Cover

Buch

Die große Drachin Tintaglia rettete einst die Händler von Bingstadt. Dafür schworen ihr diese, ihre Brut zu beschützen. Doch die Dankbarkeit der Menschen währte nur so lange, wie sie sich davon einen Vorteil erhofften. Und als sich die Drachenbrut als missgestaltet und schwach erwies, zogen die Händler ihren Schutz zurück. Nun benötigen die jungen Drachen eine neue Heimat. Ihre verbliebenen menschlichen Freunde sehen nur eine Möglichkeit: Kelsingra, die verlorene Stadt der Drachen inmitten der Regenwildnis. Doch der Weg dorthin ist mühsam. Niemand weiß, ob alle Drachen die Reise überstehen werden – und ob Kelsingra überhaupt noch existiert.

Autorin

Robin Hobb wurde in Kalifornien geboren, zog jedoch mit neun Jahren nach Alaska. Nach ihrer Hochzeit zog sie mit ihrem Mann nach Kodiak, einer kleinen Insel an der Küste Alaskas. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte. Seither war sie mit ihren Storys an zahlreichen preisgekrönten Anthologien beteiligt. Mit »Die Gabe der Könige«, dem Auftakt ihrer Serie um Fitz Chivalric Weitseher, gelang ihr der Durchbruch auf dem internationalen Fantasy-Markt. Ihre Bücher wurden seither millionenfach verkauft und sind Dauergäste auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Robin Hobb hat vier Kinder und lebt heute in Tacoma, Washington.

Die Regenwildnis-Saga von Robin Hobb ist unabhängig von der Weitseher-Saga lesbar und erscheint komplett bei Penhaligon:

1. Wächter der Drachen

2. Stadt der Drachen

3. Kampf der Drachen

4. Blut der Drachen

Die Chronik der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon:

1. Die Gabe der Könige

2. Der Bruder des Wolfs

3. Der Erbe der Schatten

Das Erbe der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon

1. Diener der alten Macht

2. Prophet der sechs Provinzen

3. Beschützer der Drachen

Das Kind der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon

1. Die Tochter des Drachen

2. Die Tochter des Propheten

3. Die Tochter des Wolfs

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Robin Hobb

Wächter der Drachen

Roman

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Dragon Keeper (Rain Wilds Chronicles Book 1)« bei Spectra, New York.

Dieser Roman ist bereits unter dem Titel »Drachenhüter« auf Deutsch erschienen. Er wurde für diese Ausgabe komplett überarbeitet.

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Copyright der Originalausgabe © 2010 by Robin Hobb
Copyright dieser deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Alexander Groß
Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de, unter Verwendung eines Motivs von Eky Studio/Shutterstock.com
HK · Herstellung: MR
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-27091-9
V001

www.penhaligon-verlag.de

Zweiter Tag des Pflugmonds

IM SECHSTEN JAHR DER HERRSCHAFT DES ERLAUCHTEN UND PRÄCHTIGEN SATRAPEN COSGO

Von Erek, Vogelwart in Bingstadt,

an Detozi, Vogelwart in Trehaug

Heute Nacht sende ich Euch vier Vögel mit dem zweiteiligen Übereinkommen zwischen uns und der Drachin Tintaglia, das vom Konzil der Regenwildnis bestätigt werden soll. Händler Devouchet, Führer des Händlerkonzils in Bingstadt, schlug vor, dass wir auch Duplikate abschicken. In ihnen wird die formale Übereinkunft zwischen den Händlern und der Drachin zusammengefasst. Wir helfen ihren Schlangen, den Regenfluss hinaufzureisen, und im Gegenzug unterstützt sie uns bei der Verteidigung der Händlerstädte und Wasserwege gegen die Invasoren aus Chalced.

Bitte bestätigt den Erhalt dieser Nachricht so bald wie möglich, indem Ihr einen Vogel zurücksendet.

Detozi,

auf knappem Raum noch eine kurze persönliche Nachricht an Euch, die ich in Eile verfasse. Hier herrscht das reinste Chaos. Mein Taubenschlag brannte zur Hälfte ab, als die Eindringlinge Feuer legten, viele Vögel sind im Rauch erstickt. Mit den Botentauben sende ich Euch Kingsly. Ihr wisst, dass ich ihn als Jungtier mit eigener Hand aufgezogen habe, nachdem seine Eltern gestorben sind. Bitte hütet ihn gut und schickt ihn nicht zurück, ehe gewiss ist, dass alles wieder gut ist. Sollte Bingstadt fallen, dann nehmt ihn in Eure Obhut. Betet für uns. Ich weiß nicht, ob Bingstadt diese Überfälle überleben wird, mit oder ohne die Hilfe der Drachin.

