Die Auferstandenen

 

Einleitung

Noch immer war es tiefer Winter. Die ungeheure wilde Steppe lag verschneit und vereist mit erstarrten Lebensgeistern. Nach allen Richtungen hin erstreckte es sich unabsehbar, unendlich; als würde von diesem Punkt der Erde aus die ganze Welt mit Schnee und Eis überzogen. Gewaltige graue Dunstwände hingen rings am Horizont vom Himmel herab wie die Gardinen eines Riesenamphitheaters. Jeden Augenblick konnte der Vorhang aufgehen und das Trauerspiel »Russland!« beginnen.

Das Personal zog bereits auf. Lange Kolonnen gespenstiger Nebelgestalten krochen über die Bühne; ein Chorus von Elenden, die lautlos litten, lautlos verzweifelten, lautlos starben. Ihre toten Leiber bedeckten den Boden.

Dunkle Dämpfe entwickelten sich, als qualme die winterliche Erde. Gleich Fetzen eines ungeheuren Trauerflors, von oben bis unten zerschlitzt und zerrissen, schleppte es über den fahlen Grund. In der Höhe löste es sich, verrann es in das allgemeine Grau des Himmels, der schwer und tief herabdrückte.

Vergeblich kämpfte die Sonne mit den Dünsten; nur zuweilen brach ein blutig roter Strahl hervor. Wo der Glanz hinfiel, flammte es auf. Die Stämme eines Birkenwaldes entstiegen strahlend – ein Hain silberner Säulen – dem Nebel, um sogleich wieder darein zu versinken; denn schon war das schöne Hinmelslicht von dem gierigen Gewölk aufgesogen worden.

In breitem, tiefem Bette durchzog ein mächtiger Strom in vielfachen Krümmungen das öde Land, Der Fluss war gefroren. An den jäh abfallenden, wild zerrissenen Ufern waren seltsame Laute vernehmbar; unter der starren Eisdecke klang es wie ruheloses Tasten geisterhafter Hände, wie ersticktes Aufschluchzen nach Befreiung, Licht, Leben.

Jetzt fuhr heulend der Sturm über die Steppe. Er hetzte die Nebel vor sich her, zerriss sie, jagte sie auf, trieb den Himmel von der Erde zurück. Durch die Luft wirbelte der Schnee. Dort wurde er fortgeweht, hier türmte er sich empor. Schwarze Flecken erschienen auf dem lichten Boden, gleich einer Reihe von frischen Gräbern.

Schwärme von Raben erhoben sich mit heiserem Gekrächz. Sie mussten lange umherflattern, ehe sie einige verkrüppelte braune Weiden erspähten. Schneehühner trippelten aufgeregt hin und her, ein hungriger Wolf beschlich einen Hasen, der schrille Schrei eines Raubvogels gellte. Dann wieder tiefste Lautlosigkeit.

In schnurgerader Linie durchschnitt die Wildnis eine Straße, die so wenig befahren wurde, dass sie gänzlich verschneit lag. Aber heute, am Tage vor Ostern, kam unter dem dünnen Geklapper einiger blechernen Schellen, von drei lebensmüden Gäulen gezogen, eine Kibitta daher. Von Zeit zu Zeit machte der Kutscher den Versuch, seine Tiere anzutreiben; doch blieb es jedes Mal bei einer trägen Handbewegung und einigen, in den Bart gemurmelten Liebesworten; es war schließlich ganz gleichgültig, wann man ankam. Der einzige Reisende – ein noch ziemlich junger Mann – musste indessen anderer Ansicht sein. Tief vorgebeugt, schaute er starr ins Weite, als wollte er wenigstens mit seinen Blicken vorwärtskommen. Aber auch das hielt schwer; denn vor ihm türmte sich die Nebelmauer auf. Da er keinen Pelz besaß, hatte er sich in eine Pferdedecke gewickelt, die jedoch von seinem mächtigen Körper nur Schultern und Brust bedeckte. Von Zeit zu Zeit schien er die Kälte zu fühlen; dann bemühte er sich, seine großen, roten Hände in die Ärmel seines Moskauer Studentenrocks zu stecken, was ihm niemals gelingen wollte. Sehr bald fuhr er aus seinem improvisierten Muff wieder hervor und fuchtelte mit beiden Armen in der Luft umher, wobei er sich der schönen Täuschung hingeben mochte, die müden Gäule damit zu größerer Eile anzutreiben.

Er besaß ein echt russisches Gesicht mit tiefliegenden, melancholischen, grauen Augen. Bei Nase und Stirn hatte die Natur gekargt; vielmehr war sie damit nicht ganz fertig geworden. Denn die Stirn war zu kurz und die Nase zu stumpf geraten. Umso vollständiger waren die Wangen und der Mund ausgefallen, in dessen Kraft und frischer Sinnlichkeit sich die ganze Jugend des Mannes konzentriert zu haben schien. Der Flaum eines Bartes zeigte sich an seinem Kinn und das fahle Haar stieg ungepflegt borstenähnlich rings um die abgegriffene Pelzmütze auf. Mit dem Ausdruck von Ungeduld und Erregung auf seinem breiten, unschuldigen Gesicht hatte er etwas von einem großen Kinde, das den Anfang eines Festes nicht erwarten kann.

Ohne seine Haltung zu verändern, starrte er unverwandt geradeaus, wo vor ihm die Welt in Schnee und Nebel versank. Aber, obgleich er es vor Ungeduld und Erwartung kaum auszuhalten vermochte, fiel es ihm doch nicht ein, den trägen Kutscher zu schnellerem Fahren aufzufordern. Einmal sprang er in seiner Aufregung aus dem Schlitten und lief stolpernd vor den Pferden her. Der Kutscher wollte ihm etwas zurufen, stieß jedoch nur einige dumpfe Laute aus.

Nachdem der Reisende einige Werst gelaufen, gab er die Sache auf, bestieg sein Gefährt von neuem und kroch ergebungsvoll unter seine Decke. Es ward dunkel, eine sternenlose, windige Nacht brach an. Der junge Mann schauerte zusammen, lehnte sich zurück und versuchte zu schlafen. Vor seinen geschlossenen Augen stieg ein Gewimmel von Funken auf, die in schwindelerregender Schnelle vorüberstoben. Seine Gedanken verwirrten sich, eine bleierne Schwere senkte sich auf ihn, ihm war's, als stürzte er mit gefesselten Gliedern in einen bodenlosen Abgrund.

Unter den Tritten der Pferde und den Kufen des Schlittens knirschte der Schnee. Der Reisende horchte darauf. Zuerst deuchte es ihm wie fernes, leises Klirren und Schwirren. Das wuchs an, das schwoll auf zum Sausen und Brausen. Erschrocken fuhr er empor, ohne indessen imstande zu sein, die Augen zu öffnen.

Dann schlief er ein.

Ihm träumte: ... Ein gewaltiges Weib erschien ihm; schattenhaft, als Phantom. Sie entstieg der Erde, die weit aufklaffte wie eine Gruft. Moder umhüllte sie. Ketten fesselten die starren Füße, schlangen sich um den hageren Leib, um die nackten, totenhaften Arme. Ihr herrliches Antlitz war fahl, ausdruckslos – leblos. Wie in Wahnsinn stierte sie vor sich hin, geradeaus, in ein Nichts. Zuweilen seufzte sie, stöhnte sie. Es war ein schrecklicher Ton.

