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Peter Schnieders

Fred Sellin

Im Spiegel des Bösen

Ein Kriminalkommissar erzählt

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Originalausgabe

Das vorangestellte Motto ist zitiert nach:
Christa Wolf, Nachdenken über Christa T., Werkausgabe Band 2,
Luchterhand Literaturverlag 1999.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2012

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic; Plainpicture/Millennium

ISBN 978-3-641-08603-9
V002

www.goldmann-verlag.de

Die geschilderten Fälle beruhen auf wahren Begebenheiten. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen wurden – mit Ausnahme eines Falls – alle Personen anonymisiert, Handlungen an andere Orte verlegt und bestimmte Details, sowohl der Taten als auch der Ermittlungen, verändert.

Das Paradies kann sich rar machen,
das ist so seine Art.

Christa Wolf

Elf Uhr neunzehn

Wie viele Jahre lebte sie nun schon allein? Marianne Schellner hätte es auf Anhieb nicht sagen können. Es gab mal jemanden, einen Mann, den sie geliebt hatte, ihren Horst, doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. So lange, dass es ihr manchmal, wenn sie daran dachte, vorkam, als gehöre diese Erinnerung gar nicht zu ihrem Leben. Als habe ihr bloß jemand davon erzählt. Vielleicht hätte sie sich, nachdem das mit Horst vorbei war, in einen anderen verlieben können. Sie war damals noch jung. Obwohl, wenn sie ehrlich zu sich war … sie wusste es nicht. Vermutlich hätte sie es als Betrug empfunden, sich selbst gegenüber. Die große Liebe – daran hatte sie fest geglaubt, bis der Gedanke ein Teil von ihr geworden war – erfährt man nur einmal im Leben.

Jetzt war Marianne Schellner neunundsechzig Jahre alt. Gut zwei Monate, und sie würde siebzig werden. Sie sehnte sich diesen Tag nicht herbei, wie sie das früher als Kind getan hatte, aber es war auch kein Datum, das ihr schlaflose Nächte bereitete. Es war eben so. Vieles in ihrem Leben war eben so. Und sollte sie nicht dankbar sein? Es ging ihr gut. Ihre Rente fiel bescheiden aus, aber sie brauchte nicht viel. Die kleine Eigentumswohnung, aus deren Wohnzimmerfenster sie den Rhein sehen konnte, war abbezahlt. Sonst hatte sie sich kaum etwas gegönnt, mal einen Urlaub in der Eifel oder eine Busreise an die Ostsee; sie hatte ihr Geld lieber gespart. Nur einmal war sie schwach geworden. Für eine Schweizer Armbanduhr mit mechanischem Uhrwerk hatte sie fast dreitausend Mark ausgegeben, was ihr hinterher selbst wie pure Verschwendung vorgekommen war. Anfangs hatte sie die Uhr nur zu besonderen Anlässen getragen, doch das war ihr bald unsinnig erschienen. Wenn sie schon das viele Geld ausgegeben hatte, sollte sie sich auch jeden Tag daran erfreuen.

Dabei war es nicht einmal so, dass Marianne Schellner mit dieser Ausgabe ihr finanzielles Limit überschritten hätte. Auf ihrem Konto hatten sich beträchtliche Ersparnisse angehäuft, hundertfünfzigtausend Mark oder sogar noch etwas mehr. Den größten Teil ihres Vermögens hatte sie konservativ angelegt, mit unterschiedlichen Laufzeiten, aber ohne Risiko. Für den Rest bekam sie normale Sparzinsen und konnte jederzeit darüber verfügen. Wenn sie weiter so bescheiden lebte, hatte sie einmal ausgerechnet, würde an ihrem letzten Tag, wann immer der sein mochte, auf jeden Fall ein stattlicher Betrag übrig sein. Da sie keine Verwandten hatte, es demnach keine regulären Erben geben würde, sollte das Geld nach ihrem Tod einem katholischen Kinderhospiz im Bergischen Land überwiesen werden. So stand es in ihrem Testament. Von dem Hospiz hatte sie in der Zeitung gelesen. Die sterbenskranken Kinder waren ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Sie hatte den Artikel ausgeschnitten, noch zwei- oder dreimal gelesen und dann den Entschluss gefasst. Das Original des Testaments lag bei einem Notar. Sie selbst besaß eine notariell beurkundete Kopie, die sie in der mittleren Schublade einer Kommode aus poliertem Kirschbaumholz aufbewahrte, die in ihrem Schlafzimmer stand, gleich rechts neben der Tür. Gezeigt hatte sie das Schriftstück bisher niemandem.

Die Einsamkeit machte der Rentnerin nichts aus. Sie war ja nicht wirklich einsam, obwohl das auf andere, die sie nur flüchtig kannten, mitunter so gewirkt haben könnte. Etwa, wenn sie mutterseelenallein oberhalb des Rheinufers auf einer der Holzbänke saß, versonnen aufs Wasser blickte und aussah, als warte sie, dass endlich jemand kam und sie abholte. Dabei genoss sie gerade diese Momente. Sie konnte gut mit sich allein sein. Und sollte da jemals eine Lücke in ihrem Leben gewesen sein, so hatte sie diese ausgefüllt: Marianne Schellner kümmerte sich.

Zweimal die Woche, meistens montags und freitags, erledigte sie Einkäufe für eine Nachbarin, die ein Stockwerk unter ihr wohnte. Die Frau war zwar jünger als sie, traute sich aber nach einem Oberschenkelhalsbruch, den sie letzten Winter bei einem Sturz vorm Haus erlitten hatte – der Gehweg war an einer Stelle unterm Schnee vereist –, nur noch selten vor die Tür. Daneben gab es eine Reihe älterer Frauen, die meisten von ihnen Witwen, die im selben Viertel wohnten und sie anriefen, sobald ein Arztbesuch erforderlich wurde oder ein Gang zur Behörde anstand, um sie zu bitten, sie zu begleiten. Ihre Gutmütigkeit hatte sich herumgesprochen. Die jungen Leute aus der Gegend mochten achtlos an ihr vorübergegangen sein. Unter den älteren jedoch fand sich kaum jemand, der sie nicht grüßte, wenn er ihr begegnete. Meistens war sie mit ihrem Fahrrad unterwegs, nur im Winter nicht, bei Frost und Schnee ging sie zu Fuß. Sie hätte sich ein Auto zulegen können, nur wollte ihr so recht kein Grund einfallen, wozu das nötig sein sollte.

