James Crowden
DER
GEFRORENE
FLUSS
DAS BERAUSCHENDE GLÜCK DER STILLE
Ein Winter im Himalaja
Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Frozen River – Seeking Silence in the Himalaya« bei William Collins, einem
Imprint von Harper Collins Publishers, in Großbritannien.
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Deutsche Erstausgabe
© 2021 Arkana, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright der Originalausgabe: © James Crowden, 2020
Lektorat: Diane Zilliges
Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner, nach einer Umschlagidee für William Collins / Harper CollinsDesigns: © Joe Maclaren
Umschlagmotiv: © Joe MacLaren
Karte: © Sabine Timmann nach einer Vorlage der Originalausgabe
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26942-5
V002
www.arkana-verlag.de
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Prolog Die Suche nach Stille
Eins Die Straße nach Zanskar
Zwei Dorfleben – Padum
Drei Schnee und Neujahr
Vier Chadar – der gefrorene Fluss
Fünf Das Kloster von Karsha
Sechs Wölfe und Lawinen
Nachwort
Danksagung
Anmerkungen
Bibliografie
Das Tal des Zanskar-Flusses ist mehr oder weniger unpassierbar, außer zur Winterszeit, wenn sich infolge des Frosts eine Straße über die Wasser des Flusses bildet.
Frederick Drew
Englischer Geologe und Erforscher der Kaschmirregion, 1875
Stille, Schnee und Alleinsein haben von mir Besitz ergriffen und wollen mich nicht mehr loslassen. Ich bin besessen von den Bergen, der Kälte und dem Eis. Der Winter hat mit harter Hand meine Seele fest im Griff. Es ist wie eine Krankheit, eine Art spiritueller Besessenheit, das Bergfieber. Es gibt kein Entkommen. Ich sitze hier für die nächste Zeit fest, gefangen in einem kaum bekannten tibetisch-buddhistischen Hochtal, eingekeilt zwischen der Hauptkette des Himalaja und dem Karakorum.
Einer nach dem anderen haben sich die Hochpässe hinter mir geschlossen, und sie werden erst in sechs oder sieben Monaten wieder begehbar sein. Die einheimische Bevölkerung, die Zanskari, verbringen ihr halbes Leben um kleine Öfen geschart, in denen sie Yak-Dung und Tamariskenholz verheizen, um sich warm zu halten. Es ist dunkel in ihren Häusern. Wie sie, umgeben von diesen Unmengen an Schnee und Eis, überleben und über den Winter kommen, ist nach wie vor ein Rätsel. Der einzige andere Mensch aus einer westlichen Kultur, der einmal einen ganzen Winter in Zanskar verbracht hat, war ein exzentrischer ungarischer Sprachwissenschaftler namens Alexander Csoma de Kőrös. Doch das ist gut einhundertfünfzig Jahre her, und er hat keine Aufzeichnungen über den Winter dort hinterlassen.
Stellen Sie sich vor, Ihre Vorfahren lebten schon seit tausend Jahren oder mehr in den Bergen. Welche Auswirkung würde das auf Ihren Geist, auf Ihr Denken haben, auf Ihr Bewusstsein und Ihre Art, die Dinge zu sehen? Stellen Sie sich vor, wie viel Schweigen Ihre Vorfahren in dieser Zeit aufgesogen und verinnerlicht haben. Die Menschen von Zanskar versuchen, die Lehren der Stille zu bewahren, die zwischen den Worten aufkeimt. Diese Lehren, mitunter sehr formal, aber auch sehr subtil, lassen den Raum anklingen, der sich auftut, wenn Worte ihr Ende erreichen. Und dann ist da auch noch das Schweigen des Dzogchen und der Berge, das nicht gelehrt, sondern nur vom Lehrer auf den Schüler übertragen werden kann. Die Sprache der buddhistischen Lehren, die Sprache des Mitgefühls durchzieht das Alltagsleben der Zanskari wie ein unsichtbarer Faden.
Nach Süden hin liegt der pulsierende, farbenfrohe indische Subkontinent. Nach Norden die trockenen Sandwüsten Zentralasiens. Im Westen Kaschmir, die schartige Grenzlinie zu Pakistan. Im Osten erhebt sich endlos das einsame, von Nomaden bevölkerte tibetische Hochland. Ein Land der Meditation, der Mönchsdebatten und der monastischen Gelehrsamkeit. Selbst für die Verhältnisse im Himalaja ist Zanskar ein weltabgeschiedener Ort.
Tiefes Schweigen, tiefer Schnee und tiefe Einsamkeit. Das sind die inneren Koordinaten, die mir am meisten bedeuten. Es gab mehrere Gründe, warum ich diese Abgeschiedenheit, diesen Rückzug von der Welt gesucht habe. Absoluter Frieden und Ruhe. Abgeschiedenheit ist ein Geisteszustand – entweder hat man ihn, oder man zieht los und sucht ihn. Doch wenn man diese besondere Form von Einsamkeit einmal gefunden und von ihren Früchten gekostet hat, dann kehrt man immer wieder dorthin zurück, um sich mit der Wildheit und der blanken Leere der Berge zu verbinden. Die Sehnsucht nach diesen Bergen ist vielleicht ein zentraler Teil des Menschseins.
Die Vorstellung, den zugefrorenen Zanskar abwärtszureisen, lockte mich mindestens ebenso sehr wie die Stille des Winters. Schlafen unter freiem Himmel, in Höhlen, im Schnee – sich irgendwie durchschlagen. Ein falscher Tritt, ein Sprung im Eis, ein fataler Ausrutscher in Richtung des offenen Wassers, und man ist verloren. Der Fluss ist reißend, tief und eisig kalt. Der schwere Rucksack zieht einen im Nu in die Tiefe. Ein schnelles Ende. Zanskar im Winter ist reine Gefahr.
Diese Reise den gefrorenen Fluss hinab wollte ich unbedingt machen, mehr als alles andere auf der Welt. Soweit ich wusste, hatte noch nie ein Mensch aus dem westlichen Kulturkreis die Freuden und die Gefahren gekostet, die er aufbot. Auch wenn ich diese Herausforderung begrüßte, so hatte ich doch viel zu lernen. Die Berge riefen mich in ihrer stillen Sprache, die ich noch zu entschlüsseln hatte. Ich sehnte mich nach Eis und Einsamkeit, aber die Berge halten so manche Tücke bereit.