Da brauste es auf wie Sturm, wie Orkan. Eine wilde Stimme rief: »Frei!« Und »Frei! – Frei! – Frei!« tönte es fort und fort in hundertstimmigem, gellendem Echo. Der Boden erbebte und die Gruft wurde zugeschüttet. Blumen erblühten; blasse Glocken mit blutrotem Kelch. »Frei!« seufzte das gewaltige Weib aus tiefster Brust und klirrend zersprangen die Ketten. »Frei!« hauchte sie, und dem Träumenden war's, als vernähme er den mächtigen Atemzug, mit dem das Leben in ihr erwachte. »Frei!« jubelte sie, schritt und bewegte sich – lebte! Aber noch tat sie beides wie ein lahmes, blindes Kind. Sie tappte, tastete. Nun war's, als ob sie sich besänne. Aber noch wusste sie nichts von Gedanken, noch hatte ihr erster Laut ihr nicht die Sprache gegeben. Denn da sie reden wollte, begann sie zu stammeln und zu lallen, bis ein Daseinsschauer durch ihren Leib lief, ein Lebenshauch über ihre Züge glitt. Sie öffnete den bleichen Mund und sog gierig die eiskalte Luft ein. Dabei quoll ein Blutstropfen zwischen ihren Lippen hervor.

Lange Zeit stand sie bewegungslos. Dann schien ihr etwas zu fehlen und sie begann zu suchen; rasch, hastig, angstvoll. Sie schien nicht zu finden, sie sank nieder und wühlte mit ihren Händen unter dumpfem Ächzen den Boden auf, darin sie begraben gelegen.

Was mag sie suchen? dachte der Träumende schaudernd. Sie hatte seinen Gedanken erraten. Ohne Unterlass wühlend und grabend, wandte sie sich um nach ihm, stierte ihn aus hohlen Augen an und lallte: »Meine Seele.«

Mit einem Schrei erwachte Sascha.

Das russische Volk – das freie russische Volk suchte voller Todesangst seine Seele.

1. Kapitel

In Eskowo, einem nordrussischen Steppendorf von etwa dreihundert Einwohnern – noch bis vor kurzem hieß es »Seelen« – rüstete man das Osterfest des Jahres 1879. In den Häusern, elenden Baracken aus Birkenstämmen und Lehm, wurden ernstliche Reinigungsversuche unternommen; man schaffte den Kot hinaus und ließ den Schmutz liegen. Nur die »heilige Ecke« erfreute sich einiger Sauberkeit. Dort war der Boden wenigstens trocken und zum Überfluss sogar mit Buchs bestreut, den die Kinder unter lautem Jubel aus dem Schnee gegraben hatten. Das Heiligenbild selbst, dessen Antlitz mit starren, braunen, byzantinischen Zügen feierlich genug aus seiner Umrahmung von getriebenem Kupfer hervorsah, schmückten Birkenreiser, mit langen Streifen farbigen Papiers und Goldschaum behängen. Geweihte Kerzen brannten davor.

Schon stand in der Nähe des gewaltigen Ofens die Ostertafel gerichtet. Sie war gedeckt mit buntsäumigem Sonntagslinnen, dicht besetzt mit bemalten hölzernen Tellern, Schüsseln und Krügen, schwer beladen mit Festspeisen; gedörrten und gesalzenen Fischen, geräuchertem und gebratenem Fleisch, Steppenhühnern, Hasenpastetchen, eingemachten Schwämmen, Gurken und Backwerk aus Honig und Anis. Ein stattliches Tonfässchen enthielt den vielgeliebten Kwass, im Ofen kochte die Kohlsuppe und die mit Pfeffer gewürzte Grütze, brieten die Piroggen.

Vom frühesten Morgen an wurden die beiden Badestuben des Dorfes geheizt. Jung und alt nahm Dampfbäder. Wer zu den Honoratioren von Eskowo gehörte, bewies seine Ansprüche auf Ansehen dadurch, dass er sich kräftig mit Birkenruten streichen ließ. Von Zeit zu Zeit sprang die Tür des Badehauses weit auf, eine Dampfwolke quoll heraus, aus der sich eine Schar nackter Kinder entwickelte. Schreiend liefen sie auf die Gasse, wälzten sich im Schnee und stürzten dann, rot wie gesottene Krebse, wieder zurück in die Glut.

So trieb man es bis zum Abend. Dann gingen die Leute heim und legten die Festkleider an; die Männer den sonntägigen Schafpelz, die Frauen und Mädchen ihre schönen und feierlichen weißen Wollgewänder. Sie trugen reichen Schmuck und auf dem Kopf glänzte der Powoinik wie ein Diadem.

Am Abend saß Wera Iwanowna, die Tochter des Starosten, von Kindern umringt in der väterlichen Hütte. Während sie Mädchen und Knaben das Haar kämmte, versuchte sie, ihnen begreiflich zu machen, weshalb in Russland so lange Winter sei. Die Kleinen prangten bereits in ihren Festkleidern und harrten ungeduldig des Augenblicks, wo sie aus der Abendschule entlassen werden sollten. Darauf würde alsdann jedes sein Licht anzünden und alle gemeinsam in die Kirche ziehen, deren Fenster bereits hell erleuchtet durch die Winternacht strahlten. Doch hatten die Kinder das junge Mädchen mit dem ernsten, schönen Gesicht viel zu lieb, um sich nicht alle Mühe zu geben, ihre Ungeduld zu bemeistern und aufmerksam zuzuhören.

Wera sprach mit tiefer, weicher Stimme, oft stockend und abbrechend. In ihrem Wesen lag etwas seltsam Befangenes, zugleich Feierliches. Als das letzte der Kinder mit möglichst glattgekämmtem Kopf vor ihr stand, faltete sie die großen, weißen Hände im Schoß und sah darauf nieder: So konnte sie besser reden.

»In anderen Ländern, meine Lieblinge, ist's jetzt bereits Frühling, in anderen Ländern blühen jetzt auf den Wiesen bereits Primeln und Veilchen und die Birken haben längst Blätter. Bei uns ist's immer noch Winter.«

Sie schwieg, hob den Kopf und sah mit müdem, verschleiertem Blick zum Fenster hinaus auf die öde, winterliche Landschaft.

»Warum ist's bei uns immer noch Winter?«

Wera wandte ihr Gesicht dem kleinen Frager zu. Sie antwortete mit einem Seufzer; dann besann sie sich: »Weißt du das nicht mehr? Wer von euch hat es sich besser gemerkt?«

Eine Weile allgemeines Schweigen; dann streckte ein kleines rothaariges Mädchen den Arm in die Höhe.

»Ich weiß es.«

»So sag's.«

»Weil – weil – –«

Die Kleine schien rettungslos ins Stammeln zu geraten; aber plötzlich fiel es ihr ein: »Weil bei uns Russland ist,« deklamierte sie triumphierend.

»Weil bei uns Russland ist,« wiederholte die junge Lehrerin leise und langsam. Dabei blickte sie wieder auf und hinaus; müde und hoffnungslos. »Du, Wera Iwanowna, warum ist's bei uns in Russland nicht auch wie in anderen Ländern?« forschte eine kleine Wissbegierige. »Wir wollen auch zu Ostern Blumen haben, Primeln und Veilchen.«

Wera, ihre Gedanken sammelnd, belehrte: »In Russland ist der Winter viel länger als in anderen Ländern, weil bei uns die Sonne viel weniger warm scheint. Passt gut auf! Die Sonne scheint in Russland viel weniger warm, weil –«

Sie stockte. Sie suchte nach dem rechten Worte, nach dem rechten Gedanken, fand jedoch beides nur mühsam und unvollkommen.

