INHALT

Einleitung: »Frau Löw läuft um die Welt«

Laufend und forschend um die Welt

Wenn die Polizei dir zuruft, dass du ein Held bist – der New York Marathon

Drachen und der Papst: meine Läufe in Polen

An der Themse, an der Seine und anderen Flüssen

Als in Sarajevo der Krieg plötzlich ganz nah war

Israel: Zwischen Heiliger Stadt, Morgenlauf am Strand und der Entdeckung der Wüste

Krisen: Hinfallen, aufstehen, schütteln, weitermachen!

Israel, die Zweite: Wie ich von Tel Aviv nach Jerusalem laufen wollte, aber nicht konnte

Krisen gehören dazu: Es tat weh in Innsbruck

»Sie haben ja den größten Teil Ihres körperlich aktiven Lebens hinter sich«

Vom Scheitern: Did not finish beim Transalpine Run mal zwei

Nach dem Schütteln weitermachen: der Florenz Marathon

Was der Piriformis mit meiner Doktorarbeit zu tun hat

Landschaften und Emotionen

Ein Fernwanderweg ist halt lang: 100 Kilometer auf Menorca

Die Entdeckung der Langsamkeit

Grenzerfahrung über dem Polarkreis

Träume sind dazu da, sie sich zu erfüllen: Ab in die Wüste!

Namibia: Von kaputten Füßen, epischen Landschaften und großen Emotionen

Wo bitte geht es zum nächsten Abenteuer?

Immer bleibt die Natur – eine Reise durch Sambia

Menschen und Begegnungen

Marokko: Wie uns der alte Mann mit dem Esel den Weg zeigen musste

… und wie wir dann direkt nochmal wiederkommen mussten

Die Kinder in Mosambik oder: Wie ich 220 Kilometer lang jeden grüßte

Mit dem Lehrer aus Kanada im heiligen Schrein in Kyoto

Kathrine Switzer und der Women’s Marathon in Palma de Mallorca

Lauftreffs, Camps und noch viel wichtigere Begegnungen

Eine verschworene Gemeinschaft im Reisfeld: das Ultra ASIA Race in Vietnam

Die Sache mit dem Wetter in der Mongolei

Epilog: Wie lang sind eigentlich 520 Kilometer?

Dank

 

»Frau Löw läuft um die Welt.« Mein Lieblingssatz. Gesagt hat ihn mein Hausarzt. Ich saß wieder einmal in seinem Sprechzimmer, er sollte mir Atteste unterschreiben, die bezeugen, dass keinerlei gesundheitliche Bedenken gegen meinen Start bei einem mehrtägigen Etappenrennen irgendwo auf der Welt bestehen. Genau genommen waren zwei dieser Wettkämpfe in Planung, zwei Bescheinigungen zu unterzeichnen. Mit uns im Sprechzimmer saß eine Medizinstudentin, die bei ihm hospitierte und die irritiert schaute, als ich etwas von »erst Vietnam, dann Mongolei« murmelte und hoffte, mein Arzt würde nicht den Kopf schütteln und mich ermahnen, doch erst den ersten Ultralauf gesund zu beenden und dann mit dem zweiten Attest wiederzukommen. Stattdessen schaute er in das fragende Gesicht der Studentin, blickte hinunter, unterschrieb beide Zettel und sagte dabei nahezu beiläufig zu ihr: »Frau Löw läuft um die Welt.«

So ist es, genau so, und ausgerechnet mein Arzt bringt es so wunderbar auf den Punkt. Das hat mir gefallen, zumal mir Ärzte in meinem Leben auch schon andere Dinge gesagt haben, abschreckende und nicht gerade motivierende. Aber davon später.

Nun heißt es also: »Frau Löw läuft um die Welt.« Wenn mir das früher mal jemand gesagt hätte … Reisen, ja, das war schon immer meins. Direkt nach dem Abi war ich in Indien, Nepal und China unterwegs, mit meinen Eltern habe ich in dieser Zeit diverse mehrwöchige Touren durch die USA unternommen. Jahre später hat es mich nach Afrika gezogen, bin ich nach Uganda, Sambia und Malawi gereist. Die Sehnsucht nach Afrika ist geblieben, ganz stark. Reisen immer schon gern, aber laufen? Wirklich nicht! In meiner Jugend habe ich Basketball gespielt, recht gut sogar, unser Vereinsteam war mal Deutscher Vizemeister, mit der Schulmannschaft haben wir sogar die Deutsche Meisterschaft gewonnen. In der Saisonvorbereitung sollten wir Kondition aufbauen, und unser Trainer hat uns dafür durch einen Wald in meiner Geburtsstadt Hagen gescheucht. Ich habe es aus tiefstem Herzen gehasst, so richtig gehasst. Darüber muss ich heute immer lachen, wenn ich meine Eltern besuche und durch denselben Wald wie damals laufe und es liebe. So richtig aus tiefstem Herzen.

Zwar laufe ich auch jetzt nicht am Stück um die Welt, aber ich möchte mir die Welt erlaufen, so viel von der Welt im Laufschritt erkunden, wie es nur möglich ist. Ich bin eine Reisende, eine Welten-bummlerin. Und wenn ich auch manchmal über zu viele Dienstreisen und den damit verbundenen Stress klage, so kann ich es doch nicht leugnen: Ich sauge Neues und Fremdes auf, ich will neue Länder und Kulturen entdecken, Menschen treffen und kennenlernen.

