Cover

Wer sterben will, muss sterben dürfen

Zum Buch

Sollen Menschen, die sterben wollen, unter ärztlicher Begleitung auch sterben dürfen? Michael de Ridder, Internist, Mitgründer eines Hospizes und Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin, ist einer der wenigen Mediziner, die sich öffentlich dazu bekennen, unter bestimmten Bedingungen Sterbehilfe zu leisten. Er hat deshalb auch vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen den Strafrechtsparagraphen 217 geklagt, der die geschäftsmäßige Suizidhilfe 2015 unter Strafe gestellt hatte. In seinem neuen Buch legt er die Positionen der Unterstützer wie Gegner der Suizidhilfe dar und zeigt die Schwachstellen in unserem Gesundheitssystem, die es Schwerstkranken vielfach unmöglich machen, angemessene Hilfe zu erhalten, wenn alle anderen Optionen erschöpft sind. Am eindrücklichsten ist de Ridders Buch dort, wo er von seinen Erfahrungen in der Begleitung sterbewilliger Patienten spricht und erklärt, in welchen Fällen er bereit ist, schwer kranken Menschen zu helfen, ihr Leben selbst zu beenden.

Zum Autor

Michael de Ridder ist Internist, Mitgründer eines Hospizes und Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin. Seit vielen Jahren befasst er sich kritisch mit dem ethischen Dilemma zwischen dem medizinischen Fortschritt und einem würdigen Lebensende und hat darüber mehrere Bücher geschrieben, darunter den Bestseller »Wie wollen wir sterben?«. In den Medien und in der Öffentlichkeit ist er ein viel gefragter Gesprächspartner. Für sein Wirken wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von der Stiftung Gesundheit für sein publizistisches Lebenswerk. Zuletzt erschien »Abschied vom Leben. Von der Patientenverfügung zur Palliativmedizin. Ein Leitfaden« (2017).

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Michael de Ridder

Wer
sterben
will,
muss
sterben
dürfen

Warum ich schwer kranken Menschen helfe, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Den Auszug aus dem Text »Endbestimmung« von Claus Koch drucken wir mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung.

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-27262-3
V001

www.dva.de

Gewidmet meinen Patienten,
an deren Sterben ich teilhaben durfte.
Sie waren mir Vorbild und ermutigten mich,
dem Unausweichlichen entgegenzuleben.

Wenn jemand mit Gewissheiten beginnen will,
wird er in Zweifeln enden.
Wenn er sich aber bescheidet, mit Zweifeln anzufangen,
wird er zu Gewissheiten gelangen.

Francis Bacon, 1561–1626

1

Prolog: Sigmund Freud und Franz Kafka – ihre Krankheiten, ihr Leiden und Sterben

In Rückschau auf den rauschhaften Glückszustand, in dem Kafka in nur einer Nacht seine Erzählung »Das Urteil« niederschrieb, notierte er am 23. September 1912 in sein Tagebuch: »Gedanken an Freud natürlich.« In der Tat offenbart Kafka mit seiner Bemerkung eine – wie auch immer geartete – Auseinandersetzung mit Freud und dessen Psychoanalyse. Aber zwischen dem Schriftsteller Franz Kafka (1883–1924) und dem Neurologen und Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939) gibt es noch eine weitere Verbindung: Sie teilten das Schicksal einer schweren chronisch verlaufenden, zur damaligen Zeit ursächlich nicht behandelbaren Erkrankung, der sie schmerzvoll über viele Jahre standhielten. Kafka litt an Lungen- und Kehlkopftuberkulose, Freud an einem bösartigen Tumor des Kiefers und Gaumens. Ihrem Schicksal gemeinsam ist nicht nur die Kreativität und Zähigkeit, mit der sie trotz körperlicher Schwächung und Schmerzen ihre Werke vorantrieben, nicht allein der Wille zur Selbstbehauptung, die Tapferkeit und Klaglosigkeit, mit der sie Krankheit und Sterben durchlebten und hinnahmen. Sie verbindet auch, dass sie von Ärzten begleitet und behandelt wurden, die ihren Wunsch nach Schmerzlinderung erfüllten, mehr noch ihre nachhaltige Bitte um Beendigung ihres letztlich unerträglich gewordenen Leidens: Ihre Ärzte leisteten nicht allein Hilfe im Sterben, sie leisteten auch Hilfe zum Sterben (zu den Formen der Sterbehilfe siehe Exkurs 1). Wie es hierzu kam und unter welchen Umständen sich Kafkas und Freuds Sterben und ihre letzten Lebensstunden vollzogen, will ich auf den folgenden Seiten darstellen.

»Klopstock – töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder«

Das dichterische Werk Franz Kafkas sucht in der Weltliteratur seinesgleichen. Kafka – ein Beladener, ein Rätselhafter, eine zerrissene und gequälte Existenz, die sich in all seinen Romanen und Erzählungen spiegelt. In ihnen ergründet Kafka wie kaum jemand vor und nach ihm die Unvollkommenheit und Undurchdringlichkeit menschlichen Lebens, wie sein Freund und Biograph Max Brod schrieb.

Kafkas Werk ist eng mit seiner persönlichen Krankengeschichte verwoben. Zeitlebens übt er sich an einer »hypochondrischen« Selbstbeobachtung seiner gesundheitlichen Verfassung, physisch wie psychisch. Fortwährend registriert er selbst geringste Unregelmäßigkeiten seines körperlichen Befindens. Immer wieder erwähnt er in Briefen und Tagebüchern nervöse Symptome (damals »Neurasthenie« genannt), spricht von seiner Magerkeit, von fiebrigen Zuständen, von Schlaflosigkeit und quälenden Kopfschmerzattacken.

