Leipzig 1968. Der Historiker Dallow wird nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen. Sein Vergehen: Er war als Klavierspieler in einem Studentenkabarett eingesprungen, und der Text, den er dort mit einem Tango begleitete, erregte Anstoß. »Vergiß die dumme Geschichte«, wird ihm nun geraten. Dallow vergißt nicht. Er flüchtet sich in Zynismus und Gleichgültigkeit, und auch das Eingeständnis der anderen, daß ihm Unrecht geschehen ist, berührt ihn nicht. Doch sein Versuch, sich seiner Umwelt zu verweigern, gestaltet sich zunehmend schwieriger.
»Das Werk von Christoph Hein setzt diese große Tradition fort, eine Welt, die untergeht, aufzubewahren für die Nachwelt. Aus Der Tangospieler werden künftige Generationen sehen, wie man in diesem Land gelebt, gelitten, gelogen hat«, urteilte Hans Mayer anläßlich der Verleihung des ersten Erich-Fried-Preises 1990 an Christoph Hein.
Christoph Hein, geboren 1944, hat Romane, Novellen, Erzählungen, Theaterstücke, Essays und ein Kinderbuch veröffentlicht, u. a. Der fremde Freund/Drachenblut (1982), Horns Ende (1985), Das Napoleon-Spiel (1993), Von allem Anfang an (1997) und Willenbrock (2000). Für sein Werk ist er mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet worden.
Der Tangospieler
Erzählung
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 6. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3477.
Erstveröffentlichung 1989, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002
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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74552-6
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Am Tage seiner Entlassung konnte Dallow seine Finger nicht bewegen. Sie waren steif und kalt und wie gelähmt. Die Beamten legten ihm vier Papiere vor, die er unterschreiben sollte. Dallow klemmte den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger und krakelte mühselig seine Unterschrift.
»Was ist mit Ihrer Hand?« fragte der Beamte, der vor ihm saß und ihm zusah.
»Nichts«, entgegnete Dallow, »den Fingern ist der Schreck in die Knochen gefahren.«
»Sie meinen, das macht die Aufregung?«
»Wenn ich das meinte, hätte ich es gesagt«, erwiderte Dallow.
Der Beamte sah ihn an und überlegte.
»Sie müssen noch zum Arzt«, verkündete er dann.
Dallow schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. In ein paar Minuten haben sich die Finger daran gewöhnt. Man muß das einfach nicht beachten.«
»Wie Sie wollen. Aber dann unterschreiben Sie mir das noch.« Er schob ein weiteres Papier über den Tisch. Dallow klemmte wieder den Stift zwischen die Finger und malte mit vorgeschobener Zungenspitze seinen Namen auf das Papier. Dann betrachtete er sein Werk, es sah aus wie die Unterschrift eines Achtjährigen. Er nickte zufrieden.
»Was sind Sie von Beruf, Dallow?« fragte der Beamte. »Hier steht Pianist, in meiner Akte steht Oberassistent.«
»Es trifft beides zu.«
»Das ist keine Antwort«, sagte der Beamte geduldig. »Also was ist Ihr Beruf?«
»Pianist«, sagte Dallow, »ich bin als Pianist zu Ihnen gekommen und nicht als Oberassistent. Schreiben Sie: Pianist.«
Dallow stand mit hängenden Armen vor dem Schreibtisch und wartete darauf, gehen zu können. Die Finger der rechten Hand waren vollkommen weiß.
»Wie die Wachsfinger eines Heiligen«, stellte Dallow laut fest.
Der Beamte sah auf. Er erwiderte nichts, als er Dallow ansah, sondern schüttelte nur müde den Kopf und seufzte vernehmlich.
Als ihm die Tür zur Straße aufgeschlossen wurde, erkundigte er sich nach dem Weg zum Bahnhof. Er ging in die angegebene Richtung, seine Tasche hielt er unter den Arm geklemmt.
Die Stadt, in der er neunzehn Monate lang hatte leben müssen, sah er sich nicht an. Er wußte, sie gefiel ihm nicht, sie konnte ihm nicht gefallen. Er trug einen Sommermantel und helle Stoffschuhe, und da es Februar war und eiskalt, fror er.
Am Bahnhof ging er zum Schalter und verlangte eine Fahrkarte nach Leipzig.
»Zweiter Klasse?« fragte der Beamte.
»Nein, ich fahre erster Klasse«, sagte Dallow.