Manchmal, wenn das Eis klar war, konnte ich durch die Eisdecke hinuntersehen bis auf den Grund des Flussbetts, in dem sich Kiesel in vielen Farben tummelten: graue, rostbraune, schwarze, orangefarbene und sogar welche in zartem Lila. Das Wasser selbst hatte einen berauschenden Türkiston. Dann wieder war die Eisdecke so dick, fest und undurchsichtig, dass man sie wohl mit einem Panzer hätte befahren können. Wo die Eisdecke dünn wurde, war der Fluss gefährlich. Eine hauchdünne Schicht, unter der unsichtbare Wirbel leise dahinstrudelten. Eine Falle für den Schritt dessen, der nicht auf der Hut war.
Sobald man seinen Fuß darauf setzte, hinterließ der gefrorene Fluss unauslöschlich sein Mal im Geist. Er wurde zum Spiegel der Seele. Er prägte mir eine innere Stärke, eine Zuversicht ein, die mich für den Rest meines Lebens nicht mehr loslassen würde. Eine Art inneren Kompass. Es war ein Initiationsritus. Eine Einweihung. Die Menschen in Zanskar nennen den gefrorenen Fluss chadar: »Eisplatte«, »Eisstraße«, »Eisdecke« oder einfach »der Vereiste«. Sie zollen ihm Respekt. Im Winter spielt er in ihrem Leben die Hauptrolle.
Man lernt schnell, das Eis zu lesen, erfasst mit einem Blick alte Bruchstellen und Risse, scannt es auf Unebenheiten, welche die Absichten und Tricks des Flusses verraten. Fließrichtung und Geschwindigkeit ändern sich in einem schwer durchschaubaren, quirligen Wechselspiel. Massive Strömungen, verwoben zu komplexen Mustern. Ströme eingefangener Luftblasen. Zu langen Schnüren aufgefädelt, als befände sich dort unten ein Taucher. Bogig, spiegelverkehrt und vielfach geschichtet. Hypnotisierend. Das erstarrte Fließen. Eingeschlossen ins Eis. Geliert, verfestigt, stumm.
Das Gefühl, tagelang in der Klamm festzuhängen, hat überhaupt nichts Unangenehmes. Es ist sogar tröstlich, so als würden die Berge einen willkommen heißen. Ein Gefühl der Erwartung, ein gewisser Nervenkitzel, als würde man sich auf verbotenes Gelände vorwagen. Ein Schaudern in der kalten, schneidenden Frühmorgenluft. Man fühlt sich durch und durch lebendig. Das Adrenalin zeigt Wirkung. Deine Atmung verändert sich, man ist sich jedes einzelnen Geräusches gewahr. Man lotet die Tiefen der Stille aus. Man hängt nicht einfach in der Klamm fest, man folgt einem Mäandern, das sich um einen mächtigen Gebirgszug windet und ihn schließlich durchschneidet. Erdgeschichte im Querschnitt, bloßgelegt. Sedimentgestein aus Millionen Jahren, gewunden, verdreht, stellenweise fast senkrecht aufragend, buddhistische und geologische Zeit gleichauf. Man rutscht, schlittert und schlurft, als schleife der Fluss einen vor sich her. Diese Reise hat ihre ganz eigene Dynamik, wie ein silberner Ariadnefaden.
Ist man einmal auf dem Chadar unterwegs, dem gefrorenen Fluss, wird alles anders. Das Leben folgt anderen Richtwerten. Die Welt schrumpft zusammen auf diese Klamm. Man wird sehr fokussiert, wie jeder Kletterer es sein muss. Man misst sich am Fels, am Eis, am gefrorenen Fluss selbst. Man reckt sich in die Höhe, voll Zuversicht, das Ohr geeicht auf die Stimme des Flusses. Man lernt, seinen Tonfall zu deuten, wenn man mit dem Bergstock das Eis abklopft und geduldig auf das Echo horcht und dann auf das Echo des Echos. Um abzuschätzen, wie tragfähig das Eis ist. Man taucht ein in die Energie des Flusses. Man liest seinen Geist, wie er sich dreht und wendet, wie der Geist eines wilden Tieres. Man berechnet seinen Lauf, wie er unter dem Eis und über dem Eis fließt. Man wartet darauf, wie er das Signal zurückwirft wie ein Echolot. Worauf es ankommt, ist die Art des Widerhalls, die Höhe des Tons. Klopf, klopf, klopf. Man lauscht, was er einem antwortet. In jeder Schwingung liegt eine Unsicherheit. Daher liest man das Eis auch mit den Augen. Jede Unregelmäßigkeit wird registriert und protokolliert, nur für den Fall, dass sich die Klangfarbe ändert. Man orientiert sich an dem seltsam verwachsenen Wacholderbaum, den kleinen nallahs an den Seiten: Felskanälen, Seitentälern oder steilen Schluchten und Wasserläufen, die häufig ausgetrocknet sind. An Höhlen, hohen vereisten Wasserfällen, alten Lawinenkegeln, bestimmten Felsvorsprüngen, seltsamen Mustern im Schichtgestein, am Wechsel der Farben und des Lichts.
Man lernt, dass die Eisbildung bei Flüssen zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich verläuft. Manchmal bricht sich der vereiste Fluss Bahn, bäumt sich drei oder mehr Meter auf in die Luft, wuchtig und wild, sodass sich massige Schollen von Packeis übereinandertürmen. Manchmal dröhnt der sich vorwärtsschiebende, berstende Eisfluss laut wie Artilleriefeuer, ein scharfes Krachen, das die schmalen Wände der Klamm hindurchhallt. Und einen auf Trab hält. Weil das Krachen näher kommt. Manchmal aber schweigt der eisige Fluss auch. Dann wieder spricht er in Rätseln. Und man muss seine Orakel deuten. Lernen von den Alten. Auch von ihrem Schweigen. Der Geist ist immer wachsam.
Als ich mit den Zanskari den gefrorenen Fluss hinabwanderte, war ich mir aber nicht nur seiner Gefahren bewusst, sondern auch seiner überwältigenden Schönheit. Zeit war bedeutungslos. Als würden wir im Kosmos kreisen, losgelöst von der Sicherheit der Welt, wie wir sie kannten. Die Zeit, in der wir uns bewegten, war nur geliehen. Wir befanden uns auf einer abenteuerlichen Reise, die größer war als wir. Die Bande, die uns mit Fels und Bergen verknüpften, waren ebenso so stark wie die zwischen uns.
