DAS BUCH
In Proxima schilderte Stephen Baxter die Kolonialisierung des Alpha-Centauri-Systems durch die Menschen im Jahr 2160 und die Revolutionierung der Raumfahrt durch die Entdeckung außerirdischen Artefakte auf dem Planeten Per Ardua. Plötzlich ist es den Menschen möglich, mit Lichtgeschwindigkeit zu reisen, das Universum ist grenzenlos geworden, und selbst der abgelegenste Planet ist nur noch einen Schritt entfernt. In Ultima, der genialen Fortsetzung von Proxima, erzählt Stephen Baxter nun die Abenteuer der Menschheit in diesem ebenso wunderbaren wie schrecklichen Universum weiter: Der Kampf zwischen den Vereinten Nationen und China um die Vorherrschaft in unserem Sonnensystem ist eskaliert, die Zerstörung des Sonnensystems ist die Folge. General Lex McGregor gelingt es, mit einer kleinen Gruppe Überlebender auf dem Raumschiff Tatania zu fliehen, nur um sich urplötzlich in einer fremden Realität wiederzufinden – einer Realität, in der das Römische Reich nie untergegangen ist. Dort erwarten sie alte Freunde und neue Feinde – und die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine kleine Schachfigur in einem gewaltigen Plan ist, der sich vom Beginn der Zeit bis an ihr Ende erstreckt …
DER AUTOR
Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire. Zuletzt sind bei Heyne seine Romane Die letzte Arche, Evolution und Proxima erschienen.
Mehr über Stephen Baxter und seine Romane erfahren Sie auf:
STEPHEN BAXTER
ultima
Roman
Aus dem Englischen von
Peter Robert
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der englischen Originalausgabe:
ULTIMA
Deutsche Übersetzung von Peter Robert
Für meine Familie
Deutsche Erstausgabe 10/2015
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2014 by Stephen Baxter
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von thinkstock/Hemera/Natalia Raskevskaya
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-15163-8
V004
www.diezukunft.de
In den Herzen von hundert Milliarden Welten –
Über eine Billion sterbender Wirklichkeiten in einem tödlichen Multiversum hinweg –
In der chthonischen Stille –
Herrschte Befriedigung.
Das Netzwerk des Geistes dehnte sich weiter aus, von den älteren Sternen, den ausgebrannten Welten, hin zu den jungen, hinaus über die gesamte Galaxis. Es stieß auch tief in die Zeit vor, veränderte das Geschick unzähliger Billionen von Leben.
Aber die Zeit war knapp und wurde immer knapper.
Im Traum von der Endzeit lag ein Hauch von Dringlichkeit.
Erster Teil
1
A.D. 2227; A.U.C. (AB URBE CONDITA, NACH GRÜNDUNG DER STADT) 2980
»Gefahr, Yuri Eden! Gefahr!«
»KolE? Was ist los? Schon wieder ein Prox-Flare? Wir müssen in den Schutzraum.«
»Ruhig, Yuri Eden. Du bist nicht mehr auf Per Ardua.«
»Beth. Beth und Mardina. Wo …«
»Deine Tochter und ihre Mutter sind weit weg.«
»Weit weg? … Sind sie in Sicherheit?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Yuri Eden. Wir müssen aber weiterhin davon ausgehen.«
»Warum hast du mir dann ›Gefahr‹ ins Ohr gebrüllt?«
»Weil ich dich nicht anders wecken konnte, Yuri Eden. Die Medikamente, die der medicus dir verschrieben hat, wirken zwar eher nach dem Zufallsprinzip, sind dafür aber erfreulich stark.«
»Du hast also gelogen, stimmt’s? Seit wann sind autonome Kolonisierungseinheiten aufs Lügen programmiert?«
»Ich fürchte, ich habe die Parameter meiner ursprünglichen Programmierung weit hinter mir gelassen, Yuri Eden.«
»Weißt du, ich komme mir vor, als würde ich einen dunklen Korridor entlangtaumeln. Und ich öffne eine Tür nach der anderen und versuche, aus allem schlau zu werden. Aber wenn ich schlafe, bin ich in Sicherheit …«
