GIPFELblau

Stina Jensen

Sótano

Inhalt

Über die Autorin

Das Buch

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Vier Monate später

Leseprobe GIPFELgold

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Über die Autorin

Über die Autorin

STINA JENSEN schreibt Insel- und Gipfelromane, romantische Komödien und Krimis. Sie liebt das Reisen und saugt neue Umgebungen in sich auf wie ein Schwamm.

Meist kommen dabei wie von selbst die Figuren in ihren Kopf und ringen dort um die Hauptrolle in ihrem nächsten Roman. Wenn sie nicht verreist, lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

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Das Buch

Annika hat die perfekte Hochzeit geplant: In einer romantischen kleinen Kapelle in den Schweizer Bergen, umgeben von Wildblumenwiesen und dem Geläut von Kuhglocken, will sie ihrem Verlobten das Ja-Wort geben. Louis, ein wohlhabender Zermatter Hotelier, scheint ein wahrer Märchenprinz zu sein, bis Annika etwas über ihn erfährt, das ihre gemeinsame Zukunft ernsthaft in Frage stellt. Dabei sind schon die ersten Gäste unterwegs, und eine geplatzte Hochzeit wäre ein unglaublicher Skandal. 

Die ganze Sache wächst Annika endgültig über den Kopf, als plötzlich Felix vor ihrer Tür steht. Der Extremsportler mit den bergseegrauen Augen hat Annika vor einiger Zeit nicht nur auf die atemberaubendsten Gipfel mitgenommen, sondern auch gefühlsmäßig an ihre Grenzen gebracht. 

Doch ausgerechnet Felix rät ihr, Louis um jeden Preis zu heiraten …


Ein Roman, bewegend wie ein Sonnenaufgang in den Bergen.

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

für jeden meiner Romane reise ich an die Orte, an denen meine Geschichten spielen. Nachdem ich fünf INSELfarben-Romane geschrieben hatte, wollte ich unbedingt eine Geschichte schreiben, die in den Bergen spielt. So kam es nicht von ungefähr, dass Bens Tochter Annika, die einige aus meinem Roman INSELgold kennen, in Zermatt arbeitet (keine Sorge, man benötigt keinerlei Vorwissen). Um nach Schauplätzen für Annikas Geschichte zu suchen, reiste ich im Mai in das bekannte Schweizer Bergdorf und verbrachte dort eine wunderbare Recherchereise. Leider fährt die Gondel zum Schwarzsee in der Zwischensaison nicht - ich hoffe, ich konnte dennoch alles korrekt darstellen.

Teilweise komme ich beim Schreiben ohnehin nicht darum herum, die örtlichen Gegebenheiten den Erfordernissen der Handlung anzupassen. So habe ich Louis’ Hotel und Örtlichkeiten wie das Dornrösli frei erfunden. Natürlich auch alle im Roman vorkommenden Personen. Sollten Ähnlichkeiten zu lebenden Personen bestehen, wären diese rein zufällig.

Ich wünsche viel Freude mit dieser Geschichte!

Stina Jensen

1

2. Juli – morgens

»Ich kann es noch immer nicht fassen, dass du in knapp drei Wochen heiratest, Annika«, vernahm ich Mamas Stimme durchs Telefon. »Du und Louis müsst doch inzwischen furchtbar aufgeregt sein!«

»Das kannst du laut sagen«, bestätigte ich mit betonter Leichtigkeit, in der Hoffnung, dass meine Mutter nicht wahrnahm, wie es mir wirklich ging. Sie hatte, was meine Gefühlszustände betraf, sehr feine Antennen.

»Papa wird auch immer nervöser«, fuhr sie fort. »Wer hätte gedacht, dass du und dein Vater mal eine Doppelhochzeit zusammen feiern würdet? Und auch noch in den Schweizer Bergen!«

Auf diese Idee wäre in der Tat niemand gekommen. Immerhin war ich in Binz auf Rügen aufgewachsen. Meine Eltern waren schon lange getrennt – wenn auch erst seit einem Vierteljahr geschieden. Dass Papa sich mit Mitte fünfzig noch einmal verlieben, geschweige denn heiraten würde, hätte ich bis letztes Weihnachten für ausgeschlossen gehalten. Doch dann hatte er Amanda kennengelernt, eine Kalifornierin, die seine verschlossene Austernschale knackte. Dass seine Hochzeitsfeier nun zusammen mit meiner eigenen platzen würde, würde er mir niemals verzeihen – Amanda freute sich doch so sehr darauf. Genau genommen waren die beiden schon verheiratet – die Trauung hier zu vollziehen, hätte nach zu viel Papierkram verlangt. Aber gemeinsam feiern wollten wir dennoch. Er und Amanda saßen in San Diego bestimmt schon auf gepackten Koffern.

Ich sah aus der geöffneten Balkontür des Schlafzimmers zum strahlend blauen Himmel, vor dem heute das Matterhorn mit seinem schneebedeckten Gletscher wie eine Pfeilspitze emporragte. Man bekam das Horn nicht oft so zu sehen. An manchen Tagen blieb es komplett hinter Wolken verborgen, und es gab Touristen, die es während ihres gesamten Aufenthalts in Zermatt nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekamen. Aber heute, an diesem sonnigen Dienstagmorgen, zeigte es sich in seiner vollen Pracht, und man konnte davon ausgehen, dass Scharen von Reisegruppen in diesem Moment auf der Kirchbrücke, die über die Vispa führte, Spalier standen, um das beste Foto unseres Hausbergs zu schießen. Und auch ich selbst konnte mich nach nun fast drei Jahren in diesem Ort nicht sattsehen an diesem Berg. Ich mochte den Anblick so sehr. Er übte normalerweise eine beruhigende Wirkung auf mich aus – eine Ruhe, die ich in diesem Augenblick jedoch vergeblich in mir suchte.

Mein Blick glitt zu den saftig grünen Wiesen, die sich hinter dem Zaun unseres Grundstücks zum Ortsrand hin erstreckten. Die Gondel zum Furi verließ eben die Talstation und brachte die ersten Besucher nach oben, die meisten von ihnen wollten ganz hinauf zum Matterhorn glacier paradise, von wo aus man bei guter Sicht einen Rundumblick auf alle Viertausender des Mattertals bekommen kann. Allen voran das Matterhorn, das die Welt von der Toblerone-Verpackung kennt. Als ich das erste Mal dort oben stand, übermannte mich ein solches Glücksgefühl, dass ich verstohlen ein paar Tränen abwischte.

Ich lächelte in mich hinein. Man sollte erwarten, dass über den Gipfeln absolute Stille herrscht, doch das Gegenteil ist der Fall. Im Winter, zur Ski-Hauptsaison, dröhnt Musik aus den Lautsprechern, im Sommer, wenn dort oben noch immer Schnee liegt, nur weniger Ski gefahren wird, bereitet einem das Geschnatter der asiatischen Reisegruppen, die sich vor dem Gipfelkreuz mit einer Toblerone-Packung ablichten lassen, bald Kopfschmerzen.

Unten am Ortsrand, wo Louis‘ Haus stand – von dem ich bis zum Vortag gedacht hatte, dass ich noch viele Jahre mit meinem Bräutigam darin verbringen würde – hörte man lediglich das Geplätscher der Vispa, das Gerumpel der Gondel oder die Zahnradbahn, die nicht weit von hier über die Brücke hoch zum Gornergrat fuhr. Darüber hinaus vernahm man das Summen der Insekten.

Diese köstliche, friedvolle Natur. Dieser Geruch nach Grün und reiner Alpenluft. Allein der Gedanke, mich mit Nevio, meinem acht Monate alten Sohn, auf einer Decke in den Halbschatten zu legen und wegzudösen, all das auszublenden, was ich gestern Abend erfahren hatte, kurz nachdem Louis zu einer Geschäftsreise aufgebrochen war, von der er erst am Freitagabend zurückkehren würde …

»Wird Mariella denn auch kommen?«, unterbrach Mama meine Gedanken. »Spricht sie endlich wieder mit dir?«

»Leider hat sie auf meine Einladung und meine Nachrichten noch immer nicht geantwortet«, erwiderte ich niedergeschlagen. »Ich vermute, für Mariella bin ich endgültig gestorben.«

Nun, da alles in Scherben lag, hätte sie zwar ohnehin nicht mehr zur Hochzeit kommen können. Aber ich hätte sie mehr denn je als Freundin hier vor Ort gebraucht.

»Ich verstehe das einfach nicht«, meinte Mama. »Du hast ihr doch gar nichts getan.«

Nein, das hatte ich wahrhaftig nicht. Im Gegenteil. Ich hatte seit meiner Ankunft in Zermatt vor bald drei Jahren alles dafür getan, um meine Schweizer Freundin nicht zu verlieren. Doch dass ich mit Louis, einem der bekanntesten und wohlhabendsten Zermatter, zusammengekommen war, hatte sie mir offenbar so übel genommen, dass sie vor anderthalb Jahren jeden Kontakt mit mir abgebrochen hatte. Ghosting nannte man so etwas. Man verabschiedete sich aus dem Leben des anderen ohne ein Wort der Erklärung oder des Abschieds.

In diesem Moment regte sich mein Sohn in seinem Bettchen. Ich wandte den Kopf und betrachtete wehmütig seine feinen Gesichtszüge und die langen Wimpern, die auf den rosigen Bäckchen ruhten. Die feinen Linien seiner blonden Augenbrauen sahen aus wie gemalt. Die zitternden Lippen saugten im Halbschlaf vermutlich noch an einer Mahlzeit. Ich würde mit dem Abblasen der Hochzeit meinem Kind nicht nur den Vater nehmen, den er so sehr vergötterte, sondern auch eine Zukunft als millionenschwerer Hotelerbe. Louis und seiner Mutter gehörte das Oberwalliser Grandhotel.

»Du, Mama«, flüsterte ich ins Telefon, »ich muss Schluss machen. Nevio wird gerade wach, und wenn er nicht sofort seine Milch bekommt …«

Mamas Stimme nahm einen zärtlichen Tonfall an. »Wie ich mich darauf freue, den kleinen Schatz wiederzusehen. Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass das Wetter mitspielt.«

Um das Wetter sorgte ich mich am allerwenigsten. Mit fast dreihundert Sonnentagen im Jahr war Zermatt einer der sonnigsten Orte der Schweiz. Als ich vor drei Jahren von Rügen zum Arbeiten hierher zog, hatten mich diese Sonnentage besonders gelockt. Was ich dabei vergaß, waren die Monate, in denen hier meterhoch Schnee lag. Und die monatelange Kälte. Selbst jetzt, im Juli, wurden es selten über zwanzig Grad. Sogar im Mai hatte sich auf manchen Wiesen noch der Schnee gehalten. Doch das riesige Skigebiet mit seinem atemberaubenden Bergpanorama und diese betörenden Sommer mit Wiesen voller Wildblumen und tanzender Insekten entschädigten für die lange Durststrecke. Ich konnte mich an dieser Landschaft kaum sattsehen. Was meinen Weggang von der Küste in die Berge betraf, hatte ich meine Entscheidung noch keine Sekunde bereut.

Ich verabschiedete mich von Mama, trat von der offenen Balkontür zurück und legte das Handy auf dem Nachttisch ab. Dann eilte ich hinunter in die Küche, um Nevios Morgenfläschchen zuzubereiten. Ich musste mich unbedingt zusammenreißen, um meinem Baby nicht zu zeigen, wie es mir ging. Dabei war mir danach, mich ins Bett zu legen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Aber es half nichts, ich musste mein Kind versorgen. Das wollte ich nicht vor mich hin weinend tun; Nevio sollte eine fröhliche Mama haben.

Während ich nach dem Milchpulver griff und in geübten Handgriffen Nevios Flasche zubereitete, fragte ich mich, wie ich alles nur so weit hatte kommen lassen können. Vielleicht sollte ich doch noch einmal versuchen, mit Mariella zu sprechen. Bei diesem Notfall konnte sie mich doch nicht abweisen? Würde sie mir endlich sagen, was letztes Jahr an Louis' fünfzigstem Geburtstag im Dornrösli geschehen war, als ich diesen entsetzlichen Filmriss hatte und am nächsten Morgen mit klatschnassen Haaren zu mir kam? Hing ihr Groll gegen mich vielleicht allein mit diesem Abend zusammen? Bisher hatte sie mir nur vorgeworfen, sich wohl unendlich in mir getäuscht zu haben. Dass ich mich an nichts erinnerte, hatte sie mir nicht geglaubt.

Mir schwante nichts Gutes.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen, als ich nach Zermatt kam.

Mit Louis kam ich übrigens nicht gleich zusammen. Zuvor verliebte ich mich nämlich in einen anderen.

Daran, dass ich mich heute in dieser Situation befand, war er nicht ganz schuldlos.

2

Vor drei Jahren

Schon als kleines Mädchen träumte ich davon, eines Tages in den Bergen zu leben. Ich weiß nicht, ob es an den »Heidi«-Filmen lag, dass ich mit den Alpen ein Gefühl von Heimat verband, das ich auf Rügen vergeblich suchte. Es war, als sei ich falsch in all dieser Weite und Freiheit, die die See ausstrahlt. Ich suchte ein Tal, in dem die Berge mich umarmen – ein Gefühl von Geborgenheit, das mir in meiner Familie manchmal fehlte. Meine Eltern waren damals mit ihrem eigenen Klan zerstritten, und nachdem auch Mama und Papa sich getrennt hatten, blieben mir lediglich Bella, unser Labrador, und Mona, die bis heute meine Freundin ist.

Meine Eltern taten aber ihr Bestes, um mich aufzufangen: Papa zog in ein Haus direkt nebenan, er und Mama »teilten sich die Verantwortung« für mich, und doch fühlte ich mich dabei wie ein Koffer, der hin- und hergereicht wurde. Als ob keiner mich wirklich bei sich haben wollte. Oder als ob jeder der beiden dem anderen zu beweisen versuchte, dass er oder sie besser für mich sorgte. In Wahrheit ging es nicht um mich oder darum, wie ich mich fühlte.

Mama fing mich immerhin auf, wenn ich mal wieder mit Papa nicht klarkam. Er mäkelte ständig an mir herum, obwohl er auf den ersten Blick immer so ausgeglichen scheint. Wenn ich beschreiben müsste, wie mein Vater Ben aussieht, würde ich sagen: »Denk an den Jever-Mann aus der Werbung.« So lässig und verwegen und gleichzeitig erfolgreich und gut aussehend. Außerdem hat mein Vater lange Zeit als Barkeeper gearbeitet, wofür er sich in Smoking und Fliege schmiss, was ihm ebenfalls ausgezeichnet stand. Er kann alles tragen, er sieht immer cool aus. Ist er aber nicht. Er ist total verbohrt. Auch hinsichtlich meiner männlichen Freunde. Jedem, der auch nur Interesse an mir zeigte, unterstellte er, dies allein wegen meines Aussehens zu tun. Ich habe – bis auf die blonden Haare – eine gewisse Ähnlichkeit mit Natalie Portmann. Außerdem überrage ich mit meinen Einssechsundsiebzig viele meiner weiblichen Mitmenschen. Aber dass sich allein deswegen ein Junge für mich interessieren sollte, kränkte mich eher, als dass es mir schmeichelte.

Meine Mutter, sie heißt Sonja, hat versucht, zwischen uns beiden zu vermitteln. Mama betreibt einen Dekorationsladen in Bergen auf Rügen, sie verkauft »hochwertige Inneneinrichtungsgegenstände, die ein Haus in ein Heim verwandeln«, und mit diesem Spruch hat sie die Kunden auch schon an der Angel. Sie kann gut mit Leuten, Papa gut mit Tieren. Denen kann man Kommandos erteilen, die sie schwanzwedelnd ausführen. So etwas gefällt ihm.

Jedenfalls wollte mein Vater, dass ich beruflich dem Tourismusgewerbe fern bleibe. Er war zu Zeiten der DDR auf Rügen aufgewachsen und der festen Meinung, dass der über unsere Insel hereinbrechende Tourismus nach der Wende nicht besonders toll war. Das hatte auch mit meinem Onkel Sven zu tun, der ein Hotel betreibt – aber diese Details würden jetzt zu weit führen. Jedenfalls absolvierte ich nach dem Abitur eine Ausbildung zur Röntgenassistentin in der Berufsfachschule für Medizinisch Technische Assistenten, da ich mich für Anatomie interessiere und gern mit Menschen zu tun habe. Es macht mir nichts aus, andere zu berühren, und ich habe ein Gespür für ihre Ängste – was ein großer Vorteil in diesem Beruf ist. Nach meinem Staatsexamen arbeitete ich ein paar Jahre im Klinikum Bergen auf Rügen, gab mir jedoch innerlich das Versprechen, mir irgendwann meinen Traum zu erfüllen und in die Berge zu gehen. Mit meinem Beruf hatte ich gute Voraussetzungen dafür. Bei meinen Recherchen von Stellenanzeigen im Internet stieß ich eines Tages auf die Annonce einer Unfallpraxis in Zermatt. An die Schweiz hatte ich natürlich – insbesondere wegen der Verdienstmöglichkeiten – schon gedacht. Sie suchten jemanden mit meiner Qualifikation und dem Schwerpunkt auf Röntgendiagnostik.

Mehr oder weniger aus Jux, und weil Mona mich dazu ermunterte, rief ich an, berichtete von meinen bisherigen Tätigkeiten, beantwortete Fachfragen, und man lud mich zum Gespräch ein. Es war fast eine Tagesreise, doch die Praxis übernahm Fahrtkosten und Übernachtung. Und dann, wir hatten kaum eine Stunde geredet, unterbreitete Frau Dr. Kälin mir ein Jobangebot und offerierte mir so viel Gehalt, dass mir schwindelig wurde. Ich konnte nichts anderes tun, als spontan zuzusagen.

Das Gefühl, das sich dabei in meinem Magen ausbreitete, ist kaum zu beschreiben: als ob eine Kanne warmes Öl im Bauch ausläuft. Ich würde in den Bergen leben!

Papa war entsetzt, Mama todtraurig. Ich rang mit mir, weil ich mir kaum zugestehen mochte, glücklich zu sein, wo ich andere doch so unglücklich machte. Doch schließlich gewöhnten sich meine Eltern an den Gedanken, dass ihre Tochter die erste eigenständige Entscheidung ihres Lebens getroffen hatte.

Papa stichelte zwar unentwegt weiter, sobald wir uns zu den wenigen Gelegenheiten seit meinem Fortgehen sahen. Besonders, als er feststellte, dass ich mit Louis mit einem Mann zusammengekommen war, der nur wenige Jahre jünger war als er selbst. Von meinem Bergsteiger, an den ich zuvor mein Herz verlor, hatte er gar nichts mitbekommen. Aber das alles kam erst später. Nach dem Vorfall bei Frau Dr. Kälin, der dazu führte, dass ich meinen Job verlor.

Nach meinem Weggang von Rügen besserte sich zunächst das Verhältnis zwischen Papa und mir. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren und meine neue Chefin mir ein möbliertes Zimmer mit Kochnische und Bad auf dem Flur unweit der Praxis vermittelt hatte, brachten Mama und Papa mich mit ein paar persönlichen Dingen wie meiner Bettwäsche und einem Bücherregal nach Zermatt.

Es war ein regnerischer, nasskalter Tag im September. Das Matterhorn war wolkenverhangen und die Heizung in meiner Unterkunft kaputt. Papas Blicke sprachen Bände.

Von Anfang an fühlte ich mich wohl in diesem Team aus Ärzten, Arzthelfern und Medizinisch Technischen Assistenten. Ich war für das Röntgen zuständig. Wie gesagt lag es mir, Patienten zu beruhigen und ihnen die Angst vor Schmerzen zu nehmen, ihnen das Vertrauen zu vermitteln, dass sie bei uns in allerbesten Händen waren. Mir ging die Arbeit leicht von der Hand, es stellte sich rasch Routine ein, und ich integrierte mich gut in das Team aus Schweizern, Deutschen, Italienern und Franzosen. Überhaupt ist dieses Dorf ein internationales Pflaster. Natürlich gibt es Zermatter, die hier geboren sind – aber in dieser ersten Zeit lernte ich schnell, dass es ebenso viele Ausländer gibt, die hier leben und arbeiten.

Über meine Chefin lernte ich Mariella kennen, die in einer Kletterschule mit angrenzendem Outdoorladen auf der Bahnhofstraße arbeitete. Mariella und Frau Dr. Kälins Tochter Linda, die inzwischen in Zürich lebt, waren zusammen zur Schule gegangen. Mariella und ich waren uns auf Anhieb sympathisch. Ihre Mutter stammte aus Sardinien und hatte ihrer zierlichen Tochter eine wilde, schwarze Lockenmähne und sehr dunkle Augen vererbt. Mariella und ich mit meiner nordischen Körpergröße, den blonden, glatten Haaren und den grauen Augen, die bei Sonnenschein auch mal wie blau wirken können, hätten nicht unterschiedlicher aussehen können. Mariella war ebenso wie ich drahtig und wendig, doch im Gegensatz zu mir, die früher nur gelegentlich am Strand joggte und stattdessen viel lieber segelte, hatte sie schon als Kleinkind Skilaufen gelernt und kraxelte auch gern über Berge. Sie nahm mich mit zum ersten Skifahren.

Frau Dr. Kälin sah das nicht gern, da sie befürchtete, ich könnte bald selbst Patientin ihrer Praxis werden, doch glücklicherweise stand ein Verbot nicht in meinem Arbeitsvertrag. Ich hatte noch nie auf Brettern gestanden und war anfangs recht wacklig unterwegs, doch Mariella war eine hervorragende Lehrerin, die mir schnell beibrachte, ohne Verletzungen die Berge hinunter zu kommen. Sie half mir mit ihrer offenherzigen Art, mich bald heimisch zu fühlen, und sorgte dafür, dass sich immer mehr Schweizer Begriffe in meinen Sprachgebrauch mogelten – was meine Eltern und Freunde auf Rügen bei meinem ersten Besuch in der Heimat an Weihnachten belustigt zur Kenntnis nahmen. Grüezi gehört übrigens nicht dazu. Der Walliser sagt »Güeten Tag« und bereits nach zwölf Uhr mittags »Güete Abu«. Solche Dinge verinnerlicht man schnell.

Die ersten Monate nach meiner Ankunft arbeitete ich ohne Pause. Es war Hochsaison, doch die Skiverhältnisse waren nicht optimal, es gab viel Eis, die Verletzungsrate war hoch. In meiner wenigen Freizeit litt ich unter der Kälte, die trotz Sonnenscheins herrschte, doch Mariella half mir über die kalten Monate hinweg, indem sie mich mit zu Aprés-Ski-Partys ins Dornrösli oder ins Broken mitnahm und mich ihren Freunden vorstellte – aber das Eis wollte bei den anderen nicht so recht brechen. Für sie war ich eine auf der Durchreise.

3

Vor zwei Jahren – Juni

Als es nach der Schneeschmelze im Juni endlich etwas wärmer wurde und nach der Skisaison die ersten Bergsteiger-Touristen in den Ort kamen, nahm Mariella mich mit zum Klettern. Glücklicherweise ließ ich mich von ihr dazu überreden, mir festes Schuhwerk zuzulegen. Immerhin arbeitete sie dafür im richtigen Laden, und bald zierten meine Füße fesche rote Bergschuhe.

In dieser Zeit erzählte Mariella mir erstmals von Felix.

Wir befanden uns gerade auf einer Wanderung vom Schwarzsee aus hinauf zur Hörnlihütte – ein herausfordernder Marsch auf einem schmalen, steinigen Pfad und nur für schwindelfreie Personen geeignet. Bis dahin hatte sie den Namen ihres Chefs nie genannt – ich wusste lediglich, dass er der Sohn des Seniorchefs war, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Mein Kenntnisstand war, dass dieser Juniorchef sich in Kanada aufhielt, um dort den letzten Teil seiner Bergführer-Ausbildung zu absolvieren, die es vorsah, dass die Aspiranten auch im Ausland ihre Klettererfahrung machten. Ich hatte mir einen Mann im Alter meines Vaters vorgestellt, wenn sie von ihrem Chef sprach, und nicht von einem Typen unseres Jahrgangs, mit dem sie und Linda Kälin die Schulbank gedrückt hatten. Dass Felix' Vater sich schon mit Sechzig zur Ruhe gesetzt hatte, war für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich.

Wir waren gerade außer Atem bei der Hörnlihütte angekommen und wurden von einem grandiosen Ausblick aufs vor uns liegende Matterhorn belohnt. Ich fand es unvorstellbar, dass geübte Bergsteiger an einem einzigen Tag dort hinauf und auch wieder hinabstiegen.

»Warum hast du mir noch nie etwas von diesem Felix erzählt, wenn er doch deine große Liebe ist?«, fragte ich meine Freundin, nachdem sie mir gestanden hatte, dass sie vor Nervosität über Felix Obermatts bevorstehende Rückkehr kaum mehr ein Auge zubekam.

»Weil ich eigentlich die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er sich etwas aus mir macht«, gestand sie.

Mariella gab sich mir gegenüber immer Mühe, Hochdeutsch zu sprechen, damit ich auch alles verstand. Dennoch knackten die Silben am Ende, wie wenn man ein Stück Schokolade bricht. Und sie rollte das R so spielend, wie es mir niemals gelingen würde.

»Aber jetzt hat er mir eine Karte geschrieben«, fuhr sie fort, »und darauf steht, dass er sich auf mich freut. Das lässt mich hoffen. So etwas hat er noch nie gesagt.«

Zuerst einmal musste sie mir erklären, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass sie für ihren ehemaligen Schulkameraden arbeitete – und nicht, wie man hätte annehmen können, in der elterlichen Pizzeria. Allerdings gab es dafür keinen anderen Grund als den, aus dem ich aus Rügen fortgegangen war: Zwischen Mariella und ihren Eltern kriselte es, weil sie – ebenso wenig wie ihr Bruder Toni – kein Interesse am Restaurant von Vater und Mutter zeigte. Stattdessen waren beide Geschwister sportversessen, was bei Toni dazu geführt hatte, dass er in Bern irgendetwas mit Sport studierte. Mariella hingegen hatte in dem Geschäft, das Felix nun leitete, eine Ausbildung absolviert, die man in Deutschland wohl Einzelhandelskauffrau nennen würde – und seither arbeitete sie dort. Ihre sportlichen Aktivitäten verfolgte sie lediglich privat.

Aber zurück zu Felix: Bei Mariella war in der Pubertät die Kinderfreundschaft in Liebe übergegangen. Dass Felix eines Tages ihr Chef werden könnte, daran hatte sie vor ein paar Jahren noch gar nicht gedacht. Sie hatte ihn lediglich aus der Ferne angehimmelt, denn er schien ihr – bis auf ein paar Momente, in denen sie meinte, dass er sie verstohlen ansah – nie ein Zeichen gegeben zu haben. Im Gegenteil: Er hatte Freundinnen gehabt, sie Freunde. Sie sahen sich nicht einmal oft, da Felix aufgrund seiner Bergführertätigkeit meist draußen unterwegs war, und sie war im Laden, für den es einen separaten Eingang sowie eine Filialleitung gab, die Mariellas Ansprechpartnerin war. Und dann kam diese Postkarte von ihm.

Meine Zweifel, ob man eine Karte als Hoffnungsschimmer nehmen konnte, behielt ich auf unserer Wanderung für mich.

Ich hatte mich schon eine Weile gefragt, warum Mariella Single war, denn es gab immerhin einige attraktive Männer unseres Alters in Zermatt. Allein wenn ich an die ganzen Skilehrer und Bergführer dachte, die die Kletterschule neben dem Outdoorladen beschäftigte.

Jedenfalls sollte Felix demnächst zurückkehren, und Mariella dachte über eine neue Frisur nach. Ihr Haar war sehr lockig und dick, sie vermochte es kaum zu bändigen, band es immer zu einem Knoten zusammen, aus dem einzelne Strähnen in ihre Stirn fielen. Ich hätte natürlich alles für diese Haare gegeben.

»Es gibt eine Möglichkeit, das Haar dauerhaft zu glätten«, sinnierte sie. »Wie eine Dauerwelle, weißt du – nur umgekehrt.«

Ich hob die Schultern. Das klang nach einer Chemiekeule fürs Haar. Mona, die regelrechte Korkenzieherlocken in einem hellen Rot hatte, wäre niemals auf diese Idee gekommen.

»Meinst du nicht, dass das vielleicht etwas übertrieben ist?«, fragte ich zweifelnd. »Soll er sich in deine Haare verlieben oder in dich?«

Es stellte sich schnell heraus, dass dieser Felix ein sensibles Thema war, das ich nicht so einfach abhandeln konnte. Also fuhren wir mit der Bahn ins knapp eine Stunde entfernte Visp, und dort ließ sie sich die Haare glätten. Ihre Löwenmähne verwandelte sich in eine ansehnlich schimmernde Fläche, die sich um Kopf und Schultern legte, doch schon auf der Rückfahrt schlang sie das Haar wieder zu einem Dutt, weil sie sich in den Scheiben der Matterhorn-Gotthard-Bahn nicht wiedererkannte.

Und dann kehrte Felix Obermatt aus Kanada zurück. Es war Juli. Zwei Jahre ist es her, dass ich ihn zum ersten Mal sah. Mariella hatte mir Fotos gezeigt – im Übrigen hing auch eines von ihm auf einem Bild im Shop, das alle Mitarbeiter zeigte. Ein großer, schlaksiger und durchtrainierter Bursche mit Grübchen und Dreitagebart. Sympathisch. Wie alle diese Kerle hier, die den Touristinnen die Köpfe verdrehten. Mir natürlich nicht. Ich stand außerdem – so dachte ich – auf eine andere Art von Männern. Ich war jedenfalls nicht auf einen Bubi aus, der noch nicht wusste, wer er war. Abgesehen davon, dass ich gar nicht auf der Suche war. Ich fand meine Unabhängigkeit ziemlich gut.

Jemand hätte mich vorwarnen sollen, dass der leibhaftige Felix mich umwerfen würde.

Mariella stellte ihn mir vor, als ich sie wie üblich in meiner Mittagspause im Laden besuchte. Sie hatte rote Flecken im Gesicht vor Aufregung.

»Annika, das ist Felix Obermatt, Felix, das ist Annika Lülow von der Insel Rügen, sie arbeitet bei Lindas Mutter in der Praxis.«

Felix und ich sahen uns an, und es machte klick.

Okay, ich hätte mir das auch einbilden können. Wenn es bei einem selbst klick macht, muss es das beim anderen noch lange nicht tun. Aber ich wusste, dass es ihm genauso ging. Es war, als hätte uns der Blitz getroffen. Seine Augen und meine gingen miteinander eine Verbindung ein, die sagte: »Aha. Du bist das also. Wo warst du die ganze Zeit?«

Ich war so perplex, dass ich sagte: »Mariella hat erzählt, dass du ganz gut kletterst. Könnten wir vielleicht mal zu dritt eine Tour unternehmen?«

»Selbstverständlich können wir das«, antwortete Felix und hielt meinem Blick stand. Und Mariella klatschte in die Hände.

Als sie und ich außer Hörweite waren, dankte sie mir überschwänglich für meinen Einfallsreichtum, hätte sie selbst doch niemals gewagt, Felix so kurz nach seiner Rückkehr zu vereinnahmen. Kichernd wiederholte sie: »Ich habe gehört, dass du ganz gut kletterst.« Sie verdrehte die Augen. »Das war eigentlich eine Unverschämtheit. Als würdest du einem Gehirnchirurgen sagen: Ich habe gehört, dass Sie ganz gut operieren.« Sie lachte abermals gackernd.

Ich fiel in ihr Lachen ein, dabei war mir gar nicht danach. Dieser Mann hatte etwas ausgestrahlt, das mir hochgefährlich werden konnte: eine Mischung aus Kraftprotz, Athlet und Teddybär. Plante ich etwa, meiner einzigen Zermatter Freundin den Liebsten auszuspannen? Das durfte auf keinen Fall geschehen.

Wir verabredeten uns also zu einer Bergwanderung, doch ich wich Felix' Blick aus, der immer wieder auf mir ruhte, als wollte er in mein tiefstes Inneres schauen und alles von mir erfahren. Und genauso ging es mir mit ihm. Dabei hatten wir uns doch gerade erst getroffen. Ich frage mich: Was führt dazu, dass man einen Menschen in der Sekunde attraktiv findet, in der man ihn das erste Mal sieht? Ist es eine Kleinigkeit, wie die Augen, die einem gefallen? Die Stimme? Die Hände, die Art, sich zu bewegen? Dinge, die man gemeinsam witzig findet? Die winzigen Härchen auf dem Handrücken, die golden in der Sonne schimmern und die man berühren möchte? Das Grübchen auf der Wange, der Schmiss in der Augenbraue? Ich könnte hundert Dinge nennen, die mir an Felix Obermatt gefielen. Vor allem sein Geruch. Er roch wie ein nie gekanntes Zuhause. Wann immer er in meine Nähe kam, reckte ich das Näschen nach ihm, wie ein Hund, der die Witterung aufnimmt.

Als er mir bei meinen ersten Kletterversuchen an einer Übungswand die Hand reichte, gingen mir seine Berührungen unter die Haut. So sehr, dass ich irgendwann nur noch albern herumgackerte. Ich führte mich unmöglich auf. Abwechselnd wünschte ich mich auf einen anderen Planeten und mit Felix allein in eine abgelegene Berghütte.

Und so etwas in der Art besuchten wir bald darauf.

»Ich würde euch beiden gern den Ort zeigen, den ich bei meinem Aufenthalt in Kanada wohl am allermeisten vermisst habe«, sagte er, als ich das nächste Mal mit klopfendem Herzen bei Mariella im Laden vorbeischaute.

»Jetzt bin ich aber gespannt«, neckte Mariella, »meinst du vielleicht die Pizzeria meiner Eltern?«

Immerhin ging er auf ihren Ton ein, wenn er auch wieder nur mich anschaute. »Dahin könnten wir danach gehen. Deine Eltern machen die beste Pizza der Welt.«

»Was hast du mit uns vor?«, fragte ich, nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, es genau so zu machen.

Diesmal fragte Mariella: »Willst du etwa ins Himmelreich?«

Felix runzelte die Stirn. »Nein, dort war ich schon lange nicht mehr. Wir waren da immer zum Feiern. Ich weiß nicht, wie du auf so eine Idee kommst.«

Ich sah fragend von einem zum anderen.

Felix erklärte grimmig: »Das Himmelreich ist eine kleine Pension in Findeln, sie gehörte meinem besten Freund, der auf einer Tour in Graubünden bei einem Bergsturz letztes Jahr ums Leben kam. Und mit ihm seine ganze Familie.« Er schluckte und hob die Schultern. »Er hat mir das Himmelreich vermacht. Das kam mal aus einer Bierlaune heraus.« Er senkte betrübt den Kopf. »Niemals hätten wir gedacht, dass es mal zu so etwas kommt.«

»Warst du seither nicht mehr dort?«, hakte Mariella nach. Sie schien nicht zu bemerken, dass er das Thema meiden wollte.

Felix schüttelte den Kopf. »Ich würde gern mit euch zum Schwarzsee wandern und die Kapelle besuchen.« Er grinste verlegen und sah dabei ein bisschen aus wie Peter aus Heidi, wenn er etwas ausgefressen hatte. »Ich hatte es versprochen, dass ich mich blicken lasse, wenn ich heil aus Kanada zurück bin.«

»Blicken lässt, bei wem?«, fragte Mariella.

Mir musste er es nicht erklären. Auch ich hatte magische Orte auf Rügen. Plätze, an die ich immer wieder ging, um Rückschau zu halten, im Zwiegespräch mit mir selbst. In der Binzer Bucht gab es eine Stelle, die Teufelsschlucht. Besonders zur blauen Stunde war es dort wunderschön. Den Plan, nach Zermatt zu gehen, hatte ich dort gefasst. Und an Silvester war ich ebenfalls hingegangen, nur um dann festzustellen, dass Papa und Amanda bereits dort waren.

Felix blieb Mariella eine Antwort schuldig und fragte noch einmal: »Kommt ihr mit?«

Ich nickte zögernd, während meine Freundin die Augen verdrehte. »Klar, warum nicht? Aber nicht, dass du von mir ein Gebet erwartest, Felix Obermatt.«

Er grinste und zwinkerte mir zu.

Am nächsten Sonntag gingen wir los. Wir hatten uns wegen eines Picknicks abgestimmt, Felix trug die Getränke, sodass wir für den Aufstieg gerüstet waren und auf unserem Marsch jederzeit eine Pause einlegen konnten. Währenddessen unterhielten wir uns. Felix erzählte von Kanada, von den Globetrottern, die er dort getroffen hatte, von zwei alleinreisenden Spanierinnen, die sich ihm und einem Amerikaner eine Weile angeschlossen hatten. Das Quartett hatte anscheinend etliche Gipfel gemeinsam erklommen.

»Dabei kommt man sich doch irgendwann näher«, neckte Mariella, vermutlich um ihm zu entlocken, ob sie sich Hoffnungen machen durfte.

Doch Felix sagte nur: »Eine Frau, die mir gefällt, muss nicht zwangsläufig Bergsteigerin sein.«

Danach verstummte sie für mindestens eine halbe Stunde, während mir das Herz raste. Zielte diese Bemerkung auf mich ab?

Als wir ein Picknick einlegten, wollte Felix von mir wissen, ob man auf Rügen klettern könnte.

Ehe ich ihm etwas antworten konnte, sagte Mariella: »Für dich wäre es dort die Hölle. Nur Hochseilgärten und Kletterhallen für Anfänger.« Das wusste sie aus einem Gespräch mit mir.

Felix sah sie irritiert an, und Mariella bekam einen roten Kopf. Dann schwieg sie wieder. Am Restaurant Schwarzsee sagte sie: »Geht ihr mal weiter zum See und zur Kapelle, ich habe genug.«

Felix und ich sahen ihr verblüfft hinterher. Dann hob er die Schultern und brummte: »Sie ist schon manchmal komisch, die Mariella.«

Wir gingen eine Weile schweigend weiter, bis der Schwarzsee in Sicht kam, den ich zuletzt bei meiner Wanderung mit Mariella zur Hörnlihütte gesehen hatte. An jenem Tag hatte ich den See gar nicht richtig wahrgenommen, weil mich der Aufstieg zur Hütte so in Anspruch genommen hatte. Möglicherweise war es auch bedeckt gewesen. Oder es herrschte Wind, und die Oberfläche des Sees lag nicht so spiegelglatt wie heute. Die Kapelle würden wir nicht für uns alleine haben, so viel stand jedenfalls fest. Schon jetzt waren zahlreiche Gruppen von Wanderern hier unterwegs.