Marianne Schellner mochte das Gefühl, gebraucht zu werden. Obwohl ihr das womöglich gar nicht bewusst war. Ihre Hilfsbereitschaft war eher instinktiver Natur. Sie dachte nicht groß darüber nach. Ihr Leben fühlte sich so einfach am besten an. Man könnte auch sagen: Auf diese Weise bekam es einen Sinn. Solange sie als Sekretärin gearbeitet hatte, waren ihre Tage ohnehin ausgefüllt gewesen. Und als sie dann Rentnerin geworden war, vor fast zehn Jahren, hatte sie gleich eine neue Aufgabe übernommen. Seitdem war sie die gute Seele im Haushalt des Architekten-Ehepaars Gisela und Heribert Schmitz.

Die Schmitz’ wohnten keinen Kilometer von ihr entfernt, in einem Zweifamilienhaus mit kleinem Garten, das sie sich mit einer anderen Familie teilten, die bewohnte das Erdgeschoss. Während Gisela Schmitz als Selbstständige ein eigenes Architekturbüro betrieb, lehrte ihr Mann als Professor an der Fachhochschule Düsseldorf. Beide waren beruflich sehr eingespannt und verbrachten wenig Zeit miteinander, zumindest in den letzten zwei, drei Jahren. Nicht einmal das gemeinsame Frühstück, das ihnen einst heilig gewesen war, hatten sie beibehalten. Dass es so gekommen war, lag allerdings weniger am täglichen Arbeitspensum, als vielmehr am Zustand ihrer ehelichen Gemeinschaft, die genau genommen keine mehr war.

Heribert Schmitz war ein stattlicher Mann mit markanten Gesichtszügen. Wenn er mit Marianne Schellner sprach, was nicht häufig geschah, da sie sich nur tagsüber und meistens nur für wenige Stunden bei den Schmitz’ aufhielt, erschien es ihr, als würde er sie kaum wahrnehmen. Im Alter, dachte sie deswegen, wird man für andere Menschen offenbar durchsichtig. Dass die Ehe der Schmitz’ nur noch auf dem Papier bestand, war ihr nicht verborgen geblieben. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass der Professor eine Geliebte hatte. Ob es wirklich so war, wusste sie nicht. Sie kannte aber auch die Gerüchte, die über Gisela Schmitz kursierten. Den Teil des Stadtviertels, in dem sie lebte, muss man sich wie ein Dorf vorstellen. Den neuesten Tratsch erfuhr man entweder beim Friseur oder in einem Café, das seit drei Generationen von derselben Familie bewirtschaftet wurde. Oder einfach auf der Straße, sobald man jemanden traf, der gerade wieder etwas aufgeschnappt hatte. Über Gisela Schmitz tuschelten die Leute seit Längerem, sie führe heimlich eine lesbische Beziehung.

Marianne Schellner beteiligte sich an derlei Mutmaßungen nicht. Selbst wenn sie zutrafen – sie fand, das gehe sie nichts an. Dabei hätte sie die Gerüchteküche kräftig anheizen können. Sie kannte nämlich nicht nur die Frau, mit der Gisela Schmitz angeblich liiert sein sollte. Sie wusste auch, dass diese einen Schlüssel für die Wohnung besaß, in der sie beinahe täglich ein und aus ging und gelegentlich sogar übernachtete. Aber das war natürlich kein Beweis. Denn sie selbst besaß ebenfalls einen solchen Schlüssel. Genau wie Almuth Benner – das war die Frau, die dreimal die Woche zum Putzen kam.

Marianne Schellner dagegen sah jeden Tag nach dem Rechten, außer an den Wochenenden. Für gewöhnlich verließ Gisela Schmitz gegen acht Uhr die Wohnung. Ihr Mann war dann schon weg. Die beiden Frauen hatten vereinbart, dass Marianne Schellner am späten Vormittag die Post aus dem Briefkasten nahm, anschließend die drei Katzen versorgte, die Blumen goss – das natürlich nicht täglich – und in der Küche das benutzte Geschirr aufwusch, falls welches in der Spüle stand. Außerdem kümmerte sie sich um die Wäsche, die sie nach dem Trocknen je nachdem – entweder bügelte oder nur zusammenlegte und im Kleiderschrank verstaute. Dadurch war ihr auch nicht entgangen, dass die Eheleute das Schlafzimmer nicht mehr gemeinsam nutzten. Überhaupt schien die Wohnung seit geraumer Zeit wie durch eine unsichtbare Mauer in zwei Bereiche geteilt. Heribert Schmitz schlief im Gästezimmer. Seine Zahnbürste und das Rasierzeug standen auf der Ablage über dem Waschbecken im Gäste-WC. Die wenigen Stunden, die er tagsüber zu Hause zubrachte, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück; das war vorher schon sein eigenes Reich gewesen. Nur in der Küche konnte es passieren, dass sie sich begegneten.

Es war also keine Überraschung für Marianne Schellner, als Gisela Schmitz sie eines Tages bat, zusammen mit Almuth Benner, der Putzfrau, sämtliche Sachen aus den Schränken ihres Mannes in Pappkartons zu verstauen, um dessen Auszug vorzubereiten. Der sollte demnächst über die Bühne gehen, die Möbelpacker waren bereits bestellt. Den zusätzlichen Arbeitsaufwand würde sie ihnen selbstverständlich extra vergüten.

