kirchentuch ein Hemd. Auch für meinen Bruder nahm ich ein Stück mit. War der Oreste auch noch ein Knabe – unter Vater Giuseppes Leitung hatte ich wahre Kinder gesehen. Auch die Kinder wollten mit Vater Giuseppe sterben.


 

6.

Nach einer Woche war der Checco wieder wohl auf; nach einer Woche ging er – nicht zurück zum Nicotera nach Albano, sondern zum Vater Giuseppe nach Monterotondo.

Wir, ich und mein Bruder, hatten unsere roten Hemden an, hatten die Ziegen und Schafe den andern Hirten übergeben und gingen mit dem Checca zum Vater Giuseppe. Bei dem süßen Herzen der Madonna, das taten wir, Herr!

Das war am dritten November; und als wir an Rom vorbei und bereits über dem Aniofluss sind, da sehen wir's unter den Monticelli aufblitzen, da hören wir es von dorther krachen und knattern.

Herr, ach, Herr, das waren die Päpstlichen und die Franzosen im Kampf gegen den Vater Giuseppe!