Erek

Prolog

DAS ENDE DER SCHLANGEN

Sie waren so weit gekommen, doch nun, als sie hier angelangt war, verblassten die Jahre des Wanderns bereits in ihrer Erinnerung und wichen den drängenden Erfordernissen ihrer verzweifelten Gegenwart. Sisarqua riss die Kiefer auseinander und streckte den Hals durch. Für die Seeschlange war es mühsam, sich zu konzentrieren. Seit Jahren war sie nicht mehr aus dem Wasser herausgekommen, und Festland hatte sie das letzte Mal unter ihrem Leib gespürt, als sie auf der Insel der Anderen aus dem Ei geschlüpft war. Jetzt war sie fern von jener Insel mit ihrem heißen Sand und ihrem milden Wasser. Über das dicht bewaldete Land zu beiden Seiten dieses eisigen Flusses fiel der Winter herein, und das morastige Ufer unter ihrem zusammengerollten Körper war fest und rau. In der kalten Luft trockneten ihre Kiemen rasch aus. Dagegen vermochte sie nichts anderes zu tun, als schneller zu arbeiten. Sie stieß ihre Kiefer in die riesige Grube und füllte ihr Maul mit silbrig schimmerndem Schlamm und Flusswasser. Dann warf sie den mächtigen Kopf zurück und schlang alles hinunter. Der lehmige Boden war mit Sand durchsetzt, kalt und auf eine eigenartige Weise köstlich. Noch ein Maul voll, noch ein Schluck. Immer wieder.

Längst zählte sie nicht mehr, wie oft sie von der sandigen Suppe geschlürft hatte, als sich schließlich der uralte Reflex in ihr regte. Während sie ihre Rachenmuskeln bewegte, schwollen ihre Giftsäcke an. Rings um ihre Kehle stellte sich eine fleischige Mähne auf, wie eine zitternde, giftige Halskrause. Das Beben wanderte bis zur Schwanzspitze hinab. Sie riss die Kiefer auseinander, presste und würgte. Dann drang die Masse aus ihr heraus, und sie klappte die Kiefer wieder zusammen, damit nur ein kräftiger, aber dünner Strahl aus Erde, Galle, Speichel und Gift hervorschoss. Mit einiger Mühe drehte sie den Kopf und wickelte ihren Leib dichter zusammen. Wie ein dicker zäher Silberfaden drang das Gemisch aus ihrem Maul, und mit kreisenden Kopfbewegungen überzog sie ihren aufgerollten Körper mit einer feuchten Schicht.

Sie spürte schwere Schritte herannahen, und kurz darauf fiel der Schatten eines Drachen auf sie. Tintaglia blieb bei ihr stehen und sprach zu ihr. »Gut, gut, so ist es recht. Erst einmal eine dünne, gleichmäßige Schicht ohne Lücken. So ist es recht.«

Sisarqua hatte keinen Blick für die blau-silberne Königin übrig, von der das Lob kam. Zu sehr nahm sie die Arbeit an der Hülle in Anspruch, die sie während der verbleibenden Wintermonate schützen würde. Das verzweifelte Bemühen entsprang ihrer Müdigkeit. Sie musste schlafen. Sie sehnte sich nach Ruhe. Doch sie wusste, dass sie niemals wieder erwachen würde, egal in welcher Form, wenn sie jetzt einschlief. Vollende die Hülle, dachte sie bei sich. Vollende die Hülle, dann kannst du ausruhen.

Um sie herum, über das gesamte Flussufer verteilt, waren weitere Schlangen mit der gleichen Arbeit beschäftigt, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Zwischen ihnen schufteten Menschen. Einige schleppten Eimer mit Flusswasser. Andere stachen silbern schimmernden Lehm von einer nahen Böschung ab und luden ihn auf Karren. Junge Burschen zogen die rumpelnden Karren zu der riesigen Grube, deren Wände hastig mit Baumstämmen abgestützt worden waren. Wasser und Erde wurden hineingekippt, und unten standen Menschen, die die größeren Erdbrocken mit Schaufeln und Rudern zerkleinerten und aus Wasser und Erde eine Art Brei mischten. Von diesem Schlick hatte Sisarqua sich bedient, denn er bildete die Hauptzutat für ihre Hülle. Die anderen Zutaten waren mindestens genauso wichtig. Das Gift, das ihr Körper beigemengt hatte, würde sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzen. Und mit dem Speichel gab sie auch ihre Erinnerungen in die Obhut der Hülle. Nicht nur ihre eigenen Erinnerungen an ihre Zeit als Schlange wob sie hinein, sondern sämtliche Erinnerungen ihrer Blutlinie wickelte sie wie Garn um sich herum.

Was fehlte, waren die Erinnerungen der Drachen, die den Schlangen eigentlich beim Bau ihrer Hüllen hätten beistehen sollen. Noch war Sisarqua sehr wohl bewusst, dass wenigstens zwanzig Drachen hätten anwesend sein müssen, die ihnen Mut zusprachen, ihnen den Erinnerungssand und die Erde vorkauten und mit ihrem hervorgewürgten Speichel ihre eigene Geschichte beitrugen. Aber sie waren nicht da, und Sisarqua war zu müde, um sich zu fragen, welche Folgen das haben mochte.