»Lass dir Zeit, Yuri Eden.«
»Medicus. Dieses Wort … Ich bin immer noch auf diesem verdammten römischen Kahn, stimmt’s?«
»Wir sind nach wie vor Gäste an Bord der Malleus Jesu, ja.«
»Und – au!«
»Der medicus würde dir davon abraten, dich aufzusetzen, Yuri Eden.«
»Wenn ich schlafe, vergesse ich es. Dieses Dreckszeug, das in mir wächst. Ich vergesse das alles.«
»Es ist immer noch da. Aber ich auch, mein Freund. Ich auch. Ich bin hier bei dir.«
»Ja, das sehe ich. Also, warum, zum Teufel, hast du mich geweckt?«
»Du hast mich darum gebeten. Nun ja, um genau zu sein, du hast mich gebeten, dein Testament aufzuzeichnen und zu beglaubigen. Das kann ich für dich tun. Aber du hast viele Stunden geschlafen, Yuri Eden. Ich dachte, ich sollte dich lieber wecken, bevor …«
»Bevor es so weit ist, dass ich gar nicht mehr aufwache, was?«
»Es war Stef Kalinskis Vorschlag.«
»Ha! Was auch sonst. Wie geht’s ihr eigentlich?«
»Als ich das letzte Mal mit ihr kommuniziert habe, war sie gerade dabei, gestandene Legionäre unter den Tisch zu trinken. Nur um den Geschmack dieser widerwärtigen römischen Fischsoße loszuwerden. Das ist ein fast wörtliches Zitat.«
»Sie wird uns alle überleben. Sie – und ihre unglaubliche Zwillingsschwester wahrscheinlich auch.«
»Hoffentlich werde ich das eines Tages erfahren. Wir müssen uns beeilen, Yuri Eden …«
»Bevor ich wieder in Ohnmacht falle. Ist schon okay, alter Freund. Also … mein Letzter Wille. Welche juristische Form müsste er haben, um im römischen System anerkannt zu werden? Was immer, zum Teufel, das sein mag, zweitausend Jahre nach dem angeblichen Zusammenbruch des Imperiums. Es ist ja ohnehin nicht so, als hätte ich irgendwem viel zu hinterlassen. Nur die Sachen, mit denen wir durch diese letzte Luke gegangen sind.«
»Wozu auch ich gehöre.«
»Wozu auch du gehörst, Kumpel. Ist schon komisch, dich als Besitztum zu betrachten, aber so ist es wohl.«
»Ich bin nur eine KI, Yuri Eden. Und in dieser … anderen Realität kann man sogar Menschen besitzen, jedenfalls manche. Auch einige in diesem interstellaren Raumschiff. Also bin ich hier keine so große Ausnahme, wie man meinen sollte. Wir können solche Dinge nicht ändern.«
»Vielleicht nicht. Aber meine Anweisungen sind eindeutig. Wenn Stef mich überlebt, geht mein Anteil an dir – in den Augen der Römer – an sie. Wenn sie mich nicht überlebt, gehst du an Beth auf der Erde, falls es dir durch irgendein Wunder gelingt, sie zu finden.«
»Quintus Fabius hat mir versprochen, dass er mit Unterstützung der collegia der Legion dafür sorgen wird, Yuri Eden.«
»Also, fangen wir an. Ich bin im Jahr 2067 geboren, nach der alten Zeitrechnung. Das heißt, ich bin jetzt hundertsechzig Jahre alt. Gelebt habe ich aber nur …«
»Zweiundsechzig Jahre, Yuri. Der Name, den deine Eltern dir gegeben haben …«
»Ist ohne Belang. Ich bin in Nordbritannien geboren. Meine Eltern gehörten beide zur Heldengeneration, die sich alle Mühe gegeben hat, die Welt vor den Folgen der Klimaschocks in den vorhergehenden Jahrzehnten zu retten. Nun, sie hatten Erfolg. Und bevor die Ankläger an sie herankamen, ließen sie mich im Alter von neunzehn Jahren einfrieren. Zum Glück haben sie nicht mehr erlebt, wie ich ein Jahrhundert später auf dem Mars wiederbelebt wurde.«
»Aber dein Name …«
»Irgendein Witzbold hat mich ›Yuri‹ genannt, als sie mich aus dem Kryo-Tank zogen.«
»Also schön. Und nach einem Jahr auf dem Mars …«
»… bin ich in eine IRF-Aushebung geraten, mit ein wenig Nachhilfe seitens der Friedenshüter in Eden. Die traurig waren, mich gehen zu sehen.«
