ADRIANA POPESCU
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© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagkonzeption: Katrin Schüler, Berlin
unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock
(Vitaliy Kaplin; Kochneva Tetyana)
MP · Herstellung: BB
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-26206-8
V003
www.cbj-verlag.de
KAPITEL 1
Vio
3.331 Einwohner.
Und ab heute sind es drei mehr.
»Du wirst dich hier sicher schnell einleben.«
Vermutlich werde ich in der ersten Woche direkt alle Einwohner Walddorfs persönlich kennenlernen, was bei dieser überschaubaren Menge kein Problem sein dürfte.
»Ist ja auch nur für ein Jahr.«
Mama sieht immer ein bisschen traurig aus, wenn ich das sage, aber die Vorstellung, zu lange in der Enge dieses Dorfs leben zu müssen, schnürt mir die Luft zum Atmen ab. Papa drückt mir einen der leichteren Umzugskartons in die Hand und lächelt mich verschwörerisch an.
»Gute Luft, viel Grün, jede Menge Platz und ein riesiges Zimmer nur für dich allein.«
Sie sprechen immer von viel Platz, nie von Enge, sehen diesen Umzug als Chance, als Neuanfang und nicht als Endstation Dorf.
Eine Eisdiele, die wie alle Eisdielen dieser Welt Eiscafé Venezia heißt, ein Döner-Laden, drei Kneipen, ein Tennisklub und zwei Italiener, wobei nur einer von denen liefert.
Das ist alles.
Mehr gibt es hier nicht.
»Ich lasse mich überraschen.«
Sie haben versucht, den Umzug und das alles in die Zeit nach meinem Schulabschluss zu legen, weil sie mich nicht aus dem letzten Jahr rausreißen wollten. Aber wie so oft kommt im Leben alles anders, als man es plant, nicht wahr? Und jetzt stehe ich mit einem Umzugskarton – vollgestopft mit Dingen aus meinem alten Leben in München – mitten in Walddorf mit seinen 3.331 Einwohnern und frage mich, wie ich das schaffen soll. Mit fast achtzehn in der Schule noch mal von vorne anfangen. Freunde finden, einen Platz in bereits bestehenden Gruppen, in einer Schulklasse, mit der ich im Idealfall nächstes Jahr mein Abi feiere, in der mich dann aber trotzdem niemand länger als ein Schuljahr kennt. Und doch verbirgt sich zwischen all diesen Zweifeln eine Spur von Hoffnung. Wie heißt es doch so schön in dem Gedicht von Hermann Hesse?
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
»Wir zahlen für das ganze Haus mit Garten weniger Miete als für die Wohnung in München.«
Das ist eine Tatsache, die Papa immer wieder ganz begeistert wiederholt und ich nur mit Kopfschütteln kommentieren kann. Hier ist einiges günstiger, schon klar, aber hier ist eben auch weniger los.
Mein Zimmer, ganz oben im Haus, ist eigentlich eine eigene Wohnung, wenn man so will. Ich habe das Dachgeschoss für mich alleine, ein eigenes Badezimmer, sogar eine Kochnische und viel Platz für mich und meine Gedanken. Besonderes Plus ist der Balkon, auf dem ich mir meinen kleinen Outdoor-Bereich schaffen kann. All das soll ablenken. Von München, dem Vermissen, den Narben und der Tatsache, dass es sich wie eine Flucht anfühlt.
»Gar nicht so übel, hm?«
Papa bemerkt mein Lächeln, als ich den Blick vom Balkon über die Nachbarschaft wandern lasse. An unseren Garten grenzt ein Waldstück, dahinter irgendwo liegt der Badesee, an dem sich jetzt im Sommer gewiss alle Leute aus der Gegend treffen. Die sich alle schon ewig kennen und ihr ganzes Leben hier verbracht haben. Eine eingeschworene Clique, in der ich jetzt aus dem Stand meinen Platz finden soll. Vielleicht ist es gar nicht so blöd, dass jetzt Ferien sind und ich die Chance habe, zumindest ein paar Namen und Gesichter schon mal kennenzulernen, bevor es dann in mein letztes Schuljahr geht.
»Gefällt es dir?«
Gute Frage. Noch hat es was von einem Urlaubsort. Auf dem Weg in unser neues Zuhause sind wir an einem voll besetzten Biergarten vorbeigekommen, Menschen auf Fahrrädern, Kindern, die barfuß in der Hofeinfahrt gespielt haben, Kreidemalereien auf dem Gehweg, Fahrrädern, die unabgeschlossen einfach vor der Tür stehen.
»Es ist sehr ruhig.«
Der Lärm der Reichenbachbrücke, den ich durch mein Zimmerfenster in München zu jeder Tages- und Nachtzeit gehört habe, ist so weit weg, dass ich mich frage, ob es überhaupt noch Autos gibt oder hier alle schon klimafreundlich aufs Fahrrad umgestiegen sind.
Papa legt seine Hand sanft auf meine Schulter und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Vio, der Abstand wird dir sicher auch guttun, meinst du nicht?«
Ein sensibles Thema, über das wir nicht sprechen und wenn, dann nur mit Samthandschuhen an der Oberfläche abtasten. Alleine bei dem Gedanken daran spüre ich die Gänsehaut auf meinen Armen.
»Doch. Klar.«
»Wir wissen, dass es viel verlangt ist, mein Schatz. So ein großer Umbruch.«
Das schlechte Gewissen meiner Eltern wiegt mehr als all die Umzugskartons zusammen und ich werfe ihm ein versöhnliches Lächeln zu.
»Ich krieg das schon hin, Papa.«
Ist ja nur für ein Jahr. Dann gehe ich weg, studiere oder mache eine Ausbildung, vielleicht sogar wieder in München, wenn Gras über die Sache gewachsen ist oder neue Dramen die Runde machen. Noch fühlt sich alles so an, als würde ich gerade ein Auslandsjahr irgendwo absolvieren. Nur eben nicht in Frankreich, England oder den USA.
Sondern in Walddorf.
Vielleicht nicht unbedingt der Arsch der Welt, aber ich wette, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, kann ich ihn von hier aus sehen.
KAPITEL 2
Konstantin
Den letzten Aufschlag habe ich etwas verzogen, aber der Arm ist müde. Mein Vater grinst mich über das Netz hinweg an, und ich wundere mich einmal mehr, wie er in seinem Alter noch so jung aussehen kann. Gut, die grauen Schläfen verraten es vielleicht, aber wenn er mir einen Aufschlag bis an die Grundlinie serviert, frage ich mich, woher er die Kraft nimmt.
»Das war eine gute Session, Konny.«
Ich hebe den Tennisball mit dem Schläger auf, indem ich ihn zwischen Schlägerrand und Turnschuh klemme.
