Die klassischen Kulturinstitutionen haben es nicht leicht: Überalterung des Publikums, schwindende gesellschaftliche Relevanz, chronische Unterfinanzierung, festgefahrene Strukturen… die Herausforderungen sind zahlreich. Eine Wortneuschöpfung im Frühjahr 2012 versuchte dieser Situation einen Namen zu geben: Kulturinfarkt. Die Empörung über das Buch war groß, aber dennoch symptomatisch dafür, dass da doch vielleicht etwas dran ist. Wer nun unkonventionelle Lösungen für die anstehenden Probleme sucht, kann bei Kulturunternehmern der freien Szene fündig werden. Es ist ein Pool an Impulsen und ein Schatz kreativer Anstöße, die für den Kulturbetrieb viel ermöglichen können.
Das vorliegende Buch versammelt eine Serie von Beiträgen und Interviews, die von Herbst 2012 bis Frühjahr 2013 im KM Magazin sowie auf kulturblog.net erschienen sind. Was diese Artikel zeigen ist, was erfolgreiche Kulturentrepreneure anders machen, wo und wie sie sich vorwagen, neue Wege suchen und diese beschreiten. Die kurzen Fallstudien beleuchten die Erfolgsrezepte in Bereichen wie PR, Führung oder Innovation. Der Autor Christian Holst hat diese für das KM Magazin aufbereitet und veröffentlichte parallel dazu vertiefte Interviews mit den Akteuren auf seinem kulturblog.net.
So unterschiedlich die portraitierten Künstler und Ensembles arbeiten, so eint sie doch die unternehmerische Leidenschaft. Wo sich diese Leidenschaft entfalten kann, sind nicht nur zeitgemäße Strukturen und Ansätze im Management zu finden, sondern auch herausragende künstlerische Leistungen möglich. Während viele etablierte Kultureinrichtungen eine Trennung zwischen Kunst und Management praktizieren und beide Begriffe nicht selten als einander widersprechend verstehen, zeigen die Beispiele, dass organisatorisches und künstlerisches Unternehmertum in unmittelbarer, sich gegenseitig stimulierender Wechselwirkung zueinander stehen.
Die Fallbeispiele rufen nach mehr Unternehmertum in der klassischen Kultur. Sie bekräftigen diesen Ruf aber nicht (nur) im Sinne effizienterer Strukturen und der Optimierung ökonomischer Kennzahlen, sondern vor allem auch im Sinne der Kunst selbst. Diese Anregungen muss der Kulturbetrieb pro-aktiv nutzen, sie umwandeln und damit die Herausforderungen kreativ angehen. Es wird Zeit.
Die Einleitung zur Serie hat Christian Holst für dieses Buch grundlegend überarbeitet und erweitert. Außerdem enthält es ein bislang unveröffentlichtes Interview mit Louis Dupras, dem Geschäftsführer der Camerata Bern.
Weimar, im November 2014
Dirk Schütz
Geschäftsführer der KM Kulturmanagement Network GmbH
Eine Radiosendung, die ich gern höre, ist Diskothek1, die vom Schweizer Sender SRF2 Kultur ausgestrahlt wird. Das Konzept besteht darin, dass zwei Musikexperten – Musiker, Musikwissenschaftler, Musikjournalisten – aus fünf oder sechs Einspielungen eines Werkes die beste Interpretation ermitteln. Sie hören und beurteilen die Aufnahmen ohne zu wissen, wer die Interpreten sind. Es gibt drei Runden: nach der ersten scheiden zwei Aufnahmen aus, nach der zweiten eine oder zwei weitere und nach der dritten wird eine Aufnahme der beiden verbliebenen zum Gewinner erkoren. Die zweistündige Sendung erlaubt es dem Zuhörer, unter fachkundiger Anleitung sehr genau in ein bestimmtes Werk hinein zu hören und nachzuvollziehen, was die Kunst der Interpretation von klassischer Musik ausmacht.
Auffällig oft schaffen es dabei Orchester und Dirigenten in die letzte Runde oder sogar aufs Siegertreppchen, die sich außerhalb der Routinen des traditionellen Klassikbetriebs bewegen: In einer Sendung zu Brahms’ Sinfonie Nr. 1 etwa gewann das Orchestre Révolutionnaire et Romantique unter John Elliot Gardiner, während die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle überraschend früh aussortiert wurden. In der Sendung zu Schumanns Sinfonie Nr. 2 machte das Chamber Orchestra of Europe unter Nikolaus Harnoncourt das Rennen, in der zu Berlioz’ Nuits d’été die Aufnahme von Philippe Herreweghe mit dem Orchestre des Champs-Elysées; in der Sendung zu Mahlers Wunderhorn-Liedern teilten sich Herreweghe und sein Orchester den ersten Platz mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado.
