Nr. 2729
In eine neue Ära
Eine entscheidende Schlacht bahnt sich an – Terraner suchen Perry Rhodan
Marc A. Herren
Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Epilog
Kommentar
Leserkontaktseite
Glossar
Clubnachrichten
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße vor einer schweren Prüfung: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg zwischen Tefrodern und Blues, auf der anderen Seite beansprucht das Atopische Tribunal die Rechtshoheit über die Milchstraße. Die Atopen verurteilen Perry Rhodan und Imperator Bostich zu einer 500-jährigen Isolationshaft und verfügen, dass das Arkon-System an seine eigentliche Urbevölkerung, die Naats, zurückzugeben sei.
Das selbstherrliche Gebaren der Atopen lockt zum einen Speichellecker und Krisengewinnler an, weckt aber zum anderen den Widerstand in der Galaxis. Im Galaktikum und auf vielen Welten machen sich Politiker und Militär Gedanken darüber, wie es weitergehen soll. Fest steht nur eines: Es geht IN EINE NEUE ÄRA ...
Gucky – Macht der Mausbiber seine Drohung wahr und wird zum Mörder?
Toio Zindher – Hilft die Mutantin, die Spur Rhodans zu finden?
Anna Patoman – Findet die Kommandantin der GALBRAITH DEIGHTON V die Brotkrumen?
Arun Joschannan – Wie verhält sich der Resident im Ertrus-Konflikt?
Cai Cheung – Gewährt die Solare Premier den geflüchteten Arkoniden politisches Asyl?
Ufo – In welche Richtung steuert der neue Vorsitzende die Geschicke des Galaktikums?
Du musst aufwachen!, schrie sie sich zu.
Ich träume nicht!, schrie sie zurück. Du hast ihn gleich – konzentrier dich gefälligst!
Die Dampfschwaden verhinderten die direkte Sicht auf den Gegner. Der dicke Terraner bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, als hätte er sich die Fettwülste angefressen, nachdem er jahrelang verschiedene Kampfsportarten trainiert hatte.
Eine Verkleidung? Nur eine Verkleidung?
Die Erkenntnis überfiel sie siedend heiß. In ihrem Kopf heulten sämtliche Alarmglocken auf.
Ein weiterer Celista? Ein Agent des TLD?
Ihr Schutzschirm flackerte, als der Energiestrahl des Dicken sie erneut traf. Die Belastungswerte waren viel zu niedrig, als dass sie sich ernsthafte Sorgen hätte machen müssen. Nicht einmal ein Standortwechsel war notwendig. Aber weshalb hielt sie die Klaue der Panik in ihrem Griff, schüttelte sie, ließ sie nicht los?
Nur ein Traum? Oder etwa doch nicht? Drogen? Der Angriff eines anderen Parabegabten, der meine Gefühle, meine Instinkte lenkt?
Sie fluchte, während sich ihr Gesichtsfeld weiter verengte. Die Energiestrahlen brachten die Luft zum Kochen. Schweiß lief in Strömen über das heiße Gesicht, verschleierte den Blick. Sie blinzelte, aber die Sicht auf ihr eigentliches Ziel wurde dadurch nicht besser. Der Energiestrahl ihrer Waffe verschwand in einer irrlichternden Wolke aus Wasserdampf, in der sie die Konturen des Schutzschirms ihres Zieles nur noch erahnte. Immerhin glühte er nun dunkelrot, er würde bald zusammenbrechen.
Und dann habe ich dich!
Trelast-Pevor nahm den Dicken ins Visier. Ohne besondere Hast richtete er den Strahler auf den am Boden Liegenden, als hätte er alle Zeit der Welt.
Wach endlich auf!, hörte sie ihre eigene Stimme. Das hast du schon alles erlebt!
Sei still – ich habe ihn gleich! Bostich ist mein!
Ihre andere Stimme lachte abschätzig. Was stimmt mit dem Dicken nicht, Toio? Hat er sich dir beim ersten Mal nicht anders präsentiert?
Toio Zindher ließ den Strahler sinken.
Stimmt. Da ist etwas.
Ein Detail, das irgendwie nicht ganz stimmte. Der Dicke ... Der Mann in Berufskleidung, der sich in Relation zu seiner Physis viel zu geschmeidig bewegte. Der Agent, der Celista, Agent ...