»Du musst an deiner Vorhand arbeiten, aber das predige ich dir seit Jahren.«
»Ich bevorzuge eben Rückhand.« Aber noch mehr würde ich jetzt eine Pause bevorzugen. Wir treffen uns, wie es sich für echte Sportsmänner gehört, am Netz und schütteln uns die Hände, auch wenn das nur eine Trainingseinheit war. Mein Vater hat einen kräftigen Händedruck, ohne dabei Finger zu brechen.
»Weißt du, wo Robin ist?«
»Am See. Wo sonst?«
Papa nickt Richtung der Trainingstasche, die er vor dem Match neben der Bank abgestellt hat und aus der Robins Tennisschläger ragt.
»Ich hatte gehofft, er leistet uns Gesellschaft.«
Weil Papa immer hofft, dass mein zwei Jahre älterer Bruder Robin noch mal an seine alten Erfolge anknüpfen wird und somit Ruhm und Ehre zurück in diesen Tennisverein – und unsere Familie – bringt.
»Papa, es sind knapp dreißig Grad. Nur Irre spielen da freiwillig Tennis.«
Mein Vater lächelt breit. Die kleinen Fältchen um seine Augen werden von Jahr zu Jahr mehr, irgendwie beruhigend, finde ich.
»Du nennst uns also Irre?«
»Nicht doch. Ich bin ja nicht freiwillig hier.«
Er verpasst mir einen leichten Schlag mit dem Schläger auf den Kopf, und wir verlassen lachend den Tennisplatz, den Papa immer donnerstags für uns reserviert, weil das Tradition hat und er wohl noch immer hofft, ich würde schlagartig genug Talent für eine Profikarriere entwickeln. Aber es reicht nur für einen soliden sechsten Platz in der Landesliga. Das ist nicht schlecht, aber eben auch nicht Robin.
»Solltest du deinen Bruder heute noch sehen, frag ihn, ob er nun am Turnier teilnehmen will oder nicht. Ich muss euch mal langsam anmelden.«
»Papa …«
Er hebt abwehrend die Hände.
»Ich weiß, ich weiß. Aber einen Versuch ist es doch wohl wert.«
Er gibt nicht auf, dabei wissen wir beide, dass Robin nicht mitmachen wird. Seit der letzten Bewerbungsabsage ist er irgendwie immer komischer geworden.
Kaum haben wir unsere Taschen geschultert, machen wir uns auf den Weg zum Vereinsheim, wo auch die Umkleideräume und Duschen liegen. Das Restaurant ist seit fast vier Monaten geschlossen, weil die letzten Pächter jetzt eine Pizzeria in Ottersfeld eröffnet haben. Aber heute sind die Rollläden oben und die Tür steht offen, auch wenn noch immer alle Tische und Stühle im Außenbereich mit einer Kette zusammengebunden auf ihren erneuten Einsatz warten.
»Weißt du, was da los ist?«
Papa, der jede freie Minute hier verbringt, nickt, als wir unsere Schritte verlangsamen.
»Ein neuer Pächter, wird wohl bald wieder was zu essen geben.«
»Das klingt doch gut.«
»Find ich auch, dann können wir uns demnächst mal zusammen nach dem Match stärken.« Papa legt mir den Arm um die Schulter, als ein Mädchen aus dem Restaurant kommt und uns bemerkt.
»Hallo.«
»Hi.«
Das Erste, was mir auffällt, sind ihre Augen, groß, vielleicht ein bisschen zu groß für ihr Gesicht, dann ihr Lächeln, als sie uns zunickt und weitergeht. Ihre langen braunen Locken wippen dabei wie im Takt eines Songs, den nur sie hört.
»Mit Essen kann ich meinen Sohnemann offenbar in den Tennisklub locken.«
Aber ich höre ihm kaum noch zu, sehe dem Mädchen mit den Locken hinterher, wie sie einen Karton aus dem Kofferraum eines roten Autos hebt. Sie trägt kurze Jeans und weiße Turnschuhe.
»Erde an Konny.«
»Hm?«
»Ich sagte gerade, sie ist hübsch.« Papa folgt meinem Blick, zieht mich aber gleichzeitig in Richtung Umkleideraum. »Und falls du Eindruck machen willst, solltest du vorher duschen.«
»Wer sagt denn, dass ich Eindruck machen will?«
»Deine Augen.«
KAPITEL 3
Vio
Mama und ich werden noch mal ins Restaurant fahren.« Papa, mit deutlichen Schweißspuren am T-Shirt, nennt das kleine Vereinsheim, das zum Tennisklub TC Unitas gehört, noch immer liebevoll Restaurant. Ich kriege es nicht übers Herz, ihm zu widersprechen, auch wenn die Küche im Vergleich zu der unseres alten Restaurants in München winzig ist, und der Gastraum nicht mal die Hälfte unserer alten Stammgäste aufnehmen könnte. »Wir wollen die Küche etwas umarrangieren, ein bisschen aufräumen.«
»Ich kann mitkommen.«
»Musst du nicht.« Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn, und ich frage mich, was ich sonst machen soll. Ich kenne hier niemanden, das Internet ist noch nicht installiert und meine Bücher sind in irgendwelchen der zahlreichen Kartons, die teilweise noch im Wohnzimmer stehen.
Papa reicht mir einen länglichen Zettel und ein bisschen Geld.
»Bestell dir was zu essen, wir wissen nicht, wann wir heimkommen.«
Der Kühlschrank, der immerhin schon läuft, ist nämlich noch so leer wie mein Blick, als Papa zurück zum Auto geht und einsteigt. Sie sind so voller Vorfreude und Tatendrang, doch mir bricht es fast das Herz, ihn in der kleinen Küche der Vereinsgaststätte zu sehen. In München hatten wir ein Restaurant, eines, das immer voll war. Außer dienstags, da war Ruhetag und Papa immer ganz hibbelig, konnte den Mittwoch kaum erwarten und hat mich mit zum Großmarkt genommen. Abends herrschte Papa über den Grill in der Küche, mit einem Team aus vier Leuten. Mama und zwei Kellner haben bedient, Getränke gezapft und die Gäste bei Laune gehalten. Kaum war ich sechzehn, stand ich offiziell hinter der Theke und durfte helfen.
Das Restaurant war ihr ganzer Stolz. Als dann die Pacht nicht verlängert wurde und mein Drama dazukam, wollten sie raus aus München, irgendwo was Neues aufziehen, aber die Preise waren absurd hoch. Sie fingen an, sich auch im weiteren Umland umzusehen, und aus dem Umland wurde dann ein anderes Bundesland, aus der Großstadt ein Dorf und aus dem Restaurant ein Vereinsheim. Noch immer verstehe ich nicht, wieso sie das hier angenommen und nicht nach etwas Besserem gesucht haben. Wenn nicht in München, dann vielleicht in Nürnberg oder Augsburg.
Mein Blick fällt wieder auf den Bestellzettel in meiner Hand.
Pizza Panda.
