Über dieses Buch:
Das Frankenreich im späten 8. Jahrhundert. Zunächst sieht alles so aus, als wäre es nur ein harmloser Auftrag für Odo und Lupus. Die Kommissare Karls des Großen sollen einen Bischof aufsuchen, dessen Lebenswandel wenig gottgefällig zu sein scheint. Doch sie kommen zu spät: Der Würdenträger ist ermordet worden. Verdächtigt wird ein jüdischer Kaufmann, der bereits so gut wie verurteilt ist. Während Odo sich einer gefährlichen Liebschaft widmet, kommen Lupus Zweifel an der Schuld des Angeklagten – und mit seinen Ermittlungen löst er eine Lawine aus …
„Die historischen Krimis mit Odo und Lupus bieten einen Einblick in das Leben der Menschen im frühen Mittelalter. Ob auf dem Markt, dem Lehnsgut oder am Hofe Karls des Großen – Robert Gordians Schilderungen sind so anschaulich, dass das Mittelalter lebendig wird. Eine gelungene Mischung aus Kriminalspannung, gepaart mit Geschichte hautnah – amüsant und spannend geschrieben.“ Buch aktuell
Über den Autor:
Robert Gordian, geboren 1938 in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasst er historische Romane und Erzählungen. Robert Gordian lebt in Eichwalde, einem Vorort Berlins. Bei dotbooks erschienen seine historischen Romane rund um Odo und Lupus, die Kommissare Karls des Großen:
Demetrias Rache
Saxnot stirbt nie
Pater Diabolus
Die Witwe
Pilger und Mörder
Tödliche Brautnacht
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Neuausgabe Mai 2013
Copyright © der Originalausgabe 1997 Bleicher Verlag, Gerlingen
Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München
ISBN 978-3-95520-258-3
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Robert Gordian
Pilger und Mörder
Odo und Lupus, Kommissare Karls des Großen
Fünfter Roman
dotbooks
Am Ende dieses eBooks finden Sie ein Personenverzeichnis und in einem Glossar zahlreiche Wort- und Sacherklärungen.
Dramatis personae
Glossar
Dem edlen Volbertus, Prior im Kloster N., sendet sein Vetter Lupus einen aus treuem Herzen kommenden Heilgruß!
Du schreibst mir, mein Lieber, dass du gerade von einer Wallfahrt nach Rom zurückgekehrt bist. So war es also auch Dir vergönnt, die Stadt zu sehen, wo unser Heiliger Vater Hadrian waltet und wo, wie es heißt, Petrus und Paulus, die Apostel des Herrn, und so viele andere das Martyrium erlitten. Ich freue mich, dass deine fromme Seele ein so erquickendes Bad nehmen durfte, erleichtert aber bin ich, weil dieselbe und auch dein Leib keinen Schaden erlitten.
Erinnerst Du Dich noch, wie es mir erging, als ich seinerzeit als Pilger in Rom weilte? Gottloses Gesindel misshandelte mich und raubte mich aus, und ich musste als nackter Bettler, vor den Türen der Kirchen liegend, die Hand ausstrecken. Vielleicht war das eine Prüfung, die der Herr mir auferlegte, und ich muss dafür dankbar sein. Damals war mir jedoch nicht nach Dank zumute. Vielmehr fluchte ich und zürnte ihm, und mehrere Male erlag ich Satans Versuchungen. So verprügelte ich einen Kanoniker, und einmal stahl ich sogar eine goldene Monstranz, die man mir aber wieder abjagte. Als frommer Pilger begann ich, und ich endete als Dieb und Raufbold!
Nun war ich zu jener Zeit noch sehr jung, in einem Alter, da man die ganze Welt herausfordern möchte. Du tatest recht daran, lieber Volbertus, die römische Pilgerfahrt erst im vorgeschrittenen Alter anzutreten. Gefestigt im Glauben, wie Du bist, konnte Dir Satan mit seinen Höllenkünsten nichts mehr anhaben. Ein junger Mönch dagegen, der plötzlich die schützenden Mauern des Klosters verlässt, erliegt allzu leicht den Lockungen des sündigen Lebens. Er ist zu schwach, um sich der hundert Arme zu erwehren, die ihn dorthin ziehen, wo es Geld, Wein, Frauen, Bequemlichkeiten und Vergnügungen gibt. Auch für mich begann damals das Unheil in einer römischen Schänke, wo ich, die Regel des heiligen Benedikt sträflich missachtend, zuviel getrunken hatte.
Noch stärker gefährdet sind auf solchen Pilgerfahrten naturgemäß die Gottgeweihten des weiblichen Geschlechts. Oft ist ihre Tugend ein dünnes Bäumchen, das schon beim ersten Sturm geknickt wird. Wie viele Bräute Christi landeten auf dem Weg nach Rom oder auch dortselbst in Lusthäusern! Wie viele wurden ihrem himmlischen Bräutigam für immer untreu! Eindringlich empfahl unser heiliger Bonifatius dem Erzbischof von Canterbury, eine Synode möge den Weibspersonen und verschleierten Frauen die häufigen Reisen nach Rom verbieten. „Denn viele“, klagte der heilige Mann, „gehen dabei sittlich zugrunde, und wenige kehren unverletzt zurück.“
Auch der Herr Karl, unser großer König, hat befohlen, die Ordensfrauen besser zu überwachen und das Huren und Umherschweifen zu untersagen. Wir Königsboten haben sogar den besonderen Auftrag, den Bischöfen, Äbten und Äbtissinnen diesbezüglich strenge Weisungen zu erteilen.