Manchmal fühlte ich mich sehr sicher, dann wieder war ich in größter Gefahr. An gewissen Stellen hörte das Eis einfach auf. Dann musste ich aus der Klamm heraus über die steilen Wände nach oben klettern, bis ich irgendwo einen waagerecht verlaufenden Vorsprung im Gestein fand. Nie war man dem Fels so nah wie in solchen Augenblicken, wenn man sich fünfzehn Meter oder mehr über dem offenen Wasser ohne Seil oder sonstige Sicherung vorsichtig schmale Felsvorsprünge entlangtastete. Meine Finger wurden taub und steif. Ich klammerte mich verzweifelt an meinem Wanderstock fest, während ich mich gleichzeitig mit schwerem Gepäck auf einem Felsvorsprung entlangschob. Manchmal hatte ich dabei das Gestein so nah vor dem Gesicht, dass ich mit der Nase daran vorbeischrammte. Dann nahm ich seinen Geruch wahr: innig, erdig, scharf, fast metallisch.
Ich folgte den Zanskari, die so behände wie ein Steinbock und so gewieft wie ein Schneeleopard waren. Sie handelten mit Butter, und jeder von ihnen trug mehrere Kilo dieses kostbaren Gutes auf dem Rücken, das für den Verkauf in den Basaren von Leh bestimmt war, der Hauptstadt Ladakhs. Feine gelbe Butter aus der Milch der Yak-Kühe auf den Hochweiden, die die Zanskari für den Transport in Beutel aus Ziegenleder und in getrocknete Schafsmägen verpackt hatten. Diese Butter war sehr begehrt, weil man daraus den salzigen tibetischen Buttertee herstellte – im Winter hochgeschätzt. In der kältesten Jahreszeit war der Verkauf von Butter die einzige Einkommensquelle der Zanskari.
Doch der Winter in Zanskar war nicht einfach nur ein Winter. Es war die Erinnerung an viele Winter, die sich in einen verflechten. Eine Geschichte über den Kampf ums Überleben nicht eines, sondern vieler Dörfer – ein kollektives Gedächtnis, so groß wie das Tal selbst. Es waren wohl um die zehntausend Seelen, Mönche, Nonnen, Yaks, Schafe und Ziegen mitgerechnet, die im Zanskar-Tal Jahr für Jahr von der Außenwelt abgeschnitten waren. Der Winter ist die Selbsterhaltungsstrategie der Natur. Nur der Mensch kann die Stille zerstören. Und nur der Mensch kann sie wertschätzen.
Die Zeiten auf dem gefrorenen Fluss überschritten eine Grenze. Sie reichten weit über das Dorfleben mit seinen Alltagspflichten hinaus. Ein eigenartiges Rendezvous mitten in den Bergen. Nur ein oder zwei Monate im Winter konnte der gefrorene Fluss sicher als Verkehrsweg genutzt werden. Der Chadar war eine Welt für sich. Einige Zanskari machten diese Reise jedes Jahr, andere sogar zwei- oder dreimal in einem Winter. Es war ein zentraler Bestandteil ihres Lebens. Ein gefährlicher Wirtschaftszweig. Man tauschte die Berge gegen Weisheit, die Butter gegen Rupien und wichtige Vorratsgüter. Jeder nahm in den Tiefen seines Geistes mit, was er konnte. Mehr konnte man aus dem Tal auch nicht mitnehmen, aber es würde einen ein Leben lang begleiten. Diese Stille war wie ein Juwel in den Tiefen der Berge. Eine Art des Daseins, das sich von selbst im Bewusstsein verwurzelte.
Sehr selten stürzten Männer in den Fluss und wurden samt ihrer Last unter das Eis gezogen. Andere wurden Opfer von Lawinen, die schnell und mit unkalkulierbarer Macht zuschlugen. Meine Reise auf den Chadar sollte ein Vorstoß ins Unbekannte werden. In absolutes Neuland. Eine echte Herausforderung. Ich würde sie hin und wieder zurück machen.
Die Menschen von Zanskar sprechen einen eigenen Dialekt, der, wie manche sagen, eine ältere Spielart des Tibetischen darstellt. Buchstaben, die im Tibetischen mittlerweile verstummt sind, werden dort noch ausgesprochen. Tenzin heißt dort Stenzin, und Padum wird als Spadum gesprochen. Doch was ich erforschen wollte, war der unausgesprochene Ausdruck des Winters, die stumme Sprache der Berge und des Kampfes ums Überleben.
Die Berge hier sind Hüter der Stille, und der lange Winter spielt in dieser Gleichung eine zentrale Rolle. Die unsichtbare Kraft des Winters hat keinen Namen und lässt sich nicht leicht in Worte fassen, dennoch ist sie höchst real und überwältigend. Sie besitzt ihre ganz eigene Weisheit. Sie wird in kleinen Höhlen und Klöstern weitergegeben. Ein paar Menschen nennen sie »Buddhismus«.
Die Bezeichnung »Himalaja« kommt aus dem Sanskrit und setzt sich zusammen aus hima, »Schnee«, und alaya, »Ort«, »Wohnsitz«, bedeutet also so viel wie »Wohnsitz des Schnees«. Im Tibetischen beziehungsweise im Ladakhi werden seine Gipfel schlicht Pabu Riga oder »weiße Berge« genannt. Tatsächlich aber sind sie ein weitläufiges, verworrenes Labyrinth aus schroffen, ehrfurchtgebietenden Gipfeln, reißenden Flüssen, reichen Weiden und langgezogenen, breiten Gletschern – ein Gebiet, das Schneeleoparden, Bären, Steinböcke, Wölfe, Murmeltiere und der mythologische tibetische Schneelöwe durchstreifen, ein bis zu dreihundertfünfzig Kilometer breiter Gebirgszug, der sich über eine Länge von dreitausend Kilometern an Indiens Nordgrenzen entlangzieht. Eine der am schwersten zu bezwingenden natürlichen Barrieren der Welt.
Der Himalaja besteht nicht aus einer Bergkette, sondern setzt sich aus mehreren zusammen. Im Westen liegen das Dhauladhar-Gebirge, der Pir Panjal, dann die Hauptkette des Himalaja, die Zanskar- und die Ladakh-Range und schließlich der Karakorum, dessen Name aus einer Turksprache kommt und so viel bedeutet wie »schwarzes Geröll« oder »schwarzer Sand«. Der Himalaja hat sich gebildet, weil sich der indische Subkontinent Jahr für Jahr weiter nach Norden vorschiebt. Die Folge: eine gigantische Kollision in Zeitlupe. Das Gebirge ist jung, ungebärdig und unberechenbar, seine Gipfel wachsen immer noch weiter in die Höhe. Bergrutsche sind häufig. Dieses Gebirge ist eine Welt für sich – ein spirituelles Sammelbecken, eine Pilgerstätte und ein Ort frommer Hingabe. Für Indien ist es die Quelle, der alles entspringt: Wasser und Leben.