Ich reise und ich laufe. Meist verbinde ich beides. Dann bin ich glücklich. Denn das bin ich, genau das. Eine laufende Reisende. Oder eine reisende Läuferin. Wenn ich tagelang durch ferne Weiten und grandiose Landschaften laufe, bedeutet das für mich Abenteuer, ich erlebe dabei ein sehr intensives Gefühl von Freiheit. Und wenn ich morgens vor einer Konferenz eine Runde durch London, Prag oder Budapest laufe, dann erfahre ich eine Stadt ganz anders als meine Kollegen, lerne neue Winkel und Ecken kennen und gehöre fast ein bisschen dazu: Mit mir sind die Einheimischen unterwegs, ich tauche in ihre Welt ein, bin keine Touristin, sondern auch eine, die vor der Arbeit noch ihre Laufrunde absolviert.

Ich bin Historikerin. Ich interessiere mich schon von Berufs wegen für die Geschichte der Orte, an die ich reise und an denen ich laufe. Vor manch einem Etappenrennen habe ich mehr Bücher über und aus dem jeweiligen Land angeschafft, als ich dann tatsächlich lesen kann. Man sieht nur, was man weiß. Das stimmt wahrscheinlich nicht immer, aber es geht in die richtige Richtung. Ich möchte über Land und Leute etwas wissen, um dann vor Ort noch viel mehr zu erfahren und mich Land, Leuten und Landschaften mit allen Sinnen anzunähern. Ich bin von einer tiefen inneren Neugier getrieben, freue mich bei meinen Läufen und Reisen auf Begegnungen, die Teil meiner persönlichen Geschichte werden.

Einmal saß ich im Flugzeug auf dem Weg zu einem Etappenlauf und zückte meinen Reiseführer. Endlich hatte ich Zeit, in Ruhe über die Gegend zu lesen, in der ich in wenigen Tagen laufen würde, über die Menschen, welche Pflanzen es dort gab und welche Tiere. Schräg hinter mir saßen Läufer, mit denen ich gemeinsam unterwegs war. Und aus dieser Richtung erscholl ein Ruf durch das Flugzeug: »Streber!« Ich musste lachen, und ich habe mich gewundert. Noch mehr lachen musste ich dann allerdings, als der »Streber« rufende Läufer später während des Rennens immer verschiedene Dinge von mir wissen wollte, weil er immer neugieriger wurde, während er durchs Land lief. Neugierde ist gut, finde ich, sie öffnet den Blick.

Es gibt seltsame und berührende Begegnungen auf meinem Lebenslauf. So das verrückte Zusammentreffen, wenn die weiße, schmutzige und stinkende Frau mit dem schweren Rucksack durch die afrikanische Mittagshitze läuft und die schwarzen Frauen zuerst nur ungläubig schauen und dann in lautes Gelächter ausbrechen. Und wir lachen zusammen und winken uns zu, und plötzlich ist da eine Verbundenheit, die mich sehr bewegt. Oder der alte, leicht verschrumpelte Mann in Ostpolen, der den Kopf schüttelt, als er mich bei meinem frühen und einsamen Morgenlauf beobachtet, und fragt: »Mögen Sie etwa dieses, dieses … Joggen?« Schon mal mit einem kanadischen Lehrer durch eine Tempelanlage im japanischen Kyoto gelaufen? Ich schon! Abklatschen mit kleinen Kindern überall auf der Welt ist ein Fest, öffnet mir geradezu das Herz.

Diese Erfahrungen beeinflussen mein Leben. Ohnehin hat Laufen, insbesondere das Ultralaufen, sehr viel mit dem Leben zu tun: Es kann wahnsinnig aufregend sein, ist aber auch sehr anstrengend. Nicht immer läuft alles glatt, oft muss man kämpfen und es schmerzt, aber es gibt auch Momente puren Glücks und das Gefühl, absolut mit sich im Reinen zu sein. Und Ausdauer und Willensstärke, ja, die braucht man in vielen Phasen des Lebens genauso wie während eines langen Laufs. Du lernst, dass dein Körper so viel mehr aushält, dass du so viel mehr schaffst, als du glauben kannst oder hoffen magst. Laufen ist eine Blaupause für viele Bereiche.

Ich erzähle in diesem Buch von meinem Lebenslauf, von Reisen und Begegnungen. Es geht um lachende Kinder in kleinen Dörfern im afrikanischen Busch und um menschenleere, endlose Weiten in der Wüste. Es geht um Sehnsucht, Freiheit und Glück, um Freundschaften und lange Läufe nur mit mir selbst. In manchen dieser Läufe nehme ich eine Auszeit von der Welt, von meiner sonstigen Welt, und tauche ganz tief ein in das Abenteuer. Es geht auch um kurze Läufe in spannenden Städten, die ich unternehme, während meine Kollegen noch schlafen, und die mich die Orte meiner Dienstreisen zumindest ein bisschen kennenlernen lassen. Es geht darum, wie mich sogar Läufe, die weh tun, intensiver leben lassen, und damit auch darum, warum ich Dinge mache, die andere möglicherweise als Qual empfinden würden – und daraus auch noch eine enorme Kraft schöpfe. Mit jedem Schritt durch die Welt verändert sich mein Blick, meine Perspektive; das geht jedoch viel langsamer, als wenn ich im Auto oder Zug durch die Landschaft oder eine Stadt fahren würde. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Geist und Seele mitkommen, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Das gefällt mir. Darum geht es.