Als sie am Hals angelangt war, überkam sie eine ungeheure Müdigkeit. Die Hülle musste so beschaffen sein, dass sie am Ende nur noch den Kopf einziehen und die Lücke von innen verschließen musste. Jetzt dämmerte ihr langsam, dass die Drachen, die die Schlangen hüteten, einst geholfen hatten, die Hüllen zu versiegeln. Aber Sisarqua wusste auch, dass sie nicht mehr auf solche Hilfe hoffen konnte. Gerade einmal einhundertneunundzwanzig Schlangen hatten sich an der Mündung des Schlangenflusses zusammengeschart, um die verzweifelte Wanderung stromaufwärts zu den überlieferten Reifegründen anzutreten. Maulkin, ihr Anführer, war sehr besorgt über die geringe Anzahl an Weibchen, deren Anteil weniger als ein Drittel betrug. In jedem Jahr der Wanderschaft hätten es ein paar Hundert Schlangen sein müssen und genauso viele Weibchen wie Männchen. So lange hatten sie im Meer verharrt, und so weit waren sie gereist in der Hoffnung, ihre Art zu erneuern. Zu erfahren, dass sie vielleicht schon zu spät und nicht mehr zahlreich genug waren, war ein herber Schlag.

Durch die Gefahren der Flussreise war die Gruppe noch weiter geschrumpft. Sisarqua wusste nicht genau, wie viele es bis zum sicheren Strand geschafft hatten. Um die neunzig, nahm sie an, doch die Nachricht, dass nicht einmal zwanzig von ihnen Weibchen waren, war um einiges erschreckender. Und um sie herum starben weiterhin Schlangen an Erschöpfung. Gerade als ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, hörte sie Tintaglia mit einem Menschen sprechen. »Er ist tot. Holt eure Hämmer und zerschlagt seine Hülle. Schafft sie in die Grube zu dem Erinnerungslehm, damit die anderen die Erinnerungen seiner Vorfahren am Leben erhalten können.« Auch wenn Sisarqua es nicht sehen konnte, so hörte sie doch, wie Tintaglia den toten Schlangenleib aus der unvollendeten Hülle zerrte. Und als die Drachin den Leichnam verschlang, roch sie das Fleisch und das Blut. Hunger und Müdigkeit krampften sich in ihr zusammen. Sie sehnte sich danach, an dem Mahl teilzuhaben, doch dafür war es zu spät. In ihrem Bauch war Lehm, der verarbeitet werden musste.

Und Tintaglia bedurfte dringend der Nahrung. Sie war der einzige noch lebende Drache, der sich um all die Schlangen kümmern konnte. Sisarqua hatte keine Ahnung, woher Tintaglia die Kraft dafür nahm. Ohne Rast war die Drachin tagelang geflogen, um sie den Fluss hinaufzuführen, dessen Lauf sich über die Jahrzehnte hinweg verändert hatte und der ihnen nicht mehr vertraut war. Viele Reserven konnte Tintaglia nicht mehr übrig haben, und sie hatte ihnen kaum mehr als Ermutigungen zu bieten. Was vermochte eine Drachin schon auszurichten angesichts der Not so vieler Seeschlangen?

Wie die spinnwebartige Erinnerung an einen Traum waberte für einen Moment das Bild eines Vorfahren durch ihr Bewusstsein. Das ist nicht richtig, dachte sie bei sich. Das alles stimmt nicht. Nichts ist so, wie es sein sollte. Zwar war dies der Fluss, aber wo waren die breiten Auen und die Eichenwälder, die ihn gesäumt hatten? Jetzt grenzten morastige Sumpfwälder an den Strom, und nur selten sah man einen Flecken festen Grunds. Hätten die Menschen das Ufer nicht mit Steinen befestigt, bevor die Schlangen angekommen waren, hätten sie es in ein Schlammloch verwandelt. Doch in der Erinnerung ihrer Vorfahren sah sie weite, sonnenbeschienene Auen und ein üppiges Ufer in der Nähe einer Stadt der Uralten. Drachen hätten Erdklumpen daraus lösen und aus Lehm und Wasser einen Brei mischen sollen. Drachen hätten die Hüllen der Schlangen schließlich vollends versiegeln sollen, und all das hätte in der Mittagshitze eines hellen Sommertages geschehen müssen.

Müdigkeit überrollte sie, und die Erinnerung verschwand unwiederbringlich. Sie war nur eine einzelne Schlange, die sich abmühte, ihre Hülle zu weben, um sich, vor der Winterkälte geschützt, verwandeln zu können. Eine einzelne Schlange, müde und durchgefroren, die nach einer Ewigkeit des Umherwanderns endlich heimgekehrt war. Ihre Gedanken schweiften zurück in die vergangenen Monate.