Zanskar besteht aus zwei Hochtälern, die von zwei eisigen, reißenden Flüssen entwässert werden: dem Stod und dem Lungnak, die sich in der zentralen Ebene zum Zanskar-Fluss vereinigen. Der Zanskar fließt weiter nach Norden durch eine steile, einhundertfünfzig Kilometer lange Felsenschlucht, windet sich bald hierhin und bald dorthin, eine Bergkette durchquerend, bis er sich schließlich mit dem Indus vereinigt. Seine Mündung ist gleichzeitig das nördliche Ende des Chadar, der Eisstraße, die Zanskar mit Zentral-Ladakh und der alten Handelsstadt Leh mit ihren bröckelnden Basaren und verfallenen Karawansereien verbindet. Von Leh aus liefen einst, gleich einem Spinnennetz, Verbindungswege über den Karakorum zu den alten Stadtstaaten von Kaschgar, Yarkant und Hotan sowie Richtung Osten zur Oasenstadt Dunhuang, bekannt für ihre reich geschmückten buddhistischen Höhlentempel. In Zentralasien begegnen einander viele verschiedene Ideen und Religionen. Die Seidenstraße, eigentlich ein Netz von schmalen Handelswegen, wand sich durch die Berge, und an ihr entlang spielte sich das Leben der Menschen ab. Leh und seine Kaufleute haben viele Geschichten zu erzählen.
Ladakh, das manchmal auch »Klein-Tibet« genannt wird, war einst ein Königreich. Das abgeschiedene Land ist etwa anderthalbmal so groß wie die Schweiz. Die vier großen Bergketten, die Ladakh durchschneiden, teilen es in kleine, abgeschlossene Täler. Das Land ist eine der höchstgelegenen, von Menschen bewohnten Landschaften der Welt, eine ungewöhnliche Enklave, deren Bewohner ganz offensichtlich einiges leisten. Die Berge sind es, die die Abgeschiedenheit und Eigenart von Zanskar ausmachen. Der niedrigste Pass, der von Westen in das Land führt, liegt auf einer Höhe von viertausendvierhundert Metern, der höchste Pass von Süden führt über die Hauptkette des Himalaja und liegt auf fünftausendfünfhundert Metern Höhe. Er ist nur ein oder zwei Monate im Sommer gangbar. Die höhergelegenen Routen führen nicht selten über spaltendurchfurchte Gletscher. Es gibt keinen einfachen Weg nach Zanskar und auch keinen heraus.
Das Tal ist weitgehend autark, doch gegen Ende des Winters können die Nahrungsvorräte für Mensch und Tier gefährlich knapp werden. Einsamkeit und Isolation, aber von der besten Art. Abgeschiedenheit. Heutzutage ein seltenes Gut.
Trockenheit, die staubige, unerbittliche Trockenheit Zentralasiens. In Ladakh herrscht ein Bergwüstenklima, da das Land im Regenschatten der Berge liegt. Man ist daher auf Gletscher, Schmelzwasser und künstliche Bewässerung angewiesen. Kalte Winter, heiße Sommer.
Den Winter und den größten Teil des nachfolgenden Sommers verlebte ich mitten in Zanskar in einem kleinen, zugigen Zimmer mit Lehmziegelwänden. Ich war in Padum, der Hauptstadt von Zanskar, die in ihrer Glanzzeit eine eigene siebenstöckige Palastfestung besessen hatte. Sie war mittlerweile verfallen, und das Dorf hatte definitiv schon bessere Tage gesehen.
Meine kleine Kammer ragte über das Hausdach hinaus – weswegen es dort ungeheuer zugig war. Sie wurde nur im Sommer benutzt und war von allen vier Seiten den Elementen ausgesetzt. Heizung gab es keine. Trotzdem war dieses Zimmer für mich unentbehrlich. Es war meine Einsiedlerklause. Ein Ort des Rückzugs und der Kontemplation. Mein Basislager, in dem ich meine Lebensmittelvorräte und meine gesamten Habseligkeiten aufbewahrte.
Zum Kochen hatte ich einen kleinen blauen Benzinkocher, der super funktionierte. Außerdem besaß ich einen Kocher der bei Trekkern und Campern beliebten Marke Primus, der mit Petroleum befeuert wurde. Allerdings verstopften bei ihm häufig die Düsen, sodass ich sie immer wieder freipiksen musste. Ich hatte nur minderwertiges Petroleum zur Verfügung, das beim Verbrennen reichlich dunkle Rauchschwaden, ja sogar Wasserdampf produzierte. Meist zischte es erst mal eine ganze Weile, bis der Kocher wirklich betriebsbereit war.
Meine gesamten Habseligkeiten einschließlich der Expeditionsausrüstung lagen über den Boden verstreut, immer noch kreuz und quer, wie man sie beim Abladen deponiert hatte. Vier kräftige Lasttiere hatten die Sachen von Panikar im Suru-Tal hierhergebracht. Dort endete die Straße. Es war ein Marsch von gut einhundertfünfzig Kilometern über den Pense La (La ist tibetisch für »Bergpass«) zu bewältigen, im Sommer ein relativ leicht zu überquerender Pass. Doch wir schrieben Mitte November, und es hätte jederzeit schneien können.
Der Marsch nach Zanskar hatte sechs Tage gedauert, und die Temperaturen waren manchmal bis auf minus zwanzig Grad Celsius gefallen. Damals führte noch keine Autostraße nach Zanskar, deshalb war dem Tal das Dröhnen von Motoren fremd. Von der Welt vergessen zu sein hatte eindeutig Vorteile. Eine so tiefe, durch nichts unterbrochene Stille war ein großer Vorteil. Ein seltenes Gut, das Meditierende, die wahren Freunde der Stille, zu schätzen wussten.
Neben vielen anderen Dingen wollte ich hier untersuchen, welche Auswirkungen die Straße haben würde, die man ins Tal vortreiben wollte. Mit den Arbeiten hatte man in den 1960er-Jahren begonnen, doch man war nur sehr langsam vorangekommen. Es war, als hätte man die Uhr fünfhundert Jahre zurückgedreht. Zanskar war damals wie das alte Ladakh – das »kleine Tibet« – eine Welt für sich. Ein seltenes Relikt. Ein spirituelles Juwel. Eine Pferde-und-Schafe-Ökonomie. Ein klösterliches Reich von Mönchen und Nonnen, in dem sich das Leben der Menschen ganz um Gerste und Yaks drehte.