Kafka – Zeit seines Lebens ein Leidender. Indes litt er nicht allein an seiner Physis; früh schon litt er am Leben, an seiner Existenz, wie aus einer schon 1916 verfassten Notiz hervorgeht: »Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: ›Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir!‹« 1

Erste Anzeichen der Erkrankung, die sieben Jahre später seinen Tod zur Folge haben sollte, bemerkt er im Sommer 1917: Anhaltend rötlicher Speichel, den er indes ignoriert und verdrängt. Schließlich hustet er Blut, in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1917 erleidet Kafka einen Blutsturz. Zunächst stellt der befreundete Arzt Dr. Mühlstein einen harmlosen Bronchialkatarrh fest. Er verordnet eine gesunde Lebensweise und Stärkungsmittel, was Kafka entgegenkommt, steht er doch der Schulmedizin und den sie vertretenden Ärzten seit jeher kritisch gegenüber. Auf Drängen von Max Brod stellt sich Kafka wenige Wochen später dem Lungenspezialisten Professor Pick vor, der anhand einer Speicheluntersuchung und eines Röntgenbildes eine floride Lungentuberkulose diagnostiziert. Pick empfiehlt einen Sanatoriumsaufenthalt (dem viele weitere folgen sollten) und zudem das damals als Stärkungsmittel geltende Arsen. Beides verwirft Kafka, stattdessen zieht er drei Monate zu seiner auf dem Land lebenden Lieblingsschwester Ottla.

Ungewöhnlich ist Kafkas Wahrnehmung und Umgang mit seiner Krankheit; ihre Ernsthaftigkeit und Bedrohlichkeit erschließt sich ihm erst allmählich. Anfänglich widmet er ihrer Erklärung mehr Interesse als ihrer fachkundigen Behandlung. Er sucht ihr Bedeutung und Sinn zu verleihen, in ihr ein Zeichen zu lesen; überfrachtet sie gar mit einer moralischen Dimension. Gegenüber Ottla nennt er die Tuberkulose eine »geistige Krankheit«, eine »endgültige Niederlage«. In Gesprächen mit Brod bezeichnet er sie als »Strafe« für sein schuldhaftes Verhalten gegenüber seiner Verlobten Felice Bauer (von der er sich noch 1917 trennt). So erfährt er eine gewisse Entlastung, die so weit geht, dass er in einem Brief an den Literatenfreund Felix Weltsch von einer »verliehenen Krankheit« spricht, aus der er einen sekundären Krankheitsgewinn zieht. 2

Im Herbst 1918 – Kafkas tuberkulöser Lungenspitzenkatarrh ist weitgehend abgeklungen – trifft ihn die Spanische Grippe, eine damals den gesamten Erdball umfassende Pandemie, die mehr als zwanzig Millionen Opfer fordert. Eine schwere wiederum mit Bluthusten und hohem Fieber einhergehende Lungenentzündung ergreift ihn und fesselt ihn wochenlang ans Bett, gepflegt und behütet von seiner Familie. Obwohl keine wirksamen Medikamente existierten, bessert sich sein Zustand; indes hat ihm das neuerliche Lungenleiden einen Schlag versetzt, von dem er sich nicht mehr erholen sollte.

Im Dezember 1920 sucht er ein Lungensanatorium in Matliary auf, einem Kurort in der Hohen Tatra. Dort lernt er einen Mitpatienten kennen, ein Jude wie er selbst, den wesentlich jüngeren angehenden Arzt Robert Klopstock (»der Mediciner«). Wie Kafka laboriert auch er an einer Lungentuberkulose. Wechselseitig sind sie voneinander fasziniert, es entsteht eine enge und vertrauensvolle Freundschaft zwischen beiden. Klopstock umsorgt ihn in einer Weise, die Kafka bisher nur von seiner Schwester Ottla kannte. Klopstock seinerseits unter einer unerwiderten Liebe sowie unter den eigenen unerfüllten literarischen Ambitionen leidend, fühlt sich von Kafka väterlich beraten und ermutigt. Über ihre Freundschaft hinaus wird Klopstock in der Folgezeit zu Kafkas Arzt, der er bis zu seinem Tod bleibt. An seine Eltern schreibt Kafka wenige Wochen vor seinem Tod: »Ich weiß aus Erfahrung, dass man bei Klopstock aufgehoben ist wie in den Armen des Schutzengels.« 3

Während des Sanatoriumaufenthaltes in Matliary hat Kafka ein einschneidendes Erlebnis: Der Besuch bei einem schwerst an Kehlkopf- und Lungentuberkulose erkrankten Mitpatienten schockiert ihn derart, dass er einer Ohnmacht nahe ist. In einem Brief an Brod wenige Stunden nach diesem Besuch verfasst, heißt es: »Was man dort in dem Bette sieht, ist ja viel schlimmer als eine Hinrichtung, ja selbst als eine Folterung … dieses ganze elende Leben im Bett, das Fiebern, die Atemnot, das Medicineinnehmen … hat keinen anderen Zweck als durch Verlangsamung des Wachsens der Geschwüre, an denen er schließlich ersticken muss, eben dieses elende Leben, das Fiebern u. s.w. möglichst lange fortsetzen zu können. Und die Verwandten und die Ärzte und die Besucher haben sich förmlich über diesem nicht brennenden, aber langsam glühenden Scheiterhaufen Gerüste gebaut, um ohne Gefahr der Ansteckung den Gefolterten besuchen, abkühlen, trösten, zu weiterem Elend aufmuntern zu können.« 4

Durch diesen Vorfall zum ersten Mal mit der Ernsthaftigkeit und Bedrohlichkeit seiner Krankheit konfrontiert und mit einer Ahnung dessen versehen, was auch ihm bevorstehen könnte, verlässt Kafka, keineswegs auskuriert, vorzeitig das Sanatorium, nicht ohne zuvor »dem Mediciner« (Klopstock) das Versprechen abgenommen zu haben, ihm eher eine Morphiumspritze zu verabreichen als eine derartige Folter in die Länge zu ziehen. In der Tat suizidiert sich der schwerstkranke Mitpatient nur wenige Tage später: Er stürzt sich zwischen zwei Waggons aus einem fahrenden Zug.