»Dann müssen Sie zwei Stunden warten«, sagte der Schalterbeamte, »der Zehn-Uhr-Zug hat nur zweiter Klasse.«
»Ich kann nicht warten.«
Dallow kaufte eine Karte, sah sich die handschriftlichen, mit schwarzer Tinte geschriebenen und verblaßten Abfahrtzeiten an und ging in die Mitropa-Gaststätte.
Die Kellnerin, eine ältere Frau im weißen Kittel, über den sie sich ein Küchenhandtuch gebunden hatte, brachte ihm einen dünnen Kaffee und kassierte sofort. Dallow sah ihr an, sie ahnte, woher er kam.
Am Büfett kaufte er sich Zigaretten. Er rauchte drei hintereinander. Es wurde ihm leicht schwindlig, er empfand es als angenehm.
Er betrachtete die wenigen Frauen, die zwischen den Männern an den Tischen saßen. Er sah sie an und versuchte sich vorzustellen, er schliefe mit ihnen. Er hatte gehofft, dieses Spiel würde ihm Spaß machen, aber die Frauen gefielen ihm alle nicht. Er sagte sich, daß man vormittags in einer Bahnhofsgaststätte nichts anderes erwarten könne, zumal an einem kalten Februarmorgen, der voll von schmutzigem Schnee war.
Er sah auf die Normaluhr über der Ausgangstür, dann stand er auf, knöpfte den Mantel zu und ging hinaus. Am Zeitungskiosk kaufte er sich eine dünne Zeitung und ein Sportblatt, es war alles, was an aktuellen Tageszeitungen vorrätig war.
Auf den Treppenstufen der Unterführung lag Schnee. Dallow streifte mit einer Hand das Treppengeländer, als er hinab- und dann wieder hinaufstieg. Er fror.
Der Zug kam zehn Minuten zu spät an. Dallow stieg ein und setzte sich in eins der leeren, dreckigen, verrauchten Coupés. Als er bemerkte, daß der Waggon nicht geheizt war, stand er auf und lief durch den Zug auf der Suche nach einem angenehmeren Sitzplatz. In einem geheizten, aber überfüllten Waggon stellte er sich an ein Fenster im Gang. Er las die beiden Zeitungen, dann starrte er hinaus auf die vorbeigleitende weiße Landschaft.
In Leipzig erwartete ihn niemand. Er hatte seine Ankunft keinem angekündigt. Er hatte daran gedacht, aber er wußte nicht, bei wem er sich hätte melden können. Trotzdem versuchte er, den Bahnsteig und später auf der Treppe die Vorhalle zu überblicken. Er starrte in die Gesichter der Vorübergehenden.
Vor dem Bahnhof sprach er ein ihm unbekanntes Mädchen an und lud sie zum Essen ein. Das Mädchen, er vermutete, sie sei eine Studentin, war überrascht. Sie betrachtete ihn eingehend, aber freundlich, dann wandte sie sich wortlos ab und ging einige Schritte weiter. Dallow sah ihr mit einem vagen Gefühl des Bedauerns hinterher. Er fühlte sich nicht gekränkt.
Er überquerte die Straßenbahngeleise rechts vor dem Bahnhofsvorplatz und betrat das Hotel Astoria. Ein Kellner, der ihn erkannte, führte ihn zu einem der freien Tische.
»Sie waren lange nicht bei uns«, sagte er zu Dallow, als er ihm die Karte reichte. Dallow nickte, ließ sich ein Essen empfehlen und bestellte dazu eine ganze Flasche Wein. Dann sah er sich nach ihm bekannten Gesichtern um und war jetzt zufrieden, nur Fremde zu sehen. Er versuchte, langsam zu essen, aber er war es nicht mehr gewohnt und mußte sich dazu zwingen. Nach dem dritten Glas Wein bemerkte er eine Wirkung des Alkohols und bestellte Kaffee.
Eine Stunde später bestieg er vor dem Hauptbahnhof eine Straßenbahn der Linie 11. Wiederum hielt er Ausschau nach Bekannten. Dabei bemerkte er, wie ihn verschiedene Fahrgäste musterten. Er vermutete, daß seine unpassende Kleidung daran schuld war.