Dieses Buch will Lust darauf machen, für das ganz besondere und intensive Erleben auch mal die persönliche Komfortzone zu verlassen. Denn außerhalb dieser Komfortzone wird es so unglaublich spannend. Und es möchte Mut machen, sich einfach zu trauen.

 

New York City, im November 2015. Nur noch wenige hundert Meter bis zum Ziel des New York Marathons. Gleich biege ich wieder rechts in den Central Park ein, und dann bin ich fast da. An der Ecke spielt eine Live-Band, laut und gut, das höre ich schon aus der Ferne. Und dann, ausgerechnet kurz vor meinem Zieleinlauf beim New York Marathon, dem Marathon, von dem ich immer geträumt habe, spielen sie »Born to Run« von Bruce Springsteen. Ich habe eine Gänsehaut, und mir kommen die Tränen. Mit wässrigen Augen laufe ich weiter, den Boss im Ohr, vermutlich seltsam entrückt vor mich hin lächelnd. Und so überquere ich auch die Ziellinie.

Wie in einem Kaleidoskop ist in diesem Marathon vieles konzentriert, was meinen Lebenslauf ausmacht: Läufe auf Reisen, das unbedingte Verlangen, mir meine Träume zu erfüllen, die Neugier auf Fremdes und die große Lust an allem Verrückten. Bis zwei Tage vor dem Marathon war ich dienstlich auf einem Workshop in Washington, also ohnehin an der Ostküste der USA. Nur eine Busfahrt entfernt von New York, der Stadt, die ich so liebe, in der eine meiner besten Freundinnen lebt. Gern und halbwegs regelmäßig besuche ich Liena, die aus Riga stammt, mit der ich in Warschau zusammengewohnt habe und die nun mit Ehemann, drei Kindern und aktuell zwei Hunden in Brooklyn lebt.

Seit ich meinen ersten kleinen Laufwettkampf bestritten habe, 2006 im Team der Universität Gießen beim Firmenlauf in Frankfurt, habe ich davon geträumt, einmal durch die Häuserschluchten in Manhattan zu laufen. Damals war die Marathondistanz für mich jedoch weit jenseits des Vorstellbaren. Der Firmenlauf hatte etwa sechs Kilometer. Aber träumen darf man ja.

Immer wieder war ich seitdem auch dienstlich in New York, habe in verschiedenen Archiven im Center for Jewish History in Manhattan recherchiert und bin jeweils morgens eine kleine Runde im Prospect Park in Brooklyn gelaufen. In diesen Momenten habe ich mich immer gefühlt wie eine waschechte New Yorkerin: Morning Run in Brooklyn, Frühstück mit Familie, dann mit der Subway nach Manhattan, aussteigen am Union Square und ins Archiv zur Arbeit. Mittagspause zwischen wichtig aussehenden, smarten Typen, nach dem Schließen des Archivs vielleicht noch ein Bier oder ein Besuch in der Buchhandlung am Union Square. Einmal hatte ich das Glück, dass dort Paul Auster, einer meiner Lieblingsautoren, aus einem seiner Bücher gelesen hat. Im Publikum saß auch seine Frau Siri Hustvedt, auch ihre Bücher habe ich verschlungen. Und ich mittendrin! Das hat sich immer alles so unglaublich lässig angefühlt. New York!

Mein Beruf bringt sehr viele Reisen mit sich. Für mich ist das Fluch und Segen zugleich. Zum Glück überwiegt das Positive: Auch wenn ich mich mitunter gestresst fühle, gern mal eine längere Phase ganz in Ruhe zu Hause bleiben würde, ohne zu koordinieren, wann ich eigentlich am besten meine Wäsche wasche – am Ende des Tages bin ich doch in meinem Innersten eine Reisende. Ich möchte die Welt sehen. Und so schiebe ich oftmals zwischen zwei Dienstreisen auch noch einen privaten Wochenendtrip in die Berge, oder ich nehme noch ein feines Laufevent irgendwo auf der Welt mit, auch wenn manch einer darüber vermutlich nur noch den Kopf schüttelt.

Zwar ist es bei vielen meiner Dienstreisen so, dass der Zeitplan sehr eng ist und damit kaum Zeit für ausgiebige Entdeckungstouren bleibt. Ich nehme aber immer meine Laufsachen mit, damit ich an jedem Ort dieser Welt zumindest eine kurze Sightseeing-Runde einbauen kann. Meist morgens früh, auch wenn mich das als bekennendem Morgenmuffel einiges an Überwindung kostet. Ich kenne den inneren Schweinehund, ich kenne ihn gut. Doch allein schon die ungläubigen Blicke der Kollegen beim Frühstück – »Du warst heute schon laufen? So früh?« – entschädigen für manches. Ich empfinde es als Belohnung, eine fremde Stadt erlaufen zu dürfen, etwas zu sehen und zu erleben, das mir auf der kurzen Reise sonst verwehrt geblieben wäre.

Im Herbst 2015 laufe ich also zuerst ein paarmal morgens vor meinem Workshop durch Washington D. C., am Freitag nehme ich den Bus Richtung Norden, und einige Stunden später bin ich in der »Stadt, die niemals schläft«. Ich habe die Angewohnheit, Lieder vor mich hin zu summen, die von den Orten handeln, an denen ich mich gerade aufhalte. Das ist nicht immer schön, es war beispielsweise während einer Konferenz in Moskau ziemlich lästig (»Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand …«), ist in New York aber durchaus angenehm. Ich mag Frank Sinatra und habe schon, als der Bus von New Jersey nach Manhattan fährt, »New York, New York« im Kopf.