Mir wurde bewusst, dass die Studien, die ich im Tal anstellen wollte, möglicherweise die weitere Entwicklung dort – zumindest in gewissem Umfang – beeinflussen könnten. In der Quantenphysik nennt man das den Beobachtereffekt. Ich war schließlich ein Außenstehender. Außerdem hatte ich so ein Gefühl, dass in den kommenden Jahrzehnten sehr viel mehr Leute hierherkommen und so das fragile Gleichgewicht, das sich ohne jede moderne Technik entwickelt hatte, gefährden würden. In Zukunft wären der Friede und die Stille Zanskars einer sehr realen Bedrohung ausgesetzt. Sobald die Straße fertig war, würde sich die Welt dieser Menschen dramatisch und auf nicht vorhersehbare Weise verändern. Die jüngeren Leute schienen den Bau und die Verbindung mit dem modernen Indien zu begrüßen, andere waren da skeptischer. Dies war ein ganz entscheidendes Jahr. Ein Zurück würde es danach nicht mehr geben.
Beim ersten Tageslicht streckte ich, einen Ellbogen aufgestützt, meinen rechten Arm aus und kratzte mit den Fingernägeln das Eis vom Fenster, um den Berg hinter dem Dorf besser sehen zu können. Das Fenster, zwei kleine Glasscheiben, jeweils in einem einfachen Holzrahmen, war knapp über dem Boden eingelassen. Nacht für Nacht kroch der Frost langsam zurück in meine Kammer und ließ seine Silbermuskeln spielen, um einmal mehr zu zeigen, wer hier der Herr war. Auf der Innenseite der Scheiben schlug sich die Feuchte meiner nächtlichen Atemzüge nieder, eine Feuchte, die in der ausgesprochen trockenen Luft ohne Eile ihre eigene kleine Bildersammlung anlegte, zu Farnen aus Eis wurde. Langgeschwungene, filigrane Farnwedel, die aus den Ecken und Leisten des Fensterrahmens herauswuchsen und sich wieder einrollten. Diese Formen waren mir ein ständiger Quell der Verzauberung, wie sie sich so lautlos über meinem Kopf auswickelten und jeder Kristallbogen in der Dunkelheit seine eigene, Unterwasserströmungen gleiche, wirbelnde Bahn zog. Jeden Morgen entstand so auf jeder Scheibe ein Mikrokosmos, der bei genauerer Betrachtung genau so aussah wie eine Karte der Gebirgskette, in der ich festsaß, mit all ihren samt und sonders unerforschten, verlockenden Höhenrücken und Seitentälern, verborgenen nallahs und tiefen Schluchten.
Dieser wundersame Wald aus Reif und Frost malte, wie aus einer Laune heraus, jede Nacht seine geheimen Muster, seine Karten aus Eis, die es mich mit eigenen Augen zu erkunden und zu durchqueren verlangte, als flöge oder schwebte ich in einem Heißluftballon über ihnen dahin, als schaute ich durch ein umgedrehtes Fernrohr auf sie, als blickte ich durch den Tubus eines Mikroskops in die Substrate einer kaum bekannten kristallinen Welt oder in das Innere einer neuen, dem bloßen Auge unsichtbaren Spezies. Diese Karten aus Eis erinnerten mich an Fraktale und Mandelbrot-Bäumchen, deren Muster sich auf jeder Vergrößerungsstufe wiederholen. Sogar die Spitzen rollten sich ein wie Farne. Es schien, als würden diese geheimnisvollen Karten irgendwie meinen eigenen Geist spiegeln und topografisch erfassen. Ein intimes Schaubild unbekannter Konstellationen, aus denen ganz nach Belieben Gedanken und geistige Reisen erblühten, Aufmerksamkeit und Raum begehrten, nur um dann auf ebenso geheimnisvolle Weise zu verschwinden, wie sie entstanden waren.
Als wäre der Geist, statt einfach nur Fenster zu sein, durch das wir die Welt und andere Menschen beobachten, urplötzlich in etwas viel Spannenderes verwandelt worden, etwas, bei dem über Nacht aus einer einfachen Glasscheibe ein Wunderding wurde, ein Glasnegativ, eine lichtempfindliche Platte, wie sie die ersten Fotografen verwendet haben. Und auf der belichteten Platte befände sich eine dicke, deckende Schicht, in die sich unsere nächtlichen Gedanken, unsere Hoffnungen und Ängste, unsere vergangenen und künftigen Wanderungen, unsere tiefsten Geheimnisse und unsere unverhüllten Sehnsüchte, einschreiben konnten. Eine Schicht, die dieses geistige Sammelsurium, wenigstens ein paar kostbare Stunden lang, bewahren und für uns sichtbar machen würde. Als wäre jeder Eisfarn ein Traum, der rückwärts in die Zeit wuchs, hinaus über den schlichten hölzernen Fensterrahmen, der seine Form sicher bewahrte. Zurück zur wahren Quelle der Dinge, dorthin, wo die Sprache eine andere Dimension hat und selbst das leichteste Kerzenflackern bedeutungsvoll ist. Eis ist einfach nur Wasser, das innehält, dessen Fluss angehalten wurde. Ein Reich der Kristalle mit eigenen Gesetzmäßigkeiten.
Und so verfolgte ich jeden Morgen meine eigene Reise durch immer neue Gebirgsketten zurück. Es schien, als könne der Geist endlich zu sich selbst aufschließen, während ich hier Wochen und Monate in größter Stille ausharrte. Und in diesen filigranen Farnen und Eiskristallen würde ich meine eigene innere Reise wiedererkennen, wenn ich die lange Bergkette von einem Ende zum anderen verfolgte. So als wäre jeder Gipfel mit dem nächsten verbunden und würde im Rhythmus der Täler und Flüsse mit den Jahreszeiten vergehen und seine Gedanken wie Schmelzwasser verströmen. Bergdenken. Eine üppige, abwechslungsreiche Landschaft, die meine Seele labte. Doch der Winter zog sich lange hin.
Winter, Winter. Eine Zeit, um Einkehr zu halten, bei sich zu bleiben, alles Überflüssige abzustellen, stillzuhalten, die Winterruhe sich entfalten zu lassen. Eine entgrenzte Zeit, die auf ihre ganz eigene Art und Weise einen inneren Reichtum und eine Empfindsamkeit zutage förderte, die lange in mir verschüttet gewesen waren und die mir das Gefühl gaben, zu mir selbst zurückzukehren und endlich heimzukommen. Ich war von aller Welt abgeschnitten, aber völlig im Frieden mit mir selbst.