Marianne Schellner kannte Almuth Benner nicht sonderlich gut. Obwohl die beiden Frauen sich durch ihre Arbeit seit Jahren regelmäßig trafen, hatten sie so recht keinen Draht zueinander gefunden. Ihre Gespräche gerieten meist oberflächlich, selbst dann, wenn sie gemeinsam eine Pause eingelegten, um sich ein Bier zu genehmigen, was sie mitunter bereits am Vormittag taten. So wusste Marianne Schellner kaum mehr, als dass Almuth Benner verheiratet war, einen erwachsenen Sohn hatte, der bei seinen Eltern wohnte, und dass die Familie in einer kleinen Ortschaft außerhalb Kölns lebte, jenseits des anderen Rheinufers. Hätte man sie gefragt, ihr wäre wahrscheinlich noch der dunkelblaue Opel Omega eingefallen, mit dem Almuth Benner zur Arbeit kam. Ein Modell älterer Bauart mit einer auffälligen Beule im Blech der Beifahrertür. Der Lack des Wagens war dermaßen verwittert, dass es immer aussah, als wäre er von einer dichten Staubschicht umhüllt. Damit aber erschöpfte sich, was sie über die Frau hätte erzählen können, die sie weder besonders mochte noch verabscheute.

Durchaus denkbar, dass die beiden Frauen auch deshalb Distanz zueinander hielten, weil jede die andere als Konkurrentin betrachtete, zumindest was die Gunst ihrer Arbeitgeberin betraf. Für Almuth Benner jedoch dürfte es einen weiteren Grund gegeben haben: Scham. Hätte sie Marianne Schellner von ihrem Mann erzählen sollen, der in ihren Augen ein elender Säufer war und auch sonst in jeder Beziehung eine einzige Enttäuschung? Oder dass ihr fünfundzwanzigjähriger Sohn dreimal die Lehre geschmissen hatte und jetzt das Geld, das er mit irgendwelchen Gelegenheitsjobs verdiente, zum größten Teil in Saunaclubs und Bordellen durchbrachte?

Almuth Benner war keine glückliche Frau. Wobei sie sich das ungern eingestand. Lieber verwendete sie ihre Kraft darauf, für die Nachbarn und alle, die sie sonst kannten, die Fassade einer heilen Familie aufrechtzuerhalten. Sich etwas vorzumachen – darin war sie seit Jahren geübt, so sehr, dass man sich fragen konnte, ob sie manchmal selbst noch zu unterscheiden wusste, wann sie sich in der Realität befand und wann in einer Welt, die nur in ihrer Einbildung existierte.

Auch an dem Tag, als sie den Familienurlaub für diesen Sommer gebucht hatte, muss in ihrer Wahrnehmung etwas durcheinandergeraten sein. Ihr Konto war zu diesem Zeitpunkt bereits um mehr als dreitausend Mark überzogen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, einen zehntägigen Aufenthalt in einem Hotel im Schwarzwald zu reservieren, der rund zweitausend Mark kosten würde. In drei Tagen wollten sie losfahren, ihr Mann, der Sohn und sie. Doch so richtig freuen konnte sich Almuth Benner nicht. Irgendwie schien alles verkorkst.

Die Tagesschau hatte gerade begonnen, als das Telefon klingelte. Jemand von der Leitstelle im Präsidium. Wenn sie um diese Zeit anriefen, wusste ich sofort: Die Nacht ist gelaufen! Für die nächsten vierundzwanzig Stunden brauchst du gar nicht erst an Schlaf zu denken.

Ich war damals Leiter des KK 11, dem Kriminalkommissariat, das für Tötungsdelikte und ungeklärte Todesfälle zuständig war. Sie gaben mir die groben Fakten durch und eine Adresse. Obwohl ich etwas außerhalb wohnte, benötigte ich keine halbe Stunde. Der Verkehr floss um diese Zeit hauptsächlich in die entgegengesetzte Richtung, stadtauswärts. Wie oft hatte ich das erlebt! Männer mit normalen Berufen waren entweder längst zu Hause oder fuhren spätestens jetzt zu ihren Familien. Aber deswegen hatte ich ja auch keine richtige Familie, nicht mehr. Zwei Versuche – zweimal gescheitert. Irgendwann begreift man, dass es vergebens ist. Oder man wechselt die Dienststelle. Oder gleich den Arbeitgeber.

Die Straße war auf beiden Seiten von wuchtigen Linden gesäumt. Dahinter erhoben sich großzügige Ein- und Zweifamilienhäuser. Ich zuckelte die letzten Meter über Kopfsteinpflaster, das zu den Rändern hin leicht abfiel. Vor dem Grundstück parkte bereits das übliche Aufgebot: zwei Streifenwagen, dazu die beiden Zivilfahrzeuge, mit denen die Kollegen von der Mordkommission und des Erkennungsdienstes angerückt waren. Durch ein Gartentor gelangte man auf eine gepflasterte Einfahrt. Neben der Haustür lehnte ein Fahrrad an der Wand.

Eine Bewohnerin des Hauses, die Diplom-Architektin Gisela Schmitz, hatte die Polizei alarmiert. Ihrer Bekannten sei im Hausflur unangenehmer Geruch aufgefallen, der aus dem Kellergeschoss zu kommen schien. Dort habe sie dann eine Leiche entdeckt, eine ältere Frau. Sie hätten zwar beide nichts angerührt, seien aber ziemlich sicher, dass es sich bei der Toten um ihre Haushaltshilfe handele, die sie am Tag zuvor auf der Polizeiwache als vermisst gemeldet hatten. Eine treue Seele, seit Jahren, stets zuverlässig. Doch ausgerechnet gestern war sie nicht zur Arbeit erschienen. Dabei stand ein Umzug an, bei dem sie helfen sollte. Außerdem war da noch die Sache mit ihrem Fahrrad. Das stellte sie normalerweise nur dort ab, wenn sie auch im Haus zu tun hatte.