»Du bist sarkastisch.«
»Ja, mach das kenntlich. Ich bin dann an Bord des IRF-Schiffes Ad Astra aufgewacht. Ein interstellares Jumboschiff mit Kernel-Antrieb voller schanghaiter Loser wie mir. Wieder einmal habe ich mich beliebt gemacht …
Also verbrachte ich … wie viele Jahre? vierundzwanzig? … auf Per Ardua, einem Planeten von Proxima Centauri. Mit Mardina Jones, unserem Baby, Beth, und mit dir, KolE. Wir versuchten mit allen Mitteln, am Leben zu bleiben. Fanden andere, weitere ›Kolonisten‹, die ebenso ausgesetzt worden waren wie wir, und schlugen uns zur Markzone durch, zum substellaren Punkt. Dort entdeckten wir …«
»Eine Luke.«
»Ein Schritt hindurch, einfach so, und wir waren wieder auf dem Planeten Merkur, über vier Lichtjahre hinweg. Und wieder hat sich alles verändert, für die Menschheit, für mich. Mardina und Beth habe ich mit nach Hause genommen, und dort sind sie geblieben …«
»Aber du konntest nicht bei ihnen bleiben.«
»Ich hatte nur die Wahl, nach Ardua zurückzukehren oder ins Gefängnis zu gehen. Also kehrte ich zurück nach Ardua, mit Stef Kalinski an meiner Seite. Die übrigens ihre eigenen Probleme mit alldem hat.«
»Wirst du müde, Yuri Eden?«
»Mach nicht so ein Getue, KolE. Ich kann es nicht leiden, wenn du das machst. Zurück zur Geschichte. Auf Ardua begannen die Vereinten Nationen rigoros durchzugreifen, genau wie im Sonnensystem, weil sich ein Krieg zusammenbraute. Ein Krieg um die Kernel-Minen auf dem Merkur, ausgetragen mit Kernel-getriebenen Schiffen …«
»Yuri Eden?«
»Ich bin noch da, KolE.«
»Weißt du noch, wie wir zum antistellaren Punkt gefahren sind? Zum dunkelsten, kältesten Ort auf Per Ardua, im tiefsten Schatten von Proxima. Wo wir neben anderen Rätseln eine weitere Luke vorfanden.«
»Ja, die Luke. Wir gingen hindurch, Stef und ich, und du mit uns. Und wir fanden uns unter dem Licht eines anderen Sterns wieder. Dann kam ein Mann auf uns zu, ein Mann mit Umhang und Helm …«
Quid estis?
»Ja. Erinnerst du dich, Yuri Eden?«
Quid agitis in hac provincia? …
2
A.D. 2222; A.U.C. 2975
Die Eindringlinge am Standort der Luke wurden zuerst von scharfäugigen arabischen Navigatoren an Bord der Malleus Jesu gesichtet. In ihren stillen Kammern an Bord des interstellaren Raumfahrzeugs, das hoch über dieser Welt kreiste, musterten die Araber, die hier am Bestimmungsort des Schiffes sowohl als Beobachter wie auch als Kartografen fungierten, das Gebiet um die Luke herum routinemäßig durch ihre Fernschauer. Die gerade erst fertiggestellte Luke war schließlich das Missionsziel Nummer eins, und sie verdiente Überwachung und Schutz.
Und nun war Zenturio Quintus Fabius persönlich in der Luft, um sich die Sache näher anzusehen.
Der Ledersack des Luft-cetus knarrte und knackte, als sich das große Fahrzeug im leichten Wind bewegte. Quintus stand neben der Steuerstellung, einer Reihe von Hebeln, die von einem remex bedient wurden, einem rangniedrigen Besatzungsmitglied, das Movena unterstellt war, der trierarcha, der Kommandantin des Schiffes selbst. Wie Movena war dieser remex ein Brikanti und ebenso arrogant und mürrisch wie Movena und ihre ganze Sippschaft. Dennoch stand seine Kompetenz außer Frage. Während er über seine Hebel strich, verschoben sich riesige Schaufeln in der Luft um die Flanke des cetus herum, und das Fahrzeug änderte sanft seine Richtung und hielt auf die offene Luke auf der zernarbten Ebene zu. Letztere war entstanden, als Quintus’ Ingenieure den heißen Atem der Kernels auf dieser Welt entfesselt und das Wunder der Luke erschaffen hatten.