Der Schleier, der ihre Parasinne verdeckte, verschwand. Sie sah die vertrauten Gestalten von Trelast-Pevor, Lan Meota und Satafar, irgendwo im Hintergrund die in wilder Hast flüchtenden Besucher des Hamams ...
Und direkt vor ihr zwei wahre Leuchtfeuer an Vitalenergie: Bostich und der Dicke am Boden ...
Ein zweiter Zellaktivatorträger!
»Tekener ist hier!«, sagte sie mit gepresster Stimme zu den anderen.
Trelast-Pevor gab ihr Antwort, ohne dass sie seine Worte verstand. Sie riss den Arm herum, nahm den Unsterblichen ins Visier.
Du verstehst nicht!, schrie ihre andere Stimme ihr zu. Du träumst. Das ist alles bereits geschehen!
Auch Lan Meota, der direkt neben ihr stand, richtete seinen Strahler auf den galaktischen Spieler.
Rasselnd schnappte sie nach Luft. Tekener war gefährlicher als jeder andere, der Bostich zu Hilfe hätte eilen können. Sie mussten ihn vernichten, bevor es zu spät war.
Tekeners Schutzschirm leuchtete auf wie eine Feuerlohe. Obwohl es völlig unmöglich war, meinte Toio ein kaltes Grinsen durch die Dampfschwaden und die Flammen zu sehen.
Ein triumphierendes Grinsen.
Plötzlich stachen von Tekeners Position zwei Strahlbahnen hervor und vereinigten sich an einem Punkt in der Mitte von Trelast-Pevors Schutzschirm. Der Unsterbliche hatte eine zweite Waffe gezogen und versuchte nun, Trelast-Pevors Schutzschirm durch Punktbeschuss zum Zusammenbruch zu bringen.
Das wird dir nichts nützen. Zwei Strahler reichen nicht, um ...
In diesem Augenblick hörte sie Bostichs Stimme, und gleich darauf stach von dessen Position ein dritter Lichtfinger in Richtung Trelast-Pevor.
Eiskalter Schrecken durchzuckte sie. Zeitlupenhaft wandte sie den Kopf, sah die Verwunderung, die sich in Trelast-Pevors Gesicht geschlichen hatte.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen zersprang sein Schutzschirm, wurde förmlich auseinandergerissen von den Energien, die sich überschlagartig innerhalb seiner Schutzsphäre ausgebreitet hatten und Trelast-Pevors Kampfanzug zur Explosion brachten.
Einen Lidschlag lang wurde Toio von der versprühenden Vitalenergie ihres Kameraden geblendet. Dann war da nichts mehr.
Trelast-Pevor war tot. Vergangen.
Sie spürte einen harten Griff an ihrem linken Oberarm. Dann wurde sie brutal weggerissen.
*
Toio Zindher schrie auf.
Instinktiv wälzte sie sich auf die linke Seite, wo sie zuvor Lan Meota wahrgenommen hatte. Aber der Paradoxteleporter war nicht mehr da. Stattdessen sah sie weiße Laken und ihre Hand, die mittels eines Bandes mit einem Metallgestell verbunden war, das an ihrem Bett aufragte.
Die Angst hatte sich aus ihrem Albtraum hinübergerettet. Das Herz schlug rasend schnell, sie hörte sich selbst keuchen, fast hecheln, so rasch ging ihr der Atem.
Beruhige dich!, dachte Toio. Sie beobachten dich wahrscheinlich. Gib ihnen nicht den Triumph, dich hilflos zu sehen!
Langsam, widerwillig ebbte die Panik ab. Die Vitaltelepathin dachte an die Ausbildung. Sie hatte immer gewusst, dass es zu Situationen wie dieser kommen konnte.
Sie gehörten zu ihrem Leben, ihrer Aufgabe. Es war nichts, das sie in die Knie zwingen konnte. Nein: in die Knie zwingen durfte.
Toio Zindher atmete langsam durch. Mit jedem Atemzug fühlte sie sich ruhiger und kontrollierter.
Der Raum maß nur wenige Schritte in jede Richtung. Von ihrem Bett aus sah sie auf der rechten Seite zwei fensterartige, verspiegelte Scheiben. Auf der linken Seite waren die Umrisse eines Schotts erkennbar. Geradeaus wölbte sich die Wand einer kleineren Kabine, die höchstwahrscheinlich die Funktion einer Hygienezelle hatte.