Mehr wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Im Fernsehkrimi eilen dann blitzschnell Kommissare zum Tatort. Im realen Leben dauert das etwas länger, besonders nach Dienstschluss wie in diesem Fall. Prinzipiell rücken zunächst einmal Schutzpolizisten aus, um die Lage zu eruieren. Gibt es tatsächlich eine Leiche? Erst danach wird der Kriminaldauerdienst verständigt, der zwei Beamte losschickt. Auf diese Weise kann leicht eine halbe Stunde verstreichen oder mehr. Identifizieren auch sie die Leiche als solche, wird der Leiter der Mordkommission mobilisiert, die Bereitschaft hat. Der wiederum trommelt dann sein Team zusammen. Parallel dazu setzen sich drei Leute vom Erkennungsdienst in Bewegung – zwei Spurensicherer, ein Fotograf –, es wird ein Rechtsmediziner angefordert, und der zuständige Staatsanwalt macht sich ebenfalls auf den Weg.

Irgendwann dazwischen hatten sie mich informiert. Als Kommissariatsleiter hätte ich mir nicht zwangsläufig den Abend – und die Nacht – verderben müssen. Ich hatte schon Vorgesetzte erlebt, die waren zu Hause geblieben und hatten sich lediglich über Telefon auf dem Laufenden halten lassen. Nicht, dass ich meinen Leuten von der Mordkommission nicht vertraut hätte. Ich machte mir nur lieber gern selbst ein Bild. Ein frischer Tatort verrät meist mehr als die niedergeschriebenen Fakten, die sich später in den Ermittlungsunterlagen wiederfinden. Vorausgesetzt natürlich, man ist in der Lage, einen Tatort zu »lesen«. Abgesehen davon war ich derjenige, der am nächsten Morgen dem Leiter der Kriminalpolizei – meinem Vorgesetzten – Bericht zu erstatten hatte. Es war also aus mehreren Gründen besser, gut informiert zu sein.

Die Tote lag im Keller, in einer kleinen Nische hinter den untersten Treppenstufen – auf dem Bauch. Die Beine waren ausgestreckt, der linke Arm steckte unter dem Körper, der rechte war verdreht und leicht angewinkelt, so dass der Handrücken den Boden berührte. Eine natürliche Haltung war das nicht. Wenn jemand von allein umfällt und stirbt, sieht das anders aus. Aber von allein war hier sowieso nichts geschehen, dafür brauchte man kein Hellseher zu sein.

Der Kopf der Leiche war mit mehreren Plastiktüten umwickelt – das Gesicht konnte man nicht sehen. Durch die äußeren Tüten hätte man vielleicht noch etwas erkennen können, die waren halbwegs durchsichtig. Doch darunter befand sich ein blauer Müllsack, der ebenfalls um den Kopf geschlungen und am Hals verknotet worden war. Die Kleidung – schwarze Jeans, schwarze Socken und eine türkisfarbene Baumwollbluse war völlig durchnässt und über und über mit Blut besudelt. Da äußere Verletzungen am Körper nicht festzustellen waren, zumindest auf den ersten Blick, konnte man sich ungefähr ausmalen, was einen erwartete, würde man die Tüten und den Müllsack entfernen. Damit warteten wir jedoch, bis die Spurensicherung ihre Arbeit an diesem Punkt des Kellers erledigt hatte und der Rechtsmediziner eingetroffen war. Von ihm erhofften wir uns einen ersten Hinweis darauf, seit wann die Frau nicht mehr lebte. Das wäre immerhin schon mal ein Anfang.

Die Leichenstarre begann sich bereits aufzulösen, was dafür sprach, dass der Zeitpunkt ihres Todes mindestens vierundzwanzig Stunden zurücklag, eher noch länger. Um das genauer feststellen zu können, musste man verschiedene Faktoren berücksichtigen, die Witterung zum Beispiel. Wobei hier besonders Feuchtigkeit und Luftzirkulation von Bedeutung waren, aber auch die Bekleidung der Toten, die Beschaffenheit des Bodens, woraus sich dessen Wärmeleitfähigkeit ergab, und nicht zuletzt die Umgebungstemperatur. Die lag im Augenblick bei achtzehn Grad Celsius. Ziemlich genau den gleichen Wert ergab die Messung der Körpertemperatur der Leiche, die der Rechtsmediziner wie üblich rektal vornahm. Das hieß, die Körpertemperatur hatte sich der Umgebungstemperatur angeglichen. Ging man von einer normalen Körpertemperatur von siebenunddreißig Grad aus und berücksichtigte die genannten Faktoren, konnte man nach einer bestimmten Formel errechnen, wie viel Zeit dafür vergangen sein musste. Nach Eintritt des Todes bleibt die Körpertemperatur noch ungefähr zwei Stunden erhalten, danach sinkt sie pro Stunde um etwa ein Grad – zumindest solange keine außergewöhnlichen Witterungsbedingungen herrschen wie in der Antarktis. Diese Formel half hier allerdings nur bedingt, da uns niemand sagen konnte, zu welchem Zeitpunkt die Temperatur der Leiche die der Umgebung erreicht hatte.

Leichenflecken, die sich relativ schnell durch das Absinken des Bluts in den Körpergefäßen bilden was mit der Erdanziehungskraft zu tun hat – und eine blauviolette Färbung aufweisen, fanden sich hauptsächlich auf der Vorderseite. Allerdings waren sie nur schwach ausgeprägt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Tote reichlich Blut verloren hatte. Am Unterbauch löste sich an einigen Stellen bereits die oberste Hautschicht ab – eine Folge von Autolyse und Fäulnis, die auch dazu geführt hatten, dass diese Region deutlich grün verfärbt war. Das ließ ebenfalls Rückschlüsse auf den Todeszeitpunkt zu.

Und dennoch, mehr als eine grobe Schätzung war zunächst nicht drin. Und grob bedeutete, dass die Frau irgendwann zwischen vorgestern und heute Morgen gestorben sein musste. Genaueres würde die Obduktion ergeben. Eine Floskel der Rechtsmediziner, für Ermittler nicht unbedingt hilfreich, aber durchaus verständlich. Ich kannte den Rechtsmediziner, der die Leiche untersuchte, seit Jahren. Ein hagerer Typ, lichtes graues Haar, sehr sympathisch. Für mich eine Koryphäe. Wenn er am Tatort war, machte ich mir nie Sorgen, uns könnte etwas Wichtiges an einer Leiche entgehen. Todeszeitermittlung war eines seiner Spezialgebiete.