Die Brücke des cetus war ein Durcheinander von Hebeln, Instrumenten und abgeschabten Holztischen, auf denen Haufen von Landkarten und Itinerarien lagen, Abbildungen dieser Welt, von Hand gezeichnet seit der Ankunft der Expedition vor drei Jahren. Die Luft war vom charakteristischen Geruch der Brikanti erfüllt, des Volkes aus dem unzivilisierten Norden; es roch nach dem Met, den sie tranken, dem gegerbten Schweineleder, das sie trugen, und dem scharfen Aroma des walhallischen Tabaks, den sie bei der Arbeit so gern kauten.
Aber diese Alltäglichkeiten endeten am Fenster, jenseits dessen sich vor Quintus’ Augen eine fremde Welt ausbreitete. Auch nach diesen drei Jahren – und obwohl er inzwischen einen so großen Teil von ihr zu Fuß erkundet und ihr Antlitz mit dem Bau von Straßen, Magazinen, der dauerhaften Kolonie und natürlich der Luke so deutlich verändert hatte – fand Quintus diese Welt noch immer erstaunlich.
Die Luke selbst war auf einem höher gelegenen Stück Land mit Blick auf eine Ebene angelegt worden, auf der sich die einheimische Vegetation ausbreitete, niedriges Buschwerk in Violett und Weiß mit vereinzelten orangefarbenen Kegeln dazwischen. Die griechischen Philosophen an Bord versicherten Quintus, dass es sich bei den Kegeln um Gemeinschaften von Geschöpfen handelte, die größtenteils so klein waren, dass man sie nicht sehen konnte – Städte der Unsichtbaren, jeder Hügel ein Rom der Bakterien. Weiter weg stieg das Land an, erhob sich hin zu hoch aufragenden Bergen mit einem Kordon von Gebirgsausläufern davor. Und diese Berge und Hügel, allesamt massive Pfropfen aus Vulkangestein, waren geformt worden; im unveränderlichen perlmuttfarbenen Licht der Hauptsonne Romulus warfen ihre Terrassen, Mauern und mächtigen Zinnen scharfe Schatten. Diese Berge waren von Wesen, die einst hier gelebt und ihre Welt umgestaltet hatten, in Festungen verwandelt worden, bevor die Wesen selbst verschwunden waren – bestimmt hatten sie sich in Stücke gesprengt, hatte Quintus einige notorische Trübsalbläser unter den Legionären in den Lagern schlussfolgern hören. Und doch hatten diese Bergbildner offensichtlich etwas mit dem primitivsten Legionär aus der ärmsten Provinz des Imperiums gemein: Sie hatten Luken gebaut.
Nun, Quintus hatte sein Schiff hierhergebracht, die Ingenieure, Legionäre und Sklaven hatten ihre eigene Luke gebaut, und dafür würde man ihre Namen in Erinnerung behalten. Die uralte Nummer der Legion, zu der diese Zenturie gehörte, war in den Fuß des steinernen Jesu-Kreuzes gemeißelt, das als einziges menschliches Monument eine Luke begleiten durfte. Dies war nun ein für alle Mal Quintus’ Luke. Und diese Welt, die vierte der Familie um diesen Sternzwilling namens Romulus herum, würde, sobald die dauerhafte colonia offiziell vom vicarius eingeweiht worden war, zur neuesten Provinz des Römischen Reiches werden, das sich jetzt bis zu den Sternen erstreckte.