Hier gibt es offenbar alles. Pizza, Pasta, Döner, Tacos, Chicken Wings, vegane Falafel, Burger, Hotdogs und Salate, nur keine Pandas. Ich halte Pizza für die sicherste Wahl und entscheide mich für eine mit frischen Tomaten, Basilikum und Mozzarella, dazu noch eine Flasche Cola und Pizzabrot. Dabei fällt mir auf, dass ich gar keinen Mindestbestellwert erfüllen muss. Kein Wunder, Walddorf ist nicht besonders groß, offenbar lohnt da jede Lieferung, selbst wenn es nur eine Pizza ist.
Nachdem ich bei der Nennung meiner Adresse erst noch mal die Hausnummer checken muss, heißt es, meine Bestellung wäre in knapp zwanzig Minuten bei mir, bevor mir ein schöner Abend gewünscht wird. Die Stimme am anderen Ende klingt gut gelaunt und wenig gestresst, das wiederum freut mich.
Die Wartezeit verkürze ich mir mit ein bisschen Recherche. Bei Instagram gebe ich den Hashtag #Walddorf ein und sehe mir die neuesten Suchergebnisse an. Wie nicht anders zu erwarten, finde ich zahlreiche Sommerschnappschüsse, Fotos von jungen Menschen auf bunten Badehandtüchern, mit fruchtigen Cocktails auf irgendwelchen Partys, auf die ich nicht eingeladen war, und von Jungs, die von einem Steg ins Wasser springen, alle bemüht, besonders lässig zu wirken. Alles schreit nach entspannten Sonnentagen weit abseits des Großstadtstresses, nach die Seele baumeln lassen.
Aus purem Heimweh gebe ich auch noch #München ins Suchfeld und werde von Fotos bekannter Ecken meiner Heimatstadt empfangen. München ist mit Abstand die schönste Stadt Deutschlands – oder Italiens, je nachdem, wie man es sieht. Denn an manchen Tagen kam mir das Flair in den Straßen meiner Stadt sehr südländisch vor. Am Ufer der Isar sitzen sie, grillen, stoßen mit ihrem mitgebrachten Aperol Spritz an und lächeln in die Kameras. Letzten Sommer war ich noch eine von ihnen, irgendwo mittendrin, bevor es die Runde gemacht hat und das Getuschel hinter meinem Rücken immer lauter wurde.
Seufzend lege ich das Handy zur Seite und setze mich auf die Stufen vor unserem Hauseingang, behalte die Straße genau im Auge und zähle vier Radfahrer, ein Auto und eine Gruppe Fußgänger, nicht gerade das, was ich um diese Uhrzeit Hochbetrieb nennen würde.
Dann ertönt das Geräusch eines Rollers, der offenbar näher kommt, und tatsächlich sehe ich ihn in unsere Auffahrt einbiegen. Eine knallgelbe Vespa, ein Typ mit einem mattschwarzen Jethelm, auf dem zwei schwarze Plüschohren kleben, taucht auf. Der Fahrer verbirgt seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille.
Wie eine Szene aus diesem einen Film, den Mama so gerne schaut.
Wenn man von den Bärenohren mal absieht.
»Hast du Pizza bestellt?« Er lächelt zu mir rüber und ich nicke. Sobald er den Motor ausgeschaltet hat, nimmt er den Helm ab, was seine Frisur ihm nicht verzeiht, und steigt ab. Obwohl ich hier niemanden kenne, kommt er mir irgendwie bekannt vor. »Dann bin ich dein Panda.« Er tippt schnell gegen den Helm. »Wegen der Ohren.«
Das ringt mir ebenfalls ein Lächeln ab. Vermutlich ist er in meinem Alter und verdient sich im Sommer als Pizzalieferant etwas dazu. Aus dem großen eckigen Kofferfach des Rollers fischt er eine Pizzaschachtel und die Tüte mit dem bestellten Pizzabrot heraus.
»Cola war auch für dich?«
»Korrekt.«
Mit allem beladen kommt er zu mir, und ich stehe auf, mustere ihn eindringlich. Hellbraune, wilde Haare, ein verschmitztes Lächeln und der Duft von Basilikum, aber ich habe keine Ahnung, woher ich ihn kennen könnte. Doch sein Gesicht werde ich ganz sicher nicht so schnell vergessen.
»Sag mal, du warst doch vorhin im Tennisklub, oder?«
Ah! Natürlich! Dort habe ich ihn mit seinem Vater gesehen.
»War ich.«
Er reicht mir im Austausch gegen das Geld meine Bestellung und nimmt die Sonnenbrille ab, wodurch sanfte braune Augen sein Gesicht endlich komplettieren.
»Ich bin Konstantin. Konstantin Wagenfeld.«
Umständlich reicht er mir die Hand, die ich – bedacht darauf, nichts von meiner Bestellung fallen zu lassen – auch annehme.
»Vio.«
»Du bist neu hier?«
»Ziemlich frisch, ja.«
»Cool. Willkommen in Walddorf.«
»Danke.«
Vermutlich hat die Gemeinde ihn als Begrüßungsbeauftragten ausgewählt, weil sein Lächeln schön und seine Augen klar sind.
»Übernehmt ihr die Vereinsgaststätte?«
Nachdem ich den Pizzakarton und die Cola auf der Stufe neben mir abgestellt habe, macht Konstantin noch immer keine Anstalten zu gehen.
»Meine Eltern, ja.«
»Sehr gut, da hat echt Essen gefehlt, Tennis macht nämlich sauhungrig.«
»Du spielst Tennis?«
»Ich versuche es.«
»Und was macht man hier so, wenn man nicht Tennis spielt? Oder es versucht?«
»Wir haben auch einen Kegelklub.«
»Wow.«
»Ich weiß, damit kann man Neuankömmlinge so richtig beeindrucken.«
»Wer sagt denn, dass ich nicht beeindruck bin?«
Kurz schleicht sich Unsicherheit in seinen Blick, er kaut auf der linken Seite seiner Unterlippe, aber ich erlöse ihn schnell und wechsele das Thema.
»Schicke Vespa.«
»Die gehört meinem Bruder, aber ich darf sie fahren, wenn er sie nicht braucht.«
»Nur im Dienst?«
Dabei deute ich auf sein T-Shirt, auf dem ein großer Panda eine noch größere Pizza über seinem Kopf balanciert. Als müsse er sich noch mal vom Motiv überzeugen, sieht er auf sein Shirt und zuckt dann fast entschuldigend die Schultern.
»Ist nur ein Sommerjob. Und nein, ich fahre damit auch privat rum.«
»Geht das denn?«
»Hier schon.«
»Gibt es hier viel zu erkunden?«
»Wenn man weiß, wo es sich lohnt, dann schon.«
Die Pizza wird langsam kalt, mein Magen knurrt leise, aber bestimmt, und trotzdem beende ich das Gespräch nicht.
»Und du weißt das, nehme ich an?«
»Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Und du?«
»In München.«
»Wow.«
Ja, klar, München beeindruckt immer. Vollkommen egal, welche Geschichte man dort zurückgelassen hat.
»Da können wir hier natürlich nicht mithalten.«
»Ihr habt immerhin einen Kegelklub.«
Konstantin sieht auf seine Schuhe – weiße Chucks – und schließlich wieder zu mir.
