Dein Name ist Jeremiah Cotton. Du bist ein kleiner Cop beim NYPD, ein Rookie, den niemand ernst nimmt. Aber du willst mehr. Denn du hast eine Rechnung mit der Welt offen. Und wehe, dich nennt jemand »Jerry«.
Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. Erleben Sie die Geburt einer digitalen Kultserie: COTTON RELOADED ist das Remake von JERRY COTTON, der erfolgreichsten deutschen Romanserie, und erzählt als E-Book-Reihe eine völlig neue Geschichte.
COTTON RELOADED erscheint monatlich. Die einzelnen Folgen sind in sich abgeschlossen. COTTON RELOADED gibt es als E-Book und als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).
Folge 39.
23. Dezember: Weihnachtliche Lichterketten lassen die Villa der Conleys in der Hampton Road festlich erstrahlen. Drinnen genießt der angesehene New Yorker Chirurg Lawrence Conley den Winterabend mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern – als plötzlich eine Bombe die Familie aus dem Leben reißt.
Noch am selben Abend werden die Special Agents Philippa Decker und Jeremiah Cotton vom G-Team auf den Fall angesetzt. Cotton gerät dabei ins Visier einer Unbekannten, die den FBI-Agenten zum Spielball in einem tragischen Rachefeldzug macht und vor eine harte moralische Prüfung stellt …
COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichen Kultserie JERRY COTTON und erscheint monatlich in abgeschlossenen Folgen als E-Book und Audio-Download. Folge 40 erscheint am 14. Januar 2016.
Peter Mennigen wuchs in Meckenheim bei Bonn auf. Er studierte in Köln Kunst und Design, bevor er sich der Schriftstellerei widmete. Seine Bücher wurden bei Bastei Lübbe, Rowohlt, Ravensburger und vielen anderen Verlagen veröffentlicht. Neben erfolgreichen Büchern, Hörspielen und Scripts für Graphic Novels schreibt er auch Drehbücher für Fernsehshows und TV-Serien.
Stille Nacht, stillere Nacht
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Originalausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Projektmanagement: Stephan Trinius
Covergestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: DmitryPrudnichenko | Pavel K | jamaslee 1 | Patrick Ellis | Wavebreakmedia
E-Book-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-1784-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
23. Dezember.
Mit Einbruch der Abenddämmerung begann es aus den kalten, grauen Wolken über New York City zu schneien. Immer dichter trieben die Flocken durch die Straßenschluchten und bedeckten die Metropole unter einem weißen Tuch.
Der Schneefall machte auch vor den nördlichen Stadtbezirken im Westchester County nicht halt, wo die mit Lichterketten und Weihnachtsdekorationen geschmückten Villen betuchterer Bürger standen. Zu den privilegierten Bewohnern der Ortschaft Scarsdale zählten Mr und Mrs Conley. Als erste Afro-Amerikaner waren sie vor dreißig Jahren in die noble Hampton Road eingezogen und bis heute die einzigen Schwarzen, die dort lebten. Drei Töchtern hatten sie eine in Sorglosigkeit eingebettete Kindheit beschert, wobei die beiden jüngsten immer noch unter ihrem Dach wohnten.
Draußen auf der Straße war es inzwischen menschenleer und eisig kalt geworden. Drinnen durchzog das Haus der Conleys der Duft von Keksen und Früchtekuchen. Im offenen Kamin knisterte ein Feuer, aus dem Radio erklang dezente Weihnachtsmusik, und der Weihnachtsbaum erstrahlte in vollem Glanz. Alice und Kelly Conley saßen am Couchtisch und schrieben Weihnachtskarten, während sich ihre Eltern im Fernsehen den Frank-Capra-Film Ist das Leben nicht schön? ansahen. Es war ein vollkommener Moment vorweihnachtlicher Harmonie. Umso unerwarteter kam für alle der Tod.
Ohne Vorwarnung zerfetzte eine gewaltige Detonation die Idylle und verwandelte das Haus der Conleys in einen glühenden Feuerball. Und zwar mit einer Gewalt, die die Nachbarhäuser erbeben und Fensterscheiben im Radius von zwanzig Metern zu Bruch gehen ließ.