Wenn die Polizei dir zuruft, dass du ein Held bist – der New York Marathon

Spätestens als ich 2008 in Berlin meinen ersten Marathon geschafft hatte, war mir klar: Der New York City Marathon ist ein Traum, den ich mir wirklich erfüllen kann. Ich kann 42,195 Kilometer laufen. Und nach der wahnsinnig tollen Stimmung in Berlin in den Jahren 2008, 2009 und 2013 möchte ich die viel beschworene Atmosphäre im Big Apple erleben. Jahre später ist es nun also so weit, in der zweiten von vier Startwellen bin ich dabei, darf ich loslaufen zur Verrazano-Narrows Bridge, die Staten Island und Brooklyn miteinander verbindet – wieder höre ich Sinatras »New York, New York«, was mir die Tränen in die Augen treibt.

Zwei Tage zuvor, am Abend meiner Fahrt von Washington D.C. nach New York City, beginnt die Erfüllung dieses Lauftraums für mich mit der Parade der Nationen während der Eröffnungszeremonie: Alle beim Marathon vertretenen Nationen sind hier mit einer Delegation vertreten, ich darf in der deutschen Gruppe dabei sein – im Dirndl und mit Deutschlandflagge, die Kombination war mir bisher eher … nun ja, fremd. In der Einladungs-Mail hatte der Veranstalter darum gebeten, in landestypischer Tracht zu erscheinen. Und da ich inzwischen in München wohne, musste das aus meiner Sicht nun so sein. Andere kommen im BVB-Trikot, das finde ich irgendwie suboptimal. Das Dirndl habe ich mir eigens für diesen Anlass gekauft, nachdem mich zuvor diverse Besuche auf der Wiesn (für Nicht-Bayern: Oktoberfest) nicht davon überzeugt hatten, dass dies wirklich notwendig ist. Dank New York Marathon und seiner Parade der Nationen bin ich nun also zu gewissen Anlässen in München auch standesgemäß gekleidet. Manchmal braucht es im Leben offenbar Umwege.

Ein farbenfrohes Spektakel beginnt. Läuferinnen und Läufer aus zig Nationen haben sich viel Mühe mit ihrer traditionellen Kleidung gegeben. Erinnerungsfotos werden geschossen, mein Münchner Dirndl trifft auf eine Tracht aus Malaysia. Am Ende der Feier steht das große Feuerwerk über dem Central Park – zu den Klängen von »New York, New York«, versteht sich. Alle sind ausgelassen und fröhlich, singen und feiern. Schon hier wird klar: Das hier ist anders als alle Stadtmarathons, die ich bisher gelaufen bin.

Am Renntag werden wir um 6 Uhr am Hotel abgeholt, um 7 Uhr erreicht unser Bus Ford Wadsworth, wo sich das große Startgelände befindet. Gute drei Stunden später dann der Start. Hier stehe ich, laufe gleich auf die Brücke, von der der Blick so gigantisch ist. Die ersten Takte von »New York, New York« erklingen, die Läufer jubeln und singen. Das hier ist der Hammer, jetzt schon. Und es geht los. In Brooklyn wird am Streckenrand gebrüllt und gefeiert, was das Zeug hält. Nach wenigen Kilometern habe ich das Gefühl, meine Hände fangen gleich an zu kribbeln, so oft klatsche ich mit den Zuschauern ab. Zahlreiche Bands spielen Livemusik, manchmal steht einfach eine einzelne Sängerin an der Straße und singt, und das unglaublich gut. Die Stimmung reißt mich mit, ich vibriere förmlich von innen, es ist gigantisch. Auch die Polizisten und Feuerwehrmänner stehen nicht gelangweilt am Rand der Strecke, nein, auch sie feuern an, rufen etwas von »Heroes«, die wir alle seien. Das habe ich von Polizisten in Deutschland bisher eher selten gehört.

Dann plötzlich ändert sich die Stimmung, und auch das gehört zu New York – und es passt gut zu vielem, was ich in den letzten Jahren auf meinen Reisen gesehen habe: Wir erreichen den jüdisch-orthodoxen Brooklyner Stadtteil Williamsburg, und die Szenerie wandelt sich komplett. Kaum mehr Zuschauer stehen am Rand, die orthodoxen Juden mit ihren Schläfenlocken gehen ihres Weges, schauen uns höchstens verwundert an. Ruhig ist es hier und ganz anders. Es wirkt ein wenig wie in den Beschreibungen der alten ostjüdischen Shtetl (so der jiddische Begriff für »Städtchen«) in Ostpolen oder Litauen, nur eben inmitten einer eindeutig US-amerikanischen Großstadt-Szenerie. Die Aufschriften an Geschäften oder Schulen sind in hebräischen Buchstaben, ein bisschen komme ich mir vor wie in Mea Shearim, dem ultraorthodoxen Viertel in Jerusalem. Nein, besinne ich mich, dieser Vergleich hinkt, immerhin darf ich hier in Shorts und Shirt laufen, das wäre dort undenkbar.

Während ich vor mich hin trabe und über all diese Assoziationen nachdenke, kippt die Stimmung schnell wieder in die andere Richtung, es wird laut und belebt, voller Jubel und Euphorie, als wäre eben nichts gewesen. Verrückt.