Nach zahllosen weiteren Kuren und Aufenthalten in Lungenheilstätten – die Tuberkulose hatte 1923 auch seinen Kehlkopf erfasst – begibt sich Kafka Ende April des gleichen Jahres in das nahe Wien gelegene Privatsanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg. Seine letzte Geliebte, Dora Diamant, und Robert Klopstock sind bei ihm, umsorgen und pflegen ihn. Essen und trinken kann Kafka jetzt nur noch in allerkleinsten Portionen, Schlucken ist nahezu unmöglich, Atmen und Sprechen verursachen äußerste Qualen, er kommuniziert über kleine Zettel. Auf Ottlas Drängen werden noch einmal hochrangige Spezialisten, unter ihnen der »König der Wiener Lungenärzte«, Professor Heinrich Neumann, zu Rate gezogen. Allein der Hals-Nasen-Ohren-Facharzt Dr. Beck zieht ein ungeschminktes Fazit: »Dr. Kafka befindet sich sowohl an der Lunge als auch im Kehlkopf in einem Zustand, in dem kein Spezialist mehr Hilfe bringen und man nur durch Pantopon oder Morphium die Schmerzen lindern kann.« 5

Heroisch – bereits ein Moribunder und nur noch 45 Kilo schwer – duldet Kafka alle ärztlichen Maßnahmen: In immer kürzeren Abständen versucht man mittels Kampferinjektionen sein Atemzentrum anzuregen, mit Alkoholinjektionen den oberen Kehlkopfnerv zu blockieren, eine äußerst schmerzhafte Prozedur, deren Wirkung indes nicht lange anhält und kaum Schmerzerleichterung bringt.

Zumindest zweitweise ist sein Lebenswille immer noch ungebrochen; er will bei klarem Bewusstsein bleiben, Herr seiner ausweglosen Lage sein und sein Selbst behaupten. Noch kurz vor seinem Tod korrigiert er die ihm von seinem Verlag zugesandten Fahnen des »Hungerkünstlers«; vom Friseurmeister Leopold Gschirrmeister, der alle zwei Tage das Sanatorium aufsucht, lässt er sich rasieren. Zugleich aber ist er von Angst erfüllt, Angst nicht vor dem Lebensende, sondern Angst vor einem grausamen Sterben, vor allem dem unausweichlichen Schwellen der Stimmritze, die den Tod durch Ersticken bedeutet – das terminale Stadium der Kehlkopftuberkulose – wie er es Jahre zuvor bei seinem Mitpatienten in Matliary erlebt hat.

Am Vormittag des 3. Juni 1924 will Kafka dann doch sein Leben beendet wissen: Das lang ersehnte Ende seiner Schmerzen zieht er der langsamen Folter der Krankheit vor. Brüsk, wie er sonst nie war, schickt er eine Pflegerin aus seinem Zimmer. Dann reißt er mit aller Gewalt den Herzschlauch weg, wirft ihn ins Zimmer: »Jetzt nicht mehr quälen, wozu verlängern!« Von Klopstock verlangt er, ebenso verzweifelt wie aggressiv, so seine Biographen Max Brod und Reiner Stach, eine tödliche Dosis Morphium: »Klopstock, Sie haben es mir immer versprochen, seit vier Jahren, Sie quälen mich, haben mich immer gequält. Ich rede nichts mehr mit Ihnen. So werde ich eben so sterben.« Klopstock injiziert ihm daraufhin zweimal das Opiat Pantopon. Nach der zweiten Spritze sagt Kafka, immer noch skeptisch: »Schwindeln Sie nicht, Sie geben mir ein Gegenmittel. Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.« Kafka spürt Linderung seiner Schmerzen, doch verlangt er mehr: »… es hilft ja nicht.« Und Klopstock gibt ihm mehr, wie viel, wissen wir nicht. Gegen Mittag des 3. Juni 1923 stirbt Franz Kafka, nicht einmal 41 Jahre alt. Robert Klopstock hat sein Versprechen eingelöst. 6

»Lieber Schur, das hat jetzt alles keinen Sinn mehr«

Für die Geistes- und Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts ist das Lebenswerk des Arztes und Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freud von einzigartigem Wert. Es ist das Resultat seines nie versiegenden Forscherdrangs sowie seiner geradezu fieberhaften Schaffenskraft, die ihn selbst im hohen Alter, als Jude seit 1938 im Londoner Exil lebend, nicht verließ. Dies ist umso erstaunlicher und bewundernswerter, als nahezu sein gesamtes Leben von vielfältigen Beschwerden und Krankheiten gezeichnet war. Freud war zudem dem Rauchen verfallen – trotz wiederholter Abstinenzversuche konnte er bis zu seinem Tod von dem für ihn unentbehrlichen Stimulans Tabak nicht lassen. Seit seinem 38. Lebensjahr (1893) litt Freud, wie sein Leibarzt Max Schur berichtet, neben unbestimmten Magen-Darm-Beschwerden und wiederholten Ohnmachten immer wieder unter ihn sehr ängstigenden Angina-Pectoris-Anfällen, Herzrasen und Luftnot. Diese schrieb sein Freund und späterer Biograph Ernest Jones Freuds »Tabakintoleranz« und einer »ausgesprochenen Psychoneurose« zu. Schur indes hielt eine organische Ursache im Sinne einer »Koronarthrombose« (Herzinfarkt) oder eine »infektbedingte Myokarditis« (Herzmuskelentzündung), die Freud 1894 möglicherweise durchgemacht hatte, für die eher zutreffende Ursache. 7

Obwohl Freud schon 1917 eine »lästige Läsion« an seinem Gaumen bemerkt hatte, diagnostiziert der Wiener Facharzt für Kehlkopfleiden Prof. Markus Hajek erst 1923 – Freud war 66 Jahre alt – eine Geschwulst an Freuds Gaumen, die sich als Karzinom erwies. Die daraufhin erste, ambulant durchgeführte Operation verläuft dramatisch, einer starken Nachblutung wegen fast tödlich.