Als die Straßenbahn Dölitz erreichte, betrachtete er interessiert die Straßen. Er suchte nach Veränderungen, er wollte nach der langen Zeit seiner Abwesenheit das Bild der ihm vertrauten Wohngegend korrigieren, wo es notwendig war. Es fiel ihm jedoch nichts Ungewöhnliches auf, alles schien unverändert zu sein. Als die Straßenbahn am Kindergarten hielt, stieg er aus und lief die kleine Querstraße hoch zu seiner Wohnung. Er schloß die Haustür auf und schaltete das Flurlicht ein. Der Briefkasten mit seinem Namensschild war übervoll. Er nahm die Zeitungen und Briefe heraus, dann ging er die wenigen Schritte zu seiner Wohnung hoch. Er schloß die Wohnungstür auf. Erleichtert stellte er fest, daß beide Schlösser funktionierten. Er registrierte auch, daß er, ohne zu überlegen, für jedes Schloß den richtigen Schlüssel gewählt hatte.
Er ging ins Bad, in die Küche und in beide Zimmer und öffnete alle Fenster. Dann bemühte er sich, die Gasheizung anzustellen. Offenbar war das in den Leitungen befindliche Gas nicht mehr ohne weiteres entflammbar. An jedem Gerät mußte er lange den Zündknopf gedrückt halten, ehe ein Gas ausströmte, das er mit dem Streichholz entzünden konnte. Er drehte die Regler an den Geräten ganz auf. Dann verschloß er die Fenster in allen Räumen. Er ging in die Küche und stellte den Wasserhahn an, um das Wasser ablaufen zu lassen. Er öffnete die Kaffeebüchse. Der Kaffee darin schien ihm dunkler als gewöhnlich zu sein. Dennoch löffelte er etwas von diesem Pulver in eine Kanne und setzte Wasser auf. Er öffnete die Speisekammer, den Kühlschrank und den Küchenschrank, nahm die wenigen Vorräte in die Hand, um an ihnen zu riechen und notfalls vorsichtig und mißtrauisch von ihnen zu kosten. Alles, was ihm verdächtig erschien, warf er in den mit einer schwärzlichweißen Pilzschicht bewachsenen Mülleimer.
Ihm fiel der Staub auf. Er bemerkte ihn zuerst am Küchenschrank, dann auf dem schwarzen Klavier und allen Möbeln. Ein sehr feiner Staub, der erst sichtbar wurde, wenn er mit den Fingern über das Holz glitt.
Er brühte sich Kaffee und ging mit der Kanne und einer Tasse ins Wohnzimmer. Er knöpfte den Mantel auf, zog ihn jedoch nicht aus. Er goß sich Kaffee ein. Dann setzte er sich und sah die Briefe durch. Zwei Briefe waren von der Wohnungsverwaltung, einer von der Elektrizitätsgesellschaft. Die restlichen Briefe sah er durch, ohne sie zu öffnen.
Die Zeitungen waren vom Oktober, vom 24. bis 31. Oktober. Daraus schloß er, daß Rita die Wohnung am 23. oder am Morgen des 24. Oktober verlassen haben mußte. Er blätterte in den alten Zeitungen. Die Nachrichten, so schien ihm, mußten schon damals weniger bedeutend gewesen sein, als sie vorgaben.
Ihm wurde warm. Er zog den Mantel aus, ging ins Badezimmer und heizte den Badeofen an. Die einzelnen Blätter der Zeitungen knüllte er zusammen, steckte sie in das Feuerloch und stapelte die wenigen Holzscheite darüber, die er im Kohleneimer fand. Später las er, in der Wanne liegend, Briefe, die so alt waren, daß ihr ganzer Reiz für ihn darin bestand, ihn nicht rechtzeitig erreicht zu haben. Wenn er sie gelesen hatte, faltete er sie zu Schiffchen und setzte sie auf das Badewasser.
Nachdem er sich für eine Stunde hingelegt hatte – er schlief schlecht, das Zimmer war bald überheizt, und er hörte im Schlaf beständig das Zuschlagen eiserner Türen –, stand er auf, ging an den Kleiderschrank und suchte frische Wäsche und einen Anzug heraus. Als er angezogen war, hatte er das Gefühl, kostümiert zu sein, und der Blick in den großen Schrankspiegel schien ihm das zu bestätigen. Die Gewohnheiten ändern sich schnell, dachte er und band die Krawatte um.
Plötzlich riß er alle Schranktüren auf und durchstöberte die Regale. Er versuchte herauszufinden, was Rita mitgenommen hatte, was sie von seinen Sachen hatte mitgehen lassen, als sie vor anderthalb Jahren hier ausgezogen war und ihm ihren Abschied in einem sehr kurzen Brief mitgeteilt hatte. Damals hatte er lediglich ausgespuckt, den Brief zerknüllt und beschlossen, keinen Gedanken an sie zu verwenden.