»Wenn du mal ’ne Dorfführung brauchst …«
Er zieht einen Kugelschreiber aus der Gesäßtasche seiner Jeans, beugt sich runter und schreibt mir seine Nummer auf den Pizzakarton.
»Lass mich raten, dann bist du mein Panda?«
»Ganz richtig.«
Wieder klopft er auf den Helm, an dem die beiden Ohren kleben.
»Gerüchte besagen, ich kenn mich hier gut aus.«
»Danke für das Angebot.«
Und dann muss er weiter, die nächste Bestellung ausliefern. Ich beobachte ihn dabei, wie er sich den Helm aufsetzt, dessen Bärenohren ihm offensichtlich nicht im Ansatz peinlich sind. Bevor er die Sonnenbrille aufsetzt, sieht er noch mal zu mir und salutiert, startet dann die Vespa und wendet geschickt in der Auffahrt. Zweimal hupt er kurz, dann rollt er zurück auf die Straße und braust davon.
Mein Blick wandert zurück zu dem Pizzakarton, der nicht nur mein Abendessen beherbergt, sondern nun auch die Nummer meines Fremdenführers trägt.
Kein schlechter erster Tag in Walddorf.
KAPITEL 4
Konstantin
Hast du mir ’ne Pizza mitgebracht?«
Robin sitzt auf einer unserer Gartenliegen, was ich nur deswegen weiß, weil das Glimmen seiner Zigarette mir seinen genauen Standort verrät. Sonst brennt nur eine riesige Citronella-Kerze in einem Tongefäß, die Mama letzten Sommer zur Mückenabwehr gekauft hat. Keiner von uns bringt es übers Herz, ihr zu sagen, dass der grässliche Gestank zwar die Nachbarn, nicht aber die Mücken fernhält.
»Klar. Es gab aber nur noch eine mit Schinken.«
Mit der Pizzaschachtel im Arm und dem Helm in der Ellenbogenkuhle komme ich auf meinen Bruder zu, dessen Umriss mit jedem Schritt klarer zu erkennen ist.
»Nehm ich.«
»Wo sind Mama und Papa?«
»Bei den Werbers, Spieleabend mit Wine-Tasting.«
Er nimmt mir den Karton ab, und ich lasse mich auf die Liege neben ihn fallen, strecke die Beine von mir und sehe nach oben, wo eine weitere wolkenlose Sommernacht schwüle Hitze bis in die Morgenstunden verspricht.
»Du warst gar nicht beim Tennis heute.«
Robin zuckt lässig die Schultern und angelt sich ein erstes Stück, das lange Käsefäden zum Rest der Pizza bildet, aus der Schachtel.
»Es ist Sommer, wer hat da Bock auf Tennis?«
»Papa.«
Wir lachen beide kurz, weil unser Vater tatsächlich täglich den Schläger schwingt und das seit seiner Jugend. Ich wette, manchmal sieht er sich im Finale von Wimbledon und kommentiert seine Aufschläge und Schmetterbälle für sich im Kopf mit.
»Ich habe am Montag ein Vorstellungsgespräch.«
Das sagt er kauend und mit vollem Mund, als wäre es nur so eine Nebensache, die man zwischen Citronella-Kerze und Pizzastücken erzählen kann. Aber bei Robins Odyssee auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle verdient es eine Schlagzeile auf der Titelseite der Tageszeitung.
»Echt jetzt?«
Er wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und grinst fettig.
Robin sieht aus wie eine fertige Version meiner selbst. Seine Haare wissen auch ohne Pflegeprodukte, was sie tun müssen, sein Lächeln hängt nicht schief in den Mundwinkeln und seine Augen sind fest auf die Zukunft gerichtet. Obwohl sie in den letzten Monaten immer dunkler wurden.
»Sie waren von meiner Bewerbung angetan und haben mich zu einem persönlichen Gespräch eingeladen.«
»Das ist saugut!«
»Na ja, mal sehen, wie das dann läuft, aber es ist ein Anfang.«
Die meisten seiner Bewerbungen sind unkommentiert irgendwo im Stellenangebotsnirwana versickert, was bei ihm zu ordentlich Frust und beim Rest der Familie zu Hilflosigkeit geführt hat. Zwei Mal konnte er in einem Betrieb zur Probe arbeiten, bekam dann die Absage per WhatsApp und die Enttäuschung frei Haus direkt zugestellt.
»Hab diesmal echt ein gutes Gefühl. Die klangen am Telefon auch supernett.«
»Welche Stelle ist es?«
Ich habe aufgehört mitzuschreiben, auf was für verschiedene Stellen er sich beworben hat. Eigentlich war so ziemlich alles dabei, was seiner Verzweiflung geschuldet war.
»Sport- und Fitnesskaufmann.«
Niemand ist sportlicher als mein Bruder. Okay, maximal Papa.
»Ist ja wie auf dich zugeschnitten. Das wird was.«
Robin war dabei, als ich mein erstes Ass geschlagen habe. Er hat mir seine Technik verraten und stundenlang mit mir auf dem Tennisplatz geübt. Er war es auch, der mich mit zum Surfklub am Silbersee und mir dann die Angst vor dem Wasser genommen hat. Die erste Zigarette habe ich damals aus seinem Zimmer geklaut und bei meiner ersten Party mit Alkohol hat er ein Auge auf mich gehabt, damit ich keinen Unsinn anstelle. Obwohl es mir vor dem Tag graut, an dem er irgendwo einen Job antritt, weit weg von Walddorf, wünsche ich es ihm doch so sehr. Weil er mit jedem Tag, den er hier feststeckt, frustrierter wird.
»Jetzt guck nicht so. Der Job wäre in Mannheim. Da bist du in anderthalb Stunden mit dem Zug.«
Dafür müsste ich allerdings erst mal mit dem Bus nach Speyer, weil es hier weit und breit keinen Bahnhof gibt. Und alleine die Busfahrt würde vierzig Minuten dauern. Mannheim klingt gerade so weit weg wie Berlin oder New York.
»Du bleibst doch auch nicht ewig hier, Konny.«
Konny. Alle nennen mich noch ab und zu so, dabei mochte ich den Spitznamen nicht mal, als ich klein war.
»Was ist denn an Walddorf so irre schlimm?«
»Hier ist nichts los. Was willst du hier denn mal machen?«
»Hier ist jede Menge los!« Jetzt klinge ich trotzig, als wäre ich wirklich wieder elf und hätte den Name Konny verdient.
»Du wirst hier doch nie ein Mädchen kennenlernen.«
Sofort denke ich an Vio mit den großen Augen, und meine Mundwinkel machen sich selbstständig.
»Sag bloß, ich hab da was verpasst …?«
Große Brüder checken immer alles, weil sie Vorsprung haben und uns unser Leben lang kennen.