Was in den Jahren bis zu seinem Tod 1939 folgt, gleicht einer bedrückenden und qualvollen Odyssee: Innerhalb von 16 Jahren erduldet und übersteht Freud 33 zum Teil nur in Lokalanästhesie durchgeführte Kieferoperationen, ergänzt durch Radiumeinlagen, Röntgenbestrahlungen und elektrochirurgische Eingriffe. Wegen der entstandenen Knochendefekte werden zahlreiche schmerzhafte Anpassungen von Prothesen notwendig, die den Mundraum vom Nasenraum trennen und ihm Sprechen und Schlucken leidlich ermöglichen. Vorgenommen werden sämtliche dieser Eingriffe, die schließlich auch zu rechtsseitiger Taubheit führen, von dem erfahrenen Wiener Oralchirurgen Prof. Pichler, der auch Kafka behandelt hatte und dem Freud großes Vertrauen schenkt. Er war nahezu immer »in Reichweite«, wie Ernst Jones berichtet. 8

Wie aus Freuds Schriften und Briefen hervorgeht, ist seine Haltung der eigenen Krankheit gegenüber eine janusköpfige: einerseits Mut, ihr ins Gesicht zu sehen, unsentimental und dabei der wissenschaftlichen Medizin vertrauend; andererseits ergibt er sich einem Fatalismus, der die Endlichkeit alles Organischen, seinen Verfall und Tod gelassen hinnimmt, durchaus auch mit Ironie, wie die mehrfach in seinen Briefen auftauchende Wendung von »meinem lieben alten Karzinom« erkennen lässt. 9

Früh schon finden sich in Freuds Abhandlungen und Briefen zahlreiche Hinweise und Andeutungen darauf, dass er am Lebensende nicht länger zu leiden wünschte, wenn er dadurch seine Schaffenskraft einbüßte. An seine Frau Martha schreibt er bereits 1885: »Der Mensch ist so armselig, wenn er nichts will, als am Leben bleiben.« 10 Bereits 13 Jahre vor dem Ausbruch seiner tödlichen Erkrankung, 1910, heißt es in einem Brief an Oskar Pfister, einen der Pioniere der Psychoanalyse: »Darum habe ich bei aller Ergebung in das Schicksal, die einem ehrlichen Menschen geziemt, doch eine ganz heimliche Bitte: nur kein Siechtum, keine Lähmung der Leistungsfähigkeit durch körperliches Elend. Im Harnisch lasst uns sterben, wie König Macbeth sagt.« 11 Kurze Zeit nach der Diagnose seines Karzinoms (1923) bittet Freud in einem Gespräch mit dem ihm damals nahestehenden Arzt Felix Deutsch, ihm dazu zu verhelfen, »mit Anstand aus der Welt zu verschwinden« 12 , falls er zu einem schmerzhaften Sterben verurteilt würde. Als Max Schur 1928 Freuds Leibarzt wird, verlangt er von ihm, ihn über den Fortgang seiner Erkrankung immer »nichts als die Wahrheit zu sagen«. Und er fordert ihn auf: »Versprechen Sie mir auch noch: wenn es mal so weit ist, werden Sie mich nicht unnötig quälen lassen.« »Das alles«, so berichtet Schur, »sagte er mit äußerster Einfachheit, ohne eine Spur von Pathos, aber auch mit absoluter Entschiedenheit. Wir gaben uns daraufhin die Hand.« 13 In seiner Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) ist nachzulesen: »Was soll uns endlich ein langes Leben, wenn es beschwerlich, arm an Freuden und so leidvoll ist, dass wir den Tod nur als Erlöser bewillkommnen können?« 14 Wenige Monate vor seinem Tod ist in einem Brief vom 28.4.1939 an seine Freundin Marie Bonaparte zu lesen: »… Etwas Interkurrentes, was den grausamen Prozess kurz abschneidet, wäre sehr erwünscht …« 15 Freud – ein Stoiker.

Gegen Ende seiner tödlichen Erkrankung spannt man ein Moskitonetz über Freuds Bett, weil der Gestank des zerfallenden Kieferkrebses die Fliegen anlockt. Schlimmer noch empfindet er es, dass sein treuer Hund, der Chow-Chow Lün, aus eben diesem Grund sein Krankenzimmer mied. Und doch erträgt Freud sein Leiden geradezu heldenhaft. Zur Schmerzlinderung nimmt er allein Aspirin und das Lokalanästhetikum Orthoform; starke Schmerzmittel, insbesondere Opiate, lehnt er bis zu seinem Todestag rigoros ab. 16

Als Freud ahnt, dass sein Tod nahe ist, ergreift er am 23. September 1939 Schurs Hand und sagt: »Lieber Schur, Sie erinnern sich wohl an unser erstes Gespräch. Sie haben mir damals versprochen, mich nicht im Stich zu lassen, wenn es soweit ist. Das ist jetzt nur noch Quälerei und hat keinen Sinn mehr … Besprechen Sie es mit der Anna (Freuds Tochter; Anm. des Verf.), und wenn sie es für richtig hält, machen Sie ein Ende.« Schur injiziert ihm »zwei Zentigramm Morphium«, worauf Freud in Schlaf fällt. Zwölf Stunden später wiederholt er die Dosis. Freud erwacht nicht mehr und stirbt kurze Zeit später am frühen Morgen des 23. September 1939. So Schur in seiner Freud-Biographie. Diese Version von Freuds Tod wurde Teil zahlloser Darstellungen von Freuds Leben. 17