Mehrere Zylinder standen an der rechten Wand, die verdächtig nach Mikrokampfrobotern aussahen, wie sie bei beengtem Raum Verwendung fanden.
Links neben ihrem Bett stand ein Geräteturm, der höchstwahrscheinlich ihre Vitalwerte überwachte und sofort Alarm geben würde, wenn sie etwas unternahm, was dem Gusto ihrer Häscher zuwiderlief.
Krankenstation und Arrestzelle in einem ...
Toio Zindher blickte an sich hinunter. Ihr Körper steckte in leichter grauer Kleidung, bestehend aus einem Ober- und Unterteil. Die Füße waren nackt. Jemand hatte den Lack an den Zehennägeln entfernt. Was hatten sie gesucht? Versteckte Miniaturtechnologie?
Die beiden Bänder, die ihre Hände mit dem Metallgestell verbanden, gaben ihr gerade genügend Bewegungsfreiheit, um den Saum des Oberteils mit den Fingerspitzen greifen und eine Handbreit weit nach oben streifen zu können.
Toio betrachtete ihren durchtrainierten Bauch, der von einer dünnen Schicht aus elastischem Medizingel überzogen war. Darunter sah sie die Spuren von Verbrennungen und zugeklebte Operationswunden.
Die Tefroderin schloss die Augen, rekapitulierte die letzten Minuten, die sie bewusst erlebt hatte – bevor all das Schwarze gekommen war, aus dem sie irgendwann in die nie enden wollenden Albträume hinübergeglitten war.
Das Hotel in Istanbul, Bostich sicher verwahrt. Meota war mit Satafar teleportiert, ohne zu wissen, dass kurze Zeit später die Lorrcezz, die Horden der lebenden Toten, über sie hereinbrechen würden.
Plötzlich waren die Vitalimpulse überall gewesen. Und mitten unter ihnen hatte eines der Aktivator-Leuchtfeuer gestrahlt.
Toio hatte alle Register gezogen. Sie hatte ihnen sogar vorgegaukelt, dass sie Bostich exekutieren würde, falls sie durchbrechen sollten. Sie hatte ein energetisches Chaos produziert, aber die verfluchten Terraner hatten alles durchschaut, und ihre Schutzanzüge waren mit der Situation spielend leicht fertig geworden.
Als sie dann endlich direkt in die flimmernde Abstrahlmündung eines Strahlers geblickt hatte, hatte sie ihre letzte Karte ausgespielt. Per Überrangbefehl desaktivierte sie ihren Schutzschirm und empfing das Feuer aus dem Strahler.
Sie erinnerte sich an ihren letzten Gedanken, bevor das Feuer sie getroffen hatte: Lebend bekommt ihr mich nicht.
Welch ein Irrtum.
Wann war das alles gewesen?
Die Vitaltelepathin schielte erneut auf ihre Bauchdecke. Sie hatte keine Erfahrung mit der terranischen Medizin. Seit dem Kampf konnte eine Woche oder ein Monat vergangen sein.
Sie betrachtete die Fingernägel, um deren Länge zu überprüfen, aber auch daran hatte man sich vergangen. Sie waren bis fast ins Fleisch hinein abgeschnitten worden; wahrscheinlich, um Toio an einem blutigen Suizidversuch zu hindern.
Die Tefroderin hob die Hand, tastete mit den Fingerkuppen nach ihrem Haar. Sie bekam eine Strähne zu fassen und zog daran. Toio fluchte stumm. Nicht einmal ihr Haar hatten die verfluchten Terraner in Ruhe lassen können. Mindestens eine Handbreite hatten sie ihr abgeschnitten.
Weshalb?
Toio Zindher wusste es nicht. Mit eigenen Mitteln würde sie nicht herausfinden, wie viel Zeit seit dem Zugriff der Terraner vergangen war.
Sie blinzelte alarmiert. Nicht weit von ihr breitete sich plötzlich ein goldfarbenes Leuchten aus. Die Vitalenergie eines Lebewesens – eines mit einem Zellaktivator versehenen Lebewesens!
Aus den Albträumen der vergangenen Tagen – oder Wochen – splitterte das Bild eines kleinen, dunkelpelzigen Lebewesens ab. War sie zwischenzeitlich erwacht und hatte den Mausbiber Gucky vor ihrem Bett stehen sehen? Er war auf alle Fälle bei ihrem verzweifelten Gefecht zugegen gewesen.