»Nee. Eigentlich nicht.«
»Eigentlich ist ein Unsicherheitswort, Bruderherz.« Jetzt stellt er den Pizzakarton auf den Boden zwischen unsere Liegen und lehnt sich zu mir rüber. »Wer ist es? Sag jetzt nicht, Isabell hat dich rumgekriegt! Die baggert schon den ganzen Sommer an dir rum.«
»Nein, nicht Isabell. Du kennst sie nicht.«
»Ich kenn hier jeden.«
Nicht Vio. Und genau genommen kenne ich sie ja auch nicht.
»Ist sie hübsch?«
Wieder muss ich lächeln, einfach so.
»Sehr.« Zumindest habe ich bei meiner Auslieferungstour immer wieder an sie denken müssen. Und unter Umständen habe ich vielleicht auch öfter als nötig mein Handy gecheckt. Nicht, dass ich damit gerechnet hätte, dass sie mir heute Abend noch schreibt.
Oder überhaupt schreibt.
»Sie ist neu hier.«
»Ach.«
»Ja. Na ja. Mal sehen.«
»Wer kommt denn freiwillig nach Walddorf?«
»Nicht alle finden es hier so irre ätzend, Robin.«
»Ich weiß, ich weiß.«
Er hebt sofort entschuldigend die Hände und verpasst mir einen leichten Schlag gegen die Schulter.
»Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Erfolg bei der Neuen. Vielleicht wird dieser Sommer gar nicht so beschissen, wie ich vermutet habe.« Seine Augen leuchten wieder so wie früher, wenn wir zusammen heimlich über den Zaun zum Kieswerk geklettert sind, weil es an dem Baggersee dort den besten Badeplatz überhaupt gibt. Damals, als ich noch nicht zu uncool für ihn war. »Ich finde ’nen Job und du die erste Liebe.«
Das wäre allerdings eine Geschichte nach meinem Geschmack.
KAPITEL 5
Vio
Es gibt genau einen Supermarkt im Dorf und der hat gefühlt die Größe einer Telefonzelle. Umso überraschter bin ich, dass ich hier tatsächlich alles finde, was auf dem Einkaufszettel steht. Die Metzgerei ist direkt mit einer Fleischtheke vertreten, der Bäcker vorne verkauft frisches Brot und der Getränkemarkt liegt auf der anderen Straßenseite. Ich habe wohl das Epizentrum des Ortes gefunden. Nur zwei Kassen, die Einkaufswagen passen nicht so recht zusammen und das obligatorische 1-Euro-Stück kann man sich auch sparen, weil es die Sicherheitsvorrichtung hier nicht gibt. Kurz fühle ich mich wie durch eine Zeitspalte gerutscht und in den 80ern angekommen. So stelle ich sie mir zumindest vor, denn sogar manche Uralt-Werbeplakate hängen so hartnäckig an der Wand, dass man gar nicht weiß, ob man sie jemals wieder abkriegen wird.
Im Gang mit der Sonnenmilch steht eine Gruppe Mädels in meinem Alter und berät sich, wie hoch der Sonnenschutzfaktor für einen Tag am See sein muss, als eine mich entdeckt und sofort die Augenbrauen zusammenzieht.
Zu spät für Flucht?
Tapfer schiebe ich meinen Einkaufswagen mit dem lahmen Vorderrad quietschend an ihnen vorbei, worauf sofort die Gespräche verebben und ich ihre Blicke in meinem Rücken spüre. Bloß noch an den Duschgels vorbei, dann links abbiegen und ab zu den Kassen, von denen nur eine besetzt ist. Kein Wunder, außer den Mädels und mir ist nur eine ältere Dame im Markt unterwegs und die lässt sich ordentlich Zeit.
»Du musst Vio sein.«
Ertappt, als hätte ich das Duschgel heimlich in meinen Rucksack und nicht in den Einkaufswagen gelegt, verharre ich in meiner Position mitten im Gang, bis die aus vier Mädchen bestehende Gruppe mich einholt.
»Ganz richtig.«
»Hier spricht sich alles ziemlich schnell rum, weißt du? Ich bin Mone.«
Mone, deren zartes Gesicht von unordentlichen blonden Haaren eingerahmt wird, lächelt mich offen an, stellt mir direkt auch noch die anderen Mädels vor und einen kurzen Moment lang bin ich total überfordert.
»Das sind Caro, Tanja und Sabrina.«
Sie winken mir alle zu, obwohl ich keinen Meter von ihnen entfernt stehe.
»Konstantin hat erzählt, dass es eine Neue im Dorf gibt. Und weil wir dich noch nie hier gesehen haben …« Sie tippt sich an die Stirn und sieht mich verschwörerisch an. »… haben wir kombiniert, als wir dich entdeckt haben.«
Mir entgeht nicht, dass alle mich und meinen Einkauf mustern, sich womöglich bereits ein Bild von mir machen und ich den Augenblick für den guten ersten Eindruck schon verpasst habe. Was sagen Duschgel, 500 Gramm gemischtes Hackfleisch, eine Tüte Tiefkühl-Brokkoli, Butter, Knoblauch und Kochsahne über mich aus?
»Wir treffen uns nachher alle am See. Kommst du auch?«
Mone dreht die knallgelbe Sonnencremeflasche in ihrer Hand, und ich sehe, dass sie sich für Schutzfaktor 15 entschieden haben. Offensichtlich haben sie den Sommer bereits oft draußen genossen, was mir die Bräunungsstreifen an ihren Schultern verraten. Neben ihnen sehe ich fast blass aus, weil wir die meiste Zeit drinnen beim Auflösen des Restaurants und der Wohnung verbracht haben und der Sommer mehr oder weniger an mir vorbeigerauscht ist.
Mones Lächeln ist einnehmend, und ich nicke schließlich, fast ein bisschen erleichtert, weil ich mir das Kennenlernen von Gleichaltrigen schwerer vorgestellt habe.
»Sehr gerne.«
»Cool. Weißt du, wie du hinkommst?«
»Ich denke schon.«
Zumindest weiß ich, bei welchem Fremdenführer ich mich melden kann. Noch bevor Mama und Papa nach Hause gekommen sind, hatte ich die Pizza und den dazugehörigen Karton vernichtet, allerdings nicht, ohne die Telefonnummer in mein Handy gespeichert zu haben. Sein Profilfoto bei WhatsApp zeigt ihn auf einem Surfbrett, die Sonnenbrille auf der Nase, das Lächeln strahlend. Eigentlich wollte ich mich schon bei ihm gemeldet haben, mich für die schnelle Lieferung der Pizza bedanken, aber alles, was ich formuliert habe, kam mir dumm und albern vor.
Jetzt habe ich endlich einen triftigen Grund, ihn anzuschreiben.
»Gehst du noch in die Schule? Also, nach den Ferien?«
Die Mädels begleiten mich durch den Laden bis zur Kasse.