Konkreter fiel da schon seine Aussage aus, was zum Tod der Frau geführt haben dürfte. Die konnte er allerdings erst treffen, nachdem er ihren Kopf freigelegt hatte. Kein schöner Anblick, Leichen sehen niemals schön aus, aber diese hier war besonders übel zugerichtet worden. Am augenscheinlichsten waren die Verletzungen an der Kopfschwarte, aus denen das meiste Blut ausgetreten sein musste. Darüber hinaus entdeckte er Petechialblutungen – das sind winzige punktförmige Blutungen – in den Bindehäuten der Augen. Dazu passten die großflächigen Hautvertrocknungen wie schrumpeliges Pergament, fühlt sich auch so an – im vorderen Bereich des Halses. Beides zusammen sprach dafür, dass die Frau zusätzlich gewürgt oder gedrosselt wurde, bevor sie ihr Leben aushauchte.

Wie richtig der Rechtsmediziner mit seinen ersten Erkenntnissen lag, offenbarte sich später bei der Obduktion: Die Frau hatte mindestens fünfundzwanzig Schläge mit einem Hammer abbekommen, fast alle hatten ihren Kopf getroffen. Der Rechtsmediziner analysierte jede einzelne Verletzung akribisch, so dass er hinterher mit ziemlicher Sicherheit sagen konnte, dass der Täter einen gewöhnlichen Haushaltshammer benutzt hatte, durchschnittliche Größe, Gewicht ungefähr fünfhundert Gramm. Damit war das knöcherne Schädeldach zertrümmert worden, an einer Stelle auch der Schädel. Das hätte die Frau selbst dann nicht überlebt, wäre ihr zusätzlich nicht noch der Kehlkopf eingedrückt worden – und zwar mit solcher Gewalt, dass dabei die Hörner ihres Schildknorpels gebrochen waren. Mit bloßen Händen schafft man das kaum.

Ich habe nie Buch geführt, mit wie vielen Leichen ich in den dreiundvierzig Dienstjahren bei der Polizei konfrontiert wurde. Tausend werden es bestimmt gewesen sein, wahrscheinlich mehr. Nicht an alle erinnere ich mich, doch es sind genug, von denen mein Gedächtnis Bilder gespeichert hat. Bei manchen fällt es mir schwer, sie dem entsprechenden Fall zuzuordnen, dafür waren es einfach zu viele. Trotzdem bleiben die Bilder. Einige sind mit der Zeit verblasst, andere dagegen erscheinen so deutlich vor meinem inneren Auge, als hätte ich sie gestern zum ersten Mal gesehen.

Dazu gehören auch jene, die mir von der ersten Leiche in Erinnerung geblieben sind, mit der ich bei der Kripo zu tun bekam. Ich hatte damals gerade beim Kriminaldauerdienst angefangen, als ich eines Tages mit einem Kollegen zu einer ausgebrannten Wohnung geschickt wurde. Die befand sich im zweiten oder dritten Stock eines Mietshauses, nicht die feinste Gegend, irgendwo im Norden der Stadt, linksrheinisch. Am schlimmsten hatten die Flammen in der Küche gewütet, dort war das Feuer allem Anschein nach ausgebrochen. Eine defekte Kochplatte, vermuteten die Brandermittler. Wir waren dorthin beordert worden, weil die Feuerwehrleute in der Küche auf eine tote Frau gestoßen waren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich um die Mieterin, aber genau konnte das niemand sagen, da die Gestalt, die vor uns auf dem Boden lag, im Gesicht völlig verkohlt war. Ich weiß bis heute nicht, was mir in diesem Moment mehr zusetzte – der Anblick verschmorten Menschenfleischs oder dessen Geruch? Genauso wenig entsinne ich mich, was uns eigentlich dazu brachte, die Leiche anzufassen. Ich nehme an, wir wollten sie aus den Trümmern befreien, die der Brand hinterlassen hatte, damit der Bestatter sie abtransportieren konnte. Ich griff ihre Handgelenke, mein Kollege die Fußfesseln. Wir nickten uns kurz zu, als Kommando, dass jeder bereit war, die Leiche anzuheben. Ich sah noch, wie er die beiden Beine hochhievte, wunderte mich im selben Moment aber schon, dass ich so gut wie kein Gewicht spürte. Es knirschte kurz, dann stand ich da und hielt zwei einzelne Arme in den Händen – oder das, was davon übrig geblieben war.

Diese Szene wird mich wohl ewig verfolgen, und das ist nicht die einzige. Ein ganz schwieriges Thema waren für mich immer tote Babys oder Säuglinge, tote Kinder überhaupt. Selbst wenn sie nicht Opfer eines Verbrechens oder eines Unfalls geworden waren, sondern an einer Krankheit oder am plötzlichen Kindstod starben. Was sich oft erst später herausstellte, deswegen mussten wir auch in solchen Fällen ermitteln. Wie oft fehlten mir da die Worte?

Ich wurde schon häufig gefragt, wie ich das ausgehalten habe. Weder bin ich dem Alkohol verfallen, noch habe ich irgendwelche Pillen geschluckt, um schlimme Erinnerungen zu verdrängen. Sagen wir, ich habe es relativ unbeschadet überstanden. Ob das ein besonderes Verdienst ist, weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob man den Umgang mit Leichen wirklich lernen, ob man sich daran gewöhnen kann, wie manche behaupten. Vielleicht hatte ich einfach nur Glück. Oder immer, wenn es besonders hart war, die nötige professionelle Distanz – im Kopf, meine ich. Auf jeden Fall hat es damit zu tun, dass man als Mordermittler Tote anders betrachtet.