»Bei uns in Russland ist es viel kälter als in anderen Ländern, weil unser armes Russland so weit von der Sonne entfernt liegt. Deshalb grünt und blüht bei uns alles viel später; denn nur da, wo die Sonne recht warm und hell hin scheint, kann es wachsen und gedeihen!«

Sie schwieg, atmete schwer und sah hilflos um sich.

Ein seines Stimmchen rief: »Ich denke mir etwas. Darf ich's sagen?«

Wera ermunterte den kleinen Zagenden: »Gewiss darfst du es sagen. Du musst stets sagen, wenn du dir etwas denkst und stets, was du dir denkst. Der Mensch darf niemals anders reden, als seine Gedanken sind, sonst ist er ein schlechter Mensch. Und du willst doch ein guter Mensch werden. Das wollen wir alle. Also was denkst du?«

»Es ist gar nicht hübsch vom lieben Gott, dass er Russland jedes Jahr einen so langen und kalten Winter schenkt. Hat Russland dem lieben Gott etwas zuleide getan?«

Wera heftete ihre schwermütigen Augen auf den Knaben. Der kleine Kerl schaute ganz trotzig drein; doch konnte sein kindlicher Eifer der Lehrerin kein Lächeln abgewinnen. Sie rief ihn zu sich, legte ihre Hand auf sein helles Haar und sagte laut und feierlich: »Auch Russland wird von Gott geliebt. Und Gott mag wohl so streng gegen Russland sein, damit hier die Leute besser werden als in anderen Ländern; die kleinen Knaben brave Männer und die kleinen Mädchen wackere Frauen. Wenn es in Russland recht viele brave Männer und wackere Frauen gibt, schenkt ihnen der liebe Gott immer mehr von seinem warmen goldenen Himmelslicht, immer, immer mehr! Dann werden bei uns auf den Wiesen Primeln und Veilchen ebenso früh blühen, wie in anderen Ländern.«

Ihre Feierlichkeit machte den Kindern bang. Alle waren still. Der Knabe, der mit dem lieben Gott unzufrieden war und auf dessen Kopf Weras Hand noch immer lag, schmiegte sich an das Mädchen und flüsterte: »Wenn wir recht brav werden, schicken sie uns dann auch nach Sibirien und in die Gruben wie meinen Vater?«

Leidenschaftlich drückte Wera das Kind an sich und rief: »Es wird eine Zeit kommen, wo in Russland niemand mehr nach Sibirien und in die Gruben geschickt wird – niemand, der ein braver Mann ist.

»War denn mein Vater kein braver Mann?«

»Dein Vater war ein Held, ein Märtyrer!«

Ihre bleichen Wangen überflog ein tiefes Rot, ein heißer Glanz strahlte in ihren Augen auf. Sie erhob sich und stand mitten unter den Kindern mit leuchtendem Gesicht.

»Ich will auch ein Held werden, sie sollen mich auch nach Sibirien schicken,« rief der junge Sohn des Nihilisten.

Die Kinder begannen zu flüstern und zu kichern; aber Wera nickte dem kleinen Zukunftshelden ernsthaft zu: »Wenn ihr erst groß seid, wird alles anders geworden sein: alles besser, viel, viel besser! Ihr versteht es nicht und ich kann es euch auch nicht sagen. Wenn dann alles anders und besser ist, so gedenkt der Heiligen des russischen Volkes; nicht nur derer, welche in den Kirchen wohnen und von euch angebetet werden, sondern eurer Väter, von denen niemand weiß und die doch für alle gelitten haben; von denen viele für uns gestorben sind. – – Und jetzt müsst ihr in die Kirche.«

Ein fröhliches Getümmel entstand. Jedes Kind suchte sein Licht. Dann ging es ans Anzünden, was durchaus nicht so bald geschehen war; aber schließlich flackerte über jedem festgeschlossenen Händchen eine kleine Flamme.

Wera war beiseitegetreten und blickte mit herzlichem Anteil auf das Treiben des jungen Völkchens. Die kleine Marfa kam zu ihr.

»Du hast ja dein weißes Kleid noch nicht an. Gehst du nicht mit in die Kirche?«

»Ich bleibe zu Hause.«

»Bist du krank?«

»Ich bin nicht krank; aber – – «

Wieder fehlten ihr die rechten Worte. Wie hätte sie auch dem Kinde erklären sollen, weshalb sie am heiligen Osterfest ihr weißes Gewand nicht trug und nicht mit in die Kirche ging.

Hastig bückte sie sich und küsste das Mädchen auf die Stirn. Das meinte wichtig: »Wenn du nicht mit in die Kirche kommst, wird der Pope böse auf dich.«

Das hörte der junge Dimitri.

Er stellte sich breit vor Wera auf: »Aber schlagen soll er dich nicht!«

Er war ganz aufgeregt. Wera suchte ihn zu beruhigen: »Ich lasse mich nicht schlagen.«

»Meine Mutter wird alle Tage geschlagen,« verriet einer.

Er sollte den anderen nichts voraus haben; denn sogleich meldete ein zweiter: »Meine Mutter auch – vom Vater, alle Abend. Dann schreien sie.«

Nun kam es heraus. Die meisten Mütter wurden geschlagen, mitunter auch die Väter. Vater und Mutter tranken Branntwein – jeden Abend! Dann schrien sie und schlugen sich.

Blass und stumm stand Wera und hörte zu. Sie wagte nicht aufzusehen und in die unschuldigen Kindergesichter zu blicken. Sie schämte sich, als wäre sie es, die täglich von rohen Händen geschlagen würde.

Sie musste sich anstrengen, zu sprechen: »Aber jetzt fort mit euch. Ihr wisst doch, weshalb ihr diese Nacht in die Kirche geht?«

»Heute gibt's Kwass und Kohlsuppe. – Ja, und Piroggen! – Und Fleisch! – Und Pastetchen!« jubelte es durcheinander.

Wera wollte die Kinder belehren; sie wollte ihnen sagen: »Ihr feiert heute das Osterfest: Christus ist von den Toten auferstanden.«

Aber sie schwieg. Es waren Wunder, die sie mit Ehrfurcht erfüllten, die sie jedoch nicht begriff.

Sie schickte die Kinder hinaus. »Morgen Vormittag kommt ihr wieder. Was willst du, Kleine?«

»Meine Mutter erlaubt nicht, dass ich wieder komme,« schluchzte das Kind. »Sie lässt dir sagen; das wäre nun einmal so, der Pope hab' ihr's verboten. Der Pope hat gesagt, du hetztest uns auf. Ja, und noch viel mehr hat der Pope gesagt, ich hab's nur wieder vergessen. Sie sind alle böse auf dich: du wärst gar keine Christin.«

Die Kinder waren still geworden. Scheu blickten sie auf Wera, die sich mit der weinenden Kleinen beschäftigte und diese schnell zu beruhigen wusste.