Das war es, was er erreicht hatte, er, Quintus Fabius; das war der von ihm akzeptierte Gegenwert für dreizehn Lebensjahre fern der Heimat und, dank der Mysterien des Reisens mit annähernder Lichtgeschwindigkeit, eine Trennung von noch viel mehr Jahren von den daheim gebliebenen Angehörigen und Freunden. Es war ein Preis, den er gern bezahlte; ein Schiff wie die Malleus Jesu auf einer solchen Lukenbau-Mission zu befehligen war der bisherige Höhepunkt seiner Laufbahn – und würde es wohl auch bleiben, rief er sich mit einer Anwandlung von Groll ins Gedächtnis, denn Offiziere aus den Provinzen stiegen im Militär des Reiches nur selten wesentlich höher auf, sofern sie nicht gewieft genug für Intrigen und Attentate waren. Dennoch war die Luke nicht für Fabius, seine Mannschaft oder irgendeinen anderen Menschen da; die Luke war ein Ding an sich, ihr Daseinszweck so undefinierbar wie der eines Tempels für einen vergessenen Gott.
Und als er nun aus einem verwaschenen Himmel nach unten spähte, wurde die Vollkommenheit der Luke und ihrer Umgebung von den Eindringlingen ruiniert. Während der cetus schwerfällig auf den Standort der Luke zuhielt, spürte Quintus, wie die Wut in ihm emporbrodelte, und er ballte die Hand mehrfach zu einer schweren Faust und spürte, wie die Muskeln in seinem Arm arbeiteten.
»Es sind zwei«, sagte Gnaeus Junius. Gnaeus war Quintus’ optio, sein Stellvertreter. Gnaeus blickte durch einen exakt gearbeiteten griechischen Fernschauer – Leder und Glas in einem hölzernen Rohr – zur Luke hinunter.
»Gib her.« Quintus riss Gnaeus das Instrument aus den Händen und hielt es sich vors Auge. Wie üblich sah er zuerst nur Dunkelheit.
»Du darfst das Auge nicht so fest zukneifen, Herr.«
»Ich bin wütend. Wenn ich wütend bin, kneife ich die Augen zu.«
»Ja, Herr. Du knirschst auch mit den Zähnen.«
»Nein, das stimmt nicht.«
»Nein, Herr.«
Gnaeus Junius – schlank, dunkel und elegant, mit stets fleckenlos sauberer Tunika – war ein Ritter, ein Mitglied eines der ältesten Adelsstände Roms. Trotz seiner Jugend war Gnaeus sympathisch und fehlerlos tüchtig und hatte nichts von jener Arroganz und jenem Anspruchsdenken an den Tag gelegt, die so vielen seiner Klasse anhafteten. Quintus hatte festgestellt, dass er äußerst zuverlässig war. Aber nichts von alledem bewahrte Quintus vor einem verbitterten Groll darüber, dass es diesem Jungen bestimmt war, im Militär und darüber hinaus viel höher aufzusteigen, als es ihm selbst jemals vergönnt sein würde – dass er nur durch die Versetzung in den Ruhestand dem Schicksal entgehen konnte, diesem eleganten Jungen eines Tages unterstellt zu sein.
Jetzt rief ihm Gnaeus gelassen das vorliegende Problem ins Gedächtnis. »Also, was die Eindringlinge betrifft, Herr – es sind zwei.«
Quintus betrachtete die Fremden durch den Fernschauer. »Ein Mann und eine Frau. Ziemlich alt. In den Fünfzigern, oder noch älter? Dann dürften sie älter sein als all unsere Veteranen und deren Gemahlinnen. Außer vielleicht Titus Valerius von der siebten Kohorte, von dem ich genau weiß, dass er sich ein Jahrzehnt jünger gemacht hat. Manche Männer wollen einfach nicht in den Ruhestand gehen.«
»Ja, Herr.«
»Nun, selbst Titus wird jetzt nichts anderes übrig bleiben. Die colonia – das ist jetzt seine Aufgabe, trotz des ganzen Gemeckers.« Den ganzen Vormittag über hatte sich Quintus mit den Beschwerden der Kolonisten herumgeschlagen, der Veteranen, die auf dieser Welt bleiben würden; das hatte ihm die Laune verdorben, schon vor dieser Sache mit den Eindringlingen. In diesem fremden Dreck will einfach nichts wachsen, Zenturio … Du kannst mich nicht auf demselben Planeten wie Caius Flavius zurücklassen, Zenturio, er hat seit dem Walhalla-Superior-Feldzug ein Auge auf meine Frau geworfen, und jetzt wirft er meiner Tochter anzügliche Blicke zu! … Ich schwöre, Zenturio, ich schwöre …
»Also, das sind keine von unseren Veteranen da unten, Herr, und auch keine ihrer Angehörigen«, sagte Gnaeus taktvoll. »Und sie gehören auch nicht zu den remiges.«
Er hatte recht. Acht subjektive Jahre nach dem Abflug von Terra, einschließlich der fünf Jahre in der Enge des Schiffes, war Quintus sicher, dass er jedes Besatzungsmitglied und jeden Passagier erkennen würde, selbst den niedrigsten Sklaven. Die gesamte Mannschaft an Bord der Malleus Jesu bestand aus ein paar Hundert Personen, die Sklaven nicht mitgerechnet. Den Kern bildeten die achtzig Mann von Quintus’ Zenturie und eine gleiche Anzahl von Besatzungsmitgliedern, die remiges – ein archaischer Begriff, der von einem Wort für »Ruderer« abgeleitet war –, größtenteils Brikanti mit eigener Hierarchie und eigenen Offizieren unter der mürrischen Movena, samt deren Angehörigen. Aber die Eindringlinge dort unten erkannte er nicht.