»Ja, ich mach hier noch mein Abi. Allerdings in Speyer.«
»Welche Schule?«
»Hans-Purrmann-Gymnasium.«
»Ach, cool, da sind wir auch. Dann kommst du sicher zu uns in den Jahrgang.«
Sie kennt mich keine fünf Minuten und doch kaufe ich ihr die Freude darüber ab, dass wir uns auch nach den Ferien noch öfter sehen werden. Ich muss an meine Freunde in München denken, die sich von den Mädels hier nicht wirklich unterscheiden.
Die bisher allerdings nicht einmal gefragt haben, wie es mir geht, ob ich angekommen bin und wie Walddorf so ist.
»Ist alles noch ziemlich viel gerade.«
»Verstehe ich. Wo kommst du her?«
»München.«
Ihre Augen werden größer, fast wirkt es so, als würden sie vor Ehrfurcht erstarren.
Tanja verdreht die Augen und murmelt: »Jetzt geht es los …«
Und tatsächlich hat Mone fast Herzchen im Blick.
»Geilste Stadt Deutschlands.«
Ich bin geneigt ihr zuzustimmen, schaffe es aber, nur zu grinsen, und beginne endlich damit, meine Einkäufe aufs Band zu legen.
»Irgendwann ziehe ich nach München. Einfach, weil es so eine tolle Stadt ist!«
Sabrina, die sich an der Kasse noch für eine Packung Kaugummis entscheidet, verzieht kurz das Gesicht.
»Du warst doch noch nie dort, Mone.«
»Na und? Alleine die Fotos.« Verträumt richtet sie den Blick zum Ausgang des Supermarkts und darüber hinaus, vielleicht bis nach München. »München ist eine Stadt mit Leben! Und dann die Isar, die Uni, die ganzen Museen, Restaurants, die Klubs!«
Plötzlich findet ihr Blick zurück zu uns, genau genommen zu mir.
»Du kannst mir bestimmt Tipps geben, oder?«
Ich nicke etwas perplex.
»Ähm. Klar.« Ich habe nur in naher Zukunft nicht vor, dahin zurückzukehren. Alles noch zu frisch.
»Wann kommst du denn schon mal nach München?« Tanja oder doch Sabrina sieht Mone amüsiert an, aber diese hat offensichtlich nicht vor, ihr einen genauen Zeitplan für ihr München-Abenteuer zu nennen.
Die Kassiererin zieht all meine Artikel über den Scanner, nickt den Mädels zu und nennt mir meinen zu zahlenden Betrag.
Ich komme günstig davon und verzichte auf die Tüte, weil alles in meinen Rucksack passt. Dann warte ich, bis die anderen ihre Sonnenmilch und Kaugummis bezahlt haben, und trete mit ihnen zusammen wieder in die Hitze des Tages.
»Also, wir sind so ab zwei am See. Komm einfach vorbei, wir liegen beim bunten Schirm, du kannst uns gar nicht übersehen.«
»Bunter Schirm, den finde ich.«
Sie verabschieden sich von mir, schwingen sich auf ihre Räder – die sie unabgeschlossen einfach vor dem Laden geparkt hatten – und radeln nebeneinander über die Hauptstraße des Dorfs. Ich warte, bis sie nicht mehr zu sehen sind, dann erst fische ich mein Handy hervor und suche Konstantins Nummer, die ich vorsichtshalber unter Pizza Panda gespeichert habe.
Sehr geehrter Fremdenführer,
wie gut stehen meine Chancen, heute so gegen 14 Uhr eine kleine Rundführung mit Endziel See zu bekommen?
LG, Vio
Ich warte im Schatten der gelb-roten Markise, die sich über dem Ladeneingang wölbt, und sehe, wie das Wörtchen online unter seinem Profilfoto auftaucht. Er schreibt und schreibt und schreibt, dann ist er wieder offline, ohne mir eine Antwort zukommen zu lassen. Also heißt es warten. Und vorsichtshalber mal in dem Umzugschaos den Karton mit meinen Badeanzügen finden.
KAPITEL 6
Konstantin
Der Ball trifft mich an der Schulter, begleitet vom lauten Lachen meines Bruders, der auf der anderen Seite des Netzes steht und mich ansieht.
»Seit wann sind Handys eigentlich auf dem Center Court erlaubt?«
Seit Vio. Dabei lasse ich es sonst immer in meiner Sporttasche, aber seitdem ich Vio todesmutig meine Nummer gegeben habe, bestand theoretisch die Möglichkeit, dass sie mich anschreibt. Darauf musste ich vorbereitet sein. Körperlich und mental. Doch als die Nachricht gerade kam, hab ich mich erst mal in Antwortversionen verloren.
»Sorry.« Ohne Vio auf ihre Frage geantwortet zu haben, lasse ich das Handy zurück in meine Hosentasche rutschen.
»War es wenigstens wichtig?«
Robin dribbelt den Ball auf der Stelle, den Schläger lässig in der Hand. Es grenzt an ein Wunder, dass ich ihn wirklich dazu überreden konnte, mitzukommen und dann auch noch ein Match gegen mich zu starten.
»Schon. Aber jetzt spielen wir erst den Satz zu Ende.«
Bevor ich mir dann einen ganz anderen Satz überlegen muss, der Vio nicht sofort verrät, wie sehr ich mich freue, dass wir heute ein bisschen Zeit miteinander verbringen werden.
»Du hast Aufschlag, Schnarchnase.«
Robins Grinsen lässt mich wissen, dass er mich sowieso durchschaut hat. Er weiß, wieso ich das Handy diesmal nicht in der Umkleide gelassen habe, wieso ich es alle paar Minuten gecheckt und bei jeder eingehenden Nachricht so nervös reagiert habe.
»Hat sie sich also endlich gemeldet?«
Er stellt die Frage mitten in meinen Aufschlag, was diesen total verzogen bei ihm aufkommen lässt.
»Ja.«
Seine Rückhand ist besser als meine und schickt mich erst mal quer über den rötlichen Sandplatz, wo ich den Ball nur mit Müh und Not erwische und wieder zu ihm schmettere.
Tennis ist nicht zwingend das perfekte Spiel für ein bisschen Konversation, aber bei Robin wirkt selbst das völlig mühelos. Schon immer fand ich, dass er das Zeug hat, um für den TC Unitas Walddorf in einer deutlich höheren Liga zu spielen. Gut, vielleicht nicht die French Open, aber eine Profikarriere innerhalb Deutschlands hielten hier einige für realistisch. Vor allem Papa. Robin sieht Tennis aber bloß als Hobby, das er nur dann ausübt, wenn er Bock darauf hat.
Und heute hat er das, so wie er mich von Ecke zu Ecke rennen lässt, mich dann an die Grundlinie tackert, nur um mit einem fiesen Schmetterball all meine Hoffnungen auf den nächsten Punkt zu zerstören. Wenn man bedenkt, dass ich regelmäßig spiele und er nicht, ist es echt peinlich, wie sehr ich jetzt aus der Puste bin.