»Ich werde morgen deine Mutter besuchen und mit ihr reden. Jetzt geht, sonst kommt ihr zu spät.«

Hand in Hand traten sie hinaus in die finstere, kalte Nacht. Die Wachskerzen hielten sie dicht vor ihren Gesichtern, so dass man bei der tiefen Dunkelheit von den winzigen Gestalten nur die Köpfchen sah. Die grell beleuchteten blühenden Kindermienen mit den strahlenden Augen und den lachenden Lippen tauchten auf aus der Finsternis und schwebten dahin wie eine Schar geflügelter Engelsköpfe – so dachte Wera, am Fenster stehend und ihren kleinen Freunden nachblickend, bis sie von dem Zuge der übrigen Kirchgänger aufgenommen wurden.

Der jungen Lehrerin von Eskowo ward das Herz schwer.

... Da trippeln sie hin, mit ihren Lichtern durch die Osternacht wie vom Himmel gefallene Sterne. Arme, junge Brut! Jetzt noch so froh, so gut, so unwissend; die rosigen Blumenknospen des russischen Winters. Das wird bald anders sein. Aber sind sie nicht frei geboren, sollen sie nicht frei bleiben? Frei. Das ist auch eines von den Worten, bei denen das russische Volk sich nichts denken kann. Man müsste es ihm erklären, damit es wüsste: Wir sind frei! damit es mit seiner Freiheit etwas anfangen könnte. Aber so, wie es nun einmal ist, weiß es nichts davon. Was kann ich tun, um zu erfahren, was das russische Volk mit seiner Freiheit anfangen soll? Niemand sagt es mir. Überall Elend und Jammer und – Unwissenheit. Und nirgends Hilfe. Was kann ich tun, um zu helfen?

Sie starrte hinaus, als erwarte sie die Antwort auf ihre angstvolle Frage von draußen. Aber die Nacht blieb schwarz und der Lichtschein, der aus der Kirche drang, wusste ihr auch nichts zu sagen, so gern sie seine Sprache vernommen und verstanden hätte.

2. Kapitel

In die Stube trat Weras Vater, der Starost Iwan Iwanowitsch Martinow. Es war ein Mann in den Fünfzigern, klein und vertrocknet, gleichsam gedörrt; mit Beinen, die in dem kurzen Oberleib wie falsch eingeschraubt saßen. Sein farbloses Haar hing ihm glatt abgeschnitten bis tief in die Augen, die wie hinter einem Vorhang scheu und tückisch hervorblinzelten, wenn sie nicht den starren, gläsernen Blick des Berauschten hatten. Auch der untere Teil des Gesichts war mit Haaren bedeckt.

Er hatte die Angewohnheit, unaufhörlich zu schwatzen und mit den Armen in der Luft herumzufuchteln, als erlebte er noch immer die schönen Tage der Knute, die er einstmals über die unglücklichen »Seelen« Eskowos geführt hatte. Auch in nüchternen Stunden hatte er einen schleppenden, schwankenden Gang und eine weinerliche Stimme. Da er Tag und Nacht, betrunken oder nicht betrunken, auf dem Ofen lag, so roch er wie ein geräucherter Stör, dessen Farbe er mit den Jahren auch angenommen hatte. Brutal und feig zugleich, käuflich und träge, schmierig an Leib und an Seele, war er der echte Typus des Starosten eines nordrussischen Steppendorfes.

Als er zu seiner Tochter ins Zimmer trat, war seine Stimme gerade im Begriff, sich zu metamorphosieren. Er schluchzte: »Eh, Töchterchen, Täubchen, zur Kirche!«

Wera trat vom Fenster zurück und ging auf den Berauschten zu: »Was soll ich wohl in der Kirche?«

Auf diese Frage war das Väterchen nicht gefasst. Im Tone tiefsten Überlegens kam es von seinen Lippen: »Eh – was sollst du wohl in der Kirche? Eh?!« Plötzlich fiel es ihm ein: »Trost in Leiden suchen, mein Seelchen,« wimmerte er.

»Trost in Leiden? Der Pope wird kreischen, dass die Leute heute Nacht nicht zu viel Branntwein trinken sollen und wird der erste sein, der sich im Straßenkot wälzt.«

Wera sagte das ruhig und gleichmütig, wie eine Sache, die sich von selbst versteht. Sie sah dabei ihren Vater an, mit ihrem gewöhnlichen, tieftraurigen, müden Blick, unter dem Iwan Iwanowitsch sich indessen förmlich krümmte. Doch als Starost von Eskowo musste er den Popen von Eskowo entschuldigen.

Er tat es aus tiefster Seele.

»Schimpf' nicht auf den Branntwein. Solch guter Branntwein! Musst den armen Väterchen ihren Branntwein lassen. Was Warmes im Leib; Trost in Leiden.«

Und er begann laut zu schluchzen. Aber auch daran war seine Tochter gewöhnt; ihre Antwort klang, als spräche sie zu sich selbst: »Beim Popen und im Branntwein Trost in Leiden suchen. Alle Tage betrunken, alle Tage eure Weiber schlagen oder euch von euren Weibern schlagen lassen, und dann: Trost in Leiden im Branntwein suchen! Wie soll ich es euch nur sagen, dass wir für unsere Leiden – die groß sind – anderswo Trost suchen müssen, als beim Popen und im Branntwein.«

Der Starost murmelte allerlei Klägliches in den Bart, wobei er unverwandt nach dem festlich gedeckten Tisch hinüberblinzelte, dessen Herrlichkeiten er schon jetzt schmatzend genoss. Der Duft der Kohl- und Fischsuppe durchdrang das ganze Haus. Und da stand ja auch der Kwass! Die großen Leiden des russischen Volkes kamen dem Starosten von Eskowo in diesem Augenblicke recht erträglich vor.

Die Stimme seiner Tochter riss ihn aus seiner optimistischen Lebensanschauung. Sie konnte so ernst und streng klingen, diese Stimme, ganz anders, als die des Popen.

»Ich habe es Ihnen, Iwan Iwanowitsch, längst einmal sagen wollen. Anna Pawlowna, unsere Herrin, befindet sich in Moskau. Sie hat uns freigegeben; im übrigen kümmert sie sich nicht um uns. Wir sind arm und unwissend, aber wir sind keine Leibeigenen mehr. Sie sind der Starost des Dorfes, Sie sind ein freier Mann, Sie gelten hier etwas, Sie könnten hier Gutes tun. Verstehen Sie mich: Gutes könnten Sie hier tun! Das ist etwas Großes, etwas Heiliges; ja, das ist es. Der russische Bauer hat einen solchen Starrsinn, eine solche Gleichgültigkeit! Ihm ist alles gleich, alles bleibt beim alten. Und doch muss etwas geschehen – was, das weiß ich ja nicht. Aber auch wir müssen etwas tun, sonst wird es schlimmer und schlimmer, wo es doch hohe Zeit ist, dass es besser und besser werde. Trost in Leiden geben, das ist nichts; Hilfe in Leiden, das ist alles. Aber wo ist die Hilfe?«

Sie sah sie nicht, sie sah sie nirgends, unwissend, wie sie war. Der Starost hörte anfänglich voller Zerknirschung zu; als er aber merkte, dass seine Tochter an ihm vorbeiblickte, in die Nacht hinein, schlich er sich zum Tisch und stahl eine Gurke, an der er andächtig saugte, während Wera fortfuhr: »Ich weiß, wodurch es so schlimm bei uns steht: durch die Beamten; sie sind das Unglück von Russlands Elend und Schande; denn vom Starosten angefangen, bis hinauf zum Gouverneur sind es schlechte Beamte. Der Zar soll uns andere Beamte geben, dann wird er ein anderes Volk haben.«

Aber da brach das Väterchen in ein Jammergeschrei aus. An dem letzten Stück der Gurke würgend, ächzte der würdige Beamte von Eskowo: »Wera Iwanowna, Töchterchen; stürze dein Väterchen nicht ins Unglück. Was kann es tun? Darf sich nicht regen, wird unterdrückt, unterdrückt. Und dann nicht mal Trost in Leiden – – «

Schluchzend verstummte er. Sein Blick klammerte sich Hilfe suchend an das Tonfässchen. Er fühlte sich so elend, dass ihm ganz schwach wurde. Er wankte hin, legte die Hand an den Spund, wandte sich nach Wera um und meinte pfiffig: »Kwass ist nicht Branntwein. Eh, Töchterchen?«

»Es steht auch Branntwein auf dem Tisch,« erwiderte Wera verächtlich.