So plötzlich, wie er die Suche begonnen hatte, brach er sie ab. Es war zwecklos, begriff er. Er erinnerte sich kaum daran, was er alles besaß. Seine Suche nach möglicherweise entwendeten Gegenständen brachte lediglich überraschende, ihn verwirrende Dinge zum Vorschein, die er längst vergessen hatte und bei denen er vergeblich zu ergründen suchte, wie sie in seinen Besitz gelangt waren.
Er setzte sich, stand aber sofort wieder auf und suchte nach einem Schlüssel in der Schublade seines Schreibtisches. Er verließ die Wohnung und ging durch den Keller in den Hof zu den Garagen. Er öffnete eins der Tore und schaltete das Licht ein. Verstaubt und mit einem platten Reifen stand dort sein Auto. Er schloß die Tür auf, setzte sich auf den Fahrersitz und versuchte, den Wagen zu starten. Der Motor rührte sich nicht. Das hatte er erwartet. Eine Zeitlang blieb er im Auto sitzen, strich über das Lenkrad, legte die Kupplung ein, schaltete an den Knöpfen. Er lehnte sich zurück und lächelte.
»Du hast mir gefehlt«, sagte er zu dem Auto, »du und die Weiber.«
Er öffnete die Kühlerhaube, füllte die Batterie nach und schloß sie an das Ladegerät. Er achtete darauf, daß er seinen Anzug nicht beschmutzte. Dann schloß er die Garage ab und ging in die Wohnung zurück. Er wusch sich gründlich die Hände. Danach zog er den Wintermantel an, setzte die Wollmütze auf und verließ die Wohnung. Er sah keinen seiner Nachbarn, als er zur Haltestelle der Straßenbahn ging, um wieder ins Stadtzentrum zu fahren.
In der Innenstadt lief er am Opernhaus vorbei durch die Grimmaische Straße bis zum Thomaskirchhof. Langsam ging er durch die Petersstraße und betrachtete Passanten und die Auslagen der Geschäfte. Er lief so langsam, daß er mehrmals zur Seite gestoßen wurde. Die Frauen waren dick vermummt und in Eile, er sah von ihnen kaum mehr als die Augen.
Am Kino blieb er länger stehen, betrachtete die Fotos und las das städtische Kinoprogramm im Aushang. Die Titel sagten ihm nichts, er kannte keinen der angekündigten Streifen, das freute ihn. Die ihm unbekannten Filme versprachen Unterhaltung. Nun schien ihm, daß sich doch etwas geändert hatte in den einundzwanzig Monaten seiner Abwesenheit.
Er ging die Schloßgasse zum Dittrichring hinunter und betrat das Café, in dem Harry arbeitete. Die Tische waren alle besetzt. Er lief durch den unteren Raum und stieg die wenigen Stufen hoch, die zu den oberen Tischen führten und zur Bar. Auch hier war alles besetzt. Am einzigen großen Tisch des Cafés entdeckte er seinen Verteidiger. Er ging zu ihm, und erst, als er direkt vor ihm stand, sah er, daß auch sein Richter an diesem Tisch saß. Der Verteidiger wirkte nervös, als Dallow ihn begrüßte. Er stand auf, gab Dallow die Hand und erkundigte sich nach seinem Befinden. Dallow nickte nur lächelnd. Da die am Tisch sitzenden Bekannten des Verteidigers ihr Gespräch unterbrochen hatten und zu ihnen sahen, fühlte sich der Anwalt genötigt, Dallow vorzustellen.
»Wir kennen uns«, sagte Dallow zum Richter, »Sie sind Dr. Berger.«
»Richtig«, erwiderte der Mann, »ich kann mich aber leider nicht erinnern …«
»Vor anderthalb Jahren haben Sie mich verurteilt«, unterbrach ihn Dallow.
»Dallow, Dallow«, wiederholte der Richter den genannten Namen. Er dachte nach.
»Einundzwanzig Monate«, sagte Dallow, um ihm zu helfen, »unter Anrechnung der Untersuchungshaft.«
Nun erinnerte sich der Richter. »Richtig, ich habe vor ein paar Tagen Ihre Akte auf den Schreibtisch bekommen. Wollen Sie mich sprechen?«
Dallow schüttelte den Kopf.
»Was wollen Sie von mir?« fuhr der Richter fort und wurde lauter. »Fühlen Sie sich ungerecht behandelt? Haben Sie Forderungen zu stellen? Dann lassen Sie sich in meinem Büro einen Termin geben. Melden Sie sich bei meiner Sekretärin.«
»Ich will Sie nicht sprechen«, erwiderte Dallow.