Neuere Forschungen zu Freuds Lebensende belegen indes, dass Schurs Aufzeichnungen unvollständig und zum Teil widersprüchlich sind. Das geht aus verschiedenen, teils von ihm selbst verfassten, Dokumenten und Briefen hervor, in denen er und andere sich zu Freuds Tod äußern. So macht Schur beispielsweise unterschiedliche Angaben zu Freuds Medikation und Todeszeitpunkt; die Anwesenheit der Ärztin Dr. Stross, einer langjährigen Freundin der Familie Freud, erwähnt er nicht; er verschweigt, dass er bei Freuds Tod – der dringenden Vorbereitung seiner eigenen Umsiedlung in die USA wegen, auch Schur war Jude – nicht bei ihm war. Und es war auch nicht Schur, der Freuds Tod feststellte und den Totenschein ausstellte, sondern der britische Arzt G.G. Exner. 18

Die Sichtung der »Schur-Papers« in der Washingtoner Library of Congress und im dortigen Freud-Archiv durch den amerikanischen Psychiater Roy B. Lacoursiere (und den Autors selbst) ergibt ein differenzierteres Bild der tatsächlichen Todesumstände Sigmund Freuds: In seinen letzten Lebenstagen bestand zwischen Freud selbst, seiner Frau Martha, seiner Tochter Anna sowie Dr. Schur und Dr. Stross ein stillschweigendes Einverständnis darüber, sein grausames Sterben abzukürzen. Am 22. September 1939 injizierte Schur seinem Patienten zunächst eine, später eine weitere nicht tödliche Dosis Morphin. Dann verließ er den noch lebenden, jedoch bewusstlosen Freud. Jetzt waren nur noch seine Tochter Anna, die Haushälterin Paula Fichtl und Josephine Stross zugegen. Die Ärztin war es auch, die Freud in diesem Zustand wenige Stunden später eine weitere Morphiumspritze unbekannter Dosis verabreichte. Er verstarb am 23. September 1939 um Mitternacht. 19 20

Dass die Frage, Freud zu euthanasieren zumindest zwischen Schur und Anna Freud im Raum stand, belegt ein Brief Schurs an Freuds Tochter – 15 Jahre nach dessen Tod: »Es wurde mir dringend geraten einen Anwalt zu befragen, und zwar mit Rücksicht auf die Frage der Euthanasie … der Anwalt zwingt mich leider zu einer noch viel vorsichtigeren Formulierung als ich in meinem Entwurf (der vorgesehenen Veröffentlichung der Krankengeschichte Freuds; Anm. des Verf.) vorgeschlagen hatte … Ich werde also, sobald ich die endgültige ›verwässerte‹ Formulierung fertiggestellt habe, Ihnen das ganze übersenden …« 21

Was aber wollte Schur hier verwässern, wenn nicht die Beschleunigung von Freuds Todeseinritt, d. h. Anzahl und Höhe der Morphindosen, die seinem Tod vorausgingen? Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass die Ärztin Dr. Stross Freud eine dritte Morphininjektion verabreichte, obwohl er bereits bewusstlos war und folglich nicht mehr litt. Freud war während seiner letzten Tage hochgradig geschwächt, er war zudem nicht an Opiate gewöhnt und somit besonders empfänglich für ihre den Sterbeprozess beschleunigende atemdepressive Wirkung. Dies war seinen Ärzten bekannt.

Ob mithin das Vorgehen der Ärzte Freuds an seinem Lebensende nach heutigen Kriterien als indirekte aktive Sterbehilfe (siehe Exkurs 1) oder – über diese hinausgehend – eher als freiwillige Euthanasie im Sinne einer Tötung auf Verlangen zu bewerten ist, muss letztlich zwar offenbleiben, da es bei der terminalen Behandlung Freuds entscheidend auf die Intention Schurs und Stross’ ankommt, die naturgemäß nicht aufzudecken ist. Es spricht indes mehr dafür als dagegen, dass Freud nicht allein Hilfe im Sterben, vielmehr auch Hilfe zum Sterben zuteil wurde.

Eine »Verwässerung« der tatsächlichen Todesumstände Freuds mag auch aus zwei anderen Gründen plausibel erscheinen: Anna Freud tat alles, um das Andenken ihres Vaters zu ehren, kein Schatten sollte darauf fallen. Im Interesse von Schur und insbesondere Dr. Stross lag es zudem, möglichen rechtlichen Konsequenzen, die das Bekenntnis zur Euthanasie Freuds bedeutet hätte, zu entgehen.

Kafka und Freud – zwei große Leidende, denen sterbend empathische Ärzte zur Seite standen, die nicht davor zurückschreckten, den unerträglich gewordenen Leidensprozess ihrer Patienten auf deren Wunsch hin zu verkürzen. Traf am Ende ihrer beider Leidenszeit ein legitimer Patientenwunsch auf legitimes ärztliches Handeln?

2

Statt eines Vorworts: Motive und Legitimation für dieses Buch

Was bewegt Menschen dazu, Hand an sich legen zu wollen? Warum wünschen nicht wenige, zumal in schwerer Erkrankung, dass ihnen hierbei ärztliche Hilfe zuteil wird? Und schließlich: Was geht im Kopf eines Arztes vor sich, der erwägt, einem solchen Ansinnen zu entsprechen oder es abzulehnen?

In diesem Buch, das in weiten Teilen ein persönliches, ja bisweilen intimes Bekenntnis ist, möchte ich mich einer Antwort auf diese Fragen stellen. Mein Anliegen ist es, dem Leser anhand konkreter Fallgeschichten aus den letzten Jahren meiner mehr als 40-jährigen ärztlichen Arbeit die Vielgestaltigkeit des Leidens und der Nöte suizidwilliger Patienten darzulegen, ihm Einblicke in Gespräche, Erlebnisse und Erfahrungen mit zumeist schwer und aussichtslos erkrankten Patientinnen und Patienten zu gewähren und meine persönliche »Philosophie« einer Sterbeethik transparent zu machen. Dabei gestatte ich mir ein Denken und Handeln abseits dessen, was namhafte Ärzte, Ethiker, Juristen und Philosophen bisher formuliert haben. Sie haben mich indes nicht unwesentlich beeinflusst, und in meinem Buch werde ich mich immer wieder auf sie beziehen und ihre Positionen einer kritischen Betrachtung unterziehen.