3. Kapitel

Voll und feierlich klang das Geläut der Glocken durch die Osternacht. Wera war allein im Hause. Sie versuchte, sich zu beschäftigen, aber es ging ihr alles schwer von der Hand; sie war zu allem so ungeschickt! Ihr einziges Talent bestand in der Sehnsucht: sie sehnte sich unsäglich, etwas zu vollbringen, etwas zu tun, etwas zu helfen – irgendetwas! Sascha, ihr Gespiele, ihr Jugendfreund, der Student in Moskau war, der tat etwas, der vollbrachte etwas, der half, Russland weniger Unwissenheit und Unfreiheit ward. Aber seit Jahren hatte sie nichts von Alexander Dimitritsch gehört; auch er hatte sie verlassen.

So verzehrte sich denn dieses Mädchen in Sehnsucht nach Taten. Ihr war's, als wäre es auch in ihrer Seele Winter. Wie schön müsste es sein, wenn auch die Menschenseele ihren Frühling bekam, wenn auch in das starre Gemüt des Unglücklichen die Sonne hinein schien, die Eisesrinde des Jammers hinwegtauend: tausend Triebe regen sich, alles drängt zum Licht, hundertfältig sprießt, grünt, blüht es im Herzen.

Die Haustür wurde geöffnet, die Einsame hörte Schritte im Vorraum, und dann von einer sanften, zärtlichen Stimme ihren Namen rufen: »Wera!«

»Ich bin hier, Tania. Komm herein!« Die Tür ging auf und über die Schwelle trat, gleich einem Seraph, der die Osterverkündigung brachte, ein junges Mädchen im weißen Festgewand, eine brennende Kerze in der Hand. Der Sitte gemäß hatte sie für die Osterfeier das Haar aufgelöst; fast bis zu den Knien fiel es in rötlichem Glanz herab, sie hätte sich darin einhüllen können. In dieser strahlenden Umgebung erschien ihr rosiges Gesichtchen wie ein byzantinisches, auf Gold gemaltes Heiligenbild.

»Heilige Osternacht, Wera.«

»Heiliges Auferstehen, Tania.«

Wera ging ihrer Freundin entgegen und führte sie ins Zimmer; dabei rief sie in den dunklen Vorraum hinaus: »Komm doch auch herein, Colja!«

Ein dumpfes Knurren antwortete; dann ein mächtiges Stampfen auf dem harten Lehmboden, ein heftiges Schnauben und Colja kam »auch« herein. Es war der Knecht Tanias, ein ungeschlachter, hässlicher Mensch, der sich in den vierzig Jahren seines Lebens noch immer nicht an sich selbst gewöhnt hatte und aus einem dumpfen Erstaunen über das Riesenmaß seines Leibes gar nicht herauskam. Er schien geboren zu sein, um über jeden denkbaren und undenkbaren Gegenstand zu stolpern; die Dinge schienen nur da zu sein, damit er daran Anstoß nehmen konnte. Dabei sah er sich pflichtschuldigst jedes Ding, das für seinen gewaltigen Körper ein Hindernis abgegeben, aufmerksam an; und selbst bei Sturm und Regen, oder beim härtesten Frost konnte er betroffen werden, wie er tiefsinnig und mit höchster Entrüstung einen Stein, einen Baum oder einen Graben betrachtete, der ihn soeben zu Fall gebracht. War er einmal so glücklich oder so unglücklich, durchaus keinen Gegenstand des Anstoßes zu finden, so wusste er sich nicht anders zu helfen, als unter Aufbietung seiner ganzen Einbildungskraft an allerlei imaginären Steinen und Ecken anzurennen. Ebenso stolperte dieser merkwürdige Mensch über jeden Begriff und wenn es der Begriff war, dass Colja ein Knecht und kein Leibeigener, dass Branntwein ein angenehmes Getränk, Nichtstun eine wunderhübsche Sache sei, und dass die Herrin, das Täubchen Tania Nikolajewna eine – – Aber dafür fehlte ihm überhaupt jeder Begriff, jeder Begriff und jeder Ausdruck. Er hatte einen Mund, so groß, und Augen, so klein, wie das überhaupt nur möglich war. Mit dem Blick eines mürrischen, schläfrigen Hundes pflegte er unverwandt seine junge Herrin anzustarren und sprach er einmal, das heißt, stieß er einmal einige heisere Gurgeltöne aus, so geschah es, um mit seiner Herrin zu reden, oder über seine Herrin lange, unverständliche Monologe zu halten.

Jetzt stand er hinter ihr, in der Nähe der Tür an der Wand lehnend wie der mürrische Trabant einer Elfenkönigin, der seine Gebieterin zu den Menschen begleitet hat und nun Wache hält, dass die Erde nicht den Saum des Kleides Ihrer luftigen Majestät beflecke.

»Wie gut von dir, dass du gekommen bist. Ich fühlte mich gerade recht einsam,« vertraute Wera der Freundin an; durch den Gegensatz mit der Lieblichen erschien Wera noch ernster und herber.

»Ich dass du zu Hause bleiben würdest. Colja verriet es mir.«

Sie wandte sich nach ihm um und lächelte den Unhold so holdselig an, dass dieser seine Augen in beängstigender Weise aufriss und es fast zu einer Rede gebracht hätte: »Ja, Tania Nikolajewna, Täubchen –«

Das übrige ging unter in Gebrumm.

Die beiden Mädchen setzten sich und plauderten leise.

»Aber du kommst zu spät zum Gottesdienst,« meinte Wera besorgt.