»Sie sehen aus wie Brikanti, das muss man ihnen lassen«, murmelte er. »Diese seltsame Kleidung. Jacken und Hosen statt Tuniken und Umhänge. Komische Farben, was? Außerdem tragen sie Rucksäcke. Und was ist dieses helle Glitzerzeug auf ihren Schultern? Sieht fast wie schmelzender Raureif aus … Unmöglich, klar. Auf dieser Welt gibt es keinen Raureif, jedenfalls nicht auf der Tagseite.«
»Und keine Spur von Waffen«, ergänzte Gnaeus pragmatisch.
Quintus grunzte. »Ich würde sie lieber ausziehen und ihre Rucksäcke leeren, bevor ich da so sicher wäre. Zumindest sind sie keine Xin.«
Gnaeus schürzte die Lippen. »Ich würde keine vorschnellen Schlüsse ziehen, Herr. Das Xin-Reich ist größer als unseres und umfasst viele Ethnien. Auch wenn sie keine Xin sind, könnten sie Provinzbewohner, Späher oder gar Söldner sein.«
Quintus seufzte. »Terras tripolare Politik reicht sogar bis hierher zu uns, hm, optio? Wir, die Brikanti und die Xin.«
»Nun, die Brikanti sind unsere Verbündeten, Herr. Und wir befinden uns gegenwärtig nicht im Krieg mit den Xin.«
»Du meinst, so war es, als wir von zu Hause losgeflogen sind.«
»Richtig, Herr.«
Das Fahrzeug ging jetzt tiefer. Ketten rasselten, als Bodenanker von einem Unterdeck abgeworfen wurden. Quintus schnappte sich seinen Umhang von der Stuhllehne, über die er ihn geworfen hatte, band ihn sich um den Hals, vergewisserte sich, dass sein Schwert und die ballista an seinem Gürtel hingen, und setzte seinen Helm mit dem Federbusch auf.
Gnaeus runzelte die Stirn. »Willst du sie selbst befragen, Herr?«
»Ja, bei Christi Tränen.«
»Ich glaube, man nähert sich diesen Leuten am besten mit einer gewissen Offenheit. Wenn ich das sagen darf.«
»Hmm. Wenn sie Brikanti oder Xin sind, muss ich die korrekten diplomatischen Verfahrensweisen beachten, bevor ich ihre Ärsche ins Schiffsgefängnis verfrachte, meinst du das?«
»Diese Leute haben wir nicht hierhergebracht, Herr. Ich meine, mit der Malleus Jesu. Also können sie nur auf eine einzige Weise hergekommen sein …«
Irgendwie hatte sich diese elementare Beobachtung nicht in Quintus’ Bewusstsein verankert. »Du meinst, wenn sie nicht über Hunderte von Meilen von einer der hiesigen Luken hierhergelaufen sind, können sie nur durch diese Luke gekommen sein. Die wir selbst konstruiert haben …«
»… und die sich offenbar mit dem größeren Lukennetz verbunden hat, so wie es sein soll. Aber wir wissen nicht, wohin diese Verbindung führt. Vielleicht zu einem Ort, der noch exotischer ist als die Städte des fernen Xin.«
Trotz seiner Wut sah Quintus ein, dass diese Schlussfolgerung einleuchtend war. »Wir wissen also nicht, woher sie kommen, wie sie hierhergekommen sind oder was sie tun können. Folglich wissen wir nicht, welche Gefahr sie für uns, für das Schiff oder unsere Mission darstellen könnten. Sogar für das Imperium.«
»Nein, Herr.«
»Nun, je eher wir es herausfinden, umso besser. Bringen wir’s hinter uns. Beschaff mir Rückendeckung, optio.« Entschlossen marschierte er zur Treppe zum Unterdeck.