Keine Viertelstunde später bogen die ersten Streifenwagen des NYPD in die Straße. Schwarzer Rauch und lodernde Flammen markierten den Schauplatz der Explosion. Um den Unglücksort hatten sich inzwischen immer mehr Anwohner eingefunden. Fassungslos starrten die Leute auf das Gewirr aus Polizei-, Feuerwehr- und Notarztwagen, die mit Blinklichtern und jaulenden Sirenen vor ihnen zum Stehen kamen.
Während Polizisten noch das Gelände absicherten, kreuzte Detective Joe Brandenburg am Tatort auf. Mit offenem Trenchcoat, als wollte er den Minus-Temperaturen demonstrieren, dass sie ihm völlig am Allerwertesten vorbeigingen.
Einer der Cops brachte ihn auf den aktuellen Stand: »Ist noch zu früh für einen abschließenden Befund. Allerdings hat eine erste Analyse ergeben, dass technisches Versagen als Ursache ausgeschlossen werden kann.«
»In dem Fall wären die Trümmerstücke sternförmig vom Gebäude weg in alle Richtungen geflogen«, erkannte Brandenburg auf Anhieb. »Stattdessen scheint das Haus irgendwie nach innen implodiert zu sein.«
»Gutes Auge, Detective. Laut Brandmeister Tomkins vom Scarsdale Fire Department deuten die Indizien auf mehrere Sprengsätze hin, die an den Außenwänden der Villa installiert waren und zeitgleich explodiert sind.«
Ein präzise ausgeführtes Bombenattentat in New York City, dahinter steckten Brandenburgs Einschätzung nach wohl kaum Kleinkriminelle. Der Detective war professionell genug, um zu erkennen, dass das ein Job für das FBI war. Also rief er im Headquarter an und erkundigte sich bei Mr High, ob seine Experten vielleicht mal ein Auge auf den Trümmerberg werfen könnten.
Nach etwa einer Stunde schlängelte sich ein Dienstwagen des FBI an den kreuz und quer geparkten Streifenwagen in der Hampton Road hindurch und stoppte einen Fingerbreit hinter Brandenburgs Auto.
Special Agent Jeremiah Cotton stieg aus dem Fahrzeug und verschaffte sich einen Überblick. Wo eine Stunde zuvor das Haus der Conleys gestanden hatte, stand nur noch eine brennende Ruine.
»He, Cotton«, knurrte Brandenburg missmutig zur Begrüßung. »Siehst mal wieder echt Scheiße aus.«
Cotton grinste. »Freut mich auch, dich zu sehen, Joe. Langen Tag gehabt?«
»Du machst dir keine Vorstellungen.«
Hinter dem G-Man tauchte Philippa Decker in ihrem weißen Porsche auf. Mit einem rasanten Fahrmanöver kam der Sportwagen schlingernd auf dem schneeglatten Untergrund zum Stehen.
Dann hieß es für die Agentin raus aus dem warmen Auto und rein in den modischen Wintermantel. »Oh verdammt, ist das lausig kalt«, fluchte sie und lief auf ihren High Heels über den schneebedeckten Asphalt, als wäre es ein Laufsteg auf der New York Fashion Week.