»Ich schleiche mich wohl noch ein, ohne dass der Pope mich sieht. Du sollst hier nicht so verlassen sitzen.«

»Hat Wladimir Wassilitsch aus Moskau geschrieben?«

»Schon lange nicht mehr.«

»Du brauchst darüber nicht traurig zu sein; er liebt dich zärtlich.«

»Er ist so wild.«

»Er ist der wahre Freund des russischen Volkes.«

»Was tut er in Moskau?«

»Sascha ist ja auch dort.«

»Das ist mein Trost. Sascha ist ein solch guter, starker Mensch. Wo Sascha ist, kann nichts Böses geschehen.«

»Böses? Was redest du?«

»Wera, Wera, was tun sie in Moskau?«

Die Angst erstickte ihre Stimme; aber Wera geriet in Begeisterung: »Was sie tun? Gutes, Großes: sie lernen! Sie, die Söhne von Leibeigenen, unterrichten sich über alles, was der Mensch wissen muss, wenn er in seiner Seele ein freier Mensch sein will. Ich kenne Sascha. Ich weiß, dass er lernt, um helfen zu können. Und du solltest deinen Verlobten besser kennen. Der Name Wladimir Wassilitsch wird für das russische Volk einst der Name eines Helden sein. Und du dann dieses Helden Weib. Du weinst?«

Colja ward an bei Tür unruhig. Er stieß gurgelnde Laute aus und geriet in eine schwankende Bewegung; ganz wie ein Bär. Dann rieb er seine gewaltigen Hände gegen seine Stirn und starrte ingrimmig nach der heiligen Ecke hinüber, wo die Mädchen unter dem Madonnenbilde Platz genommen. Wera saß im Schatten, aber auf Tania fiel der Kerzenschein und verklärte die liebliche Gestalt. Sie hob ihr tränenüberströmtes Gesichtchen zur Freundin auf, ein Bild holdseligsten, hilflosesten Leidens. Colja fühlte einen dumpfen Trieb, zu ihr zu gehen, eine der geweihten Kerzen anzuzünden, sich auf die Knie zu werfen und alles herzumurmeln, was er an Gebeten wusste. Das war freilich nicht viel.

Auf Weras Gesicht war ein Ausdruck tiefsten Mitleids erschienen, welcher die strengen Züge wie ein Schein überflog. Sie neigte sich über die Traurige und flüsterte: »Warum weinst du, Tania?«

»Weil mir so bang ist, weil uns ein großes Unglück bevorsteht.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Wladimir ist so wild, sage ich dir. Er kann so schrecklich hassen.«

»Wen hasst er?«

»Ach, ich weiß es auch nicht; aber ich glaube alle, die das Volk bedrücken. Die Briefe, die er mir bisweilen durch einen Boten zuschickt, sind fürchterlich. Niemals ein Wort von Liebe zu mir; nur von Hass! Er schreibt mir: Ich liebte ihn nicht, wenn ich nicht alle die hasst. Sie wären die Verderber Russlands.« »Das sind sie!« rief Wera. Sie war aufgestanden. »Sie müssten alle sterben.«

»Sterben?!«

»Alle, alle! Erst dann kämen bessere Zeiten für Russland, denn dann würde in Russland das Volk herrschen.«

»Das Volk herrschen? Was versteht das Volk davon? Das Volk weiß ja nicht einmal, was ihm fehlt, weshalb es unglücklich ist. Es müsste erst lernen, nicht unglücklich sein zu wollen. Es regt ja keine Hand, lässt alles gehen, wie es gerade geht, ist ganz dumpf und stumpf. Und dann in Russland das Volk herrschen! – – Was willst du, Colja?«

Er wollte nichts, gar nichts! Er brummte und murrte nur. Nicht einmal das Glas Kwas, welches Wera ihm einschenkte, wollte er austrinken: Tania Nikolajewna, das Täubchen, schluchzte immer noch.

»Was schreibt dir Wladimir sonst in diesen heimlichen Briefen?«

Sie stand, vergebens bemüht, ihre Aufregung niederzukämpfen, mit angehaltenem Atem auf die Antwort wartend.

»Was er sonst schreibt? Sonst nichts. Es ist immer dasselbe, in jedem Briefe dasselbe. Er wird gewiss recht haben.«

»Er hat nicht recht. Aber Colja, so sei doch still.«

Aber Colja war nicht still; Colja fuhr fort, vor sich hin zu murmeln und zu murren.

»Ich glaube, dass er recht hat,« sagte Tania leise und eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Die sanften Augen bekamen Fieberglanz, sie erhob sich und trat von Wera fort. Eine Pause entstand. »Wann denkst du, dass dein Verlobter zurückkommen wird?«

»Er wird gar nicht zurückkommen.«

»Nie?«

»Er wird nach mir schicken, wenn er es an der Zeit hält.«

»Und dann?«

»Dann werde ich zu ihm gehen.«

»Aber deine Eltern?«

»Dann werde ich zu ihm gehen,« wiederholte Tania und sie setzte hinzu: »Ich bitte Gott, die Madonna und alle Heiligen jeden Morgen und Abend, dass er bald nach mir schicken möge.«

»Wirst du allein gehen?«

»Colja begleitet mich – natürlich.«

Jetzt kam der große Augenblick: Colja sprach und wie sprach er!

»Colja begleitet sie – natürlich! Wera Iwanowna, Mütterchen, seien Sie unbesorgt: Colja begleitet das Täubchen. Wenn es fortflattert, flattert Colja mit – natürlich! Colja ist ein Knecht, Colja tut, was man ihm befiehlt. Ruft die Herrin: Colja hier! kommt Colja her – natürlich! So ist's.«

Es war die längste Rede, die er jemals gehalten. Vollständig erschöpft sank er gegen die Wand und schloss die Augen. Da hörte er Tania leise auflachen; über Colja – natürlich! Fast hätte er vor Vergnügen mitgelacht. Statt dessen leerte er das Glas Kwas, das er immer noch in der Hand hielt. Jetzt konnte er trinken: Tania Nikolajewna hatte gelacht

4. Kapitel

Als Wera wieder allein war, löschte sie die Lampe, die auf dem Tische stand, so dass in dem großen Gemach nur in der heiligen Ecke ein Licht brannte; darauf setzte sie sich ans Fenster, drückte ihre Stirn gegen die kleinen, trüben Scheiben und starrte hinaus. Noch immer zogen die Leute der Kirche zu. Warum sie nicht? Der Gekreuzigte, der Begrabene, der Auferstandene ließ heute alle zu sich kommen. Warum kam sie nicht? Wie oft hatte sie sich diese Frage vorgelegt. Aber sie fand niemals eine Antwort. Und diese Sehnsucht in ihr! Wonach? Sich auch an ein Kreuz schlagen zu lassen. Wofür? Um des Leidens Russlands willen. Und zu Ihm, der sich um des Leidens der Welt willen hatte ans Kreuz schlagen lassen, ging sie nicht, wenn die Osterglocken zum Grabe des Auferstandenen riefen? Hatte Christus denn die Welt erlöst?

Es ist so lange her, dachte sie, dass Christus am Kreuz gestorben und nach drei Tagen wieder auferstanden ist von den Toten; es ist so viel darum gebetet und gedankt worden – beinahe zweitausend Jahre! Wenn einmal das russische Volk sein Osterfest hat, so wollen wir es feiern und dafür danken – auch zweitausend Jahre! Gekreuzigt wurde es ja oft genug, dass sein armer Leib nichts trägt, als blutige Wunden. Und ich selbst – – Herr, Herr, wecke mich! Ich bin wie in einem Grabe. Wenn ich meine Hände bewegen und ausstrecken könnte, müsste ich den Deckel meines Sarges fühlen. Aber ich kann mich nicht regen. Und wenn es über mir Frühling wird, weiß ich nichts davon. Wecke mich! Herr, Herr, wecke mich! Du kannst Wunder tun. Tue an mir ein Wunder! Rühre mich an und sprich: Weib, steh' auf und wandle – lebe!

Sie fiel mit dem Kopf gegen die Wand und während aus der Kirche der Gesang der Gläubigen zu ihr herüberdrang, betete sie, dass die Seele des russischen Volkes auferstehen möchte aus tausendjährigem Todesschlaf.

