Inhalt

Wo und wie alles begann

Ein kleiner Engländer erobert erst die Insel, dann den Rest der Welt

Stehvermögen: mit dem Jugendrad beim größten Radrennen der Welt

England, Belgien, Italien, Schweden, Österreich und natürlich Deutschland

Liebe geht durchs Bonanzarad

Oder wie die Zeitgeister eine ganze Generation prägten

Als Kind beobachtet Jan Schauff, wie sein Vater den Bonanzarad-Boom mitprägt

Vier Teile, die das Bike zur Ikone machen

Tipps und Tricks zur Restaurierung eines Bonanzarads

Wolfgang Suck entdeckt zwei Bonanzas in der Garage

Regelmäßig kehrt das Bonanzarad in Neuauflagen und Popsongs zurück wie bei Fischmob und Mägge

In einem kleinen Kaff lebt der Kult: Christian Bode sammelt und restauriert seit Jahren Bonanzaräder aller Art

Mountainbikes und Cross-Fahrräder sind direkte Nachfolger des Bonanzarads

Er ist der erste, der letzte und damit der einzige Weltmeister auf dem Bonanzarad

»Ein Bonanzarad! Wow, das habe ich lange nicht gesehen. Darf ich ein Foto machen?« So oder so ähnlich fallen die Reaktionen aus, wenn Menschen zufällig irgendwo in Deutschland ein Bonanzarad erspähen. Kein Zweifel: Das Ding bewegt! Und zwar nicht nur seine Besitzer, sondern noch viel mehr Betrachter und Bewunderer. »Was waren das für wilde Zeiten, damals in den 70ern?« Es ist vor allem die Generation Ü50, die mit den 70er-Jahren ganz spezielle Erinnerungen verknüpft: an das Stieleis Brauner Bär vom Kiosk an der Ecke, an Dr. Sommer und seine Aufklärungstipps in der Bravo, an die Songs von Slade und Sweet und natürlich an das Bonanzarad.

Aber warum heißt das Rad mit dem Geweihlenker, dem Bananensattel und der Sissybar in Deutschland so? Wer hat es erfunden? Wie konnte es so erfolgreich werden? Das waren zentrale Fragen, auf die Autor Jörg Maltzan jahrelang keine Antworten fand, worauf er mit seinen Recherchen begann. Dabei stieß er auf Grafikkünstler Alex Ziegler und Fotograf Martin Langhorst, die das spezielle Jugendfahrrad ebenfalls umtrieb. Quellen, Dokumente und Literatur zu dem Thema sind rar. Für das Trio Ansporn genug, sich dem Bonanzarad aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu nähern: historisch, künstlerisch, fotografisch und nicht zuletzt aus der popkulturellen Perspektive.

Welche verblüffend verbindende Wirkung das Rad vor 50 Jahren hatte und wie groß seine Strahlkraft bis heute ist, zeigt das Buch in spannenden Kapiteln von Born in the USA bis zu Next Generation: BMX und MTB machen alles besser. Entstanden ist eine Bonanzarad-Bibel, die ihren Namen zu Recht trägt. Die nicht nur tief in die Geschichte eintaucht, sondern auch Menschen und Originale beleuchtet, die sich heute dem Bonanzarad-Kult verschrieben haben, die Wilden Reiter. Und wer schon immer wissen wollte, warum die Knüppelkonsole auf dem Oberrohr von Insidern auch als Pornoschaltung tituliert wird, findet die Erklärung auf den folgenden Seiten.

Take a Ride on the Wild Side!

Der legendäre Dragstrip im kalifornischen Irvine dient als perfekte Kulisse für dieses Schwinn-Werbefoto von 1968 für die neuen Krate-Modelle. Wie ein Dragster trägt das Stingray vorn ein kleineres Rad als hinten. Die Rennstrecke mit ihrem Tower war bis 1983 in Betrieb.

Kalter Krieg und Space Age

Amerika Mitte 1962: Präsident John F. Kennedy lenkt die Vereinigten Staaten durch unruhige Zeiten. Gerade eineinhalb Jahre ist er im Amt. Nur noch 18 Monate sollen folgen, bis er in Dallas einem Attentat zum Opfer fällt. Politisch hochexplosive Ereignisse wie die Kubakrise, der sich zuspitzende Vietnamkrieg und das Aufbegehren der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King verlangen dem jungen Staatsoberhaupt nicht nur diplomatisches Geschick ab, sondern prägen auch sein Charisma wie bei keinem anderen US-Präsidenten vor ihm. Grenzenloser Enthusiasmus und bittere Enttäuschungen liegen nah beieinander in diesen Tagen.

Mitten im Kalten Krieg mit seiner aufgeladenen politischen Weltlage versprüht Kennedy ein Maximum an packendem Optimismus. So verkündet er zwei Monate vor dem Mauerbau in Berlin in einer flammenden Rede, dass die USA einen Menschen zum Mond schicken werden. Schon im Februar 1962 umkreist John Glenn als erster Amerikaner dreimal die Erde in seinem Friendship-7-Raumschiff. Der Wettlauf um die Vorherrschaft im Space Age gewinnt immer rasanter an Fahrt. Endlich schließen die USA zum Erzrivalen UdSSR auf. Fun vor Frust. Ein unerschütterlicher Optimismus gehört zu den prägenden Merkmalen der amerikanischen Gesellschaft.

Während der Astronaut John Glenn in seiner Kapsel mit 28.000 Kilometern pro Stunde um den Erdball rast, bewegt sich 256 Kilometer darunter ein ganz anderes Phänomen auf einen neuen Höhepunkt zu. Besonders in Südkalifornien hat sich eine sehr spezielle Fahrradszene entwickelt. Sie verwandelt eher spießige Großserienvelos in spaßige Funbikes. Angelehnt an den Tuning-Trend der Auto- und Motorradszene, eifern dabei Teenager den motorisierten Vorbildern nach und rüsten ihre Fahrräder mit allerlei Anbauteilen auf. Vor allem rund um die Stadt San Diego gibt es bereits in den späten 50er-Jahren eine lebendige Umbauszene, die billige 26-Zoll-Ballonreifen-Fahrräder individualisiert.

Vom Paperboy-Bike zum High-Riser

Zweifellos das wichtigste Nachrüstteil der Kustomizing-Bewegung (der Begriff Customizing greift weiter und bezieht sich auf Produkte aller Art; Kustom-Bikes dagegen sind experimenteller, kreativer, individueller, wilder …) ist der modifizierte Lenker. Speziell das Weiter-nach-oben-Legen der Lenkstange setzt sich ab 1958 zunehmend durch. Motto: Je höher, desto besser. Bei Lenkergriffen, die über den Kopf des Fahrers reichen, drohen Taubheitsgefühle in den Händen. Auch wird in den Zeitungen über eine erhöhte Unfallgefahr durch die High-Riser berichtet. Sogar der von Autoherstellern gefürchtete US-Verbraucherschutzanwalt Ralph Nader, Verfasser des berühmten Buches Unsafe at Any Speed, soll sich in die Diskussion eingeschaltet haben. Auch er lehnt die neue High-Riser-Mode aus Gründen mangelnder Sicherheit ab. Der Trend sorgt schließlich Anfang der 60er-Jahre dafür, dass die Polizei Fahrräder kontrolliert und gegen die jugendlichen Bike-Tuner Verwarnungen ausspricht. 1963 schließlich kommt es zu einem Verbot für Lenker, deren Handgriffe die Schultern der Fahrer überragen. 20-Zoll-Fahrräder indes trifft der Bann nicht direkt. Bei ihnen liegen Vorbau und Lenkerbefestigung in der Regel tief genug, um nicht unter die neuen Höhenbegrenzung zu fallen.

Anfang der 60er-Jahre setzt an der US-Westküste ein Tuning-Hype ein. Die gepimpten 26-Zoll-Räder tragen sehr hohe Lenkstangen und Motorradsitzbänke und bereiten so den Boden für die ersten Serien-High-Riser.

Das Huffy Penguin ist eine Erfindung von Pete Mole (oben rechts). Die ersten Prototypen erscheinen 1962. Danach wird es in Großserie von der Huffmann Company in Ohio gefertigt.

Albert »Al« Fritz (links) ist der Vater des Schwinn Stingray. Dieses Modell läuft ab 1963 in Chicago vom Band.

Auslöser der Hochbaumode sind die Paperboys, also die Zeitungsausträger, die ihre Fracht gewöhnlich auf dem Oberrohr transportieren und durch einen höheren Lenker Platz für mehr Zeitungen gewinnen. Folglich werden in den Fahrradläden zunehmend verlängerte Vorbauten, sogenannte Gänsehälse (goosenecks), sowie Hochlenker (riserbars) nachgefragt. Ein Trend, den die Zubehörindustrie dankbar bedient und die entsprechenden Teile in die Geschäfte liefert. Etwa zu dieser Zeit kommt erstmalig der Begriff High-Riser in Mode. Übersetzt bedeutet er etwa Fahrrad mit Hochlenker. Ganz besonders die von der Firma Persons Majestic in der Nähe von Boston erfundenen und hergestellten Polo seats (Bananensättel) werden schnell knapp. Die verstärkten Anfragen und Bestellungen der Bikeshops führen natürlich zu Lieferengpässen und bleiben darum auch den Großhändlern und Marketingexperten in den Fahrradfirmen nicht verborgen. Zwei von ihnen beginnen sich intensiver mit dem Nachfrageboom zu beschäftigen: Pete Mole vom kalifornischen Teile- und Fahrradvertreiber John T. Bill & Company sowie Albert Fritz, Entwicklungsleiter beim Zweiradgiganten Schwinn aus Chicago.

Der erste Serien-High-Riser

Nachdem Pete Mole sich näher mit dem boomenden Bestelleingang - besonders für Hochlenker - beschäftigt hat, hält ihn nichts mehr am Schreibtisch. Was ist da los an der Grenze zu Mexiko? Warum kaufen die da unten wie verrückt Hochlenker und Bananensättel? Ab nach San Diego! Mole reist Mitte 1962 über den Freeway vom Firmensitz Glendale bei Los Angeles in die Millionenmetropole am Pazifik. Ein guter Zeitpunkt. Denn es sind gerade Sommerferien. Überall entdeckt der Vertriebsexperte umgebaute Räder mit Hochlenkern, Bananensätteln und groben Stollenreifen. »Der Trip hat mir die Augen geöffnet«, sagt Mole später in einem Interview. Schnell steht für ihn fest: So ein High-Riser-Rad mit Geweihlenker, Bananensattel und 20-Zoll-Reifen sollte in Serie gebaut und im großen Stil angeboten werden. Das verspricht ein gutes Geschäft zu werden.

Die Sache hat nur einen Haken: John T. Bill & Company ist eine reine Vertriebsfirma, kein Fahrradhersteller. Darum bemüht Mole seine Kontakte zu Geschäftspartnern bei der Huffmann Company in Ohio, einem wichtigen Fahrradbauer in den USA. Die haben die Mittel, so Moles Kalkül, das Projekt professionell und zügig umzusetzen.

Das Huffy Penguin und der Ideenklau

Doch die Verhandlungen sind wider Erwarten zäh wie Kaugummi und münden schließlich in einem faulen Kompromiss. Bei Misserfolg will Huffmann kein finanzielles Risiko. Heißt: Für den Fall, dass sich die Räder nicht verkaufen, sollte Mole alle speziell für den High-Riser angefertigten Teile abnehmen. Ganz offenbar hat Huffmann nur wenig Vertrauen in das Projekt und speist den alten Freund Mole mit einer Gefälligkeit ab. Kein Wunder also, dass es viele Monate dauert, bis der Freundschaftsdienst endlich zustande kommt. Wertvolle Zeit geht verloren, denn durch die Verzögerungen kommt die Neuentwicklung nicht zur Weihnachtssaison 1962 auf den Markt. Erst im Januar 1963 ist das Rad fertig. Preis: 53 Dollar. Name: Penguin. Farbe: schwarzer Rahmen, weißer Sattel. Nur in dieser einzigen Kombination gibt Mole das Rad bei Huffmann in Auftrag. Zuvor hatten viele Bezeichnungen die Runde gemacht, doch angesichts der markanten Farbkombination drängt sich der Name nach dem Seevogel förmlich auf.

Nicht nur die High-Riser selbst verkaufen sich rasend schnell, sondern auch Zubehör aller Art. Das Aufrüsten mit Spiegeln, Spritzlappen und Tachos gehört bei jugendlichen Fahrern einfach dazu.

Ein »Einfach-mal-machen-Fahrrad«

Auf den Auslieferungszeitpunkt bezogen, ist somit eindeutig belegbar, dass mit dem Huffy Penguin der erste Serien-High-Riser geboren war. »Wir arbeiteten nach dem Kiss-Prinzip«, erinnert sich Mole viele Jahre später. Das steht für »Keep it simple, stupid«, was etwa bedeutet: »Halt es einfach, Dummkopf«, die typische coole Art, mit der in den USA gern Abläufe und Prozesse beschrieben werden. So gesehen ist das Penguin ein lässiges »Einfach-mal-machen-Fahrrad« und kein ausgefeiltes Produkt strategischer Überlegungen.

Doch trotz aller Lockerheit ist das Verhältnis zwischen Auftraggeber Mole und Hersteller Huffmann nicht einfach und kühlt noch weiter ab. Besonders als Ende 1963 Huffmann eigene High-Riser-Varianten als Monark Avanti und Huffy Brodie für etwas mehr als 40 Dollar über Discountstores auf den Markt bringt. Die ursprüngliche Skepsis an Moles Plan weicht offenbar schnell der Angst, hier einen wichtigen Trend zu verpassen. Ist das legitime Konkurrenz oder dreister Ideenklau? Fakt ist: Mole hat im guten Glauben auf einen Exklusivvertrag mit Huffmann und damit auf einen Kopierschutz verzichtet. Als das Penguin den Fahrradhändlern aus den Händen gerissen wird und insbesondere Discounter nach dem Bike betteln, nutzt Huffmann die Vertragslücke und produziert kurzerhand seine eigenen High-Riser in nahezu identischer Ausführung. Mole ändert daraufhin frustriert den Namen des Huffy Penguin in Dayton Deluxe Penguin.

Das erste Stingray kommt in der Basisausführung ohne Schutzbleche auf den Markt und kostet 49,95 Dollar.

Angesichts dieser Verwerfungen ist dem Penguin, dem ersten Großserien-Bonanzarad made in USA, kein lang anhaltender Erfolg vergönnt. Ganz anders als dem Schwinn Stingray, das zwar erst als Nummer zwei auf den Markt kommt, aber deutlich erfolgreicher und länger verkauft wird. Wohl aus diesem Grund wird das Stingray in der Literatur oft fälschlicherweise als das erste High-Riser-Produktionsmodell tituliert. Und Al Fritz als sein Erfinder.

The winner takes it all

Sogar die seriöse New York Times nennt ihn den Vater des High-Risers: Albert John Fritz aus Chicago, Illinois. In vielen Quellen ist es so fälschlicherweise zu finden. Pete Moles Penguin schafft es definitiv ein paar Monate vorher auf den Markt. Doch Fritz ist es, der dem neuen Radtypus zum massiven Erfolg verhilft. Denn Fritz hat die große Fahrradmarke Schwinn im Rücken. Schwinn hat eigene Fabriken. Schwinn hat eigene Händler. Und Schwinn hat deutlich mehr Marktmacht als die schwierige Kooperation zwischen Mole und der zögerlichen Huffmann Company aus Ohio. Schwinn wurde schon 1895 von den beiden deutschen Einwanderern Ignaz Schwinn und Adolph Frederick William Arnold gegründet.

Es ist ein kalter Wochenendtag im Januar 1963, als bei Al Fritz in Chicago das Telefon klingelt: »Hey, Al. Du glaubst nicht, was hier abgeht! Die Kids bauen ihre Räder um wie verrückt: Bananensättel statt Seriensitzen, hohe Schmetterlingslenker statt flacher Stangen. Die Dinger sehen sportlich und cool aus«, berichtet Sigurd Mork am anderen Ende der Leitung. Mork ist Schwinns Verkaufsmanager im sonnigen Kalifornien. Fritz hört aufmerksam zu, was sein Freund gut 2.000 Meilen weiter westlich beobachtet hat. Denn als persönlicher Assistent von Firmenchef Frank W. Schwinn und Entwicklungsleiter hat er immer ein offenes Ohr für Trends und Moden.

Typhoon wird zum Stingray-Prototyp

Bananensättel kennt Fritz. Hersteller Persons hat sie schon seit 1959 im Programm und stattet damit Fahrräder für den Bike-Polosport aus. Fritz lässt sich einige Testmuster schicken. Firmenchef Robert Persons hatte Schwinn vorgeschlagen, die Langsättel an Tandemmodellen zu verbauen. Hochlenker bzw. Texas-Bullhornlenker oder auch Schmetterlingslenker, wie Mork sie nennt, sind Fritz dagegen neu. Um eine genauere Vorstellung von dem ungewöhnlichem Fahrradhype zu bekommen, ordert Fritz mehrere Lenker von der Westküste. Außerdem kontaktiert er Zulieferer wie Wald Manufacturing und Pearsons, um sich ein noch genaueres Bild von der Marktsituation zu machen.

Dann geht alles Schlag auf Schlag: Fritz entscheidet, einen Schwinn-Prototyp des kalifornischen Sportfahrrads aufzulegen. Obwohl seine Chefetage sich skeptisch zeigt, entwickelt Fritz zusammen mit Chefingenieur Frank Brilando aus dem 20-Zoll-Typhoon-Kinderrad eine erste Version. Anfang April ist sie fertig. Zu einem Zeitpunkt also, als Pete Mole mit seinem Huffy Penguin bereits Monate in den Fahrrad-Schaufenstern mit einem Serienmodell vertreten ist.

Nur wenige Tage darauf stirbt Firmenchef Frank Schwinn an den Folgen einer Krebserkrankung. Zu seiner Beerdigung erscheinen Industriepersönlichkeiten aus den gesamten USA. Es mag pietätlos klingen, aber das Geschäft muss trotz des Trauerfalls weitergehen. Auch ohne Frank, den Boss. Also bittet Al Fritz drei der wichtigsten Fahrrad-Vertriebschefs, in die Schwinn-Fabrik an der North Kostner Avenue zu kommen. Dort präsentiert er ihnen seine Neuentwicklung. Erste Reaktion: Schweigen. Die Männer drehen die Köpfe, schauen sich in die Augen. Dann folgt Gelächter. Soll das ein Witz sein? Ein komisches Kinderrad als profitables Massenprodukt? »Al, diese Bastelei verkauft sich nicht«, kritisieren sie Fritz. Doch der lässt nicht locker: »Nicht faseln, fahren«, fordert Fritz. Als Teststrecke dient die Lackiererei. Zögerlich setzt sich ein Anzugträger nach dem anderen auf Fritz‘ High-Riser. Wie kleine Kinder kurven die Manager um die Stützpfeiler. Immer schneller, immer wilder. Und wieder lachen sie. Doch dieses Mal nicht aus Hohn, sondern aus Begeisterung. Das Rad macht an. Aus Spott wird Spaß. Viel Spaß!

Aus Hohn wird Begeisterung

Nur die neuen Bosse ganz oben bleiben skeptisch. Nach dem Tod des Chefs übernehmen die beiden Schwinn-Söhne die Firmenleitung. Sie sehen wenig bis keine Chancen für das neue Fritz-Projekt, geben aber trotzdem grünes Licht. Dem Unternehmen geht es gut, es ist gesund und stark genug, eine Fehlentwicklung im Segment der Kinderräder zu verkraften. Also macht sich Fritz auf die Suche nach einem treffenden Namen. Angeblich sollen ihn die hohen Lenkerenden an einen Stachelrochen (Sting-ray) erinnert haben. Wahrscheinlicher steckt hier - anders als beim Penguin - eine kühle Marketingüberlegung dahinter. Die enge Anlehnung der Fritz-Erfindung an getunte Motorräder schreit eigentlich nach einer Namensgebung aus der Chopper-Szene. Das Problem daran: Die gepimpten Motorräder sind verstärkt in Banden und Gangs beliebt, die häufig mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder sich illegal im Land aufhalten. Mit diesen negativen Assoziationen will Schwinn nichts zu tun haben.

Viel braver, aber dennoch faszinierend erscheint den Verantwortlichen wohl eher ein Name aus der Autowelt. Hier kommt für Schwinns High-Riser der Sportwagen von General Motors (GM) ins Spiel. Der heißt seit 1953 Corvette und trägt seit Herbst 1962 den Zusatz Sting Ray. Ein passender Name auch für das neue Fahrrad, befindet Schwinn. Wenig später werden Schwinns Stingray und GMs Corvette Sting Ray gemeinsam auf Werbemotiven abgedruckt. Außerdem erhält das Rad den Claim: »The bike with the sports car st. Die Kampagne nimmt Fahrt auf; ein Erfolg scheint programmiert. Nur der neue Firmenboss Frank V. Schwinn bleibt noch zurückhaltend. Fritz bietet seinem zaudernden Chef eine Wette an: »Frank, wir werden bis zum Jahresende 25.000 Stück davon verkaufen.«

Spätestens Mitte der 60er-Jahre setzt in den USA ein wahrer High-Riser-Hype ein. Ob Fachhandel, Kaufhäuser wie Sears oder Versandunternehmen – sie alle bringen die neuen Jugendfahrräder unter fantasievollen Namen ins Programm.

Im Mai 1963 laufen die ersten J-38, so der interne Werkscode, in Chicago vom Band. Einen Monat später taucht das Stingray in den Showrooms auf. Und steht nie lange. Im Gegenteil: Das Käuferinteresse ist so groß, dass viele Räder vorbestellt werden - zumindest in Kalifornien. In den anderen US-Staaten tun sich die Händler anfangs schwer. Sie ordern meist nur ein Ausstellungsmodell. Doch noch während des Sommers erfasst quasi die gesamte USA ein verblüffender Stingray-Boom. Bis zum Jahresende verkauft Schwinn 45.000 Stück. Deutlich mehr hätten noch abgesetzt werden können, wäre Schwinn nicht der Nachschub an Hinterrädern ausgegangen. Fritz schmunzelt; die Wette gegen seinen Chef hat er gewonnen.

High-Riser werden zur Massenware