Und so bleibt es auch den Rest der Strecke. Es wird irgendwann hart, der tollen Stimmung zum Trotz, aber das gehört dazu. Marathon ohne schwere Beine? Das passiert eher selten. Aber die Begeisterung der Zuschauer und meine eigene Euphorie tragen mich über die Brücken mit ihren Höhenmetern, tragen mich die schier endlose scheinende 1st Avenue entlang, dann in die Bronx (wo überall »Welcome to the Bronx«-Rufe ertönen, auch ein Priester steht hier und reiht sich in den Chor ein) und wieder zurück nach Manhattan.

Als es wenige Kilometer vor dem Ziel in den Central Park geht, brodelt es, so scheint mir, noch ein bisschen mehr. Ich werde wieder etwas schneller, lasse mich vom Jubel Richtung Ziel treiben. Und dann kommt besagte Ecke mit der Live-Band. Der Rest sind Tränen und pures Läuferinnenglück.

Die Medaille ist groß und schwer, wie sollte es hier anders sein. Und in New York wird sie auch getragen. Am Abend wimmelt es in Manhattan nur so von humpelnden Medaillenträgern, wir nicken uns wissend zu, gratulieren einander und wiederum gibt es sehr viele weitere Leute, die uns Glückwünsche zurufen. Am folgenden Tag ist »Medal Monday«, und es geht genau so weiter. Als ich unterwegs zu meiner Freundin Liena, bei der ich noch ein paar Tage wohnen werde, einen Polizisten nach dem Weg frage, blickt er auf meine Medaille und ruft aus: »Du bist den Marathon gelaufen! Du bist eine Heldin!« Erst, als er das klargestellt hat, erklärt er mir den Weg.

Es war groß und gigantisch – so, wie New York nun einmal ist. So ein Spektakel habe ich als Läuferin freilich nicht überall erlebt. Nein, manchmal war es auch anders, ganz anders.

Drachen und der Papst: meine Läufe in Polen

Die ersten Dienstreisen, auf denen ich gelaufen bin, führten mich nach Polen. Das ist nicht weiter verwunderlich, bin ich unserem östlichen Nachbarn durch meine Themen sehr verbunden. Ich habe viele Wochen in Krakau verbracht, um Polnisch zu lernen. Später, im Rahmen der Recherchen für meine Doktorarbeit, habe ich ein ganzes Jahr in Warschau gelebt. In Warschau? Ich erforsche die Geschichte des Holocaust im deutsch besetzten Osteuropa, insbesondere in den besetzten polnischen Gebieten. Am Ende meines Studiums, ich interessierte mich schon damals sehr für dieses Thema, hatte ich die Gelegenheit, mit Saul Friedländer, Holocaust-Überlebender und von mir für seine wissenschaftlichen Arbeiten sehr bewunderter Historiker, in Basel ein Interview zu führen. Es ging um sein Leben und seine Forschungen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung.

Im Laufe des Interviews sagte er, dass er es sehr begrüße, dass so viele junge Historikerinnen und Historiker in Deutschland zum Holocaust forschen, und er fügte hinzu: »Aber warum geht denn nicht einmal jemand von ihnen her und lernt Polnisch und Jiddisch und sieht sich an, wie die verfolgten Juden in den Gettos reagiert haben? Das waren nicht bloß Opfer, das waren Individuen, die eine Geschichte bis zum Tod hatten.« Das war es! Mir war genau in diesem Moment klar, dass ich gerade mein Forschungsthema gefunden hatte. Genau das musste ich machen! Ein kleines bisschen Polnisch konnte ich schließlich schon, Jiddisch würde ich auch irgendwie hinbekommen. Und so begann ich, mich weiter in diese Themen zu vertiefen. Ich las und las, lernte besser Polnisch und Jiddisch. Manch einer fragte mich damals, ob das nicht ein bisschen zu viel Aufwand sei, nur um meine Dissertation über ein bestimmtes Thema zu schreiben. Wenn ich etwas wirklich will, dann habe ich Ausdauer, das gilt nicht nur für meine Ultraläufe. Und ich fand und finde dieses Thema wichtig. Punkt. Die meisten Quellen, die ich für meine Doktorarbeit benötigte, lagen in polnischen Archiven, besonders im Jüdischen Historischen Institut in Warschau waren Unmengen von Tagebüchern und Berichten verfolgter polnischer Juden zu finden. Ich verbrachte also ein ganzes Jahr dort, und ich habe wahnsinnig gern dort gelebt.

In dieser Zeit bin ich allerdings nur sporadisch gelaufen. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich mit Kollegen einmal in einem schönen Park laufen. Genau: einmal. Das ist nicht so richtig viel in einem ganzen Jahr. Hochmotiviert hatte ich damals einen Stapel Sportsachen mitgebracht, aber der Sinn stand mir nach Archivrecherchen, Kultur, stundenlangen Diskussionen über unsere Forschungsthemen und, ja, ich gebe es zu, langen Abenden mit polnischem Bier und billigen Zigaretten. Ich hatte noch nicht begriffen, wie gut das Laufen für mich ist. Das kam erst nach meiner Rückkehr nach Deutschland, aber dazu später.