... Wera Iwanowna war das einzige Kind ihrer Eltern. Ihre verstorbene Mutter hatte in ihrer Jugend in dem Rufe gestanden, eine große Schönheit zu sein. Diese Frau kam mit ihrem zwölften Jahre auf den Hof, wo sie zuerst für die niedrigsten Küchenarbeiten verwendet wurde, aber schnell bis zur Zofe der Herrin avancierte. Von dieser ward sie bald gestoßen und geschlagen, bald mit Zuckerwerk gefüttert und mit Putzsachen beschenkt. Im Winter wurde sie mit nach Moskau genommen. Plötzlich fiel sie bei der Herrin in Ungnade und ward in aller Eile mit Iwan Iwanowitsch, einem berüchtigten Trunkenbold auf dem Steppengut Eskowo verheiratet. Der Mann der hübschen Person war ein Mensch, der infolge seines Lasters zu nichts anderem zu verwenden war, als zum Knuten, ein Geschäft, dem er sich mit ganzer Seele und beiden Fäusten hingab. Bereits nach einigen Monaten wurde Wera geboren und ihre Geburt kostete der schönen Mutter das Leben. Das Kind wäre elend umgekommen, hätte nicht eine Nachbarin Erbarmen gefühlt. Der Mann dieser mitleidigen Frau arbeitete wegen Auflehnung gegen den Verwalter bereits seit fünf Jahren in den Bergwerken: er hatte nur einen Sohn zurückgelassen, ein starkes, plumpes unschönes Kind, das sich vor anderen Kindern scheute niemals spielte und am liebsten einsam in irgendeinem Winkel hockte.

Kaum war das kleine Mädchen im Hause, so ging mit dem Knaben eine wunderliche Veränderung vor. Er erwachte aus seiner Stumpfheit, es kam Leben und Jugend in ihn. Wenn das fremde Kind schrie, geriet er ganz außer sich, gab sich nicht eher zufrieden, als bis es beruhigt war. Unaufhörlich plagte er seine Mutter mit der Kleinen; alles, was sie zu essen hatten – es war wenig genug – sollte das Mädchen bekommen. Dass seine Mutter den Säugling nicht mit Stör und Kwas, den beiden größten Leckerbissen, die die Welt für ihn besaß, auffütterte, verzieh er ihr nicht. Den ganzen Tag schleppte er sich mit dem Püppchen herum, glücklich, wenn es mit den winzigen Händchen nach ihm griff und ihn an seinem struppigen Haar zerrte. Als die Kleine ihn zum ersten Mal anlachte, geriet er in Ekstase. Diese leidenschaftliche Zärtlichkeit nahm mit den Jahren womöglich noch zu. Im übrigen blieb er ein scheuer, verdrossener, träger Junge, durch dessen Gehirn die Gedanken wie Schnecken krochen. Zündete jedoch einmal etwas in ihm, so loderten gleich Flammen.

Da vom Lernen gar nicht, von Arbeit kaum die Rede war, so lebte Sascha mehr auf der Steppe als im Dorfe oder im Hause; und da es ohne Wera keinen Sascha gab, so trieb sich das Mädchen einen großen Teil des Jahres mit ihm herum. Beide kannten meilenweit um Eskowo jeden Birkenbaum und Wacholderbusch. Wera war ein ernstes, in sich gekehrtes Kind, dem das Reden schwer fiel. Das nämliche war bei Sascha der Fall; aber sobald sich dieser mit seiner kleinen Genossin allein befand, ward er wunderbar beredt. Er wusste Geschichtchen ohne Zahl und Ende, die niemand ihm erzählt hatte. Wenn die beiden über Wiesen liefen und den Birkenwald durchstreiften, so erfuhr Wera allerlei geheimnisvolle Dinge von wilden Wasserweibern und weisen Luftfrauen. Der Knabe entfaltete vor der Seele des Mädchens den ganzen Reichtum seiner Phantasie, jedoch ohne sie dadurch ihrer nachdenklichen Art entreißen zu können. Oft kauerten sie am Rande des Flusses, der im Frühling die Steppe mit braunen Fluten überschwemmte, stumm zuschauend, wie die schlammige Wassermasse sich schwerfällig und träge in unheimlicher Lautlosigkeit dahin wälzte. Oder sie lagen auf der Steppe mit geschlossenen Augen, lauschten auf den Schlag der Amsel und das Pfeifen des Wasserhuhns und ließen das hohe Gras über sich hinwehen. Die grüne, blumendurchzogene Welle schlug über ihren jungen Gesichtern zusammen; öffneten sie die Augen, so blickten sie durch die nickenden Halme und Knospen in ein Meer von Dunst und Glanz, das der Sonnenuntergang mit glühendem Purpur übergoss, darin nach und nach die Sterne aufblinkten. Die einförmigste und ödeste Natur besitzt des Phantastischen und Geheimnisvollen immer noch genug, um ein Kindergemüt mit Schauern zu erfüllen.

So kam es, dass Wera ein überaus seltsames Kind ward. Gleich ihrem lieben Sascha wusste sie nichts von Spiel und anderen Kinderfreuden; die hübschen Märchen, die ihr Gefährte für sie erdichtete, verstand sie nicht, wenn sie auch noch so lange darüber nachgrübelte. Denn ganz im Gegensatz zu ihrem Freunde, konnte sie nicht fabulieren. Für sie blieb die Blume eine Blume, der Baum ein Baum. Sie hatte gar keine Einbildungskraft, sondern wusste nur mit der Wirklichkeit der Dinge etwas anzufangen.

Einen Gegenstand beständigen Nachdenkens bildete für sie die Frage: weshalb in Eskowo die Kinder stets so schmutzig und zerlumpt einhergingen? Da die meisten Mütter hatten, so konnte Wera es nicht ausfindig machen und verfiel darüber in tiefe Traurigkeit. Gar zu gern hätte sie etwas getan – irgendetwas! Zum Beispiel gehungert oder sich schlagen lassen, wenn dadurch in Eskowo alle Kinder gewaschen und reinlich gekleidet worden wären. Sie machte mit Sascha aus: wenn sie beide erst »ganz« groß geworden, so wollten sie dafür sorgen, Russland nur sauber gewaschene und reinlich angezogene Kinder gäbe. Auch sollte dann niemand mehr die Knute bekommen, niemand mehr betrunken sein, oder in die Bergwerke geschickt werden, wo Saschas Vater unterdessen gestorben war.

Dass es auf der Welt – das heißt in Eskowo – Prügel und Trunkenheit gab, verursachte beiden viel Herzeleid. Vergebens versuchten sie zu begreifen, warum zweierlei Menschen da seien: Solche, die schlagen ließen, und solche, die geschlagen wurden. Gott und die Heiligen waren ihnen nebst der Gutsherrschaft, dem Verwalter und dem Popen ziemlich gleich unbekannte und schreckliche Persönlichkeiten. Da im Dorfe keiner so schmierig einherging, keiner so oft betrunken war wie der Pope, so setzten sie dasselbe von Gott und den Heiligen voraus, welche göttlichen Eigenschaften der kleinen Wera den größten Kummer bereiteten. Von dem Herrn, der Herrin und dem Verwalter dass diese – gerade wie Gott und die Heiligen – alles vermochten, und dass durch sie die Knute in die Welt gekommen. Freilich forderte Wera ihren Kameraden auf; wenn er erst »ganz« groß geworden, sich nicht von dem Verwalter schlagen zu lassen, wie die anderen das taten.