»Und warum suchen Sie mich hier auf? Warum verfolgen Sie mich?« sagte der Richter ungläubig.
»Ich will Sie nicht sprechen«, wiederholte Dallow, »ich sah Herrn Kiewer und wollte ihm guten Tag sagen.«
Dr. Berger schnaufte unzufrieden und nahm sein Glas in die Hand. Herr Kiewer, der Verteidiger, war verlegen und unschlüssig, ob er weiter neben Dallow stehen oder sich wieder zu dem Richter setzen sollte. Er sagte zerstreut zu Dallow, daß man sich gelegentlich einmal sehen sollte, klopfte ihm auf die Schulter und setzte sich wieder neben den Richter.
Dallow stellte sich an die Bar. Die Barfrau kannte er nicht. Als sie sich zu ihm wandte, bestellte er einen Kaffee und fragte sie nach Harry.
»Er ist nicht da«, sagte sie, »er hat Abenddienst.«
Sie trug ein weites Seidenkleid, das vorn geknöpft war. Ihr Haar war hochgesteckt und wirkte unsauber. Die stark geschminkten, mageren Wangen riefen bei Dallow eher Mitleid als Interesse hervor. Er schätzte sie auf Anfang Dreißig. Sie sieht billig aus, dachte er.
Als sie ihm den Kaffee brachte, sagte sie: »Harry ist jetzt da. Er ist beim Chef oben.«
»Danke«, sagte Dallow. Er setzte sich auf einen der freigewordenen Barhocker, drehte den Rücken zur Theke und betrachtete die Gäste. Er vermied es, zu dem Tisch zu sehen, an dem sein Richter und sein Verteidiger saßen. An zwei Tischen entdeckte er Gesichter, die ihm bekannt schienen, aber er mühte sich vergeblich, die Personen wiederzuerkennen. Er bemerkte, daß er der einzige Gast war, der einen Anzug trug. Und da ihm der Anzug ungewohnt und wenig bequem war, verstärkte sich sein Gefühl, unangemessen gekleidet zu sein. Er wandte sich vom Gastraum ab und drehte sich zur Theke um. Die beiden Männer, die neben ihm an der Bar saßen, diskutierten laut miteinander über Politik. Er sah kurz zu ihnen, blickte in junge, unreife Gesichter. Studenten, dachte Dallow und verzog den Mund.
Unausgesetzt blickte er das Barmädchen an. Er bestellte Wein und einen weiteren Kaffee. Immer wieder sah er auf die Knöpfe des Seidenkleides, auf ihre Brüste. Als sie ihn anlächelte, schaute er auf seine Hände. Sie nahm die leeren Gläser von der Bar und ließ sie in das Wasserbecken fallen.
»Was ist mit Ihnen?« fragte sie dabei halblaut. »Haben Sie noch nie eine Frau gesehen?«
Dallow sah auf. Die Frau hatte sich über das Wasserbecken gebeugt und spülte die Gläser. Für einen Moment war er unschlüssig, ob sie ihn gefragt hatte.
»Das schon, aber es ist lange her«, sagte er ebenso leise. Sie blickte ihn an und stieß dabei weiter die Gläser ins Wasser. »Und?« fragte sie. »Gefalle ich Ihnen?«
»Ich weiß es noch nicht«, erwiderte er.
Die Barfrau war von seiner Antwort überrascht. »Sie wissen es nicht«, sagte sie, »was müssen Sie denn dazu wissen?«
»Ich wollte sagen, ich bin mir darüber nicht im klaren.«
Die Frau betrachtete ihn abschätzig. Sie schüttelte kurz und verständnislos den Kopf.
»Trinken Sie Ihren Wein aus, und lassen Sie mich in Frieden.«
Sie ging zum Kühlschrank, nahm eine Eisschale heraus. Mit einem Messer löste sie die Eiswürfel. Dallow sah weiterhin unverwandt auf ihre Brüste. Neben ihm diskutierten die beiden Männer noch immer über Prag und Dubček. Sie sprachen so laut miteinander, daß sich Dallow beim Betrachten der Brüste gestört fühlte.
Durch die Pendeltür, die in die Küche führte, kam ein Kellner. Mit einer Zigarette im Mundwinkel stellte er sich neben Dallow an die Bar und betrachtete die Gäste. Er trug wie die anderen Kellner einen weinroten Frack, aber seiner war alt und glänzte bereits. Auch wirkte er für den übermäßigen Bauch des Kellners zu klein und beengend.
»Guten Tag, Harry«, sagte Dallow, ohne aufzusehen.