Was aber – so könnte mancher Leser fragen – motiviert und legitimiert mich über die bloße Tatsache meines Arztdaseins hinaus dazu, den Versuch zu unternehmen, dieser Form ärztlichen Handelns Plausibilität zu verleihen, sie für vereinbar mit dem ärztlichen Auftrag zu erklären, sie gegebenenfalls zu rechtfertigen und schlussendlich auch die Ärzteschaft dazu zu ermutigen, sich der ungeliebten, weil heiklen Option der Suizidhilfe nicht grundsätzlich zu verweigern?

Eine Antwort darauf fällt mir nicht leicht; sie ist vielschichtig und reicht zurück bis in meine Kindheit. Obwohl väterlicherseits einer Juristenfamilie zugehörig, war es doch meine aus nicht akademischen Verhältnissen stammende Mutter, einer für die damalige Zeit ungewöhnlich selbstbewussten, konfliktfreudigen und furchtlosen Frau, die allen Schwachen, Benachteiligten und Hilfsbedürftigen sehr zugetan war und mich in diesem Sinne erzog. Ihre mehr von Intuition als von Wissen getragenen moralischen und rechtlichen Maßstäbe für richtig und falsch, für gut und böse, die zuweilen »kohlhaasige« Züge annehmen konnten, sollten mich nachhaltig prägen. So war auch mein Einstieg in den Arztberuf begleitet von Fragen und Zweifeln an der Medizin. Einerseits leistete und leistet sie weiterhin Hervorragendes und Unverzichtbares für kranke Menschen, andererseits aber erschloss sich mir früh, dass, gemessen an dem immer weiter wachsenden enormen personellen und finanziellen Aufwand, allzu vieles im Argen liegt. Dazu zählt für mich auch das reduktionistische Krankheitsverständnis der gegenwärtigen Medizin, die den Kranken seiner Personalität entkleidet, womit sie einen fundamentalen Teil ihres Auftrags ignoriert: die Sorge um den kranken Menschen, verstanden als die empathische Zuwendung zu seinen Ängsten, Hoffnungen und existentiellen Erschütterungen, deren »Behandlung« weit über die bloße Verordnung und Durchführung von konventionellen Therapiemaßnahmen (Medikamente, Labor- und bildgebende Diagnostik, körperliche Eingriffe) hinausgeht. Man könnte auch von einer »Zerlegung« des Kranken durch eine technologiefixierte Hochleistungsmedizin sprechen: Zwar wird die Krankheit im engeren Sinne nach allen Regeln der »Kunst« behandelt, jedoch die Persönlichkeit des Kranken, das, was seine Leidensdimension ausmacht, kommt regelhaft zu kurz. Sie kommt im buchstäblichen Sinne, wenn überhaupt, nur unzureichend zur Sprache. Dieses Schisma war und ist ein Stachel im Fleisch der Medizin, der mich zeitlebens schmerzte (siehe auch Kapitel 5).

Als junger Arzt, vom Temperament her eher impulsiv und extrovertiert, war mein erster Eindruck des Klinikbetriebs der einer gewissen Unterkühltheit: Emotion und Gefühl zu zeigen, Verbundenheit mit dem Kranken zu offenbaren erfuhr ich als etwas Unärztliches. Leidenschaftslosigkeit – eine ärztliche Tugend. Man hatte sich dem Patienten gegenüber nüchtern zu zeigen und verhalten-freundliche Distanz zu wahren. Berührungen, die über einen Händedruck bei der Begrüßung hinausgingen, galten als verpönt. Dialogfähigkeit und -bereitschaft dem Kranken gegenüber schienen mir nicht gerade eine Stärke meiner (vorgesetzten) Kolleginnen und Kollegen zu sein, geschweige denn von ihnen als Herzstück ihrer ärztlichen Tätigkeit verstanden zu werden. Belehrende Konfrontation während der Visite am Bett des Kranken war die Regel, einfühlsames Verstehen die Ausnahme. Und dies alles mehr oder weniger schwer leidenden Menschen gegenüber, die nicht nur erwarteten, bestmöglich medizinisch, sondern auch, unausgesprochen, menschlich behandelt zu werden. Ein offenes Ohr nicht allein für die körperliche Seite ihrer Erkrankung, vielmehr die über sie hinausgehende Leiderfahrung war und ist es, was sich Patienten vom Arzt erhoffen. Indes, Zuwendung zu zeigen, dem Patienten eigene Ressourcen zu vergegenwärtigen und diese zu stärken, ihm Trost zuteilwerden zu lassen, der über die fast schon geflügelte Bemerkung eines »Kopf hoch, wird schon wieder …« hinausgeht? Damals wie heute: Ereignisse von Seltenheitswert.