Wie notwendig und richtig das ist, erfuhren wir erst wieder vor kurzem, auf unserer diesjährigen Reise durch mehrere linksrheinische Grafschaften. Ich werde dir auf diesen Blättern einen ganz ungewöhnlichen Mordfall schildern, in den wir dabei verwickelt wurden und der die benannten Zustände grell beleuchtet. Da Du auf Deiner eigenen Pilgerreise, wie Du anmerkst, manches Absonderliche gesehen und gehört hast, wirst Du dem, was ich mitteile, Glauben schenken, auch wenn es noch so unglaubhaft klingt. Manchmal aber wirst Du von der Lektüre aufsehen und einen Seufzer zum Himmel schicken.
Dies vorausschickend, lieber Volbertus, habe ich noch eine besondere Bitte. Ich weiß, dass Du meine Berichte gern Brüdern Deines Vertrauens zu lesen gibst. Sei diesmal besonders streng bei der Auswahl! Vor allem jüngere Brüder könnten durch die Lektüre verwirrt werden, da sie das, was an einzelnen Orten geschieht, mangels persönlicher Erfahrung leicht unzulässig verallgemeinern würden. Andere wieder, die Strengen und Unduldsamen, könnten Deine und meine Absicht missverstehen, mit solchem Lesestoff auch zu belehren und zu warnen. Vermeide also diese Gefahren!
Aus Vorsicht habe ich, wie immer, in meiner Erzählung die Namen der Orte und Personen geändert. Nur dass wir diesmal wieder in den neustrischen Comitaten tätig waren, kann offen mitgeteilt werden. Es wäre ja ohnehin schon nach wenigen Zeilen zu erraten. Vermutlich wird Dir auch gleich der richtige Name des Bischofs Pappolus einfallen, denn die Kunde von seinem gewaltsamen Ende ist sicher auch bis zu Euch gedrungen. Ich halte mich dennoch an die mir selbst gestellte Regel, das Amtsgeheimnis zumindest der Form nach zu wahren.
Es war Anfang Mai, als wir eines Vormittags – die Glocken läuteten gerade zur Terz – das Tor der bedeutenden Stadt erreichten, deren kupfergedeckte Türme und Hausdächer uns schon seit dem frühen Morgen entgegen geleuchtet hatten. Sie ist der Hauptort des Comitats, das wir als Erstes von dreien auf unserer diesjährigen Reise besuchten. Wie die meisten größeren Städte zwischen Rhein und Loire steht auch diese unter einer Art Doppelherrschaft, die sich der Comes und der Bischof teilen.
Den Comes kannten wir schon. Er hieß Magnulf und war jener alte, knochenmorsche Lebemann, der uns so schmählich im Stich ließ, als wir den Pater Diabolus und seine Mönchsbande jagten. In letzter Zeit hatte der Fiskus kaum noch Steuern und Bußgelder von ihm empfangen, und so wünschte der Herr Kämmerer dringend, wir möchten ihm einmal die Taschen ausklopfen. Ich gestehe, dass uns dieser Auftrag mit Genugtuung erfüllte, denn der edle Magnulf hatte uns damals – in Form eines Beschwerdebriefs an den Herrn König – mit vollen Händen Dreck hinterher geworfen. Nachsicht unsererseits hatte er also nicht zu erwarten. Wir freuten uns schon auf das bestürzte Gesicht des alten Wüstlings bei unserer Ankunft, von der wir ihn absichtlich nicht im Voraus benachrichtigt hatten.
Was den Bischof betraf, so war auch er bei Hof nicht gut angeschrieben. Der Herr Erzkaplan hatte mich seinetwegen zu sich gerufen und mir eine strenge Überprüfung seiner Amtsführung nahegelegt. Es hieß, dieser Pappolus lebe mit einer aus Italien stammenden Kebse, lasse sich die Weihe von Priestern teuer bezahlen und leihe sogar auf Zins. Außerdem predige er nicht nach den kanonischen Texten und erfinde Namen von Engeln, die kirchlich nicht autorisiert seien. Über dies alles sollte ich nun von ihm Rechenschaft fordern.
Nach den ersten Worten, die wir mit einem der Torwächter wechselten, wusste ich allerdings schon, dass sich dieser Teil meines Auftrags erledigt hatte.
„Er ist tot, Vater“, sagte nämlich der Mann, als ich ihn fragte, ob wir den Bischof in der Stadt antreffen würden.
„Tot?“, rief ich. „Aber er war doch noch nicht sehr alt! Ist er an einer Krankheit gestorben?“
„Umgebracht wurde er.“
„Was sagst du da? Wann und wo ist das geschehen?“
„Wann? Vor zwei Tagen. Und wie? Mit einem Messer. In seinem eigenen Haus. Beim Nachtmahl.“
„Und kennt man den Mörder?“
„Man kennt ihn.“
„Wer ist es?“
„Ein Jude. Nennt sich Tobias. Einer aus dem Vicus da unten, der Kaufmannssiedlung.“
„Und wurde der Jude gefasst?“, fragte Odo, mein Amtsgefährte.
