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© 2020 Matthias Freytag
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7526-7530-6
Warum bin ich hier, was will ich hier? Noch ist alles zu verworren, als daß ich es beantworten könnte. Andere Fragen also. Denn eins weiß ich doch: Ich fuhr los, um Antworten zu finden. Ich fuhr los … Das ist schon eine. Auf die Frage etwa, wie ich hierherkam. Es geschah, indem ich meine Tasche packte, eine Fahrkarte kaufte, mich in den Zug setzte und losfuhr. Das sei eine ganz vordergründige Antwort und genau betrachtet nicht einmal das, möchte manch einer da einwenden. Er hätte recht. Doch mit der wahren Antwort auf diese Frage wüßte ich auch, warum ich fort bin, wohin ich auf dieser Reise will, was ich suche auf ihr. Fragen, die noch ohne Antwort sind.
Eine andere Frage muß her – die ich, wenn auch noch so vordergründig, beantworten kann. Jede Antwort gibt Halt, läßt Spuren erkennen. Also: Warum fuhr ich gerade hierher? Nicht das eigentliche Warum, sondern jenes, das sich auf den Mechanismus des Aufbruchs bezieht. Ich werde noch weiterfahren, zuerst aber kaufte ich eine Fahrkarte bis nach hier. Die ganze Zeit über, als ich daran dachte zu fahren, wollte ich zunächst an diesen Ort; warum? Weil ich bereits früher hier gewesen bin, weil ich hier ein Mädchen gekannt habe? Das war vor langer Zeit. Lang? Kaum drei Jahre ist es her. Und doch, als sei es in einem andren Leben gewesen. Vor drei Jahren zuletzt hier gewesen, und beinahe so lange haben wir zwei nichts mehr voneinander gehört. Und das meiste zwischen uns war sowieso nur in unseren Briefen passiert. Trotzdem bin ich in diese Stadt gefahren, weil ich in ihr einst jemanden gekannt habe. Wohnt sie überhaupt noch hier? Damals zog es sie fort. Aber das ist wieder eine Frage, auf die ich keine Antwort geben kann; und ich weiß auch nicht, ob ich mir darüber Gewißheit verschaffen werde, ob ich sie mir überhaupt verschaffen will.
Wegen ihr fuhr ich hierher. Nicht, um sie unbedingt wiederzusehen. Doch die Gedanken an sie erwecken ein Gefühl des Vertrautseins, hier in der Fremde. Vielleicht kommt das allein daher, weil schöne Erinnerungen dabei sind. Erinnerungen, zumal die glücklichen, erwecken immer Sehnsucht nach der entschwundenen Zeit und verklären die Orte und Tage, aus denen sie stammen (selbst wenn in Wirklichkeit nicht alles so war). Dort, von wo ich wegfuhr, gab es keine Erinnerung, da war alles Tag um Tag gegenwärtig um mich und war mir bloß noch fremd, wie nirgendwo sonst mir etwas fremder sein konnte.
Ich merke, daß selbst die vordergründigen, einfachen Antworten, die lediglich Tatsachen betreffen, mir ins Uferlose zerfließen wollen. Möglicherweise bin ich einfach zu müde. Ich werde ins Bett gehen. In was für ein Bett? Es ist nicht mehr meines. Doch war es das daheim? Daheim, war ich das denn noch?
* * *
Es ist noch früh am Morgen, trotzdem fühle ich mich ausgeschlafen und frisch. Es war eine gute Nacht, ich schlief leicht ein, hatte einen tiefen ruhigen Schlaf. Ich träumte wohl auch, aber weiß ich davon nichts mehr. Keine Alpträume schreckten mich auf, keine mich überrollenden Züge, keine mich verschlingenden Landschaften, in denen sich die Berge in Zähne und der Himmel sich in den finsteren Schlund eines riesigen aufgerissnen Rachens von einem Ungeheuer verwandelten. Ich hatte gefürchtet, solche Dinge zu träumen, war mir doch am Abend, als ich allein in dem Zimmer saß, im Wachen noch das Fahren des Zuges durch den Kopf gerauscht und die vorbeifliegende Landschaft – ein Sausen in ungewisse, bodenlose Tage.
Durch das kleine Fenster der Dachgaube sehe ich zwischen Dachwinkeln und Gestängen von Schornsteinen die Berge. Die Felsgipfel beginnen sich von der Sonne rot zu färben, der Himmel ist von einer gläsernen klaren Farbe, ohne jedes Wölkchen.