Diese zart aufs Fenster gravierten Farne und Formen aus Eis in jener Kammer wurden zu meinen Freunden und Verwandten. Ich pflegte ihre Gestalt nachzuzeichnen und in sie alle möglichen Fahrten und Gedanken hineinzulesen, aber dennoch war es nicht möglich, Punkte zu entdecken oder vorherzusagen, an denen eine Geschichte vielleicht ihren Verlauf ändern oder eine Idee konkrete Gestalt annehmen könnte. Viele dieser Geschichten erstreckten sich weit zurück in die Vergangenheit, andere eilten dagegen voraus in die Zukunft. Diese Geschichten waren ein Ort des Aufkeimens, aber auch des Grübelns, waren wie ein Barometer, das selbst die geringsten Veränderungen anzeigte. Eine Zwiesprache mit sich selbst und der Welt da draußen. Doch es bestand keine wirkliche Notwendigkeit zum Rückzug. Die Welt da draußen war vollkommen still und die Kultur von Zanskar der Spiegel, in den ich schaute.
Dennoch musste ich jeden Tag wieder einen Teil dieser zarten, so komplexen Welt zerstören, Schneisen durch die Karte aus Eisfarnen pflügen, die filigranen Spitzen aus Eis zerreißen, um ein Naturwunder von ganz anderem Maßstab sehen zu können, welches das ganze Tal überragte. Während ich die Scheiben freikratzte, spürte ich die Kälte der Eiskristalle, die sich unter meinen Fingernägeln sammelten. Ich horchte auf das kratzende Geräusch, drehte meinen Kopf, streckte den Nacken ein wenig und ließ meinen Blick nach oben gehen, während ich immer noch auf dem Boden lag. Dann erhaschte ich einen ersten Blick auf die heraufziehende Morgendämmerung, wenn unvermittelt ein rosafarbener Lichtschein sanft über den nach Süden gelegenen Berggipfel streifte. Ohne jede Hast beobachtete ich, wie das Licht die Bergflanke herunterfloss und erst das Kloster, dann das Dorf erreichte. So harrte ich reglos aus, bis seine warmen Strahlen in meine Kammer fielen – natürlich nur, wenn es nicht schneite. Einmal schneite es ganze zehn Tage lang.
Ich hatte kein Bett, keine Matratze, keine Decke, nicht einmal eine Pritsche. Mein einziger Luxus war ein Schlafsack, den ich auf einem abgetretenen Teppich ausgerollt hatte. Unter dem Teppich lag ein Rest von einem alten Rupfensack, wie sie als Decke unter den Holzsätteln der Lasttiere dienten. So hatte ich wenigstens ein bisschen Isoliermaterial. Doch der gestampfte Lehmboden war uneben und staubig, ein wenig bucklig, aber zumindest zog es nicht sonderlich in meiner Kuhle. Die Eiskristalle unter meinen Fingernägeln waren unglaublich kalt. Das Leben war sehr einfach. Aber genauso mochte ich es. Ich schlief immer auf dem Boden, so war es wärmer.
Dieses Fenster war der Mittelpunkt meines Daseins. Es war mein Auge auf die Welt, eine Linse, durch die ich wie durch ein Bullauge hinausspähen konnte – und es befand sich direkt über meinem Schlafplatz. Diese zwei Glasscheiben waren mein Ein und Alles. Sie maßen nur dreiundzwanzig mal dreiundzwanzig Zentimeter, und doch waren sie, eingewickelt in Stroh und Sackleinen, damit sie nur ja nicht brachen, auf hölzernen Tragegestellen wie auf einer Staffelei, behutsam einhundertfünfzig Kilometer oder mehr auf dem Rücken eines Mannes über unzählige Bergpässe hierhergeschafft worden. Glas war in diesem Tal immer noch so etwas wie ein Novum, das seinen Zauber nicht verloren hatte. Man ging damit fast ehrfürchtig um, und der gefährliche Weg, den es genommen hatte, verdoppelte, ja verdreifachte seinen Wert. Die Dorfleute hatten in ihren Winterquartieren häufig nur ein Brett, das sie einen Spalt öffneten, um den Rauch des offenen Küchenfeuers abziehen zu lassen. Oft war es im Winter einfach zu kalt für Glasfenster. Licht kam entweder von Kerzen oder Lämpchen, in denen Senföl verbrannte. Manche hatten auch althergebrachte Sturmlaternen. Einer oder zwei hier im Tal besaßen eine dieser neumodischen Tilleylampen, die mit Petroleum betrieben wurden. Man musste zuerst die Pumpe abschrauben, Petroleum einfüllen, die Pumpe wieder anschrauben, vorheizen, dann mit mehreren Pumpstößen Druck aufbauen, bis der Glühstrumpf weiß glühte. Diese Lampen sorgten stets für großes Hallo und schenkten ihrem Besitzer Stolz und Status.
Selbst das Holz für den Fensterrahmen war mehrere Hundert Kilometer durch gewundene Täler von Kaschmir hier heraufgeschafft worden. Dieses Bauholz war auf dem Rücken von Pferden und Yaks über dieselben Pässe gekommen, die auch ich überquert hatte: Zoji La und Pense La. Ein Teil des Bauholzes kam von Süden, von der anderen Seite der Hauptkette des Himalaja. Es wurde über Gletscher gezogen, wobei Männer und Pferde manchmal in Eisspalten rutschten, sodass man sie mit Seilen wieder herausholen musste. Das Ende der ausgebauten Straße nach Suru war einhundertfünfzig Kilometer entfernt. Von dort war ich Mitte November mit vier Tragetieren aufgebrochen, zu einem keineswegs problemlosen Marsch.
Wie bei den meisten Fenstern in diesem Tal war unterhalb des Rahmens ein Gitter eingesetzt, das Luft hereinließ. Meine Kammer wurde eigentlich nur im Sommer benutzt, und da war ein frischer, kühler Luftzug höchst willkommen. Im Winter freilich sah die Sache anders aus. Die Winde aus den Bergen waren häufig erbarmungslose Staubstürme. Diese wirbelnden Derwische, Sandteufel, Dschinns – man kann sie nennen, wie man will – waren an der Tagesordnung, wenn der Wind über die zentrale Hochebene fegte. Die Kälte der Eiswinde von den Gletschern kroch einem dann bis ins Mark.