Die letzte Etappe ihrer Reise war ihr wie ein nicht enden wollender Kampf gegen die Strömung im felsigen Flachwasser vorgekommen. Maulkins Knäuel, zu dem sie neu dazugestoßen war, hatte sie in Erstaunen versetzt. Normalerweise bestand ein Knäuel aus zwanzig bis vierzig Schlangen. Maulkin hatte jedoch jede Schlange aufgenommen, die er finden konnte, und hatte sie nach Norden geführt. Dadurch war es um einiges schwieriger geworden, unterwegs Nahrung aufzutreiben, aber er hatte es als notwendig erachtet. Nie zuvor hatte Sisarqua so viele Schlangen zusammen als Knäuel auf Wanderschaft gesehen. Es ließ sich nicht leugnen, dass einige fast zu bloßen Tieren verkommen und andere vor Verwirrung und Angst dem Wahnsinn nahe waren. Zu viele litten an Vergessen, das ihnen den Kopf vernebelte. Doch als sie der Prophetenschlange mit den leuchtenden goldfarbenen Scheinaugen in einer langen Reihe gefolgt waren, hatte sich Sisarqua beinahe an die alten Wanderrouten erinnert. Um sie her hatten die bedrängten Schlangen neuen Mut gefasst und einen klaren Kopf erlangt. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass diese strapaziöse Reise richtig war, so richtig, wie seit langer Zeit nichts mehr gewesen war.

Und doch hatte es Momente des Zweifels gegeben. In den Erinnerungen ihrer Ahnen war der Strom, den sie suchten, behäbig, tief und voller Fische gewesen. In den Träumen ihrer Vorfahren säumten sanfte Hügel und Auen den Fluss. Und diese wiederum grenzten an Wälder, in denen es von Wild für hungrige Drachen wimmelte. Dieser Fluss hatte zwar eine tiefe schiffbare Rinne, doch er schlängelte sich auf seinem Weg ins Landesinnere durch einen hoch aufragenden Wald, mit einem Dickicht aus kriechenden Gewächsen und Ranken. Dies konnte unmöglich die Route zu den alten Reifegründen sein. Maulkin hatte jedoch stur darauf beharrt.

Manchmal waren ihre Zweifel so stark gewesen, dass sie beinahe umgekehrt war. Fast wäre sie aus dem trüben Eiswasser geflohen, um sich zu den wärmeren Gewässern des südlichen Meeres aufzumachen. Doch jedes Mal, wenn sie langsamer geworden oder etwas abseits geschwommen war, hatten andere Schlangen ihr nachgestellt und sie ins Knäuel zurückgetrieben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Sosehr sie Maulkins Vorstellungen auch infrage stellte – Tintaglias Autorität hatte sie nie angezweifelt. Die blau-silberne Drachin hatte Maulkin als ihren Anführer anerkannt und auch dem seltsamen Schiff geholfen, das sein Knäuel führte. Aus der Luft hatte sie die Schlangenherde nach Norden und diesen Fluss hinaufgeführt und sie mit lauter Stimme ermuntert. Bis zu der Zweibeinerstadt Trehaug war das Schwimmen annehmbar gewesen. Zunehmend müder zwar, aber ohne größere Schwierigkeiten waren sie dem Schiff gefolgt, das ihnen den Weg wies.

Nachdem sie allerdings an der Stadt vorbeigezogen waren, änderte sich der Fluss. Das Schiff war nicht mehr weitergefahren, da es die Untiefen nicht passieren konnte. Oberhalb Trehaugs wurde der Fluss breiter und flacher und teilte sich in Seitenarme auf. Ausgedehnte Kies- und Sandbänke fraßen sich in die Strömung, und seine Ufer waren von würgenden Ranken und Wurzeln überwuchert. Das Wasser wurde flacher, das Flussbett wand sich ziellos umher. An manchen Stellen war es mit scharfen Felsen gespickt, dann wieder von Schilf verstopft. Ein weiteres Mal hatte Sisarqua den Wunsch verspürt umzukehren, doch wie auch die anderen Schlangen hatte sie sich von der Drachin weiter antreiben und leiten lassen. Immer weiter stromaufwärts waren sie geschwommen. Mit mehr als hundert ihrer Artgenossen hatte sie sich täppisch und strampelnd durch die unzureichende Leiter aus stufigen Teichen gekämpft, die die Menschen mit Baumstämmen auf dem letzten, aus tödlichen Untiefen bestehenden Wegstück angelegt hatten, um tiefere Becken zu schaffen.

Auf diesem Abschnitt der Reise waren viele gestorben. Im rauen Flusswasser wurden kleine Verletzungen, die im wohltuenden Salzwasser des Meeres schnell verheilt wären, rasch zu eiternden Geschwüren. Nach ihrer langen Verbannung auf See waren viele der großen Schlangen gebrechlich geworden, sowohl am Körper wie auch im Geiste. So viele Dinge waren nicht richtig. Zu viele Jahre waren vergangen, seit sie geschlüpft waren. Schon vor Jahrzehnten hätten sie diese Reise antreten sollen – als gesunde Jungschlangen, deren Leiber vor Fett noch geschmeidig waren, hätten sie in der Hitze des Sommers den Fluss hinaufwandern sollen. Stattdessen taten sie es nun in der Not und dem Regen des Winters, ausgemergelt, zerschlagen und mit Seepocken überzogen, und vor allem alt, viel älter als jemals Seeschlangen geworden waren.