Bilder von der Fahrt. Als ich abfuhr, regnete es, kalter, eisiger Regen. Bis zum Gebirge blieben die Wolken, dann verschwanden sie alle. Durch das nah am Fenster vorüberhuschende, noch kahle Gezweige von Bäumen und Büschen sah ich jenseits des breiten, ganz ebenen Tales die Berge, noch weit hinunter mit Schnee bedeckt. Fast schmerzhaft weiß standen sie gegen den tiefblauen Himmel. Als der Zug nach Innsbruck einfuhr, lagen neben den Gleisen einmal Schrebergärten. Es blühte noch kaum eine Blume in ihnen, die Bäume auch hier noch völlig kahl, aber da und dort sah man Leute im Unterhemd oder im Bikini gar in der Sonne sitzen, indes sich darüber mächtige, blendende Schneewände erhoben. Zwitterzeit. April ist es ja, der sprichwörtliche April hat begonnen, der nicht weiß, was er will. Und seltsam war es, am Fenster zu sitzen und zu sehen, wie die Landschaft durch das Abteil und durch mich selbst hinflog. Da schien es mir oft, als führe ich überhaupt nicht, sondern bliebe immer auf demselben Fleck, und einzig außen die Bilder vertauschten, veränderten sich in einem fort. So war mir auch die ganze Zeit im Zug nie richtig bewußt, daß ich mich in fremden Gegenden befand; der Bahnhof, die Stadt, woher ich kam, waren seit der Abfahrt mit im Zug geblieben. Erst als ich dann ausstieg, war ich wirklich woanders, mit dem ersten Atemzug in der Luft der anderen Stadt, des anderen Lands riß es mich wie in einem Sog von zu Hause los und hierher.
Ich sage immer noch: zu Hause. Dabei waren es nichts mehr als äußere Gewohnheiten gewesen, die den Schein eines Zuhauses aufrechterhalten hatten, ein Restlicht, von Spiegeln gewohnheitsmäßiger Handlungen und Bilder unwirklich um mich herum verstärkt. Innere Empfindungen aber waren dafür längst in eine dunkle Leere gefallen.
Eine Zeitlang hatte ich einen Mitreisenden im Abteil. Doch eigentlich reiste er nie mit mir. Er war ein Mann wohl in den Vierzigern, ein sportlicher Typ, der in den Skiurlaub fuhr. Seine Frau, die auch berufstätig war, befand sich bereits vor Ort, und er fuhr ihr jetzt nach. Auf ein paar Tage hatte er sich von der Arbeit freimachen können, um endlich seine Wintersportgelüste einmal uneingeschränkt auszutoben. Er suchte den Winter, wollte ihn jetzt, da er zu Ende geht, noch möglichst lange festhalten. Ich fuhr dem Winter davon und werde ihm noch lange davonfahren.
Die Gedanken wollen sich wieder in Nebeln des Trübsinns verlieren. Ich werde frühstücken gehen.
* * *
An einen Freund:
Gestern bin ich hier angekommen. Du wirst Dich wahrscheinlich wundern, nach längerer Zeit wieder etwas von mir zu hören. Und wundern wird Dich vielleicht auch, woher der Brief kommt. Aber daß ich mich wieder bei Dir melde, hängt damit zusammen, daß ich an diesem Ort bin. Was ich zu Hause zurückließ, ist hier sehr fern, und gerade deshalb kann ich es wieder nah fühlen, wenigstens näher als zuvor, als es noch um mich herum war. Hier ist mir alles fremd, hier kenne ich niemanden, darum vermag ich wieder ein Vertrautsein mit den Dingen und Menschen zu fühlen, die ich verließ, weil sie mir fern und wie Fremde geworden waren.
In mir zieht tatsächlich eine Sehnsucht nach zu Hause, sie flüstert mir zu zurückzufahren. Doch es ist nichts als das Vertrautsein mit der äußeren Mechanik der Tagesläufe, die mir hier, wo noch alles unbekannt und ungewiß ist, als eine Heimat erscheinen will. Kehrte ich zurück, würde ich genauso in die Fremde fahren. Und dort, wo man eigentlich zu Hause sein sollte, sich in der Fremde zu fühlen, ist schlimmer, als in unbekannten Gegenden ein Fremder zu sein.