Wobei dieses anders schwierig zu erklären ist. Im Zusammenhang mit Leichen von Faszination zu sprechen – darauf kämen die meisten Menschen wohl eher nicht, zumindest wenn man von der nichtpathologischen Spezies unter ihnen ausgeht. Dabei trifft es das in meinem Fall ziemlich gut »morbide Faszination«, so nannte ich es immer. Doch, Leichen faszinierten mich. Nicht unbedingt deren Anblick und schon gar nicht der Geruch, den sie verströmten, besonders wenn man sie erst nach Tagen oder gar Wochen fand. Obwohl man beides auch nicht ausklammern konnte – Geruch und Anblick sind in dem Fall so etwas wie siamesische Zwillinge. Für mich rührte ihre Faszination jedoch vor allem daher, dass sie voller Rätsel steckten. Handelte es sich um einen natürlichen Tod oder hatte jemand nachgeholfen? Wenn ja wer war derjenige? Wann hatte er es getan? Wie? Und schließlich: warum? Ein einziges großes Puzzle lag da vor einem, und oftmals fehlten am Anfang die entscheidenden Teile, ohne die man nicht einmal die Ränder zusammengesetzt bekam.

Zumindest in dem Punkt waren wir diesmal schnell ein Stück weiter. Die Identifizierung der Toten hielt uns nicht lange auf. Zwar fanden wir keine Ausweispapiere, und das Fahrrad vor der Tür allein wäre höchstens ein Hinweis gewesen. Aber da war die Vermutung der beiden Frauen, die uns gerufen hatten. Außerdem steckte an der linken Hand der Toten ein silberner Ring, der innen mit einer Gravur versehen war: »Janne 1966«. Janne konnte gut für Marianne stehen. Noch entscheidender aber war, dass wir unmittelbar neben dem Kopf der Leiche eine goldfarbene Armbanduhr fanden. Zwar fehlten das Glas und der hintere Uhrendeckel, doch das Ziffernblatt und die Zeiger waren heil geblieben. Man konnte erkennen, um welche Marke es sich handelte: ein Schweizer Fabrikat. Durch ihren Beruf kannte Gisela Schmitz viele Menschen, allerdings nur einen, der eine solche Uhr trug – beziehungsweise getragen hatte: Marianne Schellner.

Wenn wir großes Glück hatten, würde uns diese Uhr noch mehr verraten – den Tag nämlich, an dem die Haushaltshilfe getötet worden war, möglicherweise sogar die exakte Uhrzeit. Wenn wir davon ausgingen, dass die Datumsanzeige der Uhr richtig eingestellt gewesen war, als Marianne Schellner sie getragen hatte, dann musste das Laufwerk vor zwei Tagen stehen geblieben sein. Denn auch die Zeiger rührten sich nicht mehr vom Fleck. Sie zeigten genau elf Uhr neunzehn an. Von solchen »Zeugen« träumen Kriminalisten.

Die Stelle, an der Marianne Schellner gefunden wurde, konnte unmöglich zugleich der Ort sein, an dem man sie getötet hatte. Dafür war zu wenig Blut auf dem Boden, fast keins. Der Garten oder ein anderer Platz draußen auf dem Grundstück schienen als Tatort jedoch ebenso unwahrscheinlich. Der Garten war von Nachbarn leicht einzusehen, und auf die Einfahrt neben dem Haus hatte man von der Straße aus freie Sicht. Andererseits hätte es erklärt, warum Marianne Schellners Kleidung dermaßen durchnässt war. An den Tagen zuvor hatte es mehrmals kurze, aber heftige Regenschauer gegeben.

Doch die Lösung wartete woanders – direkt hinter uns. Wir brauchten nur eine Tür zu öffnen, die wenige Schritte entfernt vom Kellerflur abging. Sie war nicht einmal verschlossen, der Schlüssel steckte von außen. Dahinter befand sich ein Raum, in dem links an der Wand zwei Waschmaschinen standen. Daneben war ein Spülbecken befestigt, unter dem ein grün-weiß, längs gestreifter Wasserschlauch lag, den jemand zusammengerollt hatte, nicht besonders sorgfältig. Das obere Ende war mit einem schlichten Messingwasserhahn verbunden, wie sie in vielen Kellern irgendwo aus der Wand ragen. Nichts Auffälliges auf den ersten Blick, aber wann genügte bei dem, was wir machten, schon ein erster Blick?

Bei Ermittlungen wie diesen arbeiteten wir auf mehreren Baustellen gleichzeitig – nicht nur, weil uns die Zeit im Nacken saß. Nach einem Gewaltverbrechen sind oft die ersten vierundzwanzig Stunden entscheidend. Was nicht bedeutet, dass es danach unmöglich wäre, einen Täter zu fassen; die Chancen wachsen aber auch nicht in den Himmel.

Während sich also die Leute von der Spurensicherung den Keller vornahmen, machte sich der Rechtsmediziner in der Gerichtsmedizin mit seinem Sektionsassistenten daran, Marianne Schellners Leiche zu obduzieren.

Es dauerte nicht lange, und wir bekamen die nächsten Puzzleteile in die Hand. Als Erstes bestätigte sich unsere Vermutung, dass der Waschkeller alles andere als clean war. Im Spülbecken, am Gehäuse beider Waschmaschinen, in der Nähe des Abflusses im Boden, selbst an den Wänden fanden sich Rückstände von Blut. Sie waren mit bloßem Auge allerdings nicht zu sehen. Dafür gab es Mittel wie Leukokristallviolett, ein chemischer Kontrastverstärker, der auf die betreffenden Flächen aufgesprüht wurde und durch katalytische Farbreaktionen sogenannte latente Blutspuren sichtbar machte.

Das Zeug wird seit Jahren kaum noch oder gar nicht mehr verwendet, da es hochgradig gesundheitsschädigend sein soll. Und es hatte einen weiteren Nachteil: Blut, das damit in Berührung kam, war für eine DNA-Analyse in der Regel nicht mehr zu gebrauchen, da es die Zellstrukturen schädigt. Schlimmstenfalls entdeckte man auf diese Weise zwar Blut, konnte dann aber nicht nachweisen, dass es vom Opfer, vom Täter oder überhaupt von einem Menschen stammte. (Es gibt Familien aus bestimmten Kulturkreisen, da schlachtet der Hausherr schon mal ein Huhn im Keller – oder sogar ein Schaf – und lässt es über dem Abfluss ausbluten. Solche Blutspuren sind mir nicht nur einmal untergekommen.)

Wir hatten es mit Menschenblut zu tun. Anscheinend hatte der Täter mit dem Wasserschlauch zunächst das Blut von seinem Opfer abgespült – deshalb die nasse Kleidung – und anschließend den kompletten Waschkeller ausgespritzt. Uns half, dass er dabei nicht übermäßig gründlich vorgegangen war. Auf dem Boden unter einer der Waschmaschinen hatte er eine Blutlache übersehen. Das Blut war mittlerweile zwar eingetrocknet, konnte nach einer DNA-Analyse aber eindeutig Marianne Schellner zugeordnet werden. Spätestens da waren wir uns sicher, den Tatort gefunden zu haben. Dass wir trotzdem noch die Treppe im gesamten Haus, jede einzelne Stufe und jeden Zentimeter des Geländers, unter die Lupe nahmen, war einerseits Routine, andererseits eine Reaktion auf die Ergebnisse, die uns aus der Gerichtsmedizin erreichten.

Brachte man unsere Erkenntnisse mit denen des Rechtsmediziners zusammen, kam nämlich auch der Treppenflur als Tatort in Betracht. Demnach war Marianne Schellner bereits im oberen Geschoss des Hauses mit besagtem Hammer attackiert worden. Dort entdeckten wir Blutspritzer, die ähnlich der im Keller verwischt und verwässert und dadurch kaum auszumachen waren. Jemand muss versucht haben, sie mit einem feuchten Tuch zu beseitigen. Marianne Schellners Kopf hatte der Täter an dieser Stelle vermutlich noch nicht verletzt, dafür schienen die Blutanhaftungen zu spärlich. Eher sah es aus, als hätte sie die Schläge mit ihrer rechten Hand abgewehrt. Das hätte zumindest die Wunde auf ihrem Handrücken erklärt. Auf der Flucht vor den Schlägen muss sie die Treppe hinuntergelaufen sein. Warum sie nicht durch die Haustür auf den Hof hinausrannte, blieb allerdings schleierhaft. Hatte sie gehofft, sich im Waschkeller verbarrikadieren zu können?

Dort unten war sie dann entweder infolge weiterer Schläge gestürzt, oder der Angreifer hatte sie zu Boden gerissen. Und was die massiven Verletzungen ihres Kehlkopfs betraf – die muss der Täter mit seinem Knie angerichtet haben. Vermutlich hatte er sein rechtes Knie auf ihren Hals gestemmt und sein gesamtes Körpergewicht darauf verlagert, während er mit dem Hammer weiter ihren Kopf malträtierte, bis sie sich nicht mehr regte.

Ich schildere das hier natürlich im Zeitraffer. In Wirklichkeit vergingen einige Tage, bis wir an diesem Punkt angelangt waren. In dieser Zeit versuchten wir auch, uns einen Überblick über Marianne Schellners Umfeld zu verschaffen. In dem Viertel schien sie beinahe jeder zu kennen, und niemand verlor ein böses Wort über sie, im Gegenteil. Allerdings waren einige Auskünfte mit Vorsicht zu genießen. Gleich mehrere Leute aus der Nachbarschaft behaupteten, die Rentnerin zu einem Zeitpunkt gesehen, ja sogar mit ihr gesprochen zu haben, als sie nachweislich bereits verschwunden war.

Einer von diesen Zeugen meinte zum Beispiel, beobachtet zu haben, wie Marianne Schellner an dem Morgen, als im Hause Schmitz der Umzug stattfand, mit ihrem Rad auf den Hof gefahren sei. Sogar an die Uhrzeit wollte er sich erinnern können: zwischen acht Uhr fünfzig und neun Uhr. Das wusste er angeblich deshalb so genau, weil es kurz darauf heftig zu regnen begonnen habe. Abgesehen davon, dass niemand von denen, die am Umzug beteiligt waren, diese Aussage bestätigte, bewies eine Nachfrage beim Deutschen Wetterdienst in Essen, dass sich der Zeuge vertan hatte. Anhand ihrer Aufzeichnungen konnten die Meteorologen exakt nachvollziehen, wann es in dem betreffenden Gebiet von Köln geregnet hatte – nämlich genau einen Tag davor. Und da war Marianne Schellner tatsächlich noch am Leben.

Ähnlich verhielt es sich mit den Angaben eines achtundsiebzigjährigen Mannes, der Marianne Schellner auf der Straße getroffen und mit ihr wie üblich ein paar Worte gewechselt haben wollte. Darauf konnte man schon deshalb nichts geben, weil derselbe Mann zuvor seiner Frau erzählt hatte, Marianne Schellner sei auf dem Wochenmarkt herumspaziert – und zwar an jenem Nachmittag, als ihre Leiche gefunden wurde.

Aber das war kein neues Phänomen, zumal es sich bei den vermeintlichen Zeugen durch die Bank um Frauen und Männer jenseits der siebzig handelte. Aus Erfahrung wussten wir, dass das Erinnerungsvermögen Menschen in diesem Alter schon mal einen Streich spielte. Besonders bei der zeitlichen Einordnung von Begegnungen mit Leuten, die ihnen häufiger, vielleicht sogar regelmäßig über den Weg liefen.

Inzwischen hatten auch die Zeitungen über den Fall berichtet und dabei nicht unerwähnt gelassen, dass wir – soweit es um eine Spur vom Täter ging – noch im Dunkeln tappten. Auf solche Veröffentlichungen meldeten sich immer welche, manchmal mehr, als uns lieb waren, schließlich musste jeder Hinweis abgearbeitet werden, selbst wenn er einem völlig unbrauchbar erschien. Einige Informationen waren aber tatsächlich hilfreich. So erfuhren wir, dass Marianne Schellner kurz vor ihrem Verschwinden in einem Supermarkt eingekauft hatte. Dabei soll sie von einer Frau begleitet worden sein, bei der es sich der Beschreibung nach um Almuth Benner gehandelt haben könnte. Anschließend müssen sich die beiden zumindest kurz getrennt haben, denn in der Bankfiliale, die sich direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite befand, erschien Marianne Schellner allein.

Ohne dass sie ihr Anliegen vorher telefonisch angekündigt hatte, ließ sie sich fünfzehntausend Mark von ihrem Konto auszahlen. Eine Summe, die mehr als ungewöhnlich für sie war, weshalb die Bankangestellte, die sie seit Jahren kannte, leicht verdutzt reagierte. Während die üblichen Formalitäten abgewickelt wurden, entspann sich zwischen den beiden ein kurzer Dialog. Marianne Schellner erklärte, sie brauche das Geld nicht für sich, sie wolle es jemandem leihen. Daraufhin riet ihr die Frau am Schalter, nur gut darauf zu achten, dass sie die Summe auch ja zurückbekäme. Da müsse sie sich gewiss keine Sorgen machen, erwiderte Marianne Schellner, das Geld sei schließlich für Frau Schmitz, sie wisse schon, die Architektin.

Damit hatten wir zumindest die erste Information, aus der sich ein mögliches Motiv für die Tat ableiten ließ. Wobei uns die Sache nicht unbedingt logisch erschien. Warum sollte sich eine erfolgreiche Architektin von jemandem Geld leihen, vor allem ausgerechnet von ihrer Hausangestellten? Aber vielleicht hatte sich die Bankangestellte nur beim Namen verhört, oder sie brachte etwas durcheinander. Bei den vielen Kunden, mit denen sie täglich zu tun bekam, hätte mich das nicht gewundert. Andererseits: Das Ganze lag nicht einmal eine Woche zurück. Und die Bankangestellte schien eine patente Frau zu sein. Sie machte keineswegs den Eindruck, als wäre sie an irgendeinem Punkt unsicher bei dem, was sie uns erzählte.

Da wir von dem Geld weder in Marianne Schellners Wohnung noch woanders etwas fanden, nicht einen einzigen Schein, mussten wir davon ausgehen, dass ihr Tod damit im Zusammenhang stand. Fragte sich also: Wer wusste, dass sie an diesem Vormittag mit fünfzehntausend Mark in der Tasche herumlief? Sicher, es konnte sie jemand in der Bank beobachtet haben, ein Fremder, der ihr dann bis ins Haus gefolgt war oder sich durch einen Trick Zutritt verschafft hatte. Aber hätte sich ein Fremder die Mühe gemacht, nach der Tat den Waschkeller zu reinigen? Wäre er mit einem Lappen von Treppenabsatz zu Treppenabsatz gelaufen, um zu sehen, ob irgendwo Blutspritzer waren, um diese wegzuwischen? Wohl kaum. So würde höchstens jemand vorgehen, der wusste, dass sich niemand sonst im Haus aufhielt. Das wiederum konnte nur einer sein, der auch darüber informiert war, dass die Familie, die im Erdgeschoss wohnte, verreist war. Und dass deren Putzfrau in dieser Zeit lediglich an zwei bestimmten Tagen in der Woche kam, um ihre Arbeit zu erledigen und die Post aus dem Briefkasten zu nehmen.

Aber würde jemand, der im Haus wohnte oder hier regelmäßig verkehrte, die Leiche einfach so im Keller liegen lassen?

Sich Gisela Schmitz als Mörderin vorzustellen, fiel schwer. Sie hatte Marianne Schellner an dem betreffenden Tag angeblich nicht einmal gesehen, danach auch nicht mehr. Und: Sie schien vom Tod ihrer Haushaltshilfe ehrlich betroffen. Ihre Empörung, nachdem wir sie mit der Aussage der Bankangestellten konfrontiert hatten, wirkte echt. Das müsse ein Missverständnis sein, nur so könne sie sich das erklären. Zu keinem Zeitpunkt habe sie mit Marianne Schellner über ein Darlehen gesprochen.

Fünfzehntausend Mark waren eine stattliche Summe, sie hätten die Architektin aber auch nicht gerettet. Gisela Schmitz steckte viel tiefer im Schlamassel – finanziell gesehen. Die Auftragslage für ihr Büro sah zwar gar nicht so übel aus, doch sie hatte sich mit einem Kredit von drei Millionen Mark völlig übernommen. Ihr Mann steuerte schon länger nichts mehr bei. Er schien trotz seiner guten Stellung chronisch klamm zu sein, jedenfalls gab er das vor.

Ihre Misere offenbarte uns Gisela Schmitz allerdings erst, nachdem wir schon allein darauf gestoßen waren. Bei Fällen wie diesem gehörte es zur Routine, dass man sich von den Personen aus dem näheren Umfeld des Opfers alle greifbaren Informationen über deren finanzielle Verhältnisse beschaffte. Wer von ihnen steckte in der Klemme? Bei wem könnte Geldnot als Motiv infrage kommen?

Gisela Schmitz brachte sich aber auch selbst in Verdacht. Sie konnte uns für die Tatzeit kein wasserdichtes Alibi präsentieren. A w w w V w w A w W w w w w

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Was wir ihr auch vorhielten – für alles präsentierte sie uns eine Ausrede.

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Stimmt, jetzt erinnere sie sich. Unten, vor der Haustür, hätten Frau Schellner und sie einmal gleichzeitig nach demselben Müllsack gegriffen, dabei habe sie der Rentnerin aus Versehen am Unterarm einen Kratzer zugefügt. Davon müsse wohl auch ein bisschen Blut heruntergetropft sein.

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