Die Tefroderin zweifelte nicht daran, dass das goldene Vitallicht, das sich außerhalb ihrer Zelle langsam auf sie zubewegte, von dem legendären Multimutanten der LFT emittiert wurde.
Sie setzte sich auf, soweit es die Fesseln zuließen, und richtete den Blick geradeaus. Keine fünf Atemzüge später öffnete sich das Schott, und die kleine Gestalt des Mausbibers kam hereingewatschelt. Er trug dunkle Kleidung und wirkte wie ein zu groß und kitschig geratenes Plüschtier für Kinder.
Wären da nicht seine übermäßig golden strahlende Energie und dieses gewisse andere gewesen, das aus dem Licht seiner Erscheinung zu ihr sprach. Instinktiv fühlte die Tefroderin, dass der kleine Kerl seine Gefühle nur mit Mühe im Zaum hielt.
Gucky war wütend und – wie es schien – zu allem entschlossen. »Du weißt, wer ich bin?«
Toio antwortete nicht, sah nur in das goldene Licht und versuchte, Guckys Stimmungen in ihre Einzelteile zu sezieren. Da war etwas, das sie beunruhigte, aber sie konnte den Finger nicht genau darauflegen.
Die Vitaltelepathin konzentrierte sich vollkommen auf ihre Gabe. Sie wusste, dass Gucky in ihren Gedanken lesen konnte wie in einem Buch. Aber solange sie sich nur mit ihm befasste, würde es für den Kleinen sein, als blicke er in eine Art Paraspiegel. Ihre Hoffnung beruhte darauf, dass die Rückkopplung den Multimutanten aus dem Konzept bringen würde.
Der Kleine zuckte die Achseln. Eine Geste, die durch und durch tefrodisch wirkte.
»Eigentlich eine überflüssige Frage«, urteilte er, während er einen kurzen Blick auf die Nägel seiner linken Hand – oder Pfote – warf. »Du bist eine Mutantin. Selbstverständlich hast du dich über alle mehr oder weniger bekannten Parabegabten dieser Galaxis informiert. Ihre Lebensläufe studiert, um Rückschlüsse auf dein Leben, dein Schicksal ziehen zu können.«
Toio Zindher bemerkte, wie ihre Unterlippe zuckte. Aber sie blieb stumm. Überließ ihm das Reden. Sie hatte ihm an dieser Stelle nichts zu sagen, konzentrierte sich einzig und allein auf seine Stimmungen.
»Fein«, meinte Gucky und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Geräteturm neben ihrem Bett. »Dann will ich keine Zeit verlieren und dich über deine und die aktuelle Lage in Kenntnis setzen.«
Guckys Stimme war hoch, fast piepsig, wie man sie von den Dokumentationen über den Multimutanten kannte. Aber da schwang etwas mit, ein drohender Unterton. Das kleine Wesen an ihrem Bett hatte nichts gemein mit dem Spaßmacher, als den ihn die Medien und ganze Trivid-Serien für Kinder dargestellt hatten.
Vor Toio Zindher stand ein uraltes Wesen, das aus irgendeinem Grund ziemlich verärgert war. Und wie es schien, war sie zumindest teilweise für diesen Grund verantwortlich.
Verärgert richtete sie ihre Sinne wieder auf sein goldenes Leuchtfeuer. Ob Gucky gemerkt hatte, dass sie ihre Gedanken nicht so unter Kontrolle hatte wie beabsichtigt?
Aber der Kleine schien nichts gemerkt zu haben. »Du befindest dich in meiner Gewalt, Toio Zindher«, fuhr er fort. »Ich bin es, der den Daumen nach oben oder nach unten hält – wenn du dieses Bild aus der terranischen Frühgeschichte interpretieren kannst.«
Toio schwieg. Irgendetwas an Gucky störte sie. Weshalb spielte er seinen Trumpf des Gedankenlesens nicht konsequenter aus? Konfrontierte sie mit den eigenen Gedanken, um ihr zu zeigen, dass sie gegen den Telepathen keine Chance hatte?
Ein wilder Gedanke kam ihr, den sie aber beiseitedrängte. Sie durfte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Das war die erste und wichtigste Regel in einer Situation wie dieser.