Da lief noch nicht viel mit dem Laufen in meinem Warschauer Jahr 2000/2001. Mitten in der Vorbereitung für meinen allerersten Marathon, im Sommer 2008, war ich mit einer Gruppe Studierender aus Gießen auf einer Exkursion in Polen. Die Exkursion war bereits eine ganze Weile geplant und vorbereitet, also habe ich sie auch durchgeführt, obwohl ich längst in Berlin lebte und gar nicht mehr für die Uni Gießen arbeitete. Inzwischen stand ich beim Münchner Institut für Zeitgeschichte unter Vertrag, das eine Außenstelle in Berlin-Lichterfelde hat. Zwei Jahre zuvor war ich im Team der Uni Gießen besagten Firmenlauf in Frankfurt gelaufen, ein Jahr später meinen ersten Halbmarathon. Nach meinem Umzug nach Berlin lief ich zunächst im Frühjahr den dortigen Halbmarathon, wenig später habe ich mich für den Berlin Marathon angemeldet. Dazu brauchte man seinerzeit noch kein Losglück oder Ähnliches, ich konnte mich einfach so anmelden, irgendwann im Frühjahr. Sehr ernsthaft habe ich begonnen dafür zu trainieren, ich hatte viel Respekt, weil ich doch schließlich überhaupt nicht einschätzen konnte, wie es mir bei einem Lauf über 42,195 Kilometer ergehen würde.

So also die Lage: Mein erster Marathon steht mir in diesem Sommer 2008 unmittelbar bevor, und ich reise mit Studierenden nach Polen. Wir sind in Warschau und Lublin untergebracht, und das Exkursions-Programm ist proppenvoll. Doch ich kann doch nicht wenige Wochen vor dem Berlin Marathon gänzlich auf mein Training verzichten! Also muss ich mir morgens etwas Zeit nehmen und Laufstrecken suchen. In Warschau ist das noch recht leicht, wohnen wir hier doch direkt am Lazienki-Park. Diesen Park kenne ich aus meiner Warschauer Zeit sehr gut, dort fand besagter einziger Lauf statt. Gern habe ich es damals den Warschauern gleichgetan und hier Spaziergänge unternommen, Pfaue bestaunt und mich sonntagmorgens manchmal am Chopin-Denkmal eingefunden und dort einem Konzert gelauscht.

Nun, einige Jahre und Bücher zum damals erforschten Thema später, drehe ich hier morgens meine Runden und meine Studierenden staunen nicht schlecht, als sie mich vor dem Frühstück wieder ins Hostel zurückkehren sehen. »Warum laufen Sie denn so früh«, fragt mich ein aus übernächtigten Augen blickender junger Mann und scheint perplex zu sein, als ich ihm eröffne, dass ich für den Berlin Marathon trainiere. Mir geht durch den Kopf, dass er mich, da ich seine Dozentin bin, offenbar nicht so richtig mit etwas wie einem Laufevent in Verbindung bringen kann. Ich glaube, mein Coolness-Faktor steigt gerade ungeheuer an.

In Lublin treffe ich auf größere Verwunderung außerhalb des eigenen Studierendenkreises. Hier fällt es mir schwerer, eine geeignete Laufstrecke zu finden. Laufen ist hier, ganz im Osten Polens, noch nicht besonders populär. Ich war zwar schon häufig hier, kenne mich aber nur in der Altstadt und direkt im Zentrum halbwegs aus. Also laufe ich durch das historische Zentrum und drehe mangels Länge der Strecke einfach viele Runden. Morgens früh, am Samstag, auf nahezu menschenleeren Straßen. Nahezu. Ich laufe ein paar Mal an zwei älteren Herren vorbei, die auf einer Bank sitzen und rauchen. Sehr verwundert schauen sie mich an. Schütteln den Kopf. Und dann spricht mich einer von beiden an: »Czy Pani lubi taki … taki … taki … Jogging???« – »Mögen Sie dieses … dieses … dieses … Joggen?« Das letzte Wort spuckt er nahezu heraus, schüttelt wieder den Kopf. Ich muss so lachen, dass ich mich an meiner Antwort fast verschlucke: »Ja, das mag ich, sehr sogar!« Ich laufe weiter und kichere vor mich hin.

Zehn Jahre später bin ich wieder in Lublin, diesmal mit einer Gruppe Studierender aus München. Unser Hotel liegt direkt neben dem Sächsischen Park, vor allem dort drehe ich morgens meine Runden. Doch ein wenig Sightseeing soll es doch auch sein: Als ich diesmal an einem Feiertag morgens früh durch die inzwischen wunderbar restaurierte Altstadt laufe, blickt mich niemand mehr verwundert an. Laufen als Freizeitbeschäftigung ist hier längst angekommen, wenn auch bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie ich es bei uns beobachte. Auch bekommt es noch nicht eine derart große Aufmerksamkeit, wie ich es aus anderen Städten gewohnt bin.

Damit hängt wahrscheinlich auch zusammen, dass mir auf dieser Reise etwas ganz Seltsames passiert. Etwas, das ich sonst wirklich nicht von mir kenne: Ich verpasse einen Wettkampf an einem fremden Ort, an dem ich gerade bin. Unsere Gruppe sitzt in einem Bus, der uns zur Gedenkstätte Majdanek fährt. Der Bus kommt nicht schnell von der Stelle, weiter vorn sperrt ein Polizist die Straße ab. Es ist Samstagmorgen. Ich verstehe nicht, was da los ist. Dann sehe ich einen Läufer. Noch einen. Oh nein! Eine Studentin ruft durch den Bus: »Schauen Sie mal, Frau Löw, heute ist der Lublin Marathon.« Eine andere ergänzt fröhlich: »Ja, warum laufen Sie da eigentlich nicht mit? Wir hätten Sie alle angefeuert!« Ich erstarre. Marathon in Lublin! Ich bin in Lublin. Ich habe es nicht mitbekommen!