Detective Brandenburg kam ihr mit einem breiten Grinsen entgegen und spulte seine Charmebolzen-Masche ab: »Haben meine Gebete endlich einen Weihnachtsengel vom Himmel zu mir gelockt? Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Special Agent Decker.«
»Wie sollte das ein schöner Abend werden, wenn Sie hier rumlungern?«, knurrte sie genervt, während sie durch den Schnee schritt. »Also, womit haben wir es zu tun?«
»Mit einer Explosion«, grunzte er. »So weit zu ›Stille Nacht‹.«
»Opfer?«
»Wissen wir noch nicht. In dem Haus haben bis vor einer Stunde Mr und Mrs Conley mit ihren beiden Töchtern gewohnt. Die Jüngste ist laut unseren Unterlagen gerade sechzehn gewesen.«
»Gibt es Zeugen?«
»Nur ein paar Plastik-Rentiere aus der Nachbarschaft. Hab ich schon verhört, hat aber nicht viel gebracht.«
»Noch so ein deplatzierter Witz, und Sie haben die Wahl, Brandenburg.«
»Welche Wahl?«
»Wie Sie es lieber hätten: Einen Schlag auf die Nase oder einen Tritt in Ihr bestes Stück.«
»Okay, Sie Spaßbremse.« Brandenburg legte den Kopf in den Nacken, als hielte er nach Aliens Ausschau. »Nein, niemand hat etwas gesehen. Erst als es Bumm gemacht hat, ging bei der Nachbarschaft die Post ab.«
»Sonst noch was, das sie loswerden wollen, Detective?«
»Möglicherweise handelt es sich um einem Terrorakt aus Rache«, ergänzte er. »Ist nur eine Vermutung, doch die Jungs auf dem Revier haben inzwischen etwas aus der Vergangenheit der Opfer ausgegraben, das die Vermutung stützt.«
»Wir haben uns vor der Fahrt hierhin auch ein bisschen über den Background der Explosionsopfer schlaugemacht«, verriet sie. »Dr. Conley hat als angesehener Chirurg im Mount Sinai Hospital gearbeitet. Seine Frau war Hausfrau, und ihre beiden Töchter sind noch zur Schule gegangen.«
»Richtig«, bestätigte Brandenburg. »Aber es gibt noch eine dritte Tochter, und da wird es interessant.«
»Martha Vaughn.« Cotton hatte ebenfalls seine Hausaufgaben gemacht und sich vor der Abfahrt kurz durch einige Datenbanken geloggt. »Ist Sergeant bei den Marines und nahe Kabul stationiert, wo sie vor ein paar Jahren auch ihren Mann Daniel Vaughn kennengelernt hat. Er hat eine Spezialeinheit in Afghanistan befehligt. Der Mann hat sich durch seine Einsätze einen fast legendären Ruf erworben. Sein Team hat mehr hochrangige Terroristen ausgeschaltet als sonst jemand. Vor einem Monat ist er bei einer Mission am Hindukusch ums Leben gekommen.«
»Gibt’s was Neues über seine Witwe?« Brandenburg fuhr sich mit den Fingern durch das von Schneeflocken bestäubte Haar.
»Martha Vaughn befindet sich immer noch bei ihrer Einheit in Afghanistan. Unseren Informationen nach hat sie über die Feiertage Heimaturlaub beantragt und ist heute Nachmittag in New York eingetroffen.«
»Wäre also möglich, dass die Taliban hier eine offene Rechnung mit ihr und/oder ihrem Mann beglichen haben«, folgerte Decker daraus.
Brandenburg nickte. »Falls der Anschlag Martha Vaughn gegolten hat, dann finden wir ihre Leiche unter den Trümmern.«
Hinter den dreien stoppte ein schwarzer SUV des G-Teams am Bordstein. Motor und Scheinwerfer wurden ausgeschaltet. Die Türen glitten auf und vier mit wattierten Wetterjacken bekleidete Forensiker stiegen aus.
Dr. Sarah Hunter stapfte an der Spitze ihres Teams durch den knöchelhohen Neuschnee Richtung Tatort, wo die Gruppe aber zur Untätigkeit verdammt war. Noch immer war die Feuerwehr dabei, dem flammenden Inferno mit ihren Schläuchen das Leben schwer zu machen.
»Der verfluchte Schneefall ist das Letzte, was ich für eine Spurenanalyse gebrauchen kann«, machte Hunter ihrem Ärger Luft.
Cotton gesellte sich zu ihr. »Es soll Leute geben, die auf weiße Weihnachten stehen, Miss Hunter.«
Die Angesprochene musterte den G-Man mürrisch. »Für Sie immer noch Dr. Hunter, Special Agent Cotton. Oder haben Sie ein Problem damit?«
Er machte ein entrüstetes Gesicht. »Sind Sie etwa sauer auf mich? Mit dem Schnee habe ich ausnahmsweise wirklich nichts zu tun.«
Sie verdrehte die Augen und sagte mit trügerischer Freundlichkeit: »Glauben Sie mir, Sie haben noch nicht erlebt, wenn ich sauer bin. Trampeln Sie spaßeshalber mal wie ein Elefant über einen meiner Tatorte, dann erleben Sie eine Premiere, die Sie Ihren Lebtag nicht vergessen werden.«
Ein Feuerwehrmann eilte heran und schubste die Forensikerin beiseite. »Lassen Sie mich vorbei, Ma’am. Sie stehen uns hier im Weg.«
Hunter musste sich von Cotton auffangen und dabei umarmen lassen, sonst wäre sie der Länge nach im Schnee gelandet. Zu perplex um ein Wort rauszubringen, blinzelte sie den G-Man an.