Die eine Drachin, die über sie wachte, war vor nicht einmal einem Jahr aus ihrem eigenen Kokon geschlüpft. Tintaglia flog über sie hinweg, und jedes Mal, wenn die Wintersonne durch die Wolkendecke brach, schimmerte ihr Leib silbern. »Nicht mehr weit!«, hatte sie immer und immer wieder zu ihnen hinabgerufen. »Nach den Stufen wird das Wasser tiefer, dann könnt ihr wieder ungehindert schwimmen. Bewegt euch weiter!«

Manche waren schlichtweg zu zerschlagen, zu erschöpft oder zu ausgehungert für eine solche Reise. Ein großes orangefarbenes Schlangenmännchen starb um die Stämme des Zauns gewickelt, der die Becken mit aufgestautem Wasser einfasste. Er hatte es nicht geschafft, sich noch weiterzuschleppen. Als sein großer keilförmiger Kopf unvermittelt ins Wasser geplatscht war, war Sisarqua nicht weit entfernt gewesen. Ungeduldig hatte sie darauf gewartet, dass er sich weiterbewegte. Dann hatte seine Mähne aus Dornen und Ranken gezuckt und einen letzten Strahl Gift versprüht. Auch wenn diese Reflexe – das letzte Aufbäumen seines Körpers – matt und kraftlos waren, so hatte doch jede Schlange im Umkreis gewusst, dass er tot war. Der Duft und der Geschmack im Wasser hatten sie zum Schmaus geladen.

Und Sisarqua hatte nicht gezögert. Als Erste hatte sie ihren Kiefer in sein Fleisch geschlagen, hatte ein Stück abgebissen und es hinuntergeschlungen. Und bevor der Rest des Knäuels überhaupt erst die Gunst der Stunde erkannte, hatte sie schon einen zweiten Brocken aus dem Leichnam herausgerissen. Die plötzliche Nahrungsaufnahme machte sie beinahe ebenso sehr benommen wie die Flut seiner Erinnerungen. So war es unter Schlangen Sitte: Man ließ die Kadaver der anderen nicht verrotten, sondern nutzte ihr Fleisch und ihr Wissen. So wie jeder Drache die Erinnerungen seiner Ahnenreihe in sich trug, behielten auch die Schlangen das Gedächtnis derer, die vor ihnen gewesen waren. So sollte es jedenfalls sein. Sisarqua und die anderen, die sich trostlos mit ihr dahinschleppten, waren schon zu lange in Schlangengestalt. Irgendwann waren die Erinnerungen verblasst, und mit ihnen war der Verstand abgestumpft. Selbst viele von denen, die sich abmühten, die Reise zu vollenden und zu Drachen zu werden, waren nur noch tierhafte Schatten ihrer selbst. Was für Drachen wohl aus ihnen werden würden?

Mit gesträubter Halsmähne war ihr Kopf erneut vorgeschnellt, um einen weiteren Fleischbrocken aus dem Leib des orangefarbenen Schlangenmännchens zu reißen. In ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen von reichen Fischgründen und von Nächten unter kristallklarem Himmel, die er singend mit seinem Knäuel verbracht hatte. Die Erinnerung musste uralt sein. Vermutlich waren viele Jahrzehnte vergangen, seit das letzte Knäuel von der Fülle in die Leere aufgestiegen war, um seine Stimmen zum Lob des sternenbesetzten Himmels zu erheben.

Dann war Sisarqua von anderen bedrängt worden, die sich im Kampf um das Festmahl gegenseitig anzischten und mit aufgestellten Mähnen drohten. Nachdem sie ein letztes Fleischstück aus dem Leib gerissen hatte, schlingerte sie über die Stämme hinweg, die den Orangefarbenen aufgehalten hatten. Unzerkaut hatte sie den letzten Brocken warmen Fleisches hinuntergewürgt, und nun fühlte sie, wie er ihre Speiseröhre angenehm weitete. Der Himmel, dachte sie, und wie zur Antwort spürte sie, wie sich in ihr die schwachen Drachenerinnerungen des Orangefarbenen regten. Der Himmel, weit und offen wie das Meer. Bald würde sie wieder unter ihm dahinsegeln. Nicht mehr weit, hatte Tintaglia versprochen.