Der Kellner brauchte einige Sekunden, ehe er ihn erkannte. Dann legte er Dallow einen Arm um die Schulter und begrüßte ihn.
»Seit wann bist du …«
»Heute morgen«, unterbrach ihn Dallow.
»Und wie war es?« fragte der Kellner zögernd. Es schien, als suche er dabei nach Worten.
»Das ist alles schon vergessen«, sagte Dallow und lächelte den Kellner an, »verlorene Zeit, nicht der Mühe wert, sich daran zu erinnern.«
Harry nickte zustimmend.
»Und was gabs hier?«
Der Kellner überlegte und machte dann eine abwehrende, vieldeutige Handbewegung.
»Du bist fett geworden, Harry.«
Der Kellner verzog schmerzlich das Gesicht. »Vermutlich habe ich in den letzten Jahren besser gegessen als du«, sagte er.
Dallow stimmte ihm zu.
»Wer ist das Mädchen? Ich kenne sie nicht.«
»Christa, die Tochter vom Chef. Der Alte hat nacheinander drei Barmädchen hinausgeworfen, weil sie ihn betrogen hatten. Jetzt hat er der Tochter die Bar gegeben, obwohl sie keine Ahnung vom Geschäft hat. Ich mußte ihr alles beibringen, diesem dummen Stück. Das einzige, was sie wirklich gut kann, ist, mit ihren Gästen ins Bett zu gehen und ihren alten Herrn zu betrügen. Und der Alte merkts nicht oder wills nicht merken.«
Er sprach halblaut und lächelte dabei die Barfrau an.
Dann wandte er sich zu Dallow und sagte grinsend: »Im Moment wäre sie wohl gerade die Richtige für dich.« Da Dallow nichts erwiderte, fragte er: »Willst du einen Tisch?«
Dallow nickte.
»Warte noch einen Moment, es wird gleich etwas frei. Heute geht alles auf meine Rechnung. Du bist heute mein Gast.«
Er tätschelte Dallows Rücken.
»Und Rita?« fragte er dann. »Was macht sie?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Dallow, »ich habe sie nicht mehr gesehen. Sie hat sich von mir getrennt, kurz nach meinem Prozeß.«
»Weiber«, sagte der Kellner abfällig, »es ist immer das gleiche.«
»Ich weine ihr nicht nach«, sagte Dallow verbittert.
Harry nickte zustimmend.
»Das ist richtig. Es lohnt nicht«, sagte er. Und nach einer Pause fragte er: »War es sehr schlimm da drin?«
»Ich lebe noch«, sagte Dallow gleichmütig.
Der Kellner nickte wieder. Er beugte sich zu Dallow vor und sagte: »Ich habe dir immer gesagt, wer so schlecht Klavier spielt wie du, kommt eines Tages ins Gefängnis.«
Er lachte selbst sehr herzlich über seinen Scherz. Dann klopfte er Dallow nochmals auf den Rücken, ging zu den Tischen, begrüßte einige der Gäste mit Handschlag und fragte nach ihren Wünschen. An dem großen runden Tisch, an dem auch Dallows Verteidiger und sein Richter saßen, blieb er längere Zeit stehen und erzählte etwas. Da die Männer auflachten und zu Dallow sahen, vermutete er, daß Harry seinen Scherz dort wiederholt hatte. Er wandte sich zur Bar und trank sein Weinglas aus.
Eine Viertelstunde später brachte Harry ihn zu einem kleinen Tisch, der frei geworden war. Eine Frau, die sich zu ihm setzte, verärgerte Dallow durch einsilbige Antworten und unfreundliches Schweigen. Sie ließ sich bald von einem ihrer Tänzer von dem Tisch fortholen. Dallow beobachtete den Richter, der etwas angetrunken wirkte. Er war verwundert, daß er ihm jetzt wie ein gemütlicher, rundlicher Kleinbürger erschien, der am Wochenende seinen Vorgarten pflegt und sein Auto putzt. In der Gerichtsverhandlung vor zwei Jahren hatte er kühl gewirkt, überkorrekt und eifernd. Dallow sah den gekrümmten Rücken des Richters, das schlecht rasierte Nackenhaar, die großen rötlichen Ohren und erinnerte sich an die dümmliche Ironie, mit der der Richter damals seine Fragen gestellt hatte.
Kurz vor Mitternacht wollte Dallow bezahlen, aber Harry ließ es nicht zu und wiederholte, daß er sein Gast sei. Sie verabschiedeten sich mehrmals. Der Kellner brachte ihn bis zur Garderobe, und Dallow mußte ihm versichern, bald wiederzukommen. Mit der Straßenbahn fuhr er nach Hause. Er legte sich sofort ins Bett.
Den ganzen nächsten Tag verbrachte Dallow in der Garage, um sein Auto fahrbereit zu machen. Er sah den Motor durch, schloß die Batterie an, wechselte eins der Räder und reinigte das Fahrzeug. Mittags unterbrach er die Arbeit, um auf die Bank zu gehen, Lebensmittel einzukaufen und in einer kleinen Gaststätte in der Nähe des Ausstellungsgeländes zu essen.
Es dunkelte bereits, als er den Wagen endlich starten konnte und auf der von Bahnschienen und Frost zerstörten Straße aus der Stadt fuhr. Hinter Wachau parkte er das Auto an einem kleinen Waldstück. Er versuchte, in den Wald hineinzugehen, aber von den dicht stehenden, verschneiten Nadelbäumen fiel bei seinen ersten Schritten Schnee auf ihn herab, so daß er es schnell aufgab. Er lief auf der Landstraße das Wäldchen entlang. Wenn Autos an ihm vorbeifuhren, trat er auf den beschneiten Randstreifen und wandte das Gesicht ab, um nicht geblendet zu werden. Die kalte Luft rötete Wangen und Nase. Als er ans Ende des Waldstücks kam, spürte er den eisigen Wind und kehrte um. Er ging zum Auto zurück und dann wieder den gleichen Weg bis zum Ende des Wäldchens. Immer wieder lief er das gleiche Stück Landstraße auf und ab. Er wollte sich über die vielen Ungewißheiten, die unbestimmten, ungefähren Gedanken klar werden, die ihn fortgesetzt beschäftigten, ohne daß er fähig war, sie auch nur ansatzweise zu formulieren.
In den letzten einundzwanzig Monaten hatte er unentwegt über sich nachgedacht. Die kleine Zelle, die eingeschränkten Möglichkeiten, sich abzulenken und zu zerstreuen, die wenigen Menschen, die er zu Gesicht bekam, und der streng geregelte Alltag, der keine Ausnahmen und Überraschungen kannte, hatten ihn – erst unbewußt und später gegen seine Absicht und seinen Willen – genötigt, sich immer wieder mit sich selbst zu befassen. Diese Überlegungen, er bemerkte es bald, drehten sich im Kreis. Es gab keinen sinnvollen Entschluß zu fassen, keine seiner Überlegungen hatte eine praktische Folge, und so blieb es nicht aus, daß sich auch seine Gedanken verwirrten und bald nicht mehr in Worten ausdrücken ließen. Die Überlegungen blieben auf halbem Wege stecken und füllten seinen Kopf mit einem unklärbaren Gemisch merkwürdiger, ihn selbst beunruhigender Bruchstücke. Gelegentlich erschien ihm ein Ansatz hoffnungsvoll, und er klammerte sich energisch an ihn, aber sei es, weil er sich täuschte, sei es, weil er sich allzu heftig an ihn klammerte oder weil er inzwischen die Fähigkeit, logisch und sorgsam etwas zu einem brauchbaren Ende zu denken, verloren hatte, er fand sich bald in seiner anfänglichen Aussichtslosigkeit wieder. Er entschloß sich, jedes Nachdenken auf die Zeit nach seiner Haft zu verschieben. Dennoch überkam ihn mehrfach die Angst, wahnsinnig zu werden.
Und nun war er frei, und der einzige Entschluß, der ihm klar und einleuchtend erschien, war seine Entscheidung, die vergangenen Monate so rasch wie möglich zu vergessen. Er wollte nicht daran denken, und er wollte vor allem nicht darüber reden. Er wollte die Zeit aus seinem Gedächtnis löschen, um sich von ihr zu befreien. Die Inhaftierung hatte er nie als Strafe empfinden können, sondern allein als eine Kränkung und einen nicht wiedergutzumachenden Verlust von Zeit. Aber er hatte die beiden Jahre hinter sich gebracht, ohne verrückt zu werden, und er wollte künftig keine Minute mit einem nutzlosen Grübeln über die Haft und die unwürdigen Umstände, unter denen er im Gefängnis zu leben gezwungen war, verlieren.
Die Schuhe waren bald durchnäßt, und er spürte, wie die Kälte in seine Ohren zwickte.
Nach den einundzwanzig Monaten fühlte er nichts als eine große, betäubende Leere im Kopf. Er war ratlos, dieses Wort kreiste immer wieder in seinem Kopf, und ihm war, als sei in ihm eine metallene Saite hart angerissen worden, und ein nicht nachlassendes, gleichmäßiges Dröhnen drücke gegen seine Schädeldecke. Ihn überfiel die Angst, taub zu werden.
Er ging zum Auto zurück und stieg ein. Auf der Heimfahrt freute ihn der gleichmäßig laufende Motor seines Wagens. Die Maschine hatte die beiden Jahre der unfreiwilligen Ruhestellung unbeschadet überstanden. Sie arbeitete störungsfrei und zuverlässig. Beispielhaft, dachte Dallow, ich sollte mir mein Auto zum Vorbild nehmen.
Zu Hause wechselte er die Schuhe. Dann stellte er sich im Badezimmer vor den Spiegel und kämmte sich lange. Danach überprüfte er seine Barschaft und zog sich den Mantel über. Mit der Straßenbahn fuhr er ins Stadtzentrum. Es war fast zehn Uhr, als er die Nachtbar eines Hotels betrat, einem Kellner Geld zusteckte und zu einem freien Tisch geführt wurde. Die Musik war sehr laut, und Dallow hatte Mühe, in dem mit spärlichem farbigem Licht erhellten Raum etwas zu erkennen.
Eine Stunde nach Mitternacht begleitete er eine junge Frau in ihre Wohnung. Im Korridor lag auf einer Matratze ein vierjähriges Kind, das bei ihrem Kommen verschlafen auffuhr.
»Schlaf weiter«, sagte die Frau und fuhr dem Kind übers Haar.
Sie führte Dallow rasch ins Zimmer, um das Licht im Korridor löschen und die Tür schließen zu können.
»Warum schläft dein Kind im Flur?« fragte Dallow.
Die junge Frau errötete und sagte: »Es ist nur für heute nacht. Sonst schläft es bei mir im Zimmer. In die Küche will ichs nicht legen, wegen dem Gasherd.«
Dallow nickte. Er wollte noch etwas fragen, aber im gleichen Moment bemerkte er, daß er es nicht mehr formulieren konnte. Alles war verschwommen und unklar. Er ließ sich auf das Bett fallen und bat die junge Frau, ihn auszuziehen.
Am nächsten Morgen wurde er wach, als die Frau sich von ihm verabschiedete. Er sprach mit ihr, ohne die Augen zu öffnen. Er wollte es vermeiden, die Frau, mit der er die vergangene Nacht verbracht hatte, anzusehen.
»Sehen wir uns heute abend?« fragte sie.
Dallow murmelte schläfrig eine Antwort.
»Auf dem Küchentisch liegt ein Wohnungsschlüssel«, sagte sie, »behalte ihn, wenn du wiederkommen willst. Wenn nicht, dann schließ zu und wirf ihn durch den Briefschlitz.«
Hinter der geschlossenen Tür rief das Kind.
»Ich muß gehen«, sagte die Frau, »ich hoffe, ich seh dich wieder.«
Dallow gab erneut eine unbestimmte und unverständliche Antwort, ohne die Augen zu öffnen. Als er hörte, wie die Zimmertür geöffnet wurde, versuchte er, einen Blick auf die Frau zu werfen. Er sah sie hinausgehen, er sah ihren Rücken, den Hintern, die Beine. Er schloß die Augen und war erleichtert und zufrieden. Als er die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte, stand er auf. Er ging ans Fenster und sah hinaus. Ein Hof war zu sehen, ein paar Bäume, eine Teppichstange und große viereckige Müllkästen. Er lief in die Küche und stellte sich seitlich ans Fenster, um nicht gesehen zu werden. Er mußte nicht lange warten. Die junge Frau überquerte mit ihrem Kind die Straße. Auf dem Bürgersteig angelangt, blieb sie stehen und blickte zu ihrer Wohnung hoch. Dallow nahm seinen Kopf zurück. Er wartete eine Sekunde, dann beugte er sich wieder vor und sah ihr nach, bis sie mit ihrem Kind verschwunden war.
Nein, sie ist wirklich nicht häßlich, sagte er sich und lächelte.
Er ging durch die Wohnung und sah sich die Räume an. Im Bad fand er einen Morgenmantel und zog ihn über. Da seine nackten Füße kalt wurden, zwängte er sie in die kleinen, plüschverzierten Pantoletten, die vor der Badewanne standen. Er ging in die Küche, um zu frühstücken. In ein Küchenhandtuch war ein gekochtes Ei gewickelt, in einer Thermoskanne war Kaffee. Dallow gefiel es, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen. Und es gefiel ihm, jetzt allein zu sein.