Das ist mir noch nie passiert, stets schaue ich gründlich nach, ob es an meinen Reisezielen gerade ein Laufevent gibt. Diesmal habe ich das versäumt. Vielleicht erschien es mir nach den Erfahrungen zehn Jahre zuvor einfach unwahrscheinlich, dass es in Lublin überhaupt einen Marathon gibt? Nicht ein Plakat hat mich in den Tagen zuvor auf das Event aufmerksam gemacht. Die Studierenden lachen über mein Entsetzen. Ich tröste mich damit, dass ich ja ohnehin eigentlich keine Zeit gehabt hätte, mitzulaufen, schließlich haben wir heute den ganzen Tag lang volles Programm. Mein Kollege zeigt auf das sehr spärliche Läuferfeld, das gänzlich ohne Zuschauer über eine nicht gesperrte Straße voller Autoabgase trottet: »Da hättest du doch wohl nicht mitlaufen wollen?!« Doch, ich fürchte, das hätte ich gern gewollt.

Im Jahr 2014 war ich aufmerksamer bei meiner Reisevorbereitung: Eine große internationale Tagung in Krakau stand auf dem Programm, mein Freund und ich nahmen teil, und das Programm begann an einem Montag. Und siehe da: Einen Tag zuvor fand der Krakau Marathon statt. Was für eine Gelegenheit! Mein erster Marathon in Polen und dann auch noch in der Stadt, die mir so viel bedeutet! Und zugleich wurde dies der erste Marathon für meinen Liebsten.

»Ihr müsst etwas von euch verlangen, auch wenn andere das nicht tun.« Das Zitat steht auf dem Finishershirt des Marathons und stammt von keinem Geringeren als Johannes Paul II. Ein Ausspruch des Papstes auf dem Laufshirt, das gibt es vermutlich nur in Polen. Der Spruch passt genau, zudem verdanke ich es überhaupt nur dem polnischen Papst, dass ich am Start dieses Marathons stehen kann. Denn der findet in Krakau normalerweise am letzten Wochenende im April statt. Da war aber die Heiligsprechung von Johannes Paul II. Der Marathon wurde deshalb auf dieses Wochenende im Mai verschoben – und dies ist, wie gesagt, einen Tag vor der Konferenz in der alten Königsstadt, an der ich mitwirke.

Der polnische Papst und Krakau, das ist eine sehr besondere Verbindung. Karol Wojtyła zog als Kind mit seinem Vater von Wadowice nach Krakau, hier begann er sein Studium. Nach dem Krieg begann er seine kirchliche Laufbahn, 1958 wurde er zum Bischof ernannt, stand stets in Opposition zu den kommunistischen Machthabern. Seine Reisen nach Polen als Papst wurden zu Symbolen des nationalen Aufstands, seine Bedeutung für das Ende des Kommunismus zunächst in Polen, dann im gesamten östlichen Europa, ist unbestritten. In »seinem« Krakau wird er ganz besonders verehrt, daher erscheint es nur folgerichtig, dass der Marathon aufgrund seiner Heiligsprechung verschoben wird und ein Zitat von ihm das Finishershirt ziert.

Im Unterschied zur eher spärlichen Anteilnahme, die ich vier Jahre später beim Marathon in Lublin beobachte, ist in Krakau die Stimmung auf der Strecke gut. Hier gibt es an mehreren Stellen organisierte Fan-Zonen mit Gospelchor oder auch einem Mädchenchor, dessen junge Sängerinnen als Prinzessinnen verkleidet sind. Diese Fan-Zonen heißen im Polnischen »Strefy dopingu«, was in etwa »Dopingzonen« bedeutet. Wir dürfen uns also ganz legal dopen, mit Anfeuerungs-rufen.

Start und Ziel sind auf dem Rynek, dem historischen Marktplatz mit den Sukiennice, den wunderschönen Tuchhallen, und der Marienkirche. Hier hören wir am Start keine laute Musik. Stattdessen öffnet sich, pünktlich um neun, ganz kurz vor dem Startschuss, ein Fenster in einem der beiden Türme der Marienkirche, und der »Hejnal« ertönt. Das ist eine stündlich live gespielte Trompetenmelodie, die abrupt abbricht, da, der Legende nach, der Trompeter bei einem Angriff der Tartaren im 13. Jahrhundert von einem Pfeil getroffen wurde. Er hatte es aber gerade noch geschafft, die Stadtbewohner zu wecken, die den Angriff dadurch abwehren konnten. Krakau ist voll mit derartigen Legenden und historischen Überlieferungen.

Das passt zum diesjährigen Motto des Marathons: »Mit Geschichte im Hintergrund«. Mehrfach laufen wir auch mit dem Wawel im Blick. Ausgerechnet im Wawel, dem alten Königsschloss, hat Hans Frank in der Zeit des Zweiten Weltkriegs als sogenannter Generalgouverneur residiert und von hier aus seinen Terror gegen die jüdische und polnische Bevölkerung koordiniert. Immer wieder gehen mir auch diese Geschichten während des Laufes durch den Kopf, habe ich doch einige Jahre vor dem Marathon gemeinsam mit meinem guten Freund Markus ein Buch über Juden in Krakau von 1939 bis 1945 geschrieben, das inzwischen auch in polnischer Übersetzung in den Krakauer Buchhandlungen ausliegt. Das Buch haben wir damals als Reaktion auf das große Interesse an diesem Thema geschrieben, das der Film Schindlers Liste hervorgerufen hat. In Massen strömten die Touristen durch das ehemals jüdische Viertel Kazimierz, suchten die Orte aus dem von den Nazis errichteten Getto, die sie aus dem Film kannten – nur, dass das Getto gar nicht hier war, sondern auf der anderen Seite der Weichsel. Steven Spielberg hatte aber in der Tat in Kazimierz die Getto-Szenen gedreht, sodass manchmal Besucher den Stadtführern nicht glaubten, dass das reale Getto woanders war, schließlich »erkannten« sie die Orte aus dem Film. Wir wollten damals für die vielen, auch deutschen, Besucher ein Informationsangebot schaffen. Ein interessantes Detail zum Thema Film und Krakauer Getto ist es übrigens, dass der Regisseur Roman Polanski als Junge im Krakauer Getto leben musste. Aber ich schweife ab.