»Du liegst in einer Medozelle tief unten im TLD-Tower. Wir schreiben den 23. September 1514 NGZ. Die Mediker haben dich nach der Notoperation in ein künstliches Koma versetzt, aus dem sie dich nur kurz geholt haben, damit ich herausfinden kann, woraus deine Gabe besteht.«
Er löste sich vom Geräteturm und machte einen Schritt auf sie zu. »Die Gerichtsverhandlung ist vorüber. Perry Rhodan und Bostich wurden im Schiff des Atopen Matan Addaru Dannoer abtransportiert. Und du wirst mir helfen, das Schiff zu verfolgen. Deine Gabe der Vitaltelepathie wird dies bewirken.«
Die Anspannung in der Tefroderin entlud sich in einem kurzen, harten Auflachen. »Was soll ich tun?«, fragte sie voller Hohn. »Das ist nicht dein Ernst, Kleiner. Das kann nicht dein Ernst sein.«
Gucky trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Er hatte die Schnauze geschlossen. Nur die feinen Tasthaare zitterten. Deutlich verspürte sie den Zorn des kleinen Wesens. Und ... Trauer?
»Oh doch«, sagte er langsam. »Es ist mein Ernst. Es ist sogar mein tödlicher Ernst. Du musst wissen, dass ich nicht mehr derjenige bin, über den du so viel gelernt hast. Beim Versuch, auf den Technomond Luna zu teleportieren, habe ich eine paramentale Verbrennung erlitten. Ich verlor meine bisherigen Gaben – um eine neue, perfid mächtige Gabe im Tausch zu erhalten. Und sie wird dir gar nicht gefallen ...«
Toio blinzelte verwirrt. Nun hatte er es doch noch geschafft, sie zu überraschen. Instinktiv wusste sie, dass Gucky nicht log.
Was war es? Eine Art Endogene Qual, wie sie der Duale Kapitän Zerberoff der Terminalen Kolonne beherrscht hatte? Emotionale Schmerzen, die psychosomatisch auf den Körper ausstrahlten und den Gequälten in Schmerzen baden ließ, die bis zu seinem Tod führen konnten?
Gucky kniff die Augen zusammen. »Du denkst an unseren alten Freund Zerberoff«, sagte er düster. »Nein, es ist nicht die Endogene Qual, die ich nun beherrsche – aber das Resultat könnte für dich in etwa dasselbe sein.«
»Du lügst mich an«, flüsterte Toio. »Du kannst immer noch Gedanken lesen. Was soll diese kleine Lügengeschichte über eine neue Fähigkeit?«
Gucky blickte sie ein paar Herzschläge lang starr an. Dann sagte er: »Das ist nicht mehr meine Gabe. Sie gehörte einem wunderbaren Jungen namens Severin Fock. Neunzehn Jahre alt – zwar blind, aber ein ganzes, aufregendes Leben noch vor sich. Ausgestattet war er mit der Gabe, die Bilderwelten und Emotionen anderer zu sehen. Er war es, der mir geholfen hat, aus dem Koma zu finden, in das ich nach der paramentalen Verbrennung gefallen bin. Er war ganz angetan von mir, hätte mich gern zu seinem besten Freund gehabt ...«
Gucky schob sein pelziges Gesicht näher an Toio heran. In seinen glänzenden schwarzen Knopfaugen stand nur eine traurige Leere.
»Und weißt du, was ich getan habe? Weißt du, was ich Severin Fock angetan habe? Ich habe ihn getötet.« Gucky hob seine dunkle Pfote, ließ sie über ihre zitternde linke Hand schweben. »Mit einer einzigen Berührung habe ich den Jungen umgebracht. Nur um kurz darauf zu bemerken, dass etwas von Severin zurückgeblieben ist. Nämlich seine Gabe, die sich in mir manifestierte. Indem er sein Leben verlor, gab er mir seine Fähigkeit des Bildersehens.«
Toio Zindher schluckte. Sie blickte auf Guckys Pfote, die nach wie vor über ihrer linken Hand schwebte. Die Tefroderin merkte, wie sich die Härchen auf ihrem Handrücken aufstellten, als würden sie sich geradezu nach Guckys Nähe sehnen.