Häufig kam es vor, dass Wera zusah, wenn ihr Vater prügelte. Sie lief dann nicht fort, sondern wohnte der Prozedur bei, leichenblass, die kleinen Hände geballt, mit weit aufgerissenen, starren Augen. Bei jedem Schlage zuckte sie zusammen, als wäre sie getroffen worden. Mancher dieser Bewusstsein geschwunden, fand beim Erwachen aus seiner Betäubung neben sich die kleine Wera kauern.

Sie war vierzehn Jahre alt, als die Gutsherrin starb. Iwan Iwanowitsch und seine Tochter hatten bei dieser Dame so tief in Ungnade gestanden, Handkuss nicht vorgelassen wurden. Das änderte sich nun. Kaum war die Dame begraben, als nach Wera geschickt wurde. Eine Dienerin holte sie ab und brachte sie zu der Frau des Verwalters, die das Kind bis dahin niemals zu sehen bekommen hatte. Es war eine ältliche, fette, faule Dame, die sich altrussisch kleidete und den ganzen Tag über Eingemachtes aß, das sie meisterlich zu bereiten verstand. Sie bewohnte einen Divan mit eingesunkenen Polstern und zerrissenem Überzug, aber so behaglich aufgewärmt, dass sie sich nur dann von den Kissen erhob, wenn sie Honigfrüchte einkochen ließ. Diese bequeme, vortreffliche Seele überschüttete Wera mit Liebkosungen und Leckerbissen, ließ sie in ihrer Gegenwart auf das zierlichste ankleiden und führte sie dann in eigener Person zu Anna Pawlowna.

Die junge Herrin von Eskowo empfing die kleine Vasallin ziemlich gnädig. Sie trug ein Pariser Trauerkostüm, darin sie reizend aussah. Ihr ganzer Hofstaat umgab sie: Beau, das Bologneser Hündchen, Bella, die große Tigerkatze, Karo, der gelbschopfige Kakadu. Außer diesen Günstlingen, zu denen man noch die Zwergin rechnen konnte, befanden sich von menschlichen Zugehörigen in dem Gemache: Madame Henri, die Gouvernante, Herr Lehmann, der deutsche Tanzmeister, und Lisaweta, die alte Amme. Auf einer mit maisgelbem Atlas bezogenen Ottomane lag ein wunderschöner Knabe, der Vetter Anna Pawlownas, der kaum älter als Wera war. Boris Alexeiwitsch war ganz in schwarzen Samt gekleidet, hatte weiche, kastanienbraune Locken, dunkle, müde Augen, eine Gesichtsfarbe und Lippen wie ein Mädchen. Er unterhielt sich damit, über dem Kopf des Kakadu die Reitpeitsche sausen zu lassen, schien jedoch an dem Spiel kein besonderes Vergnügen zu finden.

Wera fand die Situation sehr tumultuarisch. Der Hund bellte, der Kakadu schrie, die Zwergin kreischte, die Gouvernante zankte mit der Amme (die eine sprach Französisch, die andere Russisch), Boris pfiff und der deutsche Tanzmeister machte einen falschen Pas, wobei er der Katze auf den Schwanz trat. Jetzt kam noch die Verwalterin dazu.

Anna Pawlowna ließ die fette Dame sprechen, wie sie den Vogel kreischen ließ, betrachtete gemächlich ihren Besuch von Kopf bis zu den Füßen, befahl alsdann Räucherwerk anzuzünden, den Samowar aufzustellen und Wera ihren Schmuck und ihre Kleider zu zeigen.

Plötzlich trat im Jagdanzug, Paul Gregorowitsch ein, er küsste seine Tochter auf die Stirn, nickte der Amme zu, reichte dem Kakadu ein Stück Biskuit, machte Miene, die Französin anzureden, sah über den Tanzmeister hinweg und fragte die Zwergin – es war Mittwoch – ob heute Samstag wäre?

Dann sah er Wera.

Auf diesen Augenblick hatte die Verwalterin nur gewartet. Unter Verbeugungen, die sie ächzen und stöhnen machten, trat sie vor und begann über die Tochter des Trunkenbolds eine biographische Skizze herzusagen. Aber Paul Gregorowitsch runzelte ungnädig die Stirn, was die Verwalterin so aus der Fassung brachte, dass sie mitten im Satz verstummte.

Bald darauf ging er.

»Welche Ähnlichkeit!« zischelte die Zwergin der Amme zu. Diese stieß einen tiefen Seufzer aus und verdrehte die Augen.

Wera wollte weder Tee trinken noch von den eingesottenen Früchten essen, trotzdem Anna Pawlowna selbst sie ihr reichte.

»Wie stolz das Täubchen ist,« zeterte die Zwergin.

»Wie frech!« rief Boris Alexeiwitsch, stand auf, schlenderte zu Wera hin, blieb dicht vor ihr stehen, fixierte sie eine Weile, hob dann die Reitpeitsche und schlug zu.

Über Weras weißes Gesicht zog sich ein blutroter Streifen. Die Zwergin lachte laut auf, die anderen sagten nichts, nur der deutsche Tanzmeister murmelte: »Pfui!«

Aber wie eine Megäre fuhr Anna Pawlowna auf ihren Vetter los, dann fiel sie Wera um den Hals und küsste sie auf die Wange, welche die Peitsche getroffen. Sogleich begann die Zwergin zu schluchzen.

Wera ertrug die Liebkosung, wie sie die Misshandlung ertragen; vollkommen regungslos. Dabei wandte sie keinen Blick von Boris. Dieser junge Held hatte sich unterdessen als zweites Opfer den armen Deutschen erwählt, von dem er sich, ohne überhaupt nur hinzusehen, bald diesen, bald jenen Tanzschritt vormachen ließ, dazu mit der Reitpeitsche Knalleffekte ausführend, welche die Französin bewundern musste. Wera war, nachdem sie sein momentanes Missfallen erregt hatte, für ihn gar nicht mehr vorhanden.

Endlich durfte die Verwalterin das Mädchen wieder mit sich hinausnehmen. Kaum befand sich die würdige Dame außer Hörweite, als sie auf Wera losfuhr und sie mit Vorwürfen überhäufte, wie man sich so dumm und grob benehmen könnte. Wäre sie so klug gewesen, sich respektvoll und gefügig zu zeigen, so hätte Anna Pawlowna sie gewiss in ihren besonderen Dienst genommen, wie die verstorbene Herrin das vormals mit ihrer Mutter getan. Wie gnädig von dem Herrn, ihr die hübschen Kleider zu schenken!

Aber Wera wollte sie nicht behalten. Mit zitternden Händen entledigte sie sich des fremden Putzes, schlüpfte in ihre alten Kleider, schlich fort, lief in den Birkenwald, warf sich auf den Boden, weinte und schluchzte. Als sie sich wieder aufrichtete, stand Sascha vor ihr mit so verstörten Mienen, so wildem Blick, dass Wera vor Schreck laut aufschrie.

Sascha hatte im Dorfe erfahren, dass Wera zur Herrin geholt worden und war ihr gefolgt. Durch das Gesinde hatte er alles, was im Salon geschehen, gehört.

»Lass uns beide nur erst groß geworden sein,« war alles, was er hervorbringen konnte und mit zitternder Stimme immer von neuem sagte.