„Gefasst und eingesperrt. Gleich nach der Tat. Und gerade jetzt steht er vor seinem Richter, dem Comes.“
„Wie? Gerade jetzt? Wo tagt das Gericht?“
„Folgt der Hauptstraße bis zum Alten Forum der Römer. Dann haltet Euch links. Dort ist es, gleich unter den Säulen, neben der Kirche.“
Natürlich verloren wir keine Zeit. Es war sozusagen ein trauriger Glücksfall, dass wir auf diese Weise gleich Gelegenheit bekamen, an einer Gerichtsversammlung teilzunehmen. Als Kommissare des Königs der Franken sind wir ja hauptsächlich ausgezogen, um die Rechtsverhältnisse zu überprüfen, wo es die meisten Mängel und Missbräuche gibt. Hinzu kam hier, dass das Opfer ein Großer war, ein Bischof unserer heiligen Kirche, gegen den ein Ungläubiger die frevelnde Hand erhoben hatte. Wahrhaftig, das ging uns an!
Mit Getöse, unter Hufegetrappel und Waffengeklirr, hielten wir Einzug. Vorn ritt Odo auf seinem schlanken Grauschimmel Impetus. Die Nase kühn erhoben, schwarzhaarig, schnurrbärtig, das Schwert an der Seite, mit wehendem leuchtendrotem Mantel gab er das passende äußere Bild zu unserem Anspruch, Stellvertreter des Königs zu sein. Klein, rund und etwas weniger eindrucksvoll in meiner Mönchskutte, hielt ich, heftig mit Schenkeln und Waden arbeitend, auf meinem Eselshengst Grisel den Anschluss. Die vier Getreuen unseres Wachtrupps folgten: Helko, der starke blonde Sachse als Anführer; Fulk, der schon graue, doch immer noch Achtung gebietende Eisenfresser mit der flammenden Narbe über der Stirn; die beiden anderen strammen, behelmten, über und über mit Lanzen, Beilen, Schwertern und Dolchen beladenen Männer. Ganz hinten hockte auf unserem Gepäckwagen Rouhfaz, unser Diener und Schreiber, dünn wie ein Faden und kahl wie ein Wurm, schreiend und mit der Gerte sein Pferd peitschend, um nicht zurückzufallen. In einer gewaltigen Staubwolke, die zwischen den Resten des seit dem Rückzug der letzten Cäsaren nicht mehr erneuerten Straßenpflasters aufstieg, preschten wir über die Hauptstraße.
Unser Ritt wurde jäh gestoppt, als wir das Alte Forum erreichten. Es unterbricht die Straße, welche die ganze Stadt durchschneidet, etwa auf halber Länge. Mir war schon aufgefallen, dass unterwegs nur wenige Bewohner der Stadt von unserem geräuschvollen Einzug Kenntnis genommen hatten. Eigentlich waren es nur ein paar Mägde, die vom Brunnen kamen und kreischend sich und den Inhalt ihrer Krüge in Sicherheit brachten. Sonst hatten uns nur Hunde und Spatzen begrüßt.
Die Erklärung lag darin, dass sich fast die gesamte Bevölkerung auf dem Platz drängte, wo die Gerichtsversammlung stattfand. Die Menge stand Kopf an Kopf, und es war völlig unmöglich, für unseren Trupp eine Gasse frei zu bekommen. Notgedrungen saßen wir ab. Ich schlug vor, dass Odo und ich versuchten, zu Fuß bis zu der Kolonnade vorzudringen, wo sich das Hauptgeschehen abspielte.
Mein Freund war einverstanden. Wir übergaben den anderen unsere Reittiere und befahlen ihnen, auf uns zu warten. Mit einem barschen „Platz gemacht – Abgesandte des Königs!“ stieß Odo vor. Ich folgte, die Ellbogen kräftig gebrauchend, in seinem Rücken, und wir begannen, uns zwischen Schultern, Bäuchen und Lenden, die uns nur widerstrebend Raum gaben, hindurch zu zwängen. So gelangten wir immerhin bis zur Mitte des Forums. Jetzt kamen wir auch mit Knüffen und Rippenstößen nicht weiter. Doch konnte man hier alles sehen und hören, und wir beschlossen, stehen zu bleiben und uns erst einmal einen Eindruck zu verschaffen.
Eine Gerichtsversammlung in den galloromanischen Teilen des Reiches, noch dazu auf einem städtischen Platz, hat nicht viel Ähnlichkeit mit den altväterlichen Ritualen auf germanischen Dinghügeln, von denen ich schon mehrmals berichtet habe. Hier wird das Recht nicht unter Eichen und Linden gesucht und man hockt nicht im Gras zwischen Kuhfladen. Wie einst der römische Prokurator hatte der Comes Magnulf unter dem Dach der Kolonnade vor seinem Amtsgebäude Platz genommen. Um seinen Prunksessel drängten Schöffen, Schreiber, Amtsdiener. Auch seine Vasallen und Gefolgsleute waren um ihn versammelt. Man sah Priester und Mönche unter den Säulen und sogar Frauen. Wer hier ein Amt ausübte, zu den Prozessparteien gehörte, dingpflichtig war oder nur aus Neugier herumstand, war schwer auszumachen. Es gab auch keinen Sarg zu Füßen des Richters, nicht einmal ein Leibzeichen des Toten schien vorhanden zu sein. (Später erfuhren wir, dass der Bischof bereits am Vortag beerdigt worden war.) Alles in allem ging es hier also eher römisch als fränkisch zu.
Das Publikum auf dem grünen Dinghügel besteht gewöhnlich nur aus adeligen und freien Männern – hier zwischen den Häusern aus Holz und Stein war alles vertreten: Edelleute und Bauern, Kaufherren, Handwerker unsicheren Standes, Mauren, Juden, vornehme Damen und grobe Marktweiber, Knechte und Bettler. Nebenan auf dem Dach der Bischofskirche hatten sich ein paar Kinder Vorzugsplätze gesichert.