Das Gitter unter dem Fenster und die Spalten zwischen den Fensterrahmen hatte jemand behelfsmäßig mit Seiten aus einem Schulheft zugestopft. Ich drückte mit meinem Taschenmesser Watte in die Ritzen und versuchte dann, die Fugen mit Streifen kostbaren Heftpflasters zu versiegeln, damit Wind und Staub draußen blieben. Trotzdem drückte es häufig feine Schneepartikel herein, die sich dann über alles legten.
Oft war ich beim Aufwachen von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Die schmolz nicht einmal auf meinem Schlafsack, denn zwischen Innen- und Außentemperatur war kein großer Unterschied. Ich hatte zwei Plastikthermometer, sodass ich die Temperatur immer kontrollieren konnte. Und so stellte ich fest, dass minus zwanzig Grad Celsius draußen etwa minus zehn Grad drinnen entsprachen. Hatte es draußen minus dreißig Grad, dann lag die Innentemperatur bei etwa minus fünfzehn. Höchst wissenschaftliche Beobachtungen also, die ihr Ende fanden, als ein junger Bursche mir ein Thermometer klaute. Nach ein oder zwei Tagen bekam ich es zwar wieder zurück, es war aber leider kaputt.
Nach einer gewissen Zeit wurde die Frage nach den Kältegraden zu einer rein akademischen Angelegenheit. Trockene Kälte kann sehr trügerisch sein. Sobald man aber draußen weite Strecken allein unterwegs war, ging es dabei um Leben, Tod und Durchhaltevermögen. Das Wichtigste war, darauf zu achten, dass man nicht ins Schwitzen kam, weil dann der Schweiß auf der Kleidung gefror. Und darauf, dass man sich keine Erfrierungen an Fingern, Zehen, Nase und Ohren holte. Beim Langlaufen band ich mir manchmal wie ein Bandit ein blau-weiß getupftes Taschentuch vor den Mund, um meine Lunge vor der eiskalten Luft zu schützen. Die Hauptsache war, immer in Bewegung zu bleiben und nur wenige Minuten zu rasten, außer die Sonne guckte gerade hervor. Ich musste mich auf den gefrorenen Fluss vorbereiten.
Zum Schlafen zog ich mir eine dunkelblaue wollene Skimütze über den Kopf. Meine Hände steckten in Fäustlingen, die vorn offen waren – für den Fall, dass ich mir eine Erfrierung holen sollte. Dann drei Paar Socken, lange Unterhose, zwei Pullover, davon einer aus leicht geölter Wolle, was sie wasserabweisend macht, ein klassischer Guernsey-Fischerpullover. Gerade richtig also für die Berge und sehr strapazierfähig. Selbst drinnen musste man vorsichtig sein.
Von hier oben sah das Dorf für alle Welt aus wie ein kleiner Konvoi von Frachtdampfern mit beladenen Decks. Seine flachen Dächer schubsten und drängelten sich und trugen Stapel von Brennholz, Kleinholz zum Feuermachen, dünne Äste, Wurzeln, Tamarisken und Heu. Die Schotten alle dicht wegen Sturm, während seltsame graublaue Rauchschwaden von Holzfeuern in der frühen Morgenluft waberten. Vor allem war es immer still. War das Wetter gut, dann ließ man die Tiere hinaus an die frische Luft, wo sie sich selbst überlassen blieben. Doch liefen sie selten weit, sondern trieben sich eher in der Nähe herum. Sie waren sehr gesellig und hatten ihre eigene Hackordnung. Sie mochten die Nähe zum Menschen und standen fast gleichberechtigt neben den Dorfbewohnern. Wenn sie Durst hatten, fraßen sie Schnee.
Auf halber Höhe der Außenmauer gab es noch eine dritte Glasscheibe. Diese war grün und matt. Wenn die Sonnenstrahlen am Ende auch sie erfassten, wurde meine Kammer in ein grandioses grünliches Licht getaucht, das ihr die Anmutung einer Klosterkapelle oder einer Einsiedlerklause verlieh. Solche farblichen Wonnen müssen die Seelen der Mönche vor langer Zeit erhoben und sie im Glauben an die Heiligkeit des Lichts und der für das Auge sichtbaren Farbigkeit der Natur bestärkt haben. Kleine Freuden wie diese ließen das Leben hier nicht nur erträglich sein, sondern reich. Der Winter machte das Licht zu einem kostbaren Gut, und anders als in den Polarregionen musste man hier nicht mit endlosen Stunden der Dunkelheit fertigwerden. Man nutzte jedes bisschen Sonne, um sich zu wärmen, und wann immer es ging, setzten die Leute sich zum Spinnen und Weben auf die Dächer ihrer Häuser.
Als ich meine Kammer bezog, habe ich sie als Erstes mit einem alten hölzernen Skistock vermessen. Der hatte oben eine Lederschlaufe, unten einen Teller aus Peddigrohr und mehr Ähnlichkeit mit den Stöcken, die ein Shackleton oder ein Scott auf ihren Expeditionen mitgeführt haben mochten, als mit denen, die man heute in den schicken alpinen Wintersportorten sieht. Der Raum war zwei Meter fünfundachtzig breit und vier Meter fünfundzwanzig Zentimeter lang. Der Grundriss war aber kein exaktes Rechteck. Von den gegenüberliegenden Seiten war eine etwa dreißig Zentimeter länger als die andere, was der Kammer eine interessante Perspektive gab. Hier war nichts im rechten Winkel oder gerade. Und das war mir gerade recht. Raute oder nur rautenförmig? Keine Parallelen. Keine Geraden. Keine Senkrechten. Selbst die Wände waren nicht im Lot und trafen eher im Achtzig-Grad- als im Neunzig-Grad-Winkel auf den Boden. Vielleicht war das hier ja ein buddhistisches Paralleluniversum. Hier war alles leicht schräg. Genau wie der griechische Lyriker Konstantinos Kavafis (er lebte und starb im ägyptischen Alexandria) es sich gewünscht hätte.