Als ich gegen Ende der 1970er-Jahre meine ärztliche Laufbahn begann, herrschte noch weithin ärztlicher Paternalismus im Verhältnis von Patient und Arzt. Er ist heute größtenteils einer Beziehung »auf Augenhöhe« gewichen – zumindest dem Anspruch nach ist die Selbstbestimmung des Kranken in den Fokus des Arzt-Patienten-Verhältnisses gerückt. Zur Zeit meiner »Lehrjahre« aber war ärztliches Gebot und Verbot vorherrschender und gängiger Teil ärztlicher »Hinwendung« zum Patienten. Sie scheute bisweilen weder dessen Bloßstellung noch Sanktionsdrohungen, wenn es die medizinische Indikation für eine bestimmte Behandlung zu rechtfertigen schien: »Schauen Sie doch mal in den Spiegel … bei Ihrem Bauchumfang müssen Sie die hier verordnete Diätkost einhalten, andernfalls können Sie gleich die Klinik verlassen.«

Schon während meines ersten Jahres als Assistenzarzt irritierte mich die weit auseinanderklaffende Schere zwischen den mich nachhaltig beeindruckenden Errungenschaften der Medizin, insbesondere der Intensivmedizin, und ihren allfälligen Defiziten. Diese Diskrepanz kam – und kommt auch heute noch! – beispielhaft in zwei formelhaften ärztlichen Aussagen zum Ausdruck, die gegenüber Patienten und ihren Angehörigen stehende Redewendungen sind. Zum einen: »Wir tun alles, was wir können!« Eine Äußerung, die gerade in akuten lebensbedrohlichen Zuständen (z. B. bei schwerster Verletzung, Herzinfarkt) Hoffnung und Zuversicht geben soll und verspricht, das Arsenal medizinischer Möglichkeiten bis zum Äußersten auszuschöpfen. Das war und ist gut und richtig. Zum anderen aber: »Wir können nichts mehr tun.« Das Eingeständnis, dass die ärztliche Kunst versagt hat, wenn der Patient nach langem Bemühen aufgegeben wurde bzw. nicht mehr zu retten war. Nichts mehr tun können, wenn das Ziel der Heilung oder Gesunderhaltung sich als aussichtslos erwiesen hatte, erschien mir schon früh ein Stachel im Fleisch des Medizinbetriebs, der Sterbende marginalisierte und ihre Behandlung und Versorgung allein Seelsorgern, Angehörigen und Pflegekräften überließ. Das brachte mich innerlich auf und bestimmte fortan, wenn auch zunächst noch unterschwellig, mein ärztliches Hauptinteresse: Nein, so dachte ich – Medizin kann und muss immer etwas tun, präziser gesagt: anbieten; wenn nicht mehr im Sinne der Kuration (Heilung), dann in dem der Palliation, der Leidenslinderung, auch und gerade in aussichtsloser Krankheit. Doch es dauerte hierzulande Jahrzehnte, bis die Ärzteschaft erkannte und es sich zur Aufgabe machte, in der Palliation einen der Kuration ethisch gleichrangigen und unverzichtbaren Auftrag zu erkennen, der im Übrigen weit über Schmerzbekämpfung hinausreicht. Er ist bis heute immer noch mehr Verheißung als Wirklichkeit. Mit der Zeit wurde mir das, was Palliativmedizin im weitesten Sinne meint, die »Ummantelung« (lat. pallium = der Mantel) des Patienten, mehr und mehr zum Nukleus meiner ärztlichen Arbeit, die 2012 dann auch in die Gründung und Leitung eines Hospizes in Berlin mündete.

Ein halbes Jahr in einer anästhesiologischen und ein Jahr in einer internistischen Abteilung hatte ich absolviert, als mein Vater 1979 an einem Prostatakarzinom starb, über Jahre von einem Orthopäden als chronische Lumbalgie (degenerative Gelenkveränderungen) fehldiagnostiziert. Tatsächlich waren es Metastasen, die ihm schon lange heftigste Knochenschmerzen verursachten. Von der Krankheit bereits schwer gezeichnet, ließ er sich als medizinhöriger Kranker, der mein Vater nun einmal war, auf Empfehlung seines Arztes dennoch auf eine Operation ein, gefolgt von einer strahlen- und chemotherapeutischen Odyssee. Seine Qualen mitzuerleben wurde für meine Familie und mich zu einer niederschmetternden Erfahrung. Zwar waren ihm Schmerzmittel verschrieben worden – letztlich dreimal täglich zehn Tropfen eines Opiats –, eine indes bei weitem nicht ausreichende Dosis, um seine Schmerzen in Schach zu halten. »Wir können Ihren Vater schließlich nicht umbringen«, so der zuständige Oberarzt in einem Gespräch mit mir, »diese Dosis ist die äußerst zulässige, das sollten Sie als Kollege wissen!« Ich war empört, damit war ich nicht einverstanden. In mehreren Gesprächen mit meinem Vater überzeugte ich ihn davon, die Klinik zu verlassen und nach Hause zu kommen – in die Geborgenheit unserer Familie. Ich hatte Urlaub genommen und übernahm seine Behandlung fortan selbst. Die erste Verschreibung von Morphin außerhalb einer Klinik stellte ich für meinen Vater aus (siehe Kapitel 11).

Nicht zuletzt waren (und sind) es mehrfach eigene, darunter schwere und lebensbedrohliche Erkrankungen, die mich Verzweiflung, Eingeschlossensein und Einsamkeit in Krankheit und Leiden selbst er- und durchleben ließen; ich erfuhr das Unerträgliche und Nicht-Mitteilbare, das Gewalttätige des Schmerzes am eigenen, besser gesagt im eigenen Leib. Noch vergleichsweise harmlos waren meine wiederkehrenden steinbedingten Nierenkoliken, (Schmerzen, so teilte mir eine befreundete Mutter einmal mit, die allein dem Geburtsschmerz vergleichbar sind), deretwegen ich zweimal in klinischer Behandlung war. Ich erinnere mich: Es war 23 Uhr, wieder spürte ich den herannahenden Schmerztsunami in meiner linken Flanke; ich schleppte mich zum Stationstresen, hinter dem zwei Schwestern gerade scherzend ihre Dienstübergabe regelten. Ich wollte nicht stören, fast schämte ich mich: Ich bat um meine Dipidolorinfusion (ein Opiat), die ein Oberarzt mir bei der Visite für den Fall einer erneuten Kolik verordnet hatte, nachdem die üblichen krampflösenden Medikamente kaum Wirkung gezeigt hatten. »Wir kommen in einer Viertelstunde«, flötete eine der Schwestern, »wir sind gleich so weit, gehen Sie schon mal auf Ihr Zimmer.« Fassungslos ob der pflegerischen Ignoranz und der Verkennung meiner Verzweiflung – Widerworte blieben mir im Halse stecken – hangelte ich mich am Handlauf des Stationsflurs entlang zurück in mein Zimmer. Eine Viertelstunde verging; sie wurde zu einer Ewigkeit, in der ich nichts wünschte als mich in Nichts aufzulösen, ja, zu sterben. Dann endlich kamen die beiden »Engel«; das Opiat flutete meinen Körper, und ich versank in einen paradiesischen Schlaf.