Seit wir den Platz betreten hatten, war eine scharfe, erregte, eifernde Stimme zu hören. Ringsum lauschte ihr alles mit offenen Mündern. Wir verstanden jetzt auch den Sinn der Worte und entdeckten den Mann, der sie ausstieß.
Es war ein kleiner Kerl im Priesterhabit mit einem geröteten, karottenförmigen Schädel, aus dem ein spitzes Kinn und eine noch spitzere Nase hervorstachen. Auch seine Ohren waren spitz wie die eines Ziegenbocks. Er stand drei Schritte neben dem Richterstuhl, wandte sich aber mehr an die Menge als an den Comes. Grimassierend und mit den kurzen Armen rudernd rief er:
„Und warum morden sie, frage ich euch? Die Antwort ist: Weil sie schon immer gemordet haben! Sie müssen morden, sie können nicht anders, die Schurken! Spricht nicht schon die Apostelgeschichte von Verrätern und Mördern? Lehrt nicht bereits der heilige Cyprian, sie hätten den Teufel zum Erzeuger? Begingen sie nicht, wie unser Kirchenvater Origenes feststellt, das abscheulichste Verbrechen gegen den Retter des ganzen Menschengeschlechts, unsern Herrn Jesus Christus? So wie gewisse Tiere schädliches Gift besitzen, lehrt der große Johannes Chrysostomus, ebenso sind sie wie ihre Väter voller Mordlust! Und hört erst einmal, was uns der heilige Augustinus sagt. Er findet kaum Worte für ihre Schändlichkeit. Er sagt, sie sind sauer wie Essig … bitter wie Galle …eine triefäugige Bande … aufgewühlter Dreck …“
„Genug, genug!“, fuhr jetzt der Comes mit seiner uns wohlbekannten knarrenden Stimme dazwischen. „Das reicht, Sallustus. Wir wollen hier nicht das Zeugnis des heiligen Augustinus, sondern dein eigenes hören. Komm endlich zur Sache!“
„Aber ich bin ja bei der Sache, Herr!“, krähte der Kleine. „Wenn dieser Satansknecht, dieser stinkende Auswurf unseren heiligen Bischof Pappolus, eine unvergängliche Zierde der Christenheit, umbrachte, so geschah es aus unersättlichem Blutdurst, aus Mordgier! Diese Gottesmörder gieren nach Christenblut Schon der heilige Ephraim nannte sie …“
„Hast du nicht gehört, Sallustus, was der Comes gesagt hat?“, rief einer der Herren, die neben dem Richterstuhl standen. „Spitz deine Ohren, wenn sie denn noch nicht spitz genug sind!“
Unter den Säulen wurde gelacht und auch in der Menge erhob sich Heiterkeit.
„Sie unterhalten sich anscheinend prächtig“, bemerkte Odo, wobei er einen Blick rundum warf. „Wo steckt er eigentlich, der stinkende Auswurf, der Satansknecht?“
Ja, wo? Es war gar nicht so leicht, den Angeklagten unter den zahlreichen vornehm gewandeten Männern, die den Richterstuhl umstanden, auszumachen.
„Der Graubart dort muss es sein, der wie ein Orientale gekleidet ist“, vermutete ich.
Es war ein rundlicher Mann um die vierzig, in einer langen Tunika, über der er einen ebenso langen, pelzverbrämten Mantel trug. Zwei lebhafte dunkle Augen waren fast alles, was der gelockte Patriarchenbart von seinem Gesicht preisgab.
„Die Anklage hast du im Namen des Presbyteriums vorgebracht“, sagte der Comes ungeduldig. „Nun aber wollen wir wissen, Sallustus, was vorgestern Abend geschah. Was habt ihr beobachtet … du und die anderen Zeugen?“
Der kleine Priester, der beleidigt geschwiegen und seinen Blick zum Himmel gerichtet hatte, als erwartete er von dort oben Lob und Bestätigung, wandte sich seufzend wieder dem Comes zu,
„Wenn es sein muss, will ich noch einmal alles berichten. Der gründlichen Aufklärung halber und damit der Verbrecher gebührend bestraft wird. Es war so. Wir hatten den heiligen Jakobus, den Bruder des Herrn, mit einer Messe geehrt. Darauf begab sich der edle Bischof nach Hause, denn es war Zeit für sein Nachtmahl. Ich ging derweil in den Vicus hinunter zum Kaufmann Brachio, der am Durchfall darnieder lag und das heilige Chrisma verlangte. Ich gab ihm natürlich nur Katechumenenöl, wie es Vorschrift ist.“
„Pappolus setzte sich also zum Mal.“
„Das tat er und sein Koch trug ihm auf, dieser Griffo. Hier ist er …“
Sallustus schob einen plumpen, kraushaarigen Burschen nach vorn, der aufgeregt stotterte: „Ja, ich … ich trug ihm das Nachtmahl auf. „Zuerst Fisch … dann Hase mit Bohnenkraut … als Hauptgericht Eber … hinterher Honiggebäck. Aber das hat er … hat er … hat er nicht angerührt.“
„Er kam nicht dazu, sein einfaches Mahl zu beenden!“, rief Sallustus. „Denn als er gerade beim Hasen war, klopfte es roh und brutal an die Haustür. Der Türhüter öffnete … der hier, Teut!“
Hinter einer der Säulen trat ein blonder Koloss im groben Kittel hervor, der mit Donnerbass sagte:
„Ich hab ihm die Tür geöffnet, ja!“
„Zeig mal auf ihn, damit alle es glauben“, sagte Sallustus. „War’s der da?“
„Der war’s. Wer denn sonst?“ Der Türhüter machte eine Handbewegung in Richtung des Graubarts. „Der Jude da … Tobias.“
„Der kam schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Hab ich Recht?“
„Zum zweiten Mal, ja.“
„Lästig und aufdringlich sind sie. Schmeißfliegen! Hundertmal kann man sie fortjagen …“
„Beim ersten Mal war ja der Herr nicht zu Hause“, sagte der Türhüter. „Also kam er noch einmal wieder, ja.“
„Du ließest ihn also eintreten. Führtest ihn in das Speisezimmer.“
„Das war nicht nötig. Er kannte sich aus. War schon öfter im Hause, ja.“
„Das heißt, du kümmertest dich nicht mehr um ihn. Gingst sogar in die Schänke.“
„Der Herr erlaubte es, ja.“
„Gewöhnlich verschlossest du aber die Haustür.“
„Immer verschloss ich sie, ja. Der Herr hatte selbst einen Schlüssel, ja.“
„Aber diesmal hast du sie offen gelassen. Damit der Jude hinaus gehen konnte, ohne dass sich der ehrwürdige Vater bemühen musste.“
„Daran kann ich mich nicht …“
„Du ließest sie offen! Ich selber habe es später festgestellt.“
„Weiter, weiter, Sallustus!“, knarrte der Comes. „Tobias ging also in das Zimmer, wo Pappolus speiste. War noch jemand dort?“
„Der Koch, der aus- und einging und auftrug … und die da, Ihr kennt sie ja … Romilda.“
Ein junges Weib mit feurigen Augen und blitzenden Zähnen, in eine unziemlich kurze Tunika gezwängt, erhob sich von den Stufen.
„Verflucht“, knurrte Odo, „die hielt sich der heilige Mann wohl gegen die Anfechtung. Um seine Widerstandskraft zu prüfen.“
Ich dachte mir gleich, dass es die aus Italien stammende Kebse war.
„Du warst also auch im Zimmer“, sagte der Comes. „Warst den Bischof zu Diensten, hattest zu tun …“
„Alle Hände voll, Herr“, sagte die Schöne in dem singenden Tonfall ihrer Heimat. „Füße waschen … den Rücken kraulen … Läuse absammeln …“
Unter den Zuhörern wurde gelacht. Der Comes drohte mit seinem Richterstab. „Ruhe! Das wollen wir nicht wissen. Erzähle uns, was du gesehen und gehört hast. Was redeten Pappolus und der Jude?“
Romilda legte den Kopf auf die Seite und schien nachzudenken.
„Ach, nichts Besonderes! Was ältere Männer so reden. Nörgeleien. Dass das Frühjahr so spät begonnen habe … und dass die Häuser im Vicus abgebrannt sind, weil so heftiger Sturm war …“
„Aber sie stritten doch.“
„Zuerst nur ein bisschen. Pappolus … ich meine, der ehrwürdige Vater, beklagte sich, weil der Vogel gestorben war, den ihm Tobias verkauft hatte. Er sagte, der Vogel war krank, aber Tobias sagte: Der hat wohl Zugluft bekommen. Der ehrwürdige Vater war aber der Meinung, er sei betrogen worden. Da sagte Tobias, er habe ihn vorher gewarnt und ihm gesagt, dass Papageien empfindlich sind. Der ehrwürdige Vater war ärgerlich, aber nicht sehr. Er beruhigte sich bald wieder. Ich fand es langweilig und ging in den Garten hinaus. Am liebsten hätte ich mich schlafen gelegt. Aber das konnte ich ja nicht.“
„Warum nicht?“
„Na, ich musste doch warten, bis Tobias fort war. Um Pappo … ich meine, dem ehrwürdigen Vater die Pantoffeln und das Gebetbuch zu bringen.“
Dabei legte die Schamlose eine Hand auf die Hüfte und als wieder einige lachten, lachte sie mit und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Der Comes verlor einen Augenblick lang die Fassung und glotzte sie lüstern an. Da schob Sallustus sie unwirsch beiseite und sagte:
„Wie schon der heilige Athanasius wusste, irren die Juden stets von der Wahrheit ab! Er hatte uns keineswegs darauf hingewiesen, dass der Vogel bald eingehen würde. Kein Wunder, dass sich der ehrwürdige Vater aufregte. Statt von den Mühen des Tages auszuruhen und in der Stille sein Brot zu brechen, musste er sich die verlogenen Ausflüchte dieses Gottesleugners anhören. Um ihn zum Schweigen zu bringen, bot er ihm sogar an, sich zu ihm zu Tisch zu setzen und zuzulangen. Stimmt das, Griffo?“
„Das stimmt, aber …“
„Aber man isst keinen Hasen, man isst kein Schwein … weil der eine ein Wiederkäuer, doch kein Paarzeher ist, das andere aber ein Paarzeher, doch kein Wiederkäuer. Und man ärgert sich über den heiligen Bischof, weil der das alles mit Genuss verzehrt und trotzdem in Gottes Gnade ist!. Immer mehr gerät man in Zorn …“
„Schon gut, Sallustus!“, knarrte der Comes. „Schweig jetzt, du warst ja gar nicht zugegen. Wer war überhaupt noch dabei? Der Koch?“
„Nur … nur bis zum Honiggebäck, dann bin ich … bin ich schlafen gegangen“, stotterte Griffo.