»Die spukt dir ja ganz schön im Kopf rum.«
Er hat recht. Die Wahrheit, wieso ich ihn unbedingt zu einem Spiel hier überredet habe, ist Vio. Die Arbeiten an der Gaststätte sind fast abgeschlossen, und ich hatte gehofft, sie hier vielleicht zu treffen. Damit wir noch mal reden können.
»Jetzt schreib ihr halt zurück, ohne Gegenwehr macht es keinen Spaß zu gewinnen.«
Wir entscheiden uns für eine Pause mitten im Spiel und nehmen auf der Bank an der Seitenlinie Platz, über die wir den blütenweißen Sonnenschirm aufgespannt haben. Robin schnappt sich seine Wasserflasche, ich mir mein Handy.
»Sie will sich mit mir treffen.«
»Cool.«
»Was antworte ich denn da?«
»Mensch, Konny. Sie ist ja nicht das erste Mädel, mit dem du dich triffst. Was stellst du dich denn so an?«
»München. Da hat sie bestimmt voll die Quality-Dates gehabt mit den ganzen Typen dort.«
»Ach, verstehe.«
Er nimmt seelenruhig noch einen Schluck Wasser und lässt sich beim Zuschrauben der Flasche im Anschluss viel Zeit. Dabei könnte ich hier tatsächlich ein paar Große-Bruder-Tipps gebrauchen.
»Robin?«
»Du kriegst das schon alleine hin.«
»Bitte!«
»Hör mal, wenn ihr jemand Walddorf schmackhaft machen kann, dann bist du das. Ich kenne niemanden, der so gerne hier ist wie du.«
Und irgendwie bilde ich mir ein, eine Portion Vorwurf zwischen den Worten herauszuhören, auch wenn sein Lächeln echt ist.
»Fahr sie ein bisschen rum, geh an den See, zeig ihr die Felder und den Wald.«
»Nicht gerade das P1 und die Isar.«
»Ist ja auch Walddorf und nicht München. Ich dachte, genau das gefällt dir so sehr.« Er greift in das Seitenfach seiner Sporttasche und zieht den Rollerschlüssel hervor, wirft ihn mir zu, und ich fange ihn knapp, bevor er meine Brust trifft. »Wer kann dem Vespa-Charme schon widerstehen?«
»Ich dachte, du brauchst sie heute.«
»Ich klaue mir dafür dein Rad. Treffe mich nur mit den Jungs, kein Date.« Dabei zeigt er mit dem Schläger auf mich, worauf ich schnell den Kopf schüttele.
»Das ist kein Date.«
Er deutet auf das Smartphone in meiner Hand.
»Dann mach es zu einem.«
Meine Antwort an Vio ist sicher keinen Pulitzer-Preis wert, aber ich hoffe, sie liest sie trotzdem gerne. Im Jackpot-Fall lächelt sie sogar dabei.
Sehr geehrte Frau Neu-Walddorferin,
ich musste im Terminkalender nachsehen. Ihr Glück, eine Reisegruppe hat abgesagt und ich habe spontan ab halb zwei einen Slot frei. Hole Sie daheim ab! :-)
K.
PS: Bringe einen Helm mit.
KAPITEL 7
Vio
Er ist pünktlich.
Und nervös – was mir gefällt. Wieder tut der Helm seiner Frisur nicht gut, wieder ist es mir egal. Er trägt ein schlichtes T-Shirt, ganz ohne gut sichtbar platziertem Markennamen oder auffälligem Motiv. Die kurzen Jeans scheint er selber abgeschnitten zu haben, da sein linkes Hosenbein etwas schräg und damit kürzer geraten ist als das rechte. Es passt zu seinem Lächeln, das ebenfalls etwas schief ist.
»Hi.«
Diesmal steigt er nicht vom Roller, greift nur nach dem kirschroten Helm, den er zwischen die Beine geklemmt hält, und reicht ihn mir.
»Hoffe, der passt.«
Meine Strandsachen – sie waren natürlich im untersten Karton des Stapels – habe ich in meinen sandfarbenen Rucksack gepackt, den ich jetzt schultere, als ich auf ihn zugehe.
»Wie schön, dass die Reisegruppe abgesagt hat.«
»Ja, wirklich ein Glück.«
Der Helm wiegt schwer in meiner Hand, als ich ihn entgegennehme.
»Bist du denn für gewöhnlich total ausgebucht?«
»To-tal.«
»Mein Glück.«
Bevor er etwas erwidern kann, setze ich mir den Retrohelm auf und stelle überrascht fest, dass er mir passt.
»Woher kennst du meine Kopfgröße so genau?«
»Geraten.«
»Erzähl mir nichts, du hast doch diesen Helm für all die Mädels, die du im Sommer durch die Gegend chauffierst.«
Den Riemen korrekt unter dem Kinn einzufädeln ist gar nicht so einfach, da er nicht über einen dieser typischen Steckverschlüsse verfügt.
»Du wärst überrascht, wie wenig Mädchen ich erst durch die Gegend chauffiert habe.«
Er greift nach dem Riemen, mit dem ich nicht so recht etwas anfangen kann, und führt ihn konzentriert durch die Schnalle unter meinem Kinn. Dabei entsteht eine kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen und sein Blick wird ganz ernst.
»Ach ja?«
Vorsichtig zieht er den Riemen enger, bis der Helm perfekt sitzt und er mich zufrieden betrachtet.
»Passt, sitzt, wackelt und hat Luft?«
Wie zum Beweis schüttele ich ein bisschen den Kopf und nicke dann, was die Antwort auf seine Frage ist.
»Perfekt. Und jetzt sei ehrlich: Woher hast du den Helm?«
Obwohl er keine Miene verzieht, sehe ich, wie seine Augen frech funkeln.
»Von meiner Ex-Freundin geliehen.«
»Ha. Ha.«
»Er gehört meiner Mutter.«
Damit klopft er auf den Sitz, und ich folge seiner Aufforderung, klettere hinter ihn und schlinge vorsichtig meine Arme um seine Taille.
»Ich habe die perfekte Route für dich rausgesucht, so kriegst du einen Querschnitt durch den ganzen Ort, wir lassen keine Attraktion aus und enden ganz wie gewünscht am See. Passt das für dich?«
»Das klingt genau nach dem, was ich gebucht habe. Wie lange dauert das so?«
»Ich denke, so fünfzehn Minuten.«
»Na, dann hoffe ich, du bist ein sicherer Fahrer.«
Er grinst, das kann ich im rechten Rückspiegel sehen.
»Ich bin der einzige unfallfreie Lieferant von Pizza Panda. Und der schnellste.«
»Wenn das mal nichts bedeutet.«
»Willst du auch noch mein polizeiliches Führungszeugnis sehen?«
Er dreht den Kopf zu mir, und unsere Helme stoßen kurz gegeneinander, was mir bewusst macht, wie eng wir zusammensitzen. Was mir normalerweise vielleicht unangenehm wäre, aber gerade nicht ist, obwohl ich Konstantin ja noch gar nicht kenne. Ich empfinde Erleichterung darüber, jemanden wie ihn hier gefunden zu haben, auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wer er für mich ist.