Doch für eine Drachin mit Flügeln bemaßen sich Entfernungen anders als für eine geschundene Seeschlange, die sich im flachen Wasser den Strom hinaufkämpfte. An jenem Nachmittag erreichten sie die Lehmbänke nicht mehr. So unvermittelt wie ein Axthieb fiel die Nacht über sie herein, und der kurze Tag war schon wieder vergangen, kaum dass sie aufgebrochen waren. Eine weitere Nacht musste Sisarqua die Kälte der Luft ertragen, der sie sich im flachen Wasser nicht entziehen konnte. Das Rinnsal, das an ihr entlangfloss, reichte kaum aus, um ihre Kiemen zu benetzen, und sie meinte, ihre Haut würde von der trockenen, scheuernden Kälte Risse bekommen. Im Licht der Sonne, die am späten Morgen auf den breiten Strom zwischen den überwucherten Ufern schien, traten die Leichen weiterer Schlangen zutage, die ihre Reise niemals vollenden würden. Wieder hatte sie das Glück, von einem der toten Leiber fressen zu können, bevor die Horde sie verdrängte. Und wieder kreiste Tintaglia über ihren Köpfen und rief ihnen das Versprechen zu, es sei nicht mehr weit bis Cassarick und bis zur langen, friedvollen Ruhe der Verwandlung.

Es war ein kalter Tag gewesen, und die Haut auf ihrem Rücken war ausgetrocknet, weil sie die lange Nacht über vom Wasser unbedeckt geblieben war. Unter den Schuppen wurde ihre Haut rissig. Als sie an eine Stelle gelangte, wo der Fluss tiefer war, tauchte sie unter, um ihre Kiemen vollzusaugen. Das milchige Wasser schmerzte in den Schrunden. Denn das säurehaltige Wasser fraß an ihr, und wenn sie die Reifegründe nicht bald erreichte, würde sie es nicht mehr schaffen.

Der Nachmittag war schrecklich kurz und zugleich quälend lang. Im tieferen Gewässer konnte sie zwar schwimmen, aber das Wasser brannte ihr auf der rissigen Haut. Dennoch war das besser, als wenn sie auf dem Bauch kriechend versuchen musste, auf den glitschigen Steinen des Flussbetts Halt zu finden. Wenn sie sich umblickte, sah sie überall weitere große Seeschlangen, die sich zuckend, aufbäumend und krümmend flussaufwärts kämpften.

Als sie schließlich angelangt war, merkte sie es erst gar nicht. Im Westen duckte sich die Sonne bereits hinter die hohen Bäume, die das Ufer säumten. Wesen, die keine Uralten waren, hatten Fackeln entzündet und in einem weiten Kreis in den Uferschlamm gerammt. Sisarqua sah sich die Wesen an. Es waren Menschen. Gewöhnliche Zweibeiner, kaum mehr als Beutetiere. Sie huschten hin und her, und offenbar dienten sie Tintaglia auf die gleiche Weise, wie ihr einst die Uralten gedient hatten. Auf eine sonderbare Weise war dies erniedrigend – waren die Drachen so weit gesunken, dass sie sich mit Menschen einließen?

Sisarqua hob Kopf und Mähne und schnupperte in der Abendluft. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. In ihrem Herzen empfand sie keine Gewissheit, dass dies die Reifegründe waren. Doch am Strand befanden sich bereits einige Schlangen, die ihr zuvorgekommen waren. Manche waren sogar schon in die Hüllen aus silbern schimmerndem Lehm und Speichel eingesponnen. Andere mühten sich noch erschöpft, die Aufgabe abzuschließen.

Die Aufgabe abschließen. Ja. Ihre Gedanken schnellten in die Gegenwart zurück. Für ihre Erinnerungen war keine Zeit mehr. Mit einem Würgen förderte sie den letzten Rest Lehm und Galle hervor, den sie in sich hatte, und vollendete damit die breite Halskrempe des Kokons. Doch nun war sie leer. Sie hatte sich verschätzt, und ihr blieb nichts mehr, um die Hülle zu versiegeln. Wenn sie versuchte, sich zu dem Brei hinunterzubeugen, würde sie die gewundene Hülle zerstören, die sie eben geschaffen hatte. Und sie trug die schmerzhafte Gewissheit in sich, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, um eine zweite Hülle zu weben. Sie war so weit gekommen, so weit, nur um jetzt doch zu sterben. Nie würde sie sich wieder erheben.

Eine Welle der Furcht und der Wut durchlief sie. In einem Moment des inneren Widerstreits beschloss sie, aus dem Kokon auszubrechen, doch dann obsiegte wieder die innere Ruhe, gestärkt von einer Flut von Erinnerungen. Dies war der Vorteil, wenn man die Erinnerungen seiner Vorfahren in sich trug: Manchmal behielt die Weisheit des Alten die Oberhand über den Schrecken der Gegenwart. In der inneren Ruhe klärte sich ihr Geist. Sie fand Erinnerungen in sich, Erinnerungen von Schlangen, die einen solchen Irrtum überlebt hatten, und Erinnerungen von welchen, die wegen eines solchen Fehlers gestorben waren. Die Leichname der Unglücklichen waren von jenen gefressen worden, die überlebt hatten. So lebten auch die furchtbarsten Irrtümer fort, um dem Überleben zu dienen.

In aller Deutlichkeit sah sie drei Wege vor sich: Sie konnte in der Hülle bleiben und nach einem Drachen rufen, um ihr zu helfen, den Kokon vollends zu versiegeln. Doch diese Möglichkeit schied aus, denn Tintaglia war ohnehin schon überfordert. Sollte sie aus der Hülle ausbrechen und von der Drachin verlangen, dass sie ihr Nahrung brachte? Dann würde sie genug Kraft erlangen, um sich erneut einzuspinnen. Auch diese Möglichkeit kam nicht infrage. Wieder drohte sie von panischer Furcht übermannt zu werden. Dieses Mal aber kämpfte sie das Gefühl mit eisernem Willen nieder. Sie würde hier nicht sterben. Dafür war sie zu weit gekommen und hatte zu viele Gefahren gemeistert, um sich nun dem Tod zu überlassen. Nein. Sie würde leben, und im Frühjahr würde sie als Drachin neu erstehen und die Herrschaft über die Lüfte zurückerlangen. Sie würde wieder fliegen. Irgendwie.

Aber wie?

Sie würde überleben, um als Königin zu erstehen. Um zu fordern, was einer Drachenkönigin gebührte. Das Recht, in schweren Zeiten an erster Stelle zu überleben. Sie holte so tief Luft wie nur möglich und rief einen Namen. »Tintaglia!«

Ihre Kiemen waren zu sehr ausgetrocknet, und vom Auswürgen des rauen Lehms war ihre Kehle wund. Der Hilferuf, der Befehl, der aus ihrem Maul drang, war kaum mehr als ein Flüstern. Inzwischen hatte sie nicht einmal mehr genug Kraft, um aus der Hülle auszubrechen. Ihre Stärke war unwiederbringlich dahin. Sie würde sterben.

»Bist du in Not, du Schöne? Ich fühle deine Verzweiflung. Kann ich dir helfen?«

Eingesponnen in den Kokon, konnte Sisarqua den Kopf nicht wenden. Nur die Augen vermochte sie zu verdrehen, und sie erkannte, wer zu ihr gesprochen hatte. Ein Uralter. Zwar war er sehr klein und jung, doch als ihr Geist mit seinem in Berührung kam, wusste sie mit Sicherheit, wer er war. Obwohl seine Gestalt einem gewöhnlichen Menschen glich, war er doch keiner.

Ihre Kiemen waren trocken. Für eine gewisse Zeit vermochten Seeschlangen, das Wasser zu verlassen und sogar zu singen. Aber so lange an der kalten Luft zu bleiben ging an die Grenzen ihrer Fähigkeit, in der Leere zu überleben. Mühsam holte sie Atem. Ja. Sie schnappte seine Witterung auf und wusste sofort, dass Tintaglia diesen Uralten geprägt hatte. Er war voll von ihrem Zauber. Langsam schob Sisarqua die Lider über die Augen und öffnete sie wieder. Trotzdem konnte sie ihn noch immer nicht klar erkennen. Sie trocknete zu schnell aus. »Ich kann nicht«, sagte sie. Mehr brachte sie nicht heraus.

Sie spürte die Verzweiflung, die in ihm aufstieg. Kurz darauf hörte sie den Schreckensruf seines kleinen Stimmchens. »Tintaglia! Diese hier hat Schwierigkeiten! Sie kann ihre Hülle nicht vollenden. Was sollen wir tun?«

Von der anderen Seite der Reifegründe donnerte die Stimme der Drachin herüber. »Den Lehmbrei, mach ihn sehr feucht! Gieß ihn hinein. Zögere nicht. Bedecke ihren Kopf damit und streiche ihn über die offene Stelle der Hülle. Versiegle sie, aber achte darauf, dass die unterste Schicht sehr feucht ist.« Noch während sie sprach, eilte die Drachin selbst zu Sisarqua. »Ein Weibchen! Sei stark, kleine Schwester. Nur wenige werden als Königinnen schlüpfen. Du musst eine von ihnen sein.«

Die Arbeiter waren herbeigeeilt. Einige zogen Karren, andere schleppten Eimer, aus denen silbrig-grauer Schlick schwappte. Sisarqua zog, so gut es ging, den Kopf ein und schloss die Augen. Draußen rief der junge Uralte Anweisungen. »Jetzt sofort! Wartet nicht auf Tintaglia! Jetzt, denn ihre Augen und die Haut trocknen zu schnell aus. Überschüttet sie mit Lehm. Ja, so ist es gut! Noch mehr! Noch einen Eimer! Mach den Karren noch einmal voll. So beeil dich doch, Mann!«

Der flüssige Lehm schwappte über Sisarqua herein, benetzte sie und versiegelte die Lücke. Allmählich wirkte das Gift, das sie in die Hülle gewoben hatte, auch bei ihr selbst. Sie versank zwar nicht in Schlaf, aber doch in einen Zustand der Ruhe. O welch ein Segen war diese Ruhe!

Sie spürte, dass Tintaglia neben ihr war. Dann waren da plötzlich die Wärme und das Gewicht weiteren Lehmbreis. Voller Dankbarkeit begriff sie, dass Tintaglia ihn hervorgewürgt hatte und ihre Hülle verstärkte. Kurz brannten Gifte voller Erinnerungen auf ihrer Haut. Nicht nur die Drachenerinnerungen Tintaglias, sondern auch ein Teil der Weisheit der Schlange, die die Drachin kürzlich verschlungen hatte, lagerten sich in ihrer Hülle ab. Gedämpft hörte sie, wie Tintaglia die hastenden Arbeiter anwies: »Hier ist ihre Hülle zu dünn. Da drüben auch. Holt Lehm herbei und streicht ein paar Schichten darauf. Dann bedeckt ihr die Hülle mit Laub und Ästen, damit sie gut gegen Licht und Kälte geschützt ist. Sie sind spät dran. Die Sonne dürfen sie erst spüren, wenn der Sommer gekommen ist, denn ich fürchte, im Frühling werden sie noch nicht voll entwickelt sein. Und wenn ihr hier fertig seid, kommt ihr ans Ostende des Strandes. Dort kämpft noch eine Schlange.«

Da drang die Stimme des Uralten in Sisarquas scheidendes Bewusstsein. »Haben wir sie noch rechtzeitig versiegelt? Wird sie überleben?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Tintaglia ernst. »Es ist schon spät im Jahr, die Schlangen sind alt und müde, und die Hälfte von ihnen ist beinahe verhungert. Ein paar aus der ersten Welle sind schon in ihren Hüllen gestorben. Andere mühen sich noch den Fluss herauf oder durch die Becken. Viele von ihnen werden sterben, noch ehe sie das Ufer erreichen. Das ist auch besser so. Denn ihre Leiber werden die anderen nähren und ihre Überlebenschancen erhöhen. Doch wenn sie in den Kokons sterben, ist nichts gewonnen. Dann ist alles verloren und bloße Enttäuschung.«

Sisarqua wurde von Dunkelheit eingehüllt. Sie wusste nicht zu sagen, ob sie bis auf die Knochen durchgefroren oder ihr mollig warm war. Noch während sie immer tiefer sank, spürte sie das betroffene Schweigen des jungen Uralten. Als er endlich etwas sagte, drangen die Worte mehr aus seinen Gedanken als aus seinem Mund zu ihr. »Die Regenwildlinge hätten gern die Hüllen von denen, die sterben. Sie nennen das Material ›Hexenholz‹ und haben vielerlei Verwendung dafür …«

»NEIN!« Sisarqua war von der energischen Verweigerung der Drachin so überrascht, dass sie kurz das Bewusstsein wiedererlangte. Doch ihr ausgemergelter Leib konnte den Zustand nicht lange aufrechterhalten, sodass sie beinahe im selben Moment wieder hinabzusinken begann. Tintaglias Worte folgten ihr hinunter an einen Ort jenseits der tiefsten Träume. »Nein, kleiner Bruder! Alles, was vom Drachen ist, gehört nur den Drachen. Im Frühling werden einige dieser Hüllen aufbrechen. Die Drachen, die aus ihnen schlüpfen, werden die Hüllen und Körper derjenigen fressen, die nicht schlüpfen. So ist es unsere Art, und auf diese Weise wird unser Wissen bewahrt. Diejenigen, die sterben, verleihen denen Kraft, die weiterleben.«

Sisarqua blieb nur noch ein kurzer Augenblick, um sich zu fragen, zu welchen sie wohl gehören würde. Dann überwältigte sie die Finsternis.

Siebzehnter Tag des Hoffnungsmonds

IM SIEBTEN JAHR DER HERRSCHAFT DES ERLAUCHTEN UND PRÄCHTIGEN SATRAPEN COSGO

IM ERSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS

Von Detozi, Vogelwart in Trehaug,

an Erek, Vogelwart in Bingstadt

Anbei findet Ihr die förmliche Bitte des Konzils der Regenwildnis um angemessene und pünktliche Bezahlung der zusätzlichen und unvorhergesehenen Kosten, die uns durch die Pflege der Schlangenhüllen für den Drachen Tintaglia entstanden sind. Der Rat wünscht eine rasche Antwort.

Erek,

eine Frühlingsspringflut hat uns schwer getroffen. Einige der Drachenhüllen wurden erheblich beschädigt, und manche sind gänzlich verschwunden. Auf dem Fluss ist ein kleiner Kahn gekentert, und ich fürchte, dass die jungen Tauben an Bord waren, die ich Euch sandte, um den Schlag in Bingstadt aufzufüllen. Sie sind alle dahin. Ich werde meinen Vögeln gestatten, mehr Eier zu legen, und Euch die Brut zusenden, sobald sie geschlüpft ist.

Trehaug ist nicht mehr dieselbe dieser Tage. Überall sieht man tätowierte Gesichter. Mein Meister hat mir verboten, Dokumente nach dem Jahr unserer Unabhängigkeit zu datieren, aber ich setze mich darüber hinweg. Aus Gerüchten wird einst Wirklichkeit werden, da bin ich mir ganz sicher!

Detozi