»Aber das war noch nicht alles«, fuhr Gucky leise fort. »Ein weiterer junger Mann hat meine tödliche Gabe kennengelernt. Muaz Riocourt hieß er. Schwacher Telekinet. Tot, wie Severin. Auch seine Gabe trage ich in mir. Und nun ...«
Gucky streckte langsam seine beiden kleinen Pfotenhände nach ihr aus, ihrem Hals, als wolle er sie nicht nur berühren, sondern eigenhändig erwürgen.
»... und nun stehe ich vor einer Person, auf deren wahrscheinlich nicht vorhandenem Gewissen ein Teil der Schuld am Tod meines guten Freundes Ronald Tekener liegt. Und vor einer Frau, die just jene Gabe besitzt, mit der ich meinen ältesten und besten Freund Perry Rhodan aus den Händen der Schergen befreien kann, die sich Atopen nennen. Und nun sag mir, weshalb ich dich nicht einfach erlöschen lassen soll wie diese beiden Jungen, die noch nie jemandem etwas zuleide getan hatten?«
Toios Lippen zitterten unkontrolliert. »Wenn du mich töten wolltest, hättest du es längst getan«, stieß sie aus. »Du wirst mich nicht töten. Du nicht!«
Gucky verharrte sekundenlang in der Pose. Dann zog er die Hände zurück, zupfte sich die Kleidung zurecht und drehte sich um.
»Du wirst mir helfen, Perry Rhodan und Bostich wiederzufinden«, sagte er mit seltsam belegter Stimme, während er zum Schott ging und darauf wartete, dass es sich öffnete. »Auf die eine oder andere Weise.«
Er verließ ihre Zelle, und das Schott schloss sich zischend hinter ihm.
24. bis 25. September 1514 NGZ
Anna Patoman blickte auf die Tasse mit dampfendem Tee, die vor ihr stand. Der Pfefferminzduft sollte eigentlich beruhigen. Seltsamerweise kam die wohltuende Wirkung an diesem Tag bei ihr nicht zur Geltung.
Dabei war dies eigentlich ein ganz guter Tag.
Ihr Schiff, die GALBRAITH DEIGHTON V, war bis vor Kurzem im Ghatamyz-Sektor stationiert gewesen. Seit die Tefroder den Polyport-Hof ITHAFOR-5 erobert und in WOCAUD umbenannt hatten, waren etwas mehr als zwei Monate vergangen. Der Hof dürfte den Tefrodern mittlerweile keine große Freude mehr bereiten, spätestens seit das Polyport-System abgeschaltet war.
Die Tefroder ... und ganz besonders deren Hoher Tamaron Vetris-Molaud! Anna Patoman hatte ihre eigene Meinung über das Neue Tamanium. Und diese Meinung war, wie ihr immer wieder bewusst wurde, nicht öffentlichkeitstauglich.
Als die DEIGHTON zurückbeordert wurde, um dem Residenten Arun Joschannan persönlich Bericht zu erstatten, war ihr das ganz recht gewesen. Denn der 1800-Meter-Kugelraumer der SATURN-Klasse war bei dieser Gelegenheit gleich von einem anderen Omni-Trägerschiff abgelöst worden: Sie würde also nicht in den Ghatamyz-Sektor zurückkehren und sich über den unaufhörlich unangenehmer werdenden Konflikt zwischen Jülziish und Tefrodern aufregen müssen.
Joschannan hatte ihr bei ihrer Zusammenkunft mitgeteilt, dass die DEIGHTON in Kürze für eine neue Aufgabe benötigt wurde. Kein anderer als der Multimutant Gucky würde sie über den Auftrag und die Hintergründe ins Bild setzen.
Eben jener Gucky hatte vor einer Stunde auf eines ihrer Beiboote übergewechselt und würde in Kürze den Terrania Space Port erreichen.
Anna Patoman freute sich auf ihre neue Aufgabe – und soweit sie dies mitbekommen hatte, ging es ihrer Crew genauso. Einen Aktivatorträger an Bord zu haben garantierte normalerweise phantastische, aber meist auch phantastisch gefährliche Missionen. Aber selbst wenn es sich nur um eine Routinefahrt handelte, wäre dies allemal besser, als hilflos im Ghatamyz-Sektor herumzuhängen und höchstens bei Rettungsaktionen in den Konflikt eingreifen zu können.
Lieferte die von Gucky georderte Arrestzelle einen ersten Hinweis auf die neue Mission? Eine Gefangenenüberführung, vielleicht sogar ein Gefangenenaustausch?