„Aber als du in deiner Kammer warst, hast du noch Streit gehört.“
„Ja, sie … sie schrien … schrien sich an, und einmal … einmal hat es gepoltert.“
„Und du … als du im Garten warst …hast du es auch gehört?“, fragte der Comes Romilda.
„Ja, es war schlimm. Ich saß dort auf einer Bank und wollte den Abend genießen. Doch daraus wurde nichts.“
„Hast du verstanden, was sie sagten?“
„Nein …“
„Welcher von den beiden schrie am lautesten?“
„Tobias natürlich. Pappo … ich meine, der ehrwürdige Vater wehrte sich nur, so gut er konnte.“
„Und auch das Poltern hast du gehört?“
„Ja, und ich hatte schreckliche Angst. Was sollte ich tun? Ich war ja allein.“
Mir entging nicht, dass Griffo ihr einen spöttischen Blick zuwarf. Romilda nahm aber davon keine Notiz. Obwohl sie ihre Angst beschwor, lächelte sie und zog dabei immer wieder die Tunika glatt. Das eitle Geschöpf genoss es, dort oben zu stehen, als Zeugin in einem Mordprozess, und von der Menge begafft zu werden.
„Nun denn, so wollen wir jetzt den Tobias selbst fragen“, entschied der Comes. „Komm her und gib Antwort! Warum gingst du gleich zweimal an diesem Tag zum Bischof Pappolus? Was war dein Anliegen?“
Der Jude hatte bis jetzt die Verhandlung mit der Beherrschung eines stoischen Philosophen verfolgt. Nun trat er gemessen zwei Schritte vor und verneigte sich gegen den Comes.
„Erlaubt, Herr Graf“, sagte er mit einer hohen Stimme, die in seltsamem Gegensatz zu seiner schwergewichtigen Erscheinung stand, „es war die Not, die mich zu ihm führte. Die Schiffe liegen unten am Fluss, für uns Kaufleute ist es höchste Zeit. Das Eis schmolz dieses Jahr spät, wir sind im Verzug. Die Segler im Hafen von Marseille werden nicht auf uns warten. Wie aber, edler, gütiger Herr, soll ich aus Ägypten und Arabien neue Waren herbei schaffen, wenn ich nicht pralle Beutel voll Geld mit mir bringen? Werden sie mir dort feine Tücher, Glas, Gewürze und Duftstoffe verkaufen – alles, was die Edlen und ihre Damen hier schätzen und lieben –, wenn ich nicht habe, was sie dafür begehren: Denare, Solidi, Mancusen, Silber und Gold? Doch leider … ich habe mehr Schuldbelege als Geld. Vieles, was ich im Herbst geliefert habe, ist noch nicht bezahlt. Dabei bin ich den ganzen Winter lang herum gelaufen, bin vor einigen Herren – Ihr wisst es – sogar auf die Knie gefallen. Seht … hier ist aufgeschrieben, was mir der edle Herr Pappolus schuldig war …“
Der Jude zog ein zusammengerolltes Pergament aus der Tasche, löste das Bändchen und hielt das Blatt dem Comes unter die Augen.
„Zwanzig Solidi für Seidengewänder … fünfunddreißig für Tafelgeschirr … zehn für einen Teppich … hier habt Ihr ein Schwert, ein Kohlebecken, einen zwölfarmigen Leuchter, den seltenen Vogel, acht Fässer septimanischen Wein …“
„Und für das alles war er dir noch die Bezahlung schuldig?“, fragte Herr Magnus in ungläubigem Tonfall.
„Für alles!“, bestätigte Tobias. „Es sind genau zweihundertfünfzehn Solidi. Er sagte mir jedes Mal, er warte noch auf die Einkünfte aus seinen burgundischen Gütern. Ich drängte, ich mahnte. Die Zeit der Ausfahrt kam näher. Vor zwei Tagen ging ich noch einmal hin, doch er war nicht zu Hause. Da versuchte ich es am selben Abend ein zweites Mal …“
„Und du wurdest empfangen und konntest dein Anliegen vorbringen“, sagte der Comes und starrte den Juden düster an. „Aber statt dies demütig und achtungsvoll zu tun, verlorst du die Beherrschung!“
„Ich habe ihn nicht getötet, Herr!“, rief der Kaufmann. „Warum hätte ich so etwas tun sollen?“
„Du bekamst doch auch diesmal kein Geld.“
„Aber was hätte es für einen Sinn gehabt …“
„Gestehe, dass du sehr zornig wurdest! Romilda und der Koch haben gehört, wie du schriest und schimpftest.“
„Ich habe gebeten und gefleht!“
„Vielleicht auch ein bisschen gedroht?“
„Gedroht? Wie hätte ich einem so mächtigen Herrn denn drohen können? Ich habe ihm nur gesagt, ich könne nun nicht mehr länger warten … müsse mein Anliegen vor den Richter bringen … vor Euch, den Vertreter des Königs. Der Herr König, Beschützer der Kaufleute und auch der Leute meines Volkes, sagte ich, werde mir zu meinem Recht verhelfen.“
„Und was antwortete dir der edle Pappolus?“
Tobias zögerte einen Augenblick. Ich hatte den Eindruck, es sei ihm peinlich, die Antwort des Bischofs wiederzugeben.