Er hörte, wie der optio hinter ihm Befehle bellte und in aller Eile einen Geleitschutztrupp aus diensthabenden Legionären zusammenstellte.
Es war eine Erleichterung für Quintus, als er am Fuß der Leiter den Boden erreichte, dass er den engen Luftwal verlassen und auf die Eindringlinge zuschreiten konnte. Er steckte seine ganze Energie in die schlichte Handlung des Gehens. Seine Frustrationen durch Bewegung zu verarbeiten, durch körperliche Tätigkeit: Das machte er so, seit er ein frisch rekrutierter Jungbulle in der Legio XC Victrix gewesen war, außerstande, die Schatten von Privileg, Begünstigung und Nepotismus zu bekämpfen, die seine Laufbahn im Militär von Anfang an beeinträchtigt hatten. Gehen war in Ordnung, aber jemanden k. o. schlagen zu können wäre noch besser.
Es sah jedoch eher nicht so aus, als würde sich ihm heute die Gelegenheit dazu bieten. Die beiden älteren Eindringlinge standen einfach neben dem Luken-Konstrukt und blickten ihm entgegen. Sie wirkten ziemlich überrascht – kein Wunder, dachte er, wenn man gerade durch eine Luke mit ihren Mysterien gegangen war –, hatten aber offenbar keine Angst, und es schüchterte sie anscheinend auch nicht ein, dass ein bis an die Zähne bewaffneter Zenturio des römischen Heeres auf sie zukam, als hätte er einen Kernel im Hintern.
Einer von ihnen, der Mann, rief sogar etwas. Die Wörter hörten sich für Quintus auf unbestimmte Weise vertraut an, der Akzent klang seltsam und gestelzt.
Zeit für ein Kasernenhofgebrüll, entschied Quintus.
3
Das Gefährt über ihnen sah aus wie ein riesiges Luftschiff. Es bewegte sich zügig und lautlos. Am Rumpf trug es ein Symbol, gekreuzte Äxte mit einem Christenkreuz im Hintergrund, darüber eine Aufschrift:
S P Q R
Von einer eleganten Gondel wurden Anker herabgelassen. Als das Fahrzeug in der Luft zum Stehen gekommen war, entrollte sich eine Strickleiter, die bis zum Boden reichte. Unter Yuri Edens und Stef Kalinskis erstaunten Blicken öffnete sich eine Luke, und ein Mann kletterte die Leiter herunter.
Kaum hatte er den Boden erreicht, stapfte er auch schon auf sie zu. Er trug einen Helm mit Federschmuck und einen scharlachroten Umhang über einer Tunika aus Bärenfell, wie es schien. Die Unterschenkel über den Schnürstiefeln waren nackt. An einer Hüfte trug er ein Schwert, an der anderen eine auffällige Handfeuerwaffe in einem Holster.
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«, rief Yuri.
Der Mann kam mit festen Schritten näher. »Fortasse accipio oratio stridens vestri. Sum Quintus Fabius, centurio navis stellae Malleus Jesu. Quid estis, quid agitis in hac provincia? Et quid est mixti lingua vestri? Germanicus est? Non dubito quin vos ex Germaniae Exteriorae. Cognovi de genus vestri prius. Bene? Quam respondebitis mihi?«
Immer wieder eine neue Tür, dachte Yuri. »Überlass das mir.« Er breitete die Hände aus und ging auf den zornigen Fremden zu.
»Ich glaