Als es nach der Schneeschmelze im Juni endlich etwas wärmer wurde und nach der Skisaison die ersten Bergsteiger-Touristen in den Ort kamen, nahm Mariella mich mit zum Klettern. Glücklicherweise ließ ich mich von ihr dazu überreden, mir festes Schuhwerk zuzulegen. Immerhin arbeitete sie dafür im richtigen Laden, und bald zierten meine Füße fesche rote Bergschuhe.
In dieser Zeit erzählte Mariella mir erstmals von Felix.
Wir befanden uns gerade auf einer Wanderung vom Schwarzsee aus hinauf zur Hörnlihütte – ein herausfordernder Marsch auf einem schmalen, steinigen Pfad und nur für schwindelfreie Personen geeignet. Bis dahin hatte sie den Namen ihres Chefs nie genannt – ich wusste lediglich, dass er der Sohn des Seniorchefs war, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Mein Kenntnisstand war, dass dieser Juniorchef sich in Kanada aufhielt, um dort den letzten Teil seiner Bergführer-Ausbildung zu absolvieren, die es vorsah, dass die Aspiranten auch im Ausland ihre Klettererfahrung machten. Ich hatte mir einen Mann im Alter meines Vaters vorgestellt, wenn sie von ihrem Chef sprach, und nicht von einem Typen unseres Jahrgangs, mit dem sie und Linda Kälin die Schulbank gedrückt hatten. Dass Felix' Vater sich schon mit Sechzig zur Ruhe gesetzt hatte, war für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich.
Wir waren gerade außer Atem bei der Hörnlihütte angekommen und wurden von einem grandiosen Ausblick aufs vor uns liegende Matterhorn belohnt. Ich fand es unvorstellbar, dass geübte Bergsteiger an einem einzigen Tag dort hinauf und auch wieder hinabstiegen.
»Warum hast du mir noch nie etwas von diesem Felix erzählt, wenn er doch deine große Liebe ist?«, fragte ich meine Freundin, nachdem sie mir gestanden hatte, dass sie vor Nervosität über Felix Obermatts bevorstehende Rückkehr kaum mehr ein Auge zubekam.
»Weil ich eigentlich die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er sich etwas aus mir macht«, gestand sie.
Mariella gab sich mir gegenüber immer Mühe, Hochdeutsch zu sprechen, damit ich auch alles verstand. Dennoch knackten die Silben am Ende, wie wenn man ein Stück Schokolade bricht. Und sie rollte das R so spielend, wie es mir niemals gelingen würde.
»Aber jetzt hat er mir eine Karte geschrieben«, fuhr sie fort, »und darauf steht, dass er sich auf mich freut. Das lässt mich hoffen. So etwas hat er noch nie gesagt.«
Zuerst einmal musste sie mir erklären, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass sie für ihren ehemaligen Schulkameraden arbeitete – und nicht, wie man hätte annehmen können, in der elterlichen Pizzeria. Allerdings gab es dafür keinen anderen Grund als den, aus dem ich aus Rügen fortgegangen war: Zwischen Mariella und ihren Eltern kriselte es, weil sie – ebenso wenig wie ihr Bruder Toni – kein Interesse am Restaurant von Vater und Mutter zeigte. Stattdessen waren beide Geschwister sportversessen, was bei Toni dazu geführt hatte, dass er in Bern irgendetwas mit Sport studierte. Mariella hingegen hatte in dem Geschäft, das Felix nun leitete, eine Ausbildung absolviert, die man in Deutschland wohl Einzelhandelskauffrau nennen würde – und seither arbeitete sie dort. Ihre sportlichen Aktivitäten verfolgte sie lediglich privat.
Aber zurück zu Felix: Bei Mariella war in der Pubertät die Kinderfreundschaft in Liebe übergegangen. Dass Felix eines Tages ihr Chef werden könnte, daran hatte sie vor ein paar Jahren noch gar nicht gedacht. Sie hatte ihn lediglich aus der Ferne angehimmelt, denn er schien ihr – bis auf ein paar Momente, in denen sie meinte, dass er sie verstohlen ansah – nie ein Zeichen gegeben zu haben. Im Gegenteil: Er hatte Freundinnen gehabt, sie Freunde. Sie sahen sich nicht einmal oft, da Felix aufgrund seiner Bergführertätigkeit meist draußen unterwegs war, und sie war im Laden, für den es einen separaten Eingang sowie eine Filialleitung gab, die Mariellas Ansprechpartnerin war. Und dann kam diese Postkarte von ihm.
Meine Zweifel, ob man eine Karte als Hoffnungsschimmer nehmen konnte, behielt ich auf unserer Wanderung für mich.
Ich hatte mich schon eine Weile gefragt, warum Mariella Single war, denn es gab immerhin einige attraktive Männer unseres Alters in Zermatt. Allein wenn ich an die ganzen Skilehrer und Bergführer dachte, die die Kletterschule neben dem Outdoorladen beschäftigte.
Jedenfalls sollte Felix demnächst zurückkehren, und Mariella dachte über eine neue Frisur nach. Ihr Haar war sehr lockig und dick, sie vermochte es kaum zu bändigen, band es immer zu einem Knoten zusammen, aus dem einzelne Strähnen in ihre Stirn fielen. Ich hätte natürlich alles für diese Haare gegeben.
»Es gibt eine Möglichkeit, das Haar dauerhaft zu glätten«, sinnierte sie. »Wie eine Dauerwelle, weißt du – nur umgekehrt.«
Ich hob die Schultern. Das klang nach einer Chemiekeule fürs Haar. Mona, die regelrechte Korkenzieherlocken in einem hellen Rot hatte, wäre niemals auf diese Idee gekommen.
»Meinst du nicht, dass das vielleicht etwas übertrieben ist?«, fragte ich zweifelnd. »Soll er sich in deine Haare verlieben oder in dich?«
Es stellte sich schnell heraus, dass dieser Felix ein sensibles Thema war, das ich nicht so einfach abhandeln konnte. Also fuhren wir mit der Bahn ins knapp eine Stunde entfernte Visp, und dort ließ sie sich die Haare glätten. Ihre Löwenmähne verwandelte sich in eine ansehnlich schimmernde Fläche, die sich um Kopf und Schultern legte, doch schon auf der Rückfahrt schlang sie das Haar wieder zu einem Dutt, weil sie sich in den Scheiben der Matterhorn-Gotthard-Bahn nicht wiedererkannte.
Und dann kehrte Felix Obermatt aus Kanada zurück. Es war Juli. Zwei Jahre ist es her, dass ich ihn zum ersten Mal sah. Mariella hatte mir Fotos gezeigt – im Übrigen hing auch eines von ihm auf einem Bild im Shop, das alle Mitarbeiter zeigte. Ein großer, schlaksiger und durchtrainierter Bursche mit Grübchen und Dreitagebart. Sympathisch. Wie alle diese Kerle hier, die den Touristinnen die Köpfe verdrehten. Mir natürlich nicht. Ich stand außerdem – so dachte ich – auf eine andere Art von Männern. Ich war jedenfalls nicht auf einen Bubi aus, der noch nicht wusste, wer er war. Abgesehen davon, dass ich gar nicht auf der Suche war. Ich fand meine Unabhängigkeit ziemlich gut.
Jemand hätte mich vorwarnen sollen, dass der leibhaftige Felix mich umwerfen würde.
Mariella stellte ihn mir vor, als ich sie wie üblich in meiner Mittagspause im Laden besuchte. Sie hatte rote Flecken im Gesicht vor Aufregung.
»Annika, das ist Felix Obermatt, Felix, das ist Annika Lülow von der Insel Rügen, sie arbeitet bei Lindas Mutter in der Praxis.«
Felix und ich sahen uns an, und es machte klick.
Okay, ich hätte mir das auch einbilden können. Wenn es bei einem selbst klick macht, muss es das beim anderen noch lange nicht tun. Aber ich wusste, dass es ihm genauso ging. Es war, als hätte uns der Blitz getroffen. Seine Augen und meine gingen miteinander eine Verbindung ein, die sagte: »Aha. Du bist das also. Wo warst du die ganze Zeit?«
Ich war so perplex, dass ich sagte: »Mariella hat erzählt, dass du ganz gut kletterst. Könnten wir vielleicht mal zu dritt eine Tour unternehmen?«
»Selbstverständlich können wir das«, antwortete Felix und hielt meinem Blick stand. Und Mariella klatschte in die Hände.
Als sie und ich außer Hörweite waren, dankte sie mir überschwänglich für meinen Einfallsreichtum, hätte sie selbst doch niemals gewagt, Felix so kurz nach seiner Rückkehr zu vereinnahmen. Kichernd wiederholte sie: »Ich habe gehört, dass du ganz gut kletterst.« Sie verdrehte die Augen. »Das war eigentlich eine Unverschämtheit. Als würdest du einem Gehirnchirurgen sagen: Ich habe gehört, dass Sie ganz gut operieren.« Sie lachte abermals gackernd.
Ich fiel in ihr Lachen ein, dabei war mir gar nicht danach. Dieser Mann hatte etwas ausgestrahlt, das mir hochgefährlich werden konnte: eine Mischung aus Kraftprotz, Athlet und Teddybär. Plante ich etwa, meiner einzigen Zermatter Freundin den Liebsten auszuspannen? Das durfte auf keinen Fall geschehen.
Wir verabredeten uns also zu einer Bergwanderung, doch ich wich Felix' Blick aus, der immer wieder auf mir ruhte, als wollte er in mein tiefstes Inneres schauen und alles von mir erfahren. Und genauso ging es mir mit ihm. Dabei hatten wir uns doch gerade erst getroffen. Ich frage mich: Was führt dazu, dass man einen Menschen in der Sekunde attraktiv findet, in der man ihn das erste Mal sieht? Ist es eine Kleinigkeit, wie die Augen, die einem gefallen? Die Stimme? Die Hände, die Art, sich zu bewegen? Dinge, die man gemeinsam witzig findet? Die winzigen Härchen auf dem Handrücken, die golden in der Sonne schimmern und die man berühren möchte? Das Grübchen auf der Wange, der Schmiss in der Augenbraue? Ich könnte hundert Dinge nennen, die mir an Felix Obermatt gefielen. Vor allem sein Geruch. Er roch wie ein nie gekanntes Zuhause. Wann immer er in meine Nähe kam, reckte ich das Näschen nach ihm, wie ein Hund, der die Witterung aufnimmt.
Als er mir bei meinen ersten Kletterversuchen an einer Übungswand die Hand reichte, gingen mir seine Berührungen unter die Haut. So sehr, dass ich irgendwann nur noch albern herumgackerte. Ich führte mich unmöglich auf. Abwechselnd wünschte ich mich auf einen anderen Planeten und mit Felix allein in eine abgelegene Berghütte.
Und so etwas in der Art besuchten wir bald darauf.
»Ich würde euch beiden gern den Ort zeigen, den ich bei meinem Aufenthalt in Kanada wohl am allermeisten vermisst habe«, sagte er, als ich das nächste Mal mit klopfendem Herzen bei Mariella im Laden vorbeischaute.
»Jetzt bin ich aber gespannt«, neckte Mariella, »meinst du vielleicht die Pizzeria meiner Eltern?«
Immerhin ging er auf ihren Ton ein, wenn er auch wieder nur mich anschaute. »Dahin könnten wir danach gehen. Deine Eltern machen die beste Pizza der Welt.«
»Was hast du mit uns vor?«, fragte ich, nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, es genau so zu machen.
Diesmal fragte Mariella: »Willst du etwa ins Himmelreich?«
Felix runzelte die Stirn. »Nein, dort war ich schon lange nicht mehr. Wir waren da immer zum Feiern. Ich weiß nicht, wie du auf so eine Idee kommst.«
Ich sah fragend von einem zum anderen.
Felix erklärte grimmig: »Das Himmelreich ist eine kleine Pension in Findeln, sie gehörte meinem besten Freund, der auf einer Tour in Graubünden bei einem Bergsturz letztes Jahr ums Leben kam. Und mit ihm seine ganze Familie.« Er schluckte und hob die Schultern. »Er hat mir das Himmelreich vermacht. Das kam mal aus einer Bierlaune heraus.« Er senkte betrübt den Kopf. »Niemals hätten wir gedacht, dass es mal zu so etwas kommt.«
»Warst du seither nicht mehr dort?«, hakte Mariella nach. Sie schien nicht zu bemerken, dass er das Thema meiden wollte.
Felix schüttelte den Kopf. »Ich würde gern mit euch zum Schwarzsee wandern und die Kapelle besuchen.« Er grinste verlegen und sah dabei ein bisschen aus wie Peter aus Heidi, wenn er etwas ausgefressen hatte. »Ich hatte es versprochen, dass ich mich blicken lasse, wenn ich heil aus Kanada zurück bin.«
»Blicken lässt, bei wem?«, fragte Mariella.
Mir musste er es nicht erklären. Auch ich hatte magische Orte auf Rügen. Plätze, an die ich immer wieder ging, um Rückschau zu halten, im Zwiegespräch mit mir selbst. In der Binzer Bucht gab es eine Stelle, die Teufelsschlucht. Besonders zur blauen Stunde war es dort wunderschön. Den Plan, nach Zermatt zu gehen, hatte ich dort gefasst. Und an Silvester war ich ebenfalls hingegangen, nur um dann festzustellen, dass Papa und Amanda bereits dort waren.
Felix blieb Mariella eine Antwort schuldig und fragte noch einmal: »Kommt ihr mit?«
Ich nickte zögernd, während meine Freundin die Augen verdrehte. »Klar, warum nicht? Aber nicht, dass du von mir ein Gebet erwartest, Felix Obermatt.«
Er grinste und zwinkerte mir zu.
Am nächsten Sonntag gingen wir los. Wir hatten uns wegen eines Picknicks abgestimmt, Felix trug die Getränke, sodass wir für den Aufstieg gerüstet waren und auf unserem Marsch jederzeit eine Pause einlegen konnten. Währenddessen unterhielten wir uns. Felix erzählte von Kanada, von den Globetrottern, die er dort getroffen hatte, von zwei alleinreisenden Spanierinnen, die sich ihm und einem Amerikaner eine Weile angeschlossen hatten. Das Quartett hatte anscheinend etliche Gipfel gemeinsam erklommen.
»Dabei kommt man sich doch irgendwann näher«, neckte Mariella, vermutlich um ihm zu entlocken, ob sie sich Hoffnungen machen durfte.
Doch Felix sagte nur: »Eine Frau, die mir gefällt, muss nicht zwangsläufig Bergsteigerin sein.«
Danach verstummte sie für mindestens eine halbe Stunde, während mir das Herz raste. Zielte diese Bemerkung auf mich ab?
Als wir ein Picknick einlegten, wollte Felix von mir wissen, ob man auf Rügen klettern könnte.
Ehe ich ihm etwas antworten konnte, sagte Mariella: »Für dich wäre es dort die Hölle. Nur Hochseilgärten und Kletterhallen für Anfänger.« Das wusste sie aus einem Gespräch mit mir.
Felix sah sie irritiert an, und Mariella bekam einen roten Kopf. Dann schwieg sie wieder. Am Restaurant Schwarzsee sagte sie: »Geht ihr mal weiter zum See und zur Kapelle, ich habe genug.«
Felix und ich sahen ihr verblüfft hinterher. Dann hob er die Schultern und brummte: »Sie ist schon manchmal komisch, die Mariella.«
Wir gingen eine Weile schweigend weiter, bis der Schwarzsee in Sicht kam, den ich zuletzt bei meiner Wanderung mit Mariella zur Hörnlihütte gesehen hatte. An jenem Tag hatte ich den See gar nicht richtig wahrgenommen, weil mich der Aufstieg zur Hütte so in Anspruch genommen hatte. Möglicherweise war es auch bedeckt gewesen. Oder es herrschte Wind, und die Oberfläche des Sees lag nicht so spiegelglatt wie heute. Die Kapelle würden wir nicht für uns alleine haben, so viel stand jedenfalls fest. Schon jetzt waren zahlreiche Gruppen von Wanderern hier unterwegs.