„Nun? Nun?“
„Er hatte schon sehr viel Wein getrunken. Vielleicht war es auch nicht ganz ernst gemeint.“
„Was sagte er‚“
„Er sagte, was immer ich unternehme … er werde mir überhaupt nichts bezahlen.“
„Nichts?“
„Er sei zu der Ansicht gekommen, sagte er, dass es gerecht sei, wenn ein Jude einem Bischof seine Ware umsonst gebe. Er wolle deshalb die zweihundertfünfzehn Solidi als Wergeld betrachten.“
„Als Wergeld?“
„Für den Tod des christlichen Heilands. Zu zahlen an dessen legitime Nachkommen, die Herren der Kirche.“
„Doch damit warst du nicht einverstanden.“
„Wie konnte ich! War denn das ausgemacht? Soll ich, ein unbescholtener Kaufmann, Wergeld zahlen für einen Mann, der vor mehr als sieben Jahrhunderten getötet wurde?“
Diese – wie man zugeben muss – berechtigte Frage – erregte unter den Zuhörern auf dem Platz wieder Heiterkeit. Da die hohe und eher schwache Stimme des Tobias nur die in der Nähe Stehenden erreichte, gaben sie die Worte nach hinten weiter, wo man sie wiederum weitersagte, und so setzte sich das Gelächter wellenförmig über den ganzen Platz fort.
Sallustus schrie etwas in die Menge, aber der Comes schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Er wandte sich wieder an den Juden.
„Du beharrtest also auf deiner Forderung.“
„Konnte ich anders, Herr?“
„Nun wurdest du aber allmählich wütend.“
„Nicht ich. Herr Pappolus wurde wütend. Er warf mir sogar die Knochen seines Mahls an den Kopf. Davon war das Gepolter zu hören.“
„Da suchtest du dich zu wehren und erwischtest das Messer.“
„Nein! Ich wich nach der Tür zurück, denn ich sah ein, dass ich nichts mehr erreichen würde. Ich wollte gehen.“
„Doch du bliebst!“
„Er rief mich zurück. Herr Pappolus war mal Regen, mal Sonne. Plötzlich sprach er wieder ganz sanft zu mir. Er sagte: ‚Du tust mir leid, Jude, weil du verdammt bist. Deshalb will ich barmherzig sein und auf das Wergeld für unsern Herrn Jesus verzichten. Nicht von mir gehen sollst du auch, ohne zuvor eine milde Gabe empfangen zu haben. Bei diesen Worten goss er den letzten Tropfen Wein aus der Kanne in seinen Becher, schob mir die Kanne zu und sagte: ‚Nimm sie!“ und aus den geleerten Schüsseln nahm er drei Löffel und sagte: ‚Auch die. Nimm sie hin und verschwinde!“
„Du behauptest noch immer, dass er dir selbst die silberne Kanne und die drei goldenen Löffel gab, die wir bei dir gefunden haben?“
„Ja, denn es war so.“
Der kleine Priester rief „Lüge!“ und stieß ein höhnisches Lachen aus.
„Ich vermute, Tobias“, sagte der Comes, „du hattest jetzt nur noch eines im Sinn: diese ‚Geschenke‘ rasch fortzubringen.“
„Sollte ich zögern? Es war dies zwar nur ein Bruchteil dessen, was mir zustand, aber immerhin mehr als nichts. Ich selbst hatte ihm diese Stücke verkauft, aber schon vor längerer Zeit. So nahm ich sie jetzt anstelle des Geldes.“
„Aber um sicher zu gehen, dass er es sich nicht anders überlegte, ergriffst du ein Messer und stießest es ihm in den Rücken.“
„Nein, nein!“, rief der Jude. „Warum denn? So war es nicht! Ich zog mich zurück, habe ihn nicht angerührt. Zuvor nahm ich aber noch einen Griffel und einen Kodex, der da herum lag, und schrieb eine Quittung.“
„Das hast du dir hinterher ausgedacht. Man hätte den Kodex finden müssen.“
„Jemand muss ihn entwendet haben.“
„Ha!“, schrie Sallustus. „Beschuldigst du mich, Jude?“
„Ich beschuldige niemanden, nur einen mir Unbekannten.“
„Ich habe keinen Kodex, dafür aber einen Leichnam gefunden!“
„Das kann ich mir nicht erklären.“
„Und warum hattest du es plötzlich so eilig?“, fragte der Comes.
„Er hatte doch zu mir gesagt: ‚Verschwinde!‘ Jetzt winkte er wieder, ich solle gehen. Solange ich bei ihm war, hatte er gegessen und getrunken … nun war er schläfrig geworden. Sein Kopf sank ihm auf die Brust. Ich verbeugte mich also und trat hinaus in die Halle. Als ich aber die Tür öffnen wollte, bemerkte ich, dass sie verschlossen war.“
„Sie war offen!“, fuhr wieder Sallustus dazwischen. „Und hätte er ein reines Gewissen gehabt, wäre er durch die Tür hinaus auf das Forum gegangen und hätte den heiligen Bischof gepriesen … für seine Güte und seine Großzügigkeit. Was aber tat er statt dessen? Er schlich davon! Er verdrückte sich durch die Hinterpforte. Er floh!“
Tobias gab heftige Zeichen des Widerspruchs, setzte auch zu einer Entgegnung an, aber der kleine Priester war jetzt im Schwung. Seine Stimme erhob sich wie eine Kriegstrompete über das Gezirp einer Grille.