Verstehst Du das? Nein? Ich verstehe es auch nicht, es sind ja auch keine Erklärungen, es sind nur Versuche, die Antwort darauf zu finden, warum ich fortfahren mußte. All das Wortgestammel ist wie der Lärm bei einer Treibjagd, und vielleicht scheucht es einmal die Antwort auf, so daß ich sie erkennen und packen kann. – Ich sitze in einem Café bei meinem zweiten Espresso. Neben mir sitzt eine etwas lärmige Gruppe von ragazzi. Am anderen Tisch neben mir sitzen zwei ältere Männer, die wenig miteinander reden. Ihr Schweigen indessen wirkt nicht, als hätten sie sich nichts zu sagen, denn sie schweigen nicht aneinander vorbei, sondern miteinander in einem tiefen Wesenseinverständnis. Im übrigen sprechen sie deutsch. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum ich zunächst in diese Stadt fuhr: dieser Zwitterzustand der Zweisprachigkeit. Er drückt mein eigenes Schwanken aus, man ist hier nicht mehr in dem einen und noch nicht im andern Bereich; wie auch ich nicht mehr bin, woher ich kam, aber auch noch nicht weg bin; wie ich aufgebrochen, aber noch nirgends angekommen bin. Die Zweisprachigkeit erleichtert außerdem, auf rein praktischer Ebene, das Umgewöhnen in die andere Sprache. Ich hatte sie ja einmal einigermaßen gelernt. Inzwischen jedoch habe ich manches wieder vergessen und bin aus der Übung gekommen, sie zu sprechen und zu verstehen.
Als ich zu Mittag aß, saß einen Tisch weiter eine Familie, die sich fließend in drei Sprachen unterhielt. Mitten im Satz wechselten die vier von Deutsch zu Französisch, zu Englisch, zu Deutsch usw., ohne daß ein einziger ein bißchen ins Stocken geraten wäre. So müßte man sich von allen falschen Beschränkungen lösen können: von denen, die uns von außen umgelegt werden, und von unsren eigenen, welche die schlimmeren sind. Denn aus ihnen entstehen viele der äußeren, die die Welt vermauern.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch bleibe. Wenn ich sage, daß mir hier alles fremd ist und ich niemanden kenne, stimmt es nicht ganz. Ich glaube, Du weißt, daß ich hier einmal mit einem Mädchen bekannt war, wenngleich hauptsächlich per Brief. Aber es ist ja seit Jahren auch schon aus, und bis jetzt habe ich nicht nachgesehen, ob sie an der alten Adresse noch wohnt. Den Vormittag über und zum Teil auch am Nachmittag bin ich durch die Stadt gelaufen, und ich kam zweimal ganz in ihre Nähe, das heißt, ich war bereits in ihrer Straße. Aber ich kehrte wieder um. In der Erinnerung kenne ich sie noch – würde ich sie noch kennen, wenn wir uns wieder gegenüberstünden? Im Moment habe ich an ihr etwas, das mir in dieser Stadt trotz allem ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Doch wenn ich sehen müßte, wie wir uns, außer in der Zeit, auch im Herzen fremd geworden wären … Und das sind wir ja geworden. Wie sonst wäre dieses Schweigen zwischen uns getreten. Vielleicht war davor das wortreiche, gegenseitige Sichversichern der Nähe, das bis auf zweimal von ferne geschah, von Anfang an die andere Seite des tödlichen Schweigens gewesen, die uns allein durch ihre glitzernde Fassade getäuscht hatte.
In der Erinnerung ist die Nähe, die zwischen uns einmal bestanden hat, wie immer sie auch beschaffen sein mochte, wahr. Gingen diese Erinnerungen zugrunde, was bliebe noch übrig? Und die Stadt, sie wäre mir dann wirklich, wäre mir mehr als fremd.
Ich werde essen gehen und danach noch ein wenig durch die Straßen wandern. Mag sein, ich finde etwas. Und wenn es nichts weiter als die Müdigkeit durch das Laufen ist.
* * *
Heute bin ich in Venedig angekommen. In Bozen blieb ich nur einen Tag, oder zwei Nächte. Denn es war die zweite Nacht, die mich so schnell zur Abreise trieb. War die erste Nacht, nach der Ankunft, wider Erwarten gut gewesen und vor allem kurz, weil ich ruhig hatte durchschlafen können, so war die folgende voller Unruhe und endlos lang. Dabei hatte der Abend erfreulich begonnen.