»Na, na, nicht so stürmisch Dr. Hunter.« Er zwinkerte ihr zu. »Wo bleibt Ihre damenhafte Zurückhaltung?«
»Ach, halten Sie die Klappe.« Vom ersten Schreck erholt, befreite sich die Forensikerin aus der Umklammerung ihres Retters und stapfte genervt zu ihrem Auto zurück. »Damit Sie’s wissen: Das war hart an der Grenze zur sexuellen Belästigung.«
»Ja, ja, unsere goldige Miss Hunter«, säuselte Detective Brandenburgs Stimme so süß wie ein vor Ahornsirup triefender Pfannkuchen. »Ihre Launen versetzen einen so richtig in Feiertagsstimmung. Du weißt, ich habe immer ein offenes Ohr für dich, wenn’s Kummer mit den Ladys gibt, Kumpel. Ho-ho-ho.«
Einige Meter weiter überbrückte das Forensiker-Team die Wartezeit mit dem Aufstellen mobiler Natriumdampflampen. Die Stromversorgung der Scheinwerfer übernahm ein leistungsstarker Generator ihres SUVs.
Nachdem der Brand gelöscht und die Trümmer halbwegs abgekühlt waren, verteilten sich die professionellen Spurensucher über das Ruinenfeld. Systematisch dokumentierten sie jedes Detail des Explosionsortes und suchten nach Beweisen, die keinem Wasserstrahl aus Feuerwehrschläuchen zum Opfer gefallen waren. Es dauerte seine Zeit, ehe die Ruinen die Leichen freigaben. Die Überreste von Mr und Mrs Conley und ihren beiden Töchtern waren bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Sarah Hunter verfügte jedoch über genug Fachwissen und technische Hilfsmittel, um die Identitäten später auf dem Obduktionstisch ihres Labors zweifelsfrei bestimmen zu können. Sie hatte schon mit Schlimmerem zu tun gehabt.
Dagegen ließ der Anblick der verbrannten Leiber so manchen Adamsapfel der umstehenden Polizisten auf und ab hüpfen. Bleischwer hing der widerliche Gestank nach verbranntem Holz, Plastik und Fleisch in der Luft. Was es den Cops auch nicht einfacher machte, ihre aufsteigende Übelkeit zu verbergen. Würgend und hustend taumelten die Ersten in Richtung Straße davon.
»Verdammt, passen Sie gefälligst auf, wo Sie hintreten«, blaffte die Gerichtsmedizinerin ihnen verärgert hinterher und forderte die Männer auf, ihr Erbrochenes bis hinter der Absperrung im Mund zu behalten.
Decker beobachtete Sarah Hunter und ihre Truppe bei der Arbeit. Wie die Experten mit ihren Latexhandschuhen verbrannte Haustrümmer anhoben und beiseiteschoben. Immer in der Erwartung, dass darunter die Leiche der dritten Tochter der Conleys zum Vorschein kam. Jedoch: Fehlanzeige.
Stellte sich für Brandenburg die Frage: »Wo verdammt noch mal ist Martha Vaughn?«
»Ich habe kurz die Flugdaten vom JFK gecheckt«, teilte Decker ihm mit und steckte ihr Smartphone wieder ein. »Martha Vaughns Maschine hatte offenbar Verspätung, hat ihr womöglich das Leben gerettet.«
»Also befindet sich unsere Vermisste entweder doch noch irgendwo unter den Trümmern, oder sie ist putzmunter in Manhattan shoppen«, zählte Cotton mögliche Szenarien auf. »Bliebe als letzte Option, dass sie nach ihrer Ankunft von den Terroristen, die ihre Familie auslöschten, entführt wurde.«
»Wäre zumindest eine Theorie«, meinte Brandenburg. »Fehlt bloß noch ein Beweis für ihre Richtigkeit.«
»Für uns gibt es hier im Moment nichts mehr zu tun.« Decker warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Warten wir die forensische Untersuchung ab und hoffen, dass Martha Vaughn noch am Leben ist.«
Brandenburg hatte auch keine Lust mehr, sich – wie er sagte – in der arktischen Kälte weiter den Hintern abzufrieren. Weshalb sie sich alle »Frohe Weihnachten« wünschten und ihrer Wege gingen.
Cotton marschierte zu seinem geparkten Dodge. Er schlüpfte unter dem Absperrband der Polizei hindurch und kam auf der anderen Seite an einer Gruppe Nachbarn vorbei. Fasziniert beobachteten die Leute das Spektakel vor ihrer Haustür. Einige hielten die Katastrophe mit Smartphones fürs Heimkino fest.
Etwas abseits bemerkte der G-Man zwei Mädchen. Beide waren zwischen neun und elf Jahre alt. Sie trugen beinahe identische Kapuzenjacken über ihren Kleidchen und standen so verloren da, als wüssten sie nicht, wo sie hingehörten.
Cotton bemerkte die Tränen, die ihnen über die Wangen rannen. Daraufhin änderte er seinen Kurs, trat zu den beiden und ging vor ihnen in die Hocke. Die Ältere wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht, die Jüngere wimmerte leise weiter.
»Guten Abend, Ladys«, grüßte er. »Wieso weint ihr denn?«
»Wegen Alice und Kelly«, sagte die Größere.
»Den Töchtern der Conleys?«, vergewisserte er sich.
Die Kleinere nickte schluchzend. »Ja. Sie sind tot, nicht wahr?«
Er hatte nicht vor, die Mädchen anzulügen; die Wahrheit würden sie in den kommenden Tagen so oder so erfahren. »Ja, tut mir leid.«
»Alice und Kelly sind so nett gewesen«, erzählte die Ältere. »Sie haben oft mit uns gespielt und uns bei den Hausaufgaben geholfen.«
»Wir waren Freundinnen«, fügte die Kleinere hinzu.
»Ich weiß, wie es ist, wenn man jemanden verliert, den man ganz doll lieb hat«, sagte Cotton, zückte eine Visitenkarte und gab sie dem Mädchen. »Falls ihr mal Hilfe braucht oder irgendwelche Fragen habt, egal was und wann, ruft mich beim FBI an, okay?«
Das Mädchen holte tief Luft und nickte.
Cotton verabschiedete sich und ging zur Straße zurück, wo sein Auto auf ihn wartete. Er wollte gerade einsteigen, da stutzte er.
Der Großteil der Hampton Road wurde von Laternen beleuchtet. Nur weiter hinten standen einige Bäume im Schatten verborgen. Aus der Lichtlosigkeit löste sich eine Gestalt. Für Cottons Geschmack hielt die sich auffällig von den Schaulustigen fern, beobachtete dennoch aufmerksam das Geschehen um die Hausruine der Conleys. Die Person trat in den Lichtkegel einer Straßenbeleuchtung. Trotz schlechter Lichtverhältnisse und des Schneegestöbers konnte Cotton die Frau relativ deutlich erkennen. Durchschnittlich groß, Mitte bis Ende zwanzig, schlank, ein Gesicht nicht gerade wie ein Supermodel, trotzdem nett anzusehen. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet: schwarze Hose, schwarze Schuhe, schwarze Wetterjacke. Über die Frisur hatte sie eine Strickkappe gestülpt, ebenfalls schwarz.
Irgendetwas stimmte mit der Frau nicht. Vielleicht war es die Art ihrer Körpersprache oder der intensive Blick, mit dem sie den G-Man taxierte.
Als sie sah, dass er sie bemerkt hatte, wirbelte sie herum und rannte davon. Cotton setzte sich ebenfalls in Bewegung und lief ihr hinterher.
»Stehen bleiben, FBI!« Er versuchte seiner Stimme so viel Autorität zu verleihen, dass die Fliehende der Aufforderung Folge leistete.
Doch die Unbekannte rannte weiter. Und sie rannte verdammt schnell. Er konnte kaum Schritt halten, was nicht allein an der Schneedecke unter seinen Schuhen lag. Während er an dem verschneiten Winterwunderland aus illuminierten Weihnachtsdekorationen in Vorgärten vorbeifegte, verschwand die Verfolgte zwanzig Meter weiter um eine Straßenecke.