„Ich sage Euch jetzt, wie es wirklich war, Herr Graf. Der Herr Bischof hat endlich genug von dem lästigen Gast und fordert ihn auf zu verschwinden. Vielleicht sagt er: ‚Komm morgen noch einmal wieder!‘ Vielleicht aber auch nur: ‚Geh zur Hölle!‘ Doch der Jude hat sich nun einmal vorgenommen, nicht von der Stelle zu weichen. Er drängt, er droht, er wird unverschämt. Der edle Herr Pappolus sieht sich nach Hilfe um. Er ist allein, keiner der Hausgenossen ist bei ihm. In seiner Verzweiflung nimmt er die ersten besten Wurfgeschosse, die abgenagten Knochen des Bratens. Mit dem Ruf „Weiche, Satanas!“ schleudert er sie nach seinem Bedränger. Der aber denkt auch jetzt nicht daran zu weichen. Sein gieriger Blick hat längst die Kostbarkeiten auf dem Tisch des Bischofs erspäht: eine silberne Kanne und goldene Löffel. Sein Entschluss ist gefasst – er greift zu. Der heilige Mann will ihn daran hindern. Da packt der Unhold das Messer und sticht ihn kaltblütig nieder. Jetzt heißt es. Nur fort! Natürlich nicht durch die Haustür. Noch ist es hell, der Platz ist belebt. Man könnte auf ihn aufmerksam werden: wie er davonschleicht, unsteten Blickes, das Raubgut unter dem Mantel versteckt. Zu seinem Glück weiß er im Hause Bescheid. Es gibt eine Gartenpforte, die auf die schmale, stille Gasse hinaus führt. Er eilt durch den Garten, entriegelt die Pforte, tritt auf die Gasse hinaus. Da erstarrt er plötzlich zur Salzsäule. Jemand kommt ihm entgegen – ich selbst bin es! Ich kehre gerade von meinem Kranken zurück, habe den kürzesten Weg durch die Gasse genommen. Trotz des Schrecks bewahrt er mit Hilfe des Teufels die Ruhe. Grüßt und buckelt, drückt sich an mir vorbei und macht, dass er fort kommt. Natürlich packt mich sofort der Argwohn. Ich trete durch die offen gebliebene Gartenpforte. Da ich mich frage, warum sich der Jude durch den Hinterausgang davon stiehlt, eile ich durch die Halle nach der Haustür – und siehe da! Sie ist unverschlossen! Eine schreckliche Ahnung steigt in mir hoch. Die Tür des Speisezimmers ist angelehnt. Ich trete ein. Welch ein Anblick! Der Tisch verwüstet, der ehrwürdige Vater zusammengesunken auf einem Stuhl, das Messer im Rücken, blutüberströmt …“
Sallustus griff sich ans Herz, verdrehte die Augen und wankte. Aber Teut, der hinter ihm stand, packte ihn mit einer Faust am Gewand und hinderte ihn, in Ohnmacht zu fallen.
Tobias benutzte den günstigen Augenblick, um wieder das Wort zu nehmen.
„Aber so war es nicht, Herr Graf! Als ich fortging, war der edle Herr noch am Leben. Und was die Haustür betrifft – sie war verschlossen! Ich ging noch einmal ins Speisezimmer zurück, um Herrn Pappolus zu bitten, dass man mir öffne … aber er war schon fest eingeschlafen. Da kam ich auf den Gedanken, durch den Garten … über die Gasse …“
„Die Tür war offen!“, schrie Sallustus. „Dieser friesische Trunkenbold von Türsteher hatte sie aus Versehen offen gelassen. Wenn Ihr nur zehnmal Luft holt, Herr, braucht Ihr genau die Zeit die ich brauchte, um von der Gartenpforte, wo ich den Juden fliehen sah, in die Halle und an die Tür zu gelangen. Sollte der angeblich nur schlafende Bischof, der Einzige, der noch einen Schlüssel besaß, sich inzwischen erhoben – zur Tür begeben – diese aufgeschlossen und Luft geschöpft – den Schlüssel zurück an den Gürtel gehängt – sich wieder ins Speisezimmer verfügt – und sich dort ein Messer genommen und selbst in den Rücken gestoßen haben? Wollt Ihr an einen solchen Teufelsspuk glauben? Wollt Ihr Euch das von einem weismachen lassen, der zu dem Volk von Lügnern gehört? Zu Leuten, die der heilige Hilarius von Poitiers ein Schlangengezücht und Knechte der Sünde nannte? Die der heilige Augustinus als neunundneunzigmal schlechter als jeden anderen Menschen bezeichnet und die …“
„Aber ich habe es nicht getan!“ Die helle Stimme des Tobias wurde jetzt schrill. „Wenn ich so schlecht sein soll, dann beweist es doch! Heißt es nicht auch bei euch Christen, man solle nicht leichtfertig falsches Zeugnis reden? Dieser da redet falsches Zeugnis! Hat er gesehen, wie ich mordete? Waren nicht noch andere im Haus, die es tun konnten? Und konnte er es nicht selber tun, als er hinein ging und Herrn Pappolus friedlich schlummernd auf seinem Stuhl sah? Vielleicht hatte er einen Grund …“
Weiter kam er nicht. Sallustus stieß einen Entrüstungsschrei aus und wollte sich auf ihn stürzen. Teut, Griffo und zwei Schöffen hatten Mühe, ihn zurück zu halten. Auch andere Herren unter den Säulen empörten sich über den Angeklagten, der sich erfrechte, von der Verteidigung zum Angriff überzugehen. Einige riefen, es sei nun genug, man wisse alles und der Comes solle das Urteil verkünden.