Am Nachmittag war ich ziellos durch die Stadt gegangen, und ich war auch wieder in die Straße gekommen, in der sie wohnte. Aber wieder auch, wie schon am Morgen, ging ich nicht bis zu ihrer Wohnung, sondern drehte kurz vorher um. Und jetzt beschloß ich endgültig, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Was hätte ich dort auch finden wollen? Eine Verabredung auf den Abend?, mit gutem Essen, Tanz, Mondschein, Kuß und Verliebtsein? Dann ein Nachtlager bei ihr? Liebende Aufnahme in ihren Armen und in ihrem Herzen? Und dann ein Bleiben hier, mit ihr zusammen? Lebensidyll? – Nichts von alledem. Schon weil hier nicht der Ort ist, an dem ich bleiben möchte. Er ist noch zu nahe dem, woher ich kam. (Da schreibe ich – jetzt in Venedig – »hier«, wo es »dort« heißen müßte: sagt dieses falsche Wort nicht alles? Hier ist es mir zu nahe; wird es mir das nicht überall sein, werde ich nicht überall immer weiter wollen und nie wissen, wohin?) Ich merkte auch, daß sie zu sehr allein noch Erinnerung war und ich es mir im Gegenteil gar nicht mehr richtig vorstellen konnte, ihr leibhaftig gegenüberzutreten. Diese Vorstellung erschien mir unwirklicher als die – zweifellos in der Phantasie veränderten – Erinnerungen an sie.
Ich ging zurück zur Altstadt. Mein Schritt, wenn er auch noch immer schwer und steif blieb, war mit einem Male ruhiger geworden. Und nun erst wurde mir bewußt, wie mild hier die Luft schon war, wie die Sonne schon wärmte. Ich begann in meinem Mantel, in den noch das Winterfutter eingeknöpft war, zu schwitzen, ich machte ihn auf. (Was hatte mich ihn, als ich losgegangen, überhaupt schließen lassen?) Während dieses Geschäftes kamen zwei Mädchen die Straße entlang. Eine von ihnen trug tatsächlich einen Minirock, wenngleich mit langen, roten Strümpfen darunter. Als die beiden an mir vorübergingen, rief sie mir zu: »Ti fa caldo, eh? Anche a me.« Und lachend entfernte sie sich mit ihrer Freundin. – Ich konnte mir vorstellen, wie es ausgesehen haben mußte, als ich dastand und etwas hastig und deshalb um so umständlicher den Mantel öffnete, gerade als sie sich näherten. Das mußte zu einer kleinen Spötterei wie dieser reizen. Aber jetzt war mir wohler, ein leichter Wind wehte zuweilen auf und blies angenehm kühlend unter den Mantel.
Viele Mädchen trugen kurze Röcke, meist mit farbigen Strümpfen, roten, grünen, hellgrauen, blauen – hell und dunkel – und sogar leuchtend gelben. Hübsch waren sie anzusehen, mit ihren bunten, tanzenden Beinen. Ich kehrte nicht in das Hotel zurück, sondern verbrachte den Nachmittag vollends draußen, saß eine Weile an der Uferpromenade des Flusses auf einer Bank und schaute den vorüberbummelnden Menschen zu: Familien, Freundes- und Freundinnenpaare oder ganze Gruppen, Liebespaare; kaum einer, der allein ging. Später ließ ich mich auf der anderen Seite des Flusses im Grase nieder, wie es viele getan hatten, und schaute dem Treiben nun auf der Uferwiese zu: wie hier einer einfach dalag und sich sonnte, dort drei, vier zusammen Ball oder mit der Frisbee-Scheibe spielten, wie da eine fröhliche Runde im Grase lagerte und sich lachend unterhielt und wie an anderer Stelle zwei ganz in ihre Küsse versunken waren. Schaute dem allen zu wie von ferne, ohne die Ferne als ein Ausgeschlossensein zu empfinden. Ich nahm alles um mich herum wahr, ohne mich selber wahrzunehmen. Und weil ich mich vergessen hatte, sah ich alles ungerührt und seltsamerweise doch nicht gleichgültig, vielmehr zugleich mit einem stillen Vergnügen, wie man manchen Tieren im Zoo zuschauen kann, wenn sie ihre Possen treiben.
Irgendwann nickte ich ein. Als ich wieder zu mir kam, stand die Sonne bedeutend tiefer und machte lange Schatten. Ich stand auf und tauchte wieder in die Gassen und Häuserwinkel ein, die bereits dämmrig wurden. Ich hatte Hunger, da es aber noch nicht Essenszeit war, setzte ich mich einstweilen in ein Café. Allerdings gefiel es mir dort nicht besonders, ringsum war der Raum verspiegelt, alle Leute sah man doppelt und dreifach, und man wußte manchmal nicht mehr, was Urbild, was Spiegelbild war. Und überall erblickte man sich selber. Hatte ich mich draußen auf der Wiese für eine Zeit vergessen gehabt, so wurde ich jetzt beinahe jeden Augenblick an mich erinnert, wie ich in dem Café hockte, auf die Zeit zum Essen wartend, und wie ich sonst nichts und niemanden hatte, darauf zu warten. Meine Possen: sie sehen zu müssen, war schwer. Nach sieben Uhr machte ich mich endlich auf den Weg, suchte mir, nach den Chrom- und Spiegelblitzen, eine etwas schummerige Pizzeria und trat ein.
Es waren erst ein paar Gäste da. Ich setzte mich hinten im Raum an einen Tisch, gegenüber einem Holzgitter, das mit Grünpflanzen berankt war und hier einen vom übrigen, größeren Teil etwas separaten Bereich schuf. Der vordere Teil des Gastraums, der im ganzen verhältnismäßig schmal war, dafür aber tief, war mir zu sehr der Eingangstür ausgesetzt gewesen – und wenn ich ehrlich bin, muß ich im Grunde sagen: ich hätte mich ihr zu sehr ausgesetzt gefühlt. Denn trat man ein, sah man bis zum Spalier, sah zu jedem Tisch und jedem Stuhl hin. Und ich hätte all die Paare sehen müssen, die sicher bald kommen würden, hätte sie lächelnd eintreten sehen müssen, voller Freude auf das gemeinsame Essen. Und selbst wenn ich ihnen den Rücken zugekehrt hätte: sie, sich umschauend nach einem Platz, hätten dabei mich erblickt, allein und klein an einem viel zu großen Tisch, und wären lächelnd über mich hinweggegangen … – Seit dem Aufenthalt in dem Café befand ich mich wieder in einer gereizten Stimmung, die immer auf der Kippe schwankte, in Betrübnis umzuschlagen. Hinter dem Pflanzenschutz aber fühlte ich mich einigermaßen geborgen, die Blicke von der Türe reichten, wenigstens für Einzelheiten, nicht bis dorthin, und der Bereich war kleiner, besaß auf diese Weise eine heimlichere Atmosphäre.
Es gab hier nur wenige Tische. Unmittelbar links neben meinem stand nur noch einer, nach ihm kam bereits die Wand. Dieser kleinen Reihe vis-à-vis, direkt vor dem Gitter, ebenfalls zwei Tische, und rechts von mir, an der anderen Seitenwand, standen zwei weitre hintereinander, auf Linie mit den beiden Reihen, aber durch einen schmalen Laufgang von ihnen getrennt und schon nicht mehr von der Pflanzenwand verdeckt. Jenseits des Gitters waren es mindestens fünf Tischreihen nach vorn, auch machte der Raum links der Türe einen Knick – er hatte die Form eines L – und dort befanden sich noch ein paar Plätze, vom Eingang ebenso einsehbar.
Also hatte ich mich in den letzten Winkel verkrochen. Immerhin saß ich nicht an dem Tisch ganz an der Seite, an der Wand. Und saß ich auch in der hintersten Reihe, so doch mit dem Gesicht zum Spalier hin. Doch das eigentlich bloß, weil ich es ja ebenso unerträglich, wie die Blicke der frisch Eingetretenen, empfunden hätte, wenn mir diejenigen, die hereinkamen, im Rücken gewesen wären. Kurz gesagt, am besten wäre ich ins Hotel auf mein Zimmer zurückgekehrt. Ich würde es auch getan haben, hätte ich das Zimmer irgendwie als meines fühlen können.
Der Kellner brachte die Karte. Und einzig, um mich zu beschäftigen, tat ich so, als studierte ich sie gründlich. Während ich mich noch zwanghaft in die Gerichte vertiefte, kam jemand nach hinten (bisher war hier außer mir niemand gewesen) und setzte sich an einen der beiden Tische rechts neben mir, jenseits des Laufgangs. Ich schaute nicht hoch. Der Kellner brachte auch dort die Karte, dann trat er wieder zu mir. Ich bestellte einen Salat, irgendeine Pizza und ein Viertel Lambrusco. Als er ging, trieb es mich doch, zu dem neuen Gast hinüberzublicken. Eine junge Frau war es, sie saß schräg vor mir, an dem Tisch, der die Reihe mir gegenüber fortsetzte, mit dem Gesicht in meine Richtung. Und dann erkannte ich in ihr das Mädchen, das mir am Nachmittag mit ihrer Freundin auf der Straße begegnet war. Sie schaute nicht zu mir her, worüber ich in dem Moment sehr erleichtert war. Denn ich spürte, wie mir plötzlich das Blut zu Kopfe schoß. Schnell senkte ich den Blick und hoffte, daß die Blutwelle rasch wieder abebbte. Der Kopf wurde schließlich auch kühler, aber jetzt war es mir, als müsse das Mädchen herschauen. Ich empfand es fast wie einen Druck, und ich vermochte gegen ihn nicht die Augen zu heben, um mich zu vergewissern. Glücklicherweise kam rechtzeitig der Kellner, brachte Salat und Wein und löste durch sein Erscheinen die Spannung, oder besser: Verkrampfung. Er schenke ein, ging, und indem ich zum Glas griff, mehr um mich daran zu halten, als zu trinken, blickte ich jetzt zu dem Mädchen hin. Sie schaute tatsächlich zu mir, und als unsere Blicke ineinandertrafen, lächelte sie. Auch um meinen Mund begann so etwas wie ein Lächeln zu zucken, doch schon schaute sie wieder weg. Mein Blick blieb noch ein wenig länger an ihr hängen, und mir war, als spickte sie kurz aus den Augenwinkeln noch einmal her. Bei der fast dämmrigen Beleuchtung war das nicht sicher zu entscheiden. Meine Augen glitten ab, glitten nach unten und tauchten in das dunkle funkelnde Rot des Weins. So blieb ich, wie mir schien, eine ganze Weile reglos sitzen; endlich ergriff ich das Glas und trank einen Schluck, einen ziemlich großen. Da kehrte der Kellner zurück und brachte ihr ebenfalls einen Wein. Ich stellte mein Glas auf den Tisch, schaute hinüber. Der Kellner schenkte ein, sie sah ihm zu. Er ging, sie umschloß ihr Glas mit beiden Händen, sah, wie ich meinte, unschlüssig darauf, nur kurz, dann richtete sie ihre Augen auf mich. Wir sahen uns an, beinahe ernst. Endlos dehnte sich die Zeit; bis ich zuletzt allen Mut zusammennahm und mein Glas hob und mit einem versuchten Lächeln ihr zugrüßte. Und sie grüßte zurück. Wir nahmen beide einen Schluck. Wie wir die Gläser zurückstellten, folgte mein Blick meinem Glas, blieb aufs neue am Rot des Weins, an den Lichtreflexen hängen und sah dennoch das alles nicht. Ich versuchte mir, ihr Bild vorzustellen. Es gelang mir nicht, obwohl ich sie gerade gesehen hatte. Sah nur schwarzes lockiges, schulterlanges Haar und zwei Augen, und auch sie ungenau als ein Gemisch von hellen glitzernden Lichtern und grundloser Dunkelheit – eine Dunkelheit, die nicht beklemmte, sondern eine, die lockte, als sei sie in Wahrheit hellstes sonniges Licht.
Mit halbgesenktem Kopf schaute ich wieder zu ihr hinüber. Sie saß da, die Augen auf das Glas gerichtet, das sie langsam zwischen den Fingern drehte, mit halb mißmutigem Gesichtsausdruck. Er verwirrte mich, doch nun hob sie die Augen, sah mich an, und ihre Züge begannen sich zu klären. Trotzdem blieb in dem Lächeln eine Anspannung zurück.
In diesem Moment trat jemand an ihren Tisch, ich hörte einen Gruß: »Ciao …« – Sie schreckte beinahe auf und blickte zu dem Störer hoch. Auch ich richtete mich im Stuhl auf und sah einen jungen Mann bei ihr stehen: ölige, in einer Tolle nach hinten gekämmte Haare, türkisfarbenes weites Hemd, mittelgraue Baumwollhosen, eine dunkelbraune Lederjacke über die Schulter geworfen, das Gesicht ein freches blasiertes Grinsen, Kaugummi im Mund. In dieser Form ist mir sein Bild viel zu genau im Gedächtnis geblieben, während mir das des Mädchens, sosehr ich mich auch bemühe, immer verschwommen bleibt.
»Scusa che mi sono tardato. Ma dovevo …« – »Bah, lascia!« fiel sie ihm ins Wort. »Du bist immer zu spät. Daran bin ich gewöhnt. Aber es machte mir nichts aus, dieses Mal.« – Bei dem letzten Satz blickte sie zu mir herüber, und ihr Freund stutzte zunächst. Dann schaute er auch zu mir, er allerdings mit finsterer Miene, faßte das Mädchen am Arm, sagte barsch: »Andiamo«, und zog sie hoch und fort, daß sie kaum Zeit hatte, ihre Tasche und Jacke mitzunehmen. Aber sie sträubte sich auch nicht gegen den Griff ihres Freundes. Nur, gerade bevor sie um das Pflanzengitter entschwand, schaute sie noch einmal zurück, resigniert mit den Schultern zuckend. Dann war sie weg. Gleich darauf kam der Kellner mit meiner Pizza. Als er servierte, sagte ich, daß ich sofort zahlen wolle. Er antwortete nur lakonisch: »Bitte«, zückte gleichmütig den Block und rechnete ab. Er ging, ich wartete ein paar Sekunden, packte endlich meinen Mantel und verließ hastig das Lokal, ohne von Pizza und Salat den kleinsten Bissen gegessen und ohne von dem Wein mehr als die zwei Schlucke getrunken zu haben.
Der Rest ist schneller aufgeschrieben. In irgendeiner andern Wirtschaft, keiner Pizzeria, keinem Café, schüttete ich eine Halbe in mich hinein, weil ich hoffte, darauf gut schlafen zu können. Doch es stellte sich als Irrtum heraus. Ins Hotel zurückgekehrt, in die Kammer unterm Dach, die nur über eine schmale Eisenwendeltreppe zu erreichen und überhaupt das letzte freie Zimmer gewesen war – ins Hotel zurückgekehrt, legte ich mich sofort zu Bett. Zuerst schien auch alles gut zu werden, meine Glieder, mein Kopf waren schwer und müde. Aber dann im Liegen, das die Schwere in sich aufgesogen hatte, stiegen nach und nach Bilder in mir auf, vor allem von der Zugfahrt, die sich in eine hastige, halsbrecherische Flucht verwandelte und hart an schwindelnden Abgründen vorbei zackige Berge hochjagte, um auf der anderen Seite an endlosen Wänden wieder hinunterzustürzen; und Bilder von dem Café, das ein riesiger Spiegelsaal geworden war, in dem die glitzernden Lichtreflexe grell und weiß wie Blitze auf mich zuschossen und mich trafen, mich brannten, daß ich aufsprang und durch den Saal rannte, doch nirgends war ein Ausgang, überall versperrten Spiegel den Weg, und wo ich hinrannte, rannten mir immer tausend Gestalten entgegen, lawinengleich, und alle waren ich. Die Bilder von Zugfahrt und Café wechselten immer schneller einander ab, hin und her riß mich der Traum, ein krampfhaftes, konvulsivisches Zucken, und schließlich schossen sie ineinander, fuhr der Zug klirrend und krachend in den Spiegelsaal, Glassplitter zischten durch die Luft, und hinter den Scherben und Trümmern, die auseinanderflogen, dehnte sich undurchdringliche Schwärze – ich fuhr aus dem Schlaf auf. Verstört blickte ich um mich, erinnerte mich, wo ich war, tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Nach einiger Zeit, da ich reglos in den Raum gestarrt hatte, legte ich mich wieder hin. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken, denn ich hatte Furcht vor ähnlichen Träumen wie den soeben, schon begannen sich aus wolkigem Brodeln Gestalten zu formen. Ich versuchte, sie zu verscheuchen, warf mich von einer Seite auf die andre, aber sie kamen immer neu. Ich machte Licht und setzte mich auf den Bettrand. Hockte dort eine Weile, ohne zu denken und ohne von Alptraumbildern überfallen zu werden, elendig müde, doch jeder Einflüsterung des Schlafes mich widersetzend. Er lockte und zog, wollte mich mit weichen Armen umschlingen – ich sprang hoch, zum Waschbecken hinüber, in einer plötzlichen Sehnsucht nach Kühle und Frische. Als ich den Hahn aufdrehte, hob ich den Kopf und blickte in den Spiegel über dem Becken. Dort sah ich ein bleiches Gesicht, mit etwas grämlich, weinerlich herabhängenden Mundwinkeln und aufgerissenen angstvollen Augen. Das bin ja ich, fiel es mir ein. Da verschwamm das Gesicht, löste sich in einen Nebel auf, und aus diesem bildete sich ein anderes, das indes nicht ganz deutlich wurde: es war das Gesicht des Mädchens, ihre schwarzen Locken, die die leuchtende, wirklich leuchtende Haut einrahmten, die schwarzen großen Augen – wie schön, in diese Schwärze einzutauchen –, ein lächelnder Mund. Ich starrte angestrengt auf die Erscheinung, wollte die Züge klarer sehen. Es gelang nicht. Und schon begann auch das Bild sich zu verlieren, zu verflimmern. In das Gesicht des Mädchens floß etwas anderes hinein, formte sich, verfestigte sich, wurde ein zähnebleckendes, höhnisches Grinsen; und ich erkannte, daß es das Grinsen des Freundes war.
Fast hätte ich den Spiegel zerschlagen. Ich wandte mich mit einem gewaltsamen Ruck ab, ließ Wasser, kühl und frisch, in die hohlen Hände laufen und stürzte mein Gesicht hinein, einige Male. Danach setzte ich mich auf den harten Stuhl, dem einzigen Sitzmöbel außer dem Bett, und schaute vor mich hin, wollte an nichts mehr denken, wollte nichts tun, wollte nicht wachen, nicht schlafen, wollte nur, daß die Zeit verginge, daß sie vorüber wäre. Bis wohin vorüber?
* * *
Die Zeit vorüber? Ich hinke ihr hinterher. Jetzt ist bereits mein zweiter Tag in Venedig, und ich schreibe noch immer von jener Stadt. Warum denn? Warum schreibe ich das alles überhaupt auf? Ich habe es ja erlebt, warum dann noch schreiben? Ich weiß doch, was war. Weiß ich es wirklich? Und wenn – weiß ich, warum es war? Weiß es nicht, nicht warum und nicht einmal, was. Darum schreibe ich auf, was geschieht, was geschah, um eine Spur zu entdecken, die ich im flüchtig schwindenden Erleben vielleicht übersehen habe; eine Spur, die mich irgendwo hinführt, wo ich erkenne, was das alles ist, was mir passiert, und warum es so ist. Darum schreibe ich der Zeit hinterher, um sie nicht zu verlieren, damit sie mich nicht einfach besinnungslos mit sich fortreißt. Darum schreibe ich hier in Venedig von dort, darum schrieb ich vergangene Nacht und schlief am Tisch ein. Ich schrieb in der Nacht auch von jener Alptraumnacht dort, um gegen eine weitere anzuschreiben. Es gelang, die Ermattung war schließlich größer als die Macht der Phantome solcher Träume. Aber vor allem schrieb ich, weil ich die Zeit nicht aus dem Sinn verlieren darf und nicht die Wegzeichen, zu denen sie mich führt. Und deshalb schreibe ich jetzt hier in einem Café unter den Kolonnaden des Markusplatzes, ohne ihn zu beachten, weiter von zurückliegenden Stunden.
Irgendwann war ich auf dem Stuhl eingeschlafen, zu müde, um noch durch irgend etwas gestört zu werden. Als ich erwachte, war es längst schon hell, und außer daß ich steife Glieder hatte, fühlte ich mich ausgeruht, beinahe leicht sogar. Länger zu bleiben jedoch, lockte mich nichts mehr. Ich beschloß abzureisen, zog mich an und packte die Tasche, aber noch ganz ohne Gedanken daran, wohin ich fahren sollte. Das geschah erst, als ich auf dem Bahnhof stand. Ich studierte den Fahrplan und entschied mich für Verona. Bis zur Abfahrt allerdings blieben noch gute zwei Stunden. Einen andern Zug mochte ich, unerklärlicherweise, in keinem Falle nehmen, also setzte ich mich in einer kleinen Grünanlage, gleich vor dem Bahnhof, auf eine Bank in die Sonne. Doch heute war kein ruhiges Sitzen. Die Bank wurde mir zu hart, die Zeit zu lang, ich faßte meine Tasche, hängte mir den Tragriemen über die Schulter und marschierte – von einem unwiderstehlichen Drang gepackt, aus der Stadt fortzukommen – los, die Hauptstraße entlang in Richtung Verona.