»Mit Geschichte im Hintergrund erinnert an die guten Zeiten Krakaus und an die wunderschönen sorgfältig restaurierten Bauten der Altstadt. Die Medaille ziert ein Drache, ein Wahrzeichen der Stadt, das am Fuße des Königsschlosses an der Weichsel steht und auch in einer Legende gründet: Ein Drache hat die Stadt tyrannisiert und Jungfrauen verschlungen. Ein armer Schusterjunge hat dem verzweifelten König Krak mit einer einfachen List geholfen: Er füllte ein ausgestopftes Schaf mit Schwefel und warf es dem Drachen hin. Nachdem dieser das Schaf gierig gefressen hatte, bekam er von dem Schwefel so furchtbaren Durst, dass er sich in die Weichsel stürzte und so lange trank, bis er geplatzt ist. Die Sage endet mit der Hochzeit des Schusterjungen mit der Prinzessin.

In dieser Stadt voller Geschichten und Legenden laufen wir die magischen 42,195 Kilometer und dürfen das Finishershirt mit dem Ausspruch des polnischen Papstes zu Recht tragen: Wir haben etwas von uns verlangt. Und zur Belohnung eine Medaille mit einem legendenumwobenen Drachen bekommen. Ich bin stolz auf Pascal, der seinen ersten Marathon hier finisht. Die folgenden Tage verbringen wir vor allem im Sitzen, wie das meist auf wissenschaftlichen Tagungen der Fall ist. Aber wir sind ja ohnehin in der Regenerationsphase und haben gefühlt jeden Winkel Krakaus bereits laufend erkundet.

Inzwischen gibt es eine lebhafte Läuferszene in Polen, nahezu jede größere Stadt hat einen Marathon, und ein paar sehr spannende Trailläufe gibt es auch. Neulich war ich in Danzig, bin dort morgens durch die wieder aufgebaute und restaurierte Altstadt gelaufen und habe nachmittags im Europäischen Solidarno-Zentrum etwas über einen sehr historischen Lauf gelernt: Der hier Mitte August stattfindende Solidarno-Marathon erinnert an den Beginn des Streiks der Arbeiter auf der Danziger Lenin-Werft am 14. August 1980. Vorangegangen waren Streiks und Unruhen bereits im Jahr 1970, bei denen im nahegelegenen Gdingen 45 Werftarbeiter ums Leben kamen. Schon seit 1981 gab es in Danzig einen Halbmarathon zum Gedenken an die Toten, seit 1995 einen vollen Marathon. Klare Sache, dass ich diesen historischen Marathon auch irgendwann noch laufen möchte.

Manch einer meiner polnischen Historikerkollegen läuft auch, andere verfolgen zumindest meine Laufabenteuer in den sozialen Medien. Das wiederum hat einmal zu einer witzigen Situation geführt. Auf einem großen Arbeitstreffen in Mailand begegnete ich zum ersten Mal einen von mir geschätzten polnischen Kollegen persönlich. Ich hatte mich auf diese Begegnung gefreut, hatte ich doch bereits einiges von dem Warschauer Professor gelesen! Er begrüßt mich freudig und erzählt, wie sehr er mich bewundere. Ich bekomme wahrscheinlich rote Wangen, freue mich, werde verlegen. Wow, er hat meine Bücher gelesen, kennt meine wissenschaftlichen Arbeiten, das ist ja sehr schön! Dann spricht er weiter: »Darek hat mir von deinen Läufen erzählt. Das ist ja unglaublich, wie weit du laufen kannst!«

An der Themse, an der Seine und anderen Flüssen

Ich habe mich in Mailand selbstverständlich von diesem Gespräch nicht weiter aus der Ruhe bringen lassen und bin am nächsten Morgen erst einmal eine Runde gelaufen. Mit Kollegen übrigens, denn wir haben in dem großen, von der Europäischen Kommission geförderten Projekt, das dort sein Arbeitstreffen hatte, inzwischen eine Running Group gegründet. Bei jedem dieser Treffen erkundet eine buntgemischte Gruppe frühmorgens laufend die Stadt, in der wir uns gerade befinden. Und so bin ich mit dem israelischen Archivleiter der Gedenkstätte Yad Vashem, der polnischen Professorin aus Krakau, dem deutschen Abteilungsleiter im Bundesarchiv, der belgischen Historikerin und anderen Kollegen aus verschiedenen Ländern unter anderem schon in Mailand, Vilnius, Bukarest und Amsterdam gelaufen. Das ist wunderbar, es verbindet uns auf eine zusätzliche, ganz andere Art als die gemeinsame Arbeit am Projekt. Wir schwitzen und keuchen, und wir sehen bei unseren morgendlichen Runden wahrlich ganz anders aus als später bei den offiziellen Treffen. Manch ein anstrengendes fachliches Gespräch erfolgt gelöster unter Kollegen, die morgens schon gemeinsam laufen waren und Spaß zusammen hatten.