Auch chronischer Schmerz ist mir nicht unbekannt. Seit Jahren peinigt mich ein ursächlich nicht zu klärender Schmerz in meinem rechten Bein, immerfort zugegen gleich der mich umgebenden Luft. Internistische, neurologische und radiologische Befunde füllen einen Ordner, diverse Spezialisten nahmen sich meiner an, doch alle physiotherapeutischen, medikamentösen und psychotherapeutischen Therapieversuche blieben ihre Wirkung schuldig. Irgendwann lernte ich, meinen Schmerz schlicht anzunehmen; er gehört nun zu mir; er wurde, so seltsam es klingen mag, durch mentales Training von einem niederzuringenden Gegner zu einem Vertrauten im wörtlichen Sinn – zu einem verwundeten Freund. Die Grenzen des medizinisch Möglichen erzogen mich zu Resilienz, verbunden mit einem »gesunden« Fatalismus.

2003 riss mich ein Herzinfarkt jäh aus der Unverletzlichkeit, in der ich mich als Arzt, wie auch viele meiner Kollegen, gewähnt hatte. Ein unerhörtes, bis dahin für mich unvorstellbares Ereignis. Ein Symptom, das in Lehrbüchern und im klinischen Jargon als Kardinalsymptom des Herzinfarktes gilt, der sogenannte Vernichtungsschmerz, hatte mich vorübergehend fest im Griff und ins Bodenlose stürzen lassen: Ein Zustand, als würde der Brustkorb in der Zwinge zweier sich einander nähernder Stahlplatten zermalmt. Während der Herzkatheteruntersuchung kam es kurzzeitig zu einem Herzstillstand, ich wurde wiederbelebt. Und änderte mein Leben.

Wenige Jahre später begann eine zermürbende, von Angst, Hoffnung, Deprimiertheit und Zweifeln überschattete Zeit, die bis heute, da ich dieses Buch verfasse, gegenwärtig ist: Sicher auch ein »Erbe« meines Vaters, erkrankte ich an einem Prostatakarzinom, dessen definitive Diagnose sich über Jahre quälend hinzog. Ungezählte Laboruntersuchungen und fünf Biopsien ließ ich innerhalb von acht Jahren über mich ergehen. Als die Diagnose feststand, entschied ich mich zu einer Operation, trotz mancher Ungewissheit und einschneidender, zumeist unvermeidlicher »Nebenwirkungen«, von denen auch ich nicht verschont blieb. Obwohl die Operation zunächst erfolgreich verlief, kehrte der Tumor nach drei Jahren zurück. Wieder schwand mir der Boden unter den Füßen, und schon sah ich das Schicksal meines Vaters auch nach mir greifen. Man empfahl mir das neueste bildgebende Verfahren, ein PET-CT, das glücklicherweise noch keine Metastasen zeigte. »Lassen Sie sich unbedingt bestrahlen, Ihre Chancen sind nicht schlecht!«, so der kollegiale Rat. Nicht schlecht? Gehofft hatte ich insgeheim auf eine optimistischere Prognose. Ich zögerte, doch schließlich stimmte ich zu. Tief verunsichert, beklommen und verängstigt ließ ich mich sechs lange Wochen täglich im Strahlenbunker der Universitätsklinik Berlin von der Sonde eines Linearbeschleunigers umkreisen, einem Satelliten gleich, der punktgenau mein Tumorrezidiv von allen Seiten attackierte und bis heute im Zaum hält.

Ich darf also behaupten, zumindest annäherungsweise zu wissen, wovon ich in diesem Buch spreche: Aus der Nähe zu den vielen schweren Krankheits- und Leidensverläufen meiner Patienten und aus dem eigenen Erleben lebensbedrohlicher Krankheit und existentieller Gefährdung wuchs in mir die immer mehr zur Gewissheit werdende Ahnung, dass selbst der Tod in aussichtsloser Krankheit zu einem Versprechen werden kann. So entschloss ich mich bei einem nicht absehbaren Leidens- und Sterbeprozess Suizidhilfe gemäß dem Willen des Kranken zu leisten – wenn alle anderen Optionen ausscheiden.

Suizidhilfe wahrzunehmen war seit 2011 mit erheblichen berufsrechtlichen Risiken verbunden und seit 2015 – nachdem die Suizidhilfe auch strafrechtlich (§ 217 Strafgesetzbuch, StGB) sanktioniert worden war – unmöglich geworden. Da dies meiner Vorstellung von ärztlicher Gewissens- und Berufsfreiheit diametral entgegenstand, reichte ich im Juli 2016 (gemeinsam mit wenigen anderen Ärztinnen und Ärzten) im Interesse meiner Patienten Klage beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen § 217 StGB ein. Letzter Anstoß hierzu war ein gegen mich im Mai 2014 eingeleitetes Ermittlungsverfahren. Es zeugt von der enormen Kluft zwischen Verfechtern und Widersachern der Suizidhilfe; darüber hinaus offenbart es beispielhaft den – ich scheue den Ausdruck nicht – Vernichtungswillen, den nicht wenige Gegner der Suizidhilfe ihren Befürwortern gegenüber an den Tag legen. Weil das Ermittlungsverfahren mich persönlich tief traf und auch zur Motivation beitrug, dieses Buch zu schreiben, sei es hier in aller Kürze wiedergegeben:

2014 hatte mir die Frankfurter Allgemeine ZeitungALS