»Noch nicht. Aber vielleicht, wenn es ernst wird.«
KAPITEL 8
Konstantin
Sie hat sich für Erdbeere, Zitrone und Himmelblau entschieden und scheint mit ihrer Auswahl gänzlich zufrieden. Noch weiß ich nicht, wie ich ihr sagen soll, dass sie sich fast das ganze Kinn mit blauem Eis verschmiert hat, vor allem, weil sie es wirklich tragen kann.
»Okay, du hast nicht gelogen. Es schmeckt hervorragend.«
»Wir haben vielleicht keine schillernd bunten Klubs, aber wir haben das beste Eis.«
»Und das bunteste.«
Sie betrachtet ihre ineinanderschmelzenden Eiskugeln und lächelt verträumt. Nebeneinander, aber so, dass wir uns nicht zufällig berühren können, sitzen wir auf den Stufen des Brunnens nahe der Eisdiele, wo an besonders heißen Tage Kinder gerne eine Abkühlung suchen. Mir ist natürlich bewusst, dass die Möglichkeiten, Vio hier mit unseren Highlights zu beeindrucken, begrenzt sind, aber man kann mir zumindest nicht mangelnden Einsatz vorwerfen.
»Erzähl mir etwas über dich, das mich überrascht, Konstantin.«
Vios Sonnenbrille ist ebenso groß wie ihr normale Brille, sie versteckt fast ihr ganzes Gesicht dahinter, was ich schade finde. Sobald sie den Helm abgenommen hatte, wurden wenigstens ihre Locken aus dem Haargummi befreit, und jetzt sieht sie einfach nach Sommer aus.
»Gute Frage.« Und ich brauche dringend Bedenkzeit, denn beim Durchscrollen meiner Hobbys und besonderen Fähigkeiten springt mir nichts ins Auge, womit ich sie überraschen könnte. Es wird sie kaum interessieren, dass ich mit meiner Rückhand den Ball mit einer Geschwindigkeit von 171 km/h übers Netz zum Gegner dreschen kann, und die Tatsache, dass ich die Netflix-Serie Haus des Geldes auf Spanisch mitsprechen kann, obwohl ich kein Spanisch kann, ist auch nicht gerade eine Fähigkeit für die Supertalent-Bühne. »Ich bin bei der Feuerwehr.«
Zu gerne würde ich ihren Blick sehen, aber den versteckt sie, wie vermutlich auch ihre Gefühle, hinter der Brille, durch die sie mich jetzt mustert.
»Echt jetzt?«
»Ja. Wir haben hier eine freiwillige Feuerwehr.«
Sie lässt das Eis sinken, der Sonnenbrillenblick bleibt unverändert auf mir festgetackert.
»Wie alt bist du?«
»Siebzehn.«
»Und da bist du schon bei der Feuerwehr?«
»Freiwillige Feuerwehr, ja. Ich war auch schon bei der Jugendfeuerwehr.«
»Wow. Ein echter Grisu.« Ihre Stimme verrät mir nicht, ob sie ehrlich begeistert ist oder sich gerade über mich lustig macht. Ihr Lächeln wäre auch ganz ohne Sonnenbrille undurchschaubar. »Du weißt schon, Grisu der Drache, der Feuerwehrmann werden wollte?«
»Es mag dich überraschen, aber ich weiß, wer Grisu ist. Auch wenn es genau genommen nicht meine Zeit war.«
»Meine doch auch nicht. Aber manche Klassiker werden an die folgenden Generationen weitergegeben.«
Darauf fällt mir nichts ein, und ich hoffe, sie sieht mich jetzt nicht an, als wäre ich ein knuffiger kleiner Drache. Gefriendzoned im 70er-Style, das fehlt mir noch.
»Spannendster Einsatz?«
»Katze im Baum.«
Je mehr ich rede, desto bescheuerter komme ich mir vor. Es macht mich nervös, dass sie mich so geschützt ansehen und ich nur hektisch gegen die Sonne blinzeln kann.
»Hast du sie gerettet?«
»Nein, ich habe nur abgesichert. Robin, mein Bruder, hat sie vom Baum geholt.«
»Verstehe.«
»Ich weiß schon, ist alles wenig spannend hier für dich, Walddorf ist nicht gerade der Nabel der Welt, wo ständig irgendwas passiert, aber wir sind eigentlich ganz zufrieden mit der Ruhe und …«
Bevor ich mich weiter um Kopf und Kragen reden kann, legt sie ihre Hand auf meinen Unterarm und bringt mich durch diese Berührung zum Schweigen – und zum Schwitzen.
»Könntest du mir einen Gefallen tun, Konstantin?«
»Hm?«
»Pack mich bitte nicht in irgendeine Schublade und glaub zu wissen, was ich denke, okay?« Sie verpackt ihre Worte mit einem Lächeln und ich nicke stumm. »Ich bin jetzt hier, egal ob und wie sehr ich München vermisse. Also mache ich das Beste aus der ganzen Situation.« Sie hebt das Eis ein bisschen höher. »Und gerade könnte es echt viel schlimmer sein.«
»Ja?«
»Schon. Ich meine, nicht nur, dass du der schnellste, unfallfreie Lieferpanda bist, du rettest auch noch Katzen aus Bäumen und spendierst mir Eis.«
»Ich habe nur abgesichert.«
»Konstantin, du bist vielleicht der netteste Kerl, den ich seit Monaten getroffen habe. Das ist zur Abwechslung wirklich toll. Red das bitte nicht kaputt, okay?«
»Okay.« Ich lade meinen gelben Plastiklöffel mit einer weiteren Portion Stracciatella-Eis voll und schiebe ihn mir in den Mund, spüre aber ihren Blick noch immer auf mir ruhen.
»Ich habe heute übrigens Mone kennengelernt.«
Es ist keine Frage, nur eine Information, die sie mit mir teilt, und ich verschlucke mich, huste um mein Leben, und Vio klopft mir auf den Rücken, kräftiger als nötig, und ich erhole mich mit hochrotem Kopf von meinem kurz angetäuschten Erstickungstod.
»Ach …« Wie immer, wenn man gerade heftig gehustet hat, klingt die Stimme danach etwas schriller als sonst.
»Sie meinte, du hättest ihr schon von mir erzählt.«
Schnell räuspere ich mich.
»Ich kenne Mone schon ewig, ich habe eine Pizza bei ihr ausgeliefert und wir haben uns unterhalten.« Mone ist von Natur aus neugierig, es gibt kaum etwas, was man länger als dreißig Sekunden vor ihr verbergen kann. Sie weiß sofort, wer was mit wem auf welcher Party hatte, weil sie es den Personen ansieht und sie besser kombinieren kann als Sherlock Holmes zu seinen besten Zeiten. Mich hat sie nur angesehen und schon habe ich ihr – natürlich völlig cool – von der Neuen erzählt.
»Ich habe sie im Supermarkt getroffen.«
»Mone ist echt in Ordnung.«