Bei gutem Wetter konnte ich zusehen, wie das Sonnenlicht allmählich den Berg herunterwanderte, während ich im Bett lag und las. Für mich war dieser Berg wie ein ganz spezieller Freund. Sein gekrümmter Rücken glich dem Bug eines alten Kriegsschiffes. Vom Gipfel aus konnte man den K2 und den gesamten Karakorum überblicken, über zweihundert Kilometer nach Norden. Dazwischen lag ein weites Meer von Bergen. Im Westen das Nun-Kun-Massiv, im Osten Changthangs ausgedehnte Hochlandsteppen; nach Süden hin die Gipfel von Kishtwar. Ein unvergesslicher Anblick. Einer Erstbesteigung gleich. Einen Berg zum allerersten Mal zu besteigen ist eine eigentümliche und berauschende Erfahrung zugleich. Alles ist frisch, sogar der Blick. Ein stilles Gefühl der Euphorie. Man hat es geschafft. Fühlt sich erhoben. Zwanzig Minuten auf dem Gipfel, das ist alles. Gerade genug, um ein kleines Steinmännchen aufzuschichten. Eine Tasse Tee aus einer Thermoskanne. Dann wieder hinunter, ehe es dunkel wird.
Jeden Morgen machte sich das Sonnenlicht auf seinen langen Abstieg herab vom Gipfel über die Kämme und steilen Abhänge. Manchmal quälend langsam, dann wieder hüpfend und springend. Mein Stundenglas, mit dem ich den Lauf der Sonne vorzeichnen konnte, bis sie auf die weiß gekalkten Mauern des buddhistischen Klosters traf. Von da glitt die Sonne über abgeerntete Terrassenfelder herunter bis ins Dorf, das zwischen allerlei Geröll lag, den Überresten einer riesigen Endmoräne.
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In manchen Dörfern wurde das Wissen um die Zeit vererbt. Es gab Familien, die mit der zerklüfteten Silhouette der Berge so vertraut waren, dass sie daran, wie die Sonne aufging, ablesen konnten, wann die richtige Zeit ist, die Felder zu pflügen. Ein Wissen um die Beschaffenheit des Horizonts, das vom Vater auf den Sohn weitergegeben wurde. Das ganze Dorf hing davon ab, dass die Menschen Zeitpunkte richtig bestimmten. Wenn sie sich irrten, und es gibt starke Schneefälle, dann war die ganze Ernte verloren. Manchmal errichteten sie Steinmännchen auf einem Bergkamm oder orientierten sich an bestimmten Gebäuden als Anhaltspunkt.
Es gab eine Zeit, um zu ernten, und eine Zeit, um zu heiraten, eine Zeit, um Feste zu feiern, und eine Zeit, um wiedergeboren zu werden. Eine Zeit für die Kinder, groß zu werden. Alles war mit allem verknüpft. Jedes Dorf im Tal spielte seine spezielle Rolle, und alle waren auf eine Art und Weise miteinander verbunden, die nicht immer sichtbar war. Über Generationen hat man miteinander Handel getrieben, und Tiere gehörten so selbstverständlich zu ihrem Leben wie Kinder. Es existierten unsichtbare Bande von Handel und Heirat, man tauschte Saatgut und half sich gegenseitig bei der Arbeit. Es bestand eine religiöse Kontinuität, die zirkulär in ihrem eigenen Tempo verlief.
Zeit bemaß sich in Schweigen und Meditation in Jahren. Zeit bekommt im Buddhismus oft eine langfristige Perspektive, ähnlich der geologischen oder sogar der kosmischen Zeit. Vielleicht war es kein Zufall, dass Zanskar immer so viele Yogis beherbergt hat, auch wenn man sie nicht zu Gesicht bekam. Sie lebten in abgelegenen Höhlen, manchmal eingemauert für ein langes Retreat von drei Jahren, drei Monaten, drei Wochen und drei Tagen. Ab und zu konnte man vielleicht hoch oben auf einem Kamm oder in einer Bergwand jemanden sehen, der ihnen Essen brachte, aber mehr auch nicht. Zeit wurde auch in Ehrfurcht und Dankbarkeit gemessen. Jemand, der sich entschloss, in einem Tal wie diesem allein zu leben, war dennoch nie einsam. Denn Berge und Berggeister waren immer zugegen. Hier herrschte absolute Freiheit, auch wenn die Luft dünn war. Dein Leben spannte sich auf zwischen Berg und Fluss. Eine Opfergabe.
Täglich ging ich hinunter zur Brücke, um zu kontrollieren, wie stark der Fluss schon zugefroren war, und sann seinem Lauf nach. Ich musste mich mit dem Fluss und all seine Launen vertraut machen, damit ich all seine Eigenarten, seine eigenwillige Schönheit auch wirklich verstand. Ich inspizierte die ins Eis gehauenen Wasserlöcher, im Winter die einzige Wasserquelle, die das Dorf hatte. Je weiter der Winter fortschritt, desto dicker wurde das Eis und desto tiefer die Löcher. Kleine Kinder mussten dann alte Konservendosen mitnehmen, um beim Füllen der Metallkanister zu helfen. Das war eine langwierige, mühselige Prozedur, der ein Fußmarsch von einigen Hundert Metern hinauf ins Dorf folgte. Sie bekamen ganz aufgesprungene Finger und Hände davon. Flüsse bewegen sich, und das gilt auch für das Eis. Manchmal konnte man nachts hören, wie es kracht.
Abgeschiedenheit aber ist nicht das Gleiche wie Isolation. Abgeschiedenheit ist eine Kraft, eine Art von Zufriedenheit, ein Weg, für den man sich entschieden hat. Isolation ist dagegen ein von außen auferlegtes Alleinsein. Es handelt sich hier um zwei gänzlich verschiedene Seelenzustände, die aber dennoch zusammenhängen. Isoliert zu sein kann Abgeschiedenheit fördern, doch das ist nicht jedermanns Sache. Zeit und Abgeschiedenheit nähren sich beide von Stille. In der Stille liegt eine ganz eigene Kraft, und man muss lernen, sie sich zunutze zu machen. Selbst die Kälte hat ihr eigenes Echo, das Eis seine eigene Musik.
Tief drin wusste ich, dass diese Art der Abgeschiedenheit ein seltenes Gut war, das ich höher als alles andere schätzte. Ich war mir ganz und gar der Tatsache bewusst, dass ich Zeit brauchte, um ich selbst zu werden. Ich hatte zudem das merkwürdige innere Gefühl, an der Schwelle zu etwas Außergewöhnlichem zu stehen. Dies war eine Forschungsexpedition in eine andere Dimension. Abgeschiedenheit. Ich war von weither gekommen, um ihre Früchte zu kosten. Man kann die Stille schmecken, sie einatmen, als würde man guten Wein verkosten, aber in der Stille hat keine Täuschung Bestand. In ihr tritt der Sinn des Lebens völlig klar zutage. Denn absolute Stille ist, wie der absolute Nullpunkt, letztlich ein Geisteszustand.