Beim Blick auf diese Ergebnisse entsteht der Eindruck, dass neue künstlerische Impulse und frische Auseinandersetzungen mit dem klassischen Repertoire weniger von den großen Traditionsorchestern ausgehen, als vielmehr von Ensembles, die jenseits der bequemen Bedingungen des «Tarifvertrags für Musiker in Kulturorchestern» arbeiten. Und die Ergebnisse der Diskothek sind längst nicht das einzige Indiz, das diese These stützt. Sie bestätigt sich auch, wenn man sich beispielsweise die Aufsehen erregenden Beethoven-Zyklen der letzten 30 Jahre anschaut: John Elliot Gardiners Einspielung mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique und Roger Norringtons Einspielung mit den London Classical Players gelten heute heute als legendär und wegweisend; weitere herausragende Einspielungen stammen von Nikolaus Harnoncourt mit dem Chamber Orchestra of Europe und Paavo Järvi mit der Kammerphilharmonie Bremen, ebenfalls Orchester mit besonderer Geschichte und Arbeitskultur. Traditionelle Orchester konnten ähnliche Erfolge erzielen, wenn sie die interpretatorischen Erkenntnisse und den Zugang der historisch informierten Aufführungspraxis in ihre Arbeit einfließen ließen, so etwa beim viel beachteten und auch kommerziell erfolgreichen Beethoven-Zyklus von David Zinman und dem Tonhalle-Orchester Zürich, Claudio Abbados zweiter Gesamteinspielung der Sinfonien mit den Berliner Philharmonikern oder bei Riccardo Chaillys Aufnahmen mit dem Gewandhausorchester Leipzig. Dennoch sind diese Zyklen ohne die Pionierarbeit von Gardiner, Harnoncourt oder Norrington nicht vorstellbar und zeigen, inwieweit die freien Ensembles mittlerweile die Qualitätsstandards im Konzertbetrieb setzen (s. zu diesem Absatz auch Hagmann 2014).
Auch diese Beobachtung liefert nur ein Indiz von vielen. Claudio Abbados Arbeit mit dem Mahler Chamber Orchestra, dem Orchestra Mozart Bologna und insbesondere dem Lucerne Festival Orchestra – allesamt Ensembles bestehend aus Freunden und Weggefährten Abbados – trug künstlerische Früchte, die die Erfolge seiner Karriere im klassischen Orchesterbetrieb noch einmal überstiegen und krönten. Und wer geglaubt haben sollte, zu Mozarts hundertfach eingespielten da Ponte-Opern sei bereits alles gesagt, wurde durch die 2014 veröffentlichten Einspielungen von Le Nozze di Figaro und Così fan tutte durch Teodor Currentzis und sein Ensemble Musica Aeterna eines Besseren belehrt.
Die Liste solcher Beispiele ließe sich fortsetzen. Sie bestätigen die Hypothese, dass die künstlerische Arbeit dort besonders inspirierend und «unerhört» gerät, wo Musiker – von einer gemeinsamen Vorstellung des Musizierens und der Zusammenarbeit inspiriert – die künstlerischen und administrativen Rahmenbedingungen schaffen, die dieser Vorstellung optimale Entfaltung erlauben. Man könnte auch sagen: wo die Arbeit von Unternehmergeist getragen wird.
Die Forderung, unternehmerisch zu denken und zu handeln, ist im Kulturmanagement in den letzten Jahren immer lauter geworden. Sie basiert meist auf der unsicherer werdenden finanziellen Situation vieler öffentlich finanzierter Kultureinrichtungen bei gleichzeitig steigendem Konkurrenzdruck im Freizeitmarkt und wachsender Anspruchshaltung der Besucher. Das bedingt, dass die Arbeitsprozesse, die Finanzierung und das Marketing nicht nur professionell gemanagt, sondern auch mit unternehmerischer Kompetenz angegangen werden müssen. Im Unterschied zum Management (oder «Business Administration»), dessen Fokus auf der Organisation und Verwaltung der geschäftlichen Prozesse und Belange liegt, beinhaltet das Verständnis des Unternehmertums auch den Innovations- und Gestaltungswillen des Unternehmers, der das Produkt oder die Leistung auch inhaltlich betrifft. Typischerweise ist damit eine höhere persönliche und finanzielle Verantwortung und Risikobereitschaft verbunden, die sich im Erfolgsfalle aber auch entsprechend auszahlt.
Elmar Konrad, der sich als einer der ersten intensiv mit dem Thema des Kulturunternehmertums beschäftigt hat, geht davon aus, dass das Unternehmertum «in Zukunft die herausragende und führende Rolle bezüglich einer erfolgreichen und lebendigen Kulturarbeit spielen» werde (Konrad 2006, S. 18). Konrad führt die zunehmende Bedeutung des Unternehmertums im Kulturmanagement darauf zurück, dass finanzielle Mittel knapper werden, also die ökonomischen Rahmenbedingungen unternehmerische Qualifikation erfordern, um eine Kultureinrichtung wirtschaftlich über Wasser zu halten. In seiner Sicht sind es vor allem die schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die mehr Unternehmertum notwendig und mittelfristig zu einem Überlebensfaktor machen.
Birgit Mandel untersuchte 2007 das Phänomen des Kulturunternehmers nicht nur in Hinblick auf die wachsenden unternehmerischen Herausforderungen im Kultursektor, sondern beschrieb die Bedingungen und Charakteristika kulturunternehmerischer Arbeit als prototypisch für die gesamte Arbeitswelt von morgen (vgl. Mandel 2007, S. 20ff.). Der Fokus ihrer Untersuchung lag vor allem auf kulturnahen Dienstleistungen wie Beratung, PR-Arbeit, Projektmanagement, weniger auf der Arbeit von Künstlern selbst.
Sowohl Konrad als auch Mandel verstehen den Begriff des Kulturunternehmers weitgehend analog zum klassischen Unternehmer anderer Wirtschaftssparten, ergänzt um ein ausgeprägtes Verständnis für Bedingungen und Besonderheiten künstlerischer Arbeit und in der Regel reduziert um die Hoffnung, in finanzieller Hinsicht zu reüssieren. In diesem Sinne ist der Begriff des Kulturunternehmers mit einer Persönlichkeit verbunden, die mit Ideenreichtum, Durchsetzungsvermögen und einem «guten Riecher» für die richtige Gelegenheit ein Projekt auch unter widrigen Umständen zum Erfolg führen kann.
Die gängige Vorstellung des Kulturmanagements, dass zwischen organisatorischen, so genannten «managerialen» Aktivitäten und künstlerischer Arbeit zu unterscheiden sei – ersteres gar die Kunst sei, letzteres zu ermöglichen – wird in diesem Verständnis von Kulturunternehmertum aufrecht erhalten. Das Unternehmertum bezieht sich demgemäß auf die organisatorischadministrative Seite der Kulturproduktion, die kreative Seite funktioniert scheinbar unabhängig davon nach eigener Logik, die von ökonomisch-administrativen Erwägungen möglichst frei zu halten ist. Die Managementaktivitäten (auch die von Unternehmergeist getragenen) sollen somit Kunst ermöglichen, ohne sie aber selbst zu schaffen, wie Heinrichs in seiner Einführung in das Kulturmanagement klarstellt (vgl. Heinrichs 2012, S. 20). Zwar erkennt Heinrichs die «besonders enge Verbindung von Steuerungshandlung und Handlungsgegenstand» (ebd., S. 16) im Falle der Kulturarbeit an, besteht aber explizit auf der scharfen Abgrenzung von künstlerischer und organisatorischer Arbeit. Im Sinne exakter Terminologie und theoretischer Klarheit mag dies eine durchaus berechtigte Unterscheidung sein.
In der Praxis bilden beide Bereiche jedoch keine Emulsion, sondern eine Lösung. Das Management ist im Idealfall nicht nur Hilfsfunktion, das der Kunst dient, sondern löst sich in den Gesamtaktivitäten auf, die zum Zustandekommen von Kunst beitragen. Bei jungen Kulturunternehmern ergibt sich dieses Zusammengehen von künstlerischer und organisatorischer Arbeit oftmals allein aus den begrenzten Ressourcen. Sie bedingen, dass künstlerische und organisatorische Leitung zumindest in der Gründungsphase in Personalunion ausgeübt werden muss. Für etliche Komponisten, deren Kunst heute mittels öffentlichem Geld gepflegt wird, war diese Personalunion von Künstler und Unternehmer ohnehin der Normalzustand: Händel, Mozart, Beethoven, Verdi und ganz besonders Wagner, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch die Funktion des heutigen Intendanten weist in ihrer Vorform, der des Impressarios, alle Merkmale des prototypischen Unternehmers auf, bei dem künstlerische, finanzielle und administrative Entscheidungen stets Hand in Hand gingen.
Von dieser selbstverständlichen Einheit von Künstler- und Unternehmertum hat sich die Kulturmanagementlehre distanziert. Hier herrscht immer noch die Vorstellung vor, dass Wirtschaft und Kunst wenig miteinander zu tun haben, einander eigentlich sogar widersprechen. Während wirtschaftliche Entscheidungen vermeintlich rational, zweckbezogen und effizient angestellt werden, spricht die Kunst das Irrationale, Emotionale an, das keinem bestimmten Zweck untergeordnet werden kann und größtmögliche Freiheit von wirtschaftlichen oder auch nur besucherorientierten Erwägungen haben sollte. Als könnte Kunst je losgelöst von sozialen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Kategorien Sinn haben. Kulturmanagement, selbst wenn man es unternehmerisch versteht, ist in diesem Verständnis immer nur die administrative Hilfsfunktion, die Techniken zur Organisation und Finanzierung der Kunstproduktion bereitstellt und zu verantworten hat, wenn die zeitlos gültige Kunst die Menschen nicht erreicht.
Das führt dazu, dass die gegenwärtigen Probleme der klassischen Kultur vor allem als Krise des administrativen Bereichs der Kulturarbeit sowie der Kulturvermittlung verstanden werden, nicht aber als Krise des künstlerischen Angebots selbst. Folgerichtig scheint diese Krise auch mit Managementtechniken lösbar: durch verbesserte Besucher- und Serviceorientierung, professionelle Markenführung, striktes Budgetmanagement, Optimierung der Arbeitsprozesse, Modernisierung der Präsentationsformen, professionelles Marketing und Vermittlung, erweitert eben um unternehmerisches Denken und Handeln.