Lucas und der Zauberschatten
Schattengreifer – Die Zeitensegler
Schattengreifer – Der Zeitenherrscher
Schattengreifer – Die Zeitenfestung
Stefan Gemmel, geboren 1970 in Morbach, schreibt erfolgreich Kinder- und Jugendbücher und leitet auch Literaturprojekte und Schreibwerkstätten für Kinder. Für seine ungewöhnlichen Lesungen, Lesenächte und Workshops, die er in Schulen und Büchereien durchführt, erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Er ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und lebt in der Nähe von Koblenz.
Timo Grubing lebt und arbeitet als freier Illustrator im Herzen des Ruhrgebiets, in Bochum. Dort ist er vor allem in den Bereichen Kinder- und Jugendbuch, Schulbuch, Familienspiele und Comics tätig. Daneben arbeitet er regelmäßig für verschiedene Agenturen und Magazine. Wenn ihn nicht gerade ein Knubbelgeist von der Arbeit abhält, dann übernimmt diese Aufgabe – meist erfolgreich – eine seiner beiden Katzen.
Mit Illustrationen
von Timo Grubing
BAUMHAUS
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
BAUMHAUS Verlag in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung einer Illustration von Timo Grubing
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0202-7
www.luebbe.de/baumhaus
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»Och nö!«
Wer hatte eigentlich dieses Aufstehen am frühen Morgen erfunden?
Der Wecker flog in hohem Bogen durch das Zimmer. Im gleichen Moment schnappte sich Lucas den Zipfel seiner Bettdecke, um sie sich über den Kopf zu ziehen, so, wie er es immer tat. Doch dann hielt er mitten in seiner Bewegung inne. Er musste heute nicht tun, was er früher an anderen Tagen getan hätte. Denn heute war kein Tag wie jeder andere.
Alles war anders. Genau genommen seit dem Moment, an dem Lucas Nathanael begegnet war.
Lucas riss die Bettdecke von sich, setzte sich auf, rieb sich die Augen und lächelte. All das war tatsächlich kein Traum: Erst vor Kurzem war er dem alten Mann begegnet, doch Lucas kam es beinahe so vor, als habe es eine Zeit ohne Nathanael nie gegeben. Lucas dachte an Klein-Avalon, wie Nathanael die zerfallene Fabrik nannte, die ihn an seine Zeit am Hofe des großen Artus’ erinnerte. Damals, als Nathanael noch in dem echten Avalon auf der Burg Camelot gelebt hatte, als Schüler Merlins und als Bewunderer König Artus’.
Seit diesem Abenteuer befürchtete Lucas jeden Morgen, aus einem wunderbaren Traum zu erwachen. Um dann festzustellen, dass alles gar nicht real war. Dass all diese wunderbaren, magischen, spannenden, verrückten Situationen nur in seiner Fantasie passiert waren und er Nathanael tatsächlich nie begegnet war. Nicht ihm und nicht seinen Freunden Li-Feng, Ole, Kracks und Knick. Lucas hätte nicht Nathanaels Zauberschatten kennengelernt, mit dem er nach Camelot gereist war. Und dann war da natürlich auch Shalamar gewesen, mit seinem gemeinen Plan, die Welt ins Chaos zu stürzen. Shalamar, der …
Lucas zuckte zusammen. Ein Geräusch hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. Ein kratzendes, klopfendes, scharrendes Geräusch an seinem Zimmerfenster.
Lucas’ Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen. Er wagte es kaum, aufzustehen und nachzusehen. Immerhin hatte er vor einigen Tagen Shalamars Pläne durchkreuzt. Er war wie Nathanael ein Lehrling Merlins gewesen, der jedoch nur Böses im Schilde führte.
Hatten diese Geräusche etwas mit Shalamar zu tun? War er gekommen, um sich zu rächen?
Wie in Zeitlupe stand Lucas auf, ging auf das Fenster zu und griff nach dem Vorhang. Ungläubig blickte er auf das, was ihm von draußen, auf der Fensterbank, entgegenblickte.
»Wer bist denn du?« Lucas war erleichtert.
»Krah!«, klang es ihm entgegen. »Krah-krah!« Eine Elster lief vor der Scheibe aufgeregt hin und her.
Lucas öffnete das Fenster. »Wo kommst du denn her?«
In diesem Moment blieb die Elster stehen und hob eines ihrer Beine an, sodass Lucas den aufgerollten weißen Zettel an ihrem Fuß entdecken konnte.
»Was …«, entfuhr es Lucas. »Ich kenne Brieftauben, aber Brief-Elstern sind mir neu! Wobei ich mich an Überraschungen gewöhnt habe.«
Vorsichtig griff Lucas nach dem Gummi, mit dem der Zettel an dem Fuß des Vogels befestigt war.
Dabei war er wohl etwas unbeholfen, denn die Elster zog das Bein zurück und krähte erneut. »Tut mir leid«, murmelte Lucas. »Ich mache das zum ersten Mal.«
Schließlich hatte er es geschafft: Er hielt den zusammengerollten Zettel zwischen seinen Fingern.
Die Elster zuckte zweimal erleichtert mit dem Kopf, bevor sie sich vom Fensterbrett abstieß und davonflog.
Verwundert blickte Lucas ihr nach, bevor er vorsichtig den kleinen weißen Zettel entrollte. »Was für ein seltsamer Morgen …«
Lucas drehte und wendete den Zettel einige Male. Darauf standen nur eine Menge merkwürdiger Symbole, die er nicht kannte:
Lucas starrte auf den Zettel in seiner Hand.
»Und was soll ich jetzt damit?«, stöhnte er enttäuscht auf. »Ist das eine andere Sprache? Waren das mal Buchstaben, die jetzt durch Regen verschmiert sind? Oder erlaubt sich da jemand einen Scherz mit mir?«
Für einen Moment dachte Lucas an Noah, der sich vielleicht rächen wollte. Immerhin hatte Lucas dafür gesorgt, dass Noahs fiese Mutproben ein Ende genommen hatten. Doch dann schüttelte Lucas den Kopf: »Das sieht zu intelligent aus für Noah. Was immer das hier soll, Noah steckt bestimmt nicht dahinter.«
Es kribbelte in seinen Fingern, und es schwirrte in seinem Kopf. Lucas liebte es, Rätsel zu lösen. Bloß: Für jede Lösung brauchte man einen Ansatz. Und hier blickte er nur auf Zeichen, die ihm völlig fremd waren.
»Lucas?« Die Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken. »Kommst du frühstücken? Es wird Zeit!«
»Ja, klar. Ich komme sofort.« Es fiel ihm schwer, den Blick von diesem Zettel zu lösen. Und so ging er gedankenverloren in die Küche. »In der Schulbücherei haben wir doch verschiedene Sachbücher«, brummelte er dabei. »Ob wir auch eines über Symbole oder Zeichen haben? Ansonsten müsste ich in die Stadtbücherei. Also, diese Elster, die …«
»Was murmelst du denn da?«, wunderte sich seine Mutter, als Lucas die Küchentür öffnete.
Lucas sah vor seinem geistigen Auge noch einmal die Reihen von Symbolen vor sich. »Ach, nichts«, antwortete er, setzte sich an den Küchentisch und begann, sein Müsli zu löffeln.
Als Lucas eine Stunde später aus dem Schulbus stieg, war er sich sicher: Er war bestimmt etwas ganz Großem auf der Spur. Diese Elster war ein Bote, und diese Symbole waren ein Code. Noch während der Fahrt war Lucas’ Fantasie übergeschwappt. Vielleicht war es ein Spionage-Code, hatte Lucas kurz gedacht und über sich selbst lachen müssen. Vielleicht ein Spionage-Verschwörungs-Geheimagenten-Sicherheits-Code. Möglicherweise war die ganze Menschheit in Gefahr und konnte nur durch die Symbole auf diesem Zettel gerettet werden!
Doch als der Schulbus hielt, war Lucas aus diesen kindischen Überlegungen längst ausgestiegen. Ihm war klar: Er musste in die Bücherei. Dort konnte er am ehesten eine Lösung finden.
Er war so sehr in seine Grübeleien vertieft, dass er nicht merkte, wie sich ihm Noah von der Seite näherte. Kurz vor dem Aussteigen gab Noah ihm einen Stoß, sodass Lucas stolperte und der Länge nach hinfiel.
»Oh, entschuldige, ich habe dich gar nicht gesehen«, spottete Noah, und Emma, die neben ihm stand, lachte gemein.
Und nicht nur ihr Lachen war gemein, nein, Noah und seine Freundin Emma waren richtig fiese Mitschüler. Und bis vor Kurzem hatten sie die ganze Schule mit ihren blöden Challenges in Atem gehalten. Lucas hatten sie sogar dazu gezwungen, die neuste Boombox aus dem Elektronikmarkt zu stehlen. Doch am Ende hatte Lucas den Spieß umgedreht: Er hatte Noah vor der gesamten Schule bloßgestellt und die Challenges damit beendet. Doch jetzt machte Noah Lucas das Leben noch schwerer.
Lucas rappelte sich wütend auf. Das war schon der vierte Angriff auf ihn innerhalb von zwei Tagen. Beim ersten Mal hatte Noah ihn gegen die Wand der Schule gedrückt und ihm zugeraunt: »Pass auf, Blödmann, wir haben noch ’ne Rechnung offen!«
Von da an hatte Lucas die Augen offen gehalten und konnte zweimal ausweichen, als Noah ähnliche Angriffe starten wollte. Doch jetzt hatte er ihn erwischt.
Lucas klopfte sich den Dreck von den Klamotten, während Emma und Noah lachend weitergingen. »Diese Idioten«, murmelte Lucas.
»Ist alles okay?«, fragte eine besorgte Stimme, und als Lucas aufblickte, sah er Martin auf sich zukommen. »Den beiden sollte man lieber aus dem Weg gehen.«
»Ich weiß. Es geht schon, danke.«
Martin lächelte ihm aufmunternd zu. »Pass einfach auf dich auf. Du hast uns allen geholfen, als du diese idiotischen Angriffe gestoppt hast. Das war richtig mutig von dir.«
»Danke.« Lucas hob lächelnd seine Tasche von der Erde auf. Es fühlte sich gut an, dass er nicht allein war.
»Sag einfach Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Bis dann!«, rief Martin und lief Lucas voraus zur Schule.
In der Klasse fiel es Lucas schwer, sich zu konzentrieren. Dauernd tanzten diese Symbole vor seinem geistigen Auge hin und her. Außerdem fragte er sich, wo seine Freunde Ole und Li-Feng steckten. Auf dem Schulhof hatte er sie nicht gesehen. Dabei hätte er sie gern gefragt, ob sie heute Nachmittag gemeinsam zu Nathanael gehen wollten. Er hatte sie alle schon mehrere Tage nicht mehr zu Gesicht bekommen. Doch kaum lief er in Gedanken durch Nathanaels alte Fabrik, kamen ihm diese merkwürdigen Symbole wieder in den Sinn. Diese seltsame Elster hatte ihn mit dem rätselhaften Code echt aus der Bahn geworfen. Er war völlig neben der Spur und hatte …
»… gerade nicht zugehört, Lucas?« Die schneidende Stimme von Herrn Arnold pfiff wie ein kalter Wind durch Lucas’ Hirnzellen.
»Hm?«
»Ich glaube, du hast gerade nicht zugehört«, wiederholte sich Herr Arnold. »Binomische Formeln, Lucas. Du weißt schon, die Aufgaben, in denen … na? In denen …«
»Äh …«, Lucas kramte in seinem Gehirn. »Äh … in denen Buchstaben …«
»Ja?«
»In denen Buchstaben Platzhalter für Zahlen sind.«
»Sehr gut!«, lobte Herr Arnold und wandte sich damit wieder der ganzen Klasse zu. »Platzhalter für Zahlen. Ihr müsst die Buchstaben also nur ersetzen durch …«
Mit einem Schlag war Lucas wach.
»Ersetzen!«, schoss es ihm durch den Kopf. »Symbole ersetzen«, murmelte er und kramte den zusammengerollten Zettel aus seiner Hosentasche.
Er sah sich die Symbole in Ruhe an, dann fischte er unter der Bank sein Handy hervor. Er hatte doch erst neulich eine App gesehen, die Symbole entschlüsselte. Wie hatte er das nur vergessen können?
Mit einem Auge zum Lehrer und einem Auge auf sein Display suchte er fieberhaft nach dieser App, bis er sie schließlich gefunden hatte. Während er sie herunterlud, zeigte er noch zweimal im Unterricht auf. Die Zeit des Downloads konnte er ja nutzen, um nicht aufzufallen.
Dann endlich war es so weit: Die App war einsatzbereit.
Lucas fingerte sich durch alle möglichen Zeichen und Symbole, bis er aufschreckte. Auf dem Display zeigte sich ganz klar eines der Symbole, die auch auf dem Zettel standen.
Es kribbelte. In seinen Fingern, in seinem Bauch, in seinem Kopf. Vorsichtig blickte Lucas nach vorne, vergewisserte sich, dass Herr Arnold nichts bemerkte, und klickte dann doppelt auf das Symbol.
»Keltische Runen« zeigte die App an. Lucas ärgerte sich, dass er nicht zu Hause war und in Ruhe alles durchblättern konnte. Hier, unter der Bank, konnte er nur in aller Eile durch die Informationen der App huschen. Doch dann hatte er die Seite gefunden, die er brauchte: das keltische Alphabet.
In diesem Moment zerschnitt die Stimme von Herrn Arnold den Raum: »So, und jetzt nehmt ihr alle mal die Hefte raus und versucht Aufgabe siebzehn zu lösen«.
Lucas war ihm regelrecht dankbar. Denn er nahm sein Heft, öffnete es auf der letzten Seite und begann, mithilfe der App die Symbole des Zettels zu übersetzen.* Dabei wirkte er dank ihrer Aufgabe wie ein fleißiger Schüler.
Und schließlich blickte er auf das Ergebnis. Die keltischen Symbole hatten Worte ergeben. Worte, die nun aus Lucas’ Heft herausstrahlten, als seien sie aus reinstem Licht:
• SEI • VORSICHTIG • DU • BIST • IN • GEFAHR •
Hastig drehte Lucas das Heft herum, damit niemand etwas davon bemerkte. Sein Puls raste, seine Gedanken überschlugen sich. War diese Warnung wirklich an ihn gerichtet? Und wer hatte sie geschickt?
An diesem Tag konnte Lucas es kaum erwarten, dass die Schule zu Ende war: Er musste Ole, Li-Feng und Nathanael sehen. Sobald der Gong nach der letzten Stunde ertönte, hechtete er aus dem Raum und lief in Richtung der Fabrik.
Seine Freunde würden nicht glauben, was er entdeckt hatte!
———
* Das vollständige Runenalphabet findest du im Kapitel ›Das Runenalphabet‹. Blätter vor und rätsel mit!
»Na endlich!«
Lucas hatte die Fabrik noch nicht betreten, da kam Ole ihm schon aus der ersten Halle entgegengestürzt. »Da bist du ja! Wo warst du denn die ganze Zeit?«
Oles Frage verwirrte Lucas für einen Moment. »Ich war in der Schule, und heute Morgen …«
»Ist auch egal!«, fuhr Ole ihm dazwischen. »Jetzt bist du ja hier.« Er zog seinen Freund ungeduldig in die Halle. »Es gibt Ärger. Wir haben Hinweise erhalten. Das wird ganz schön eng!«
Lucas ließ sich ins Innere ziehen. »Was? Eng? Hinweise?« Da fiel ihm sein Erwachen am Morgen ein. »Sag mal, hast du mir eine Elster geschickt?«
Ole hielt in seiner Bewegung inne und blickte Lucas an, als habe der ihn in einer außerirdischen Sprache angesprochen. »Elster geschickt? Warum sollte ich dir eine Elster schicken?«
Lucas zog die Schultern in die Höhe. »Weiß nicht. Aber als ich heute Morgen aufwachte, da …«
Jetzt wurde Ole wieder von seiner Ungeduld überrannt. »Das muss alles warten. Lass uns später darüber sprechen. Wir müssen jetzt zu Nathanael!«
Gerade wollte Lucas ihm antworten, als er ein Knacksen hörte, das hallend durch die ganze Fabrik schallte.
»Was war das?«, fragte er, doch im gleichen Moment durchfuhr ihn ein Verdacht, und er blickte sich in der Halle um. »Wo sind Kracks und Knick?«
»Aha!«, antwortete Ole. »Das ist nämlich das erste Problem, um das wir uns kümmern müssen.«
Damit trat er vor Lucas in die Halle ein und gab schließlich den Blick auf Nathanael frei, der so tief vor einer alten Holzkiste kniete, dass sein geflochtener Bart auf den beiden langgezogenen Steinen ruhte. Wie er da vornübergebeugt kniete, in seinen quietschgelben Schuhen, die farblich überhaupt nicht zu seiner Jacke und der Hose passten, ergab sich ihm ein ungewöhnliches Bild, das Lucas aber sehr vertraut erschien. Er mochte diesen Mann, der so anders war als alle Menschen, die Lucas sonst kannte.
Und Lucas wusste auch sofort, was dort in der Halle vor sich ging. »Ihr habt Kracks und Knick durch die Zeit geschickt?«, rief er aus und rannte zu der Kiste. Er zeigte auf die beiden dünnen, langen Steine. »Das sind doch die Schattenrisse der beiden, oder?«
Als Antwort hallten knackende und knickende Geräusche durch die Halle, die von den Wänden als Echo so hin- und hergeworfen wurden, als spiele die Fabrik mit den Geräuschen Pingpong.
Es war das Echo aus Zeit und Raum. Das Echo der beiden Schattenrisse von Kracks und Knick, die von den Steinen an die Wand geworfen wurden. Die beiden Knubbelgeister mussten sich in Nathanaels magischen Zauberschatten gestellt haben. Auf diese Weise konnte der Zauberer sie an jeden erdenklichen Ort und in jede erdenkliche Zeit schicken. Nun hielt Nathanael über diese Steine den Kontakt zu ihnen, über diese Schattenrisse, deren Form sehr den Knubbelgeistern ähnelte.
»Wohin hast du sie geschickt?«, fragte Lucas hastig.
Langsam löste sich Nathanael aus seiner Konzentration und blickte Lucas aus erschöpften Augen an.
»Lucas, nun bist auch du endlich hier«, freute er sich.
»Ja … Guten Tag … ich freu mich auch … äh …« Lucas konnte sich gar nicht auf Nathanael konzentrieren. Zu groß war seine Sorge um Kracks und Knick.
»Ist irgendetwas los? Wieso sind die beiden unterwegs? Musst du vielleicht …?«
Nathanael musste laut auflachen. »Lucas! So viele Fragen. Und alle auf einmal. Das erinnert mich an Merlin. An einen seiner wichtigsten Ratschläge. Ich glaube, davon hab ich euch noch nie erzählt. Er sagte nämlich …«
»… nicht die Anzahl der Fragen macht einen neugierigen Menschen aus«, fiel ihm Li-Feng ins Wort, und Ole ergänzte schnell, »… sondern die Qualität seiner Fragen.«
Nathanael blickte sich überrascht um. »Oh, hab ich euch das schon mal erzählt?«
Li-Feng und Ole lachten, und selbst Lucas musste schmunzeln. »Och, nö. Zumindest nicht in den letzten zehn Minuten«, meinte Ole.
Nathanael kam auf Lucas zu. »Lass dir erklären.« Mit einem Mal wurde er ernst. Er atmete tief ein. Er wirkte, als habe er bereits nächtelang nicht mehr geschlafen. »Nachdem Shalamar uns vor fünf Tagen angegriffen hatte, war ich in Aufruhr. Er wusste nun, wo ich mich verstecke. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, sich eine neue Armee aus Merlins altem Zauberbaum zu erstellen, um uns ein weiteres Mal mit Massen von Knubbelgeistern anzugreifen. Das hätte der Shalamar, den ich kenne, auf jeden Fall getan. Also habe ich die Reste des Tuchs versteckt.« Er lächelte. »Gut versteckt.«
Lucas sah dem Alten in die Augen, dann blickte er zu der Kiste, auf der die beiden Schattenrisse standen. »Dort?«
Nathanael riss die Augen auf. »Oh, ich habe sie wohl doch nicht allzu gut versteckt«, brachte er hervor. »Nun gut, daran muss ich noch arbeiten. Doch hört zu: Shalamars Angriffe, die ich befürchtet hatte, blieben aus. Daraus schließe ich, dass er etwas ganz anderes ausheckt. Dass er einen Plan ersinnt, der so gewaltig sein muss, dass er nicht einmal mich und meine Zauberkräfte fürchtet. Und deshalb habe ich Kracks und Knick zu ihm geschickt. Sie sollten ihn aushorchen.« Nun legte sich Sorge in seine Stimme. »Aber er hat sie heute Morgen entdeckt und gefangen genommen. Sie sind jetzt in seiner Gewalt und …«
Lucas machte vor Entsetzen einen kleinen Sprung. »Was? Shalamar hat Kracks und Knick entdeckt?«
Auch Ole war entsetzt. »Er hat sie gepackt? Oh, nein! Warum hast du uns denn nicht zu Shalamar geschickt?«
Li-Feng sah besorgt aus. »Ausgerechnet Kracks und Knick!«
Nathanael blickte reumütig in die Runde. »Ich wollte euch nicht schon wieder belasten. Ihr solltet euch erst einmal ausruhen. Und ich dachte auch, dass Kracks und Knick keine Gefahr drohte. Sie sollten doch nur Informationen sammeln, bei Shalamar …«
»… der sie jetzt in seinem Griff hat«, beendete Ole den Satz, und Lucas rief: »Los, Nathanael, bring mich dorthin. Schnell!«
Mit einem Mal wich die Erschöpfung aus Nathanaels Gesicht, und Erleichterung machte sich breit. »Ich habe gehofft, dass du das sagst.«
»Ich komme mit!«, rief Li-Feng aus, doch Nathanael wehrte ab: »Ich brauche Ole und dich hier, um die Fabrik zu bewachen, falls ich Unrecht habe und Shalamar und seine Geister doch noch diese Fabrik aufsuchen.«
Ole wollte keine Zeit mehr verlieren. Er rannte zu einer der hinteren Wände, brachte Lucas’ Schattenriss zu der Kiste und stellte ihn dort vorsichtig ab. Gleichzeitig erhob sich Nathanael, prüfte den Stand der Sonne und stellte sich so vor Lucas, dass sein Schatten den Jungen vollkommen einnahm.
»So mach dich bereit, Lucas«, sagte er noch, als der Zauber auch schon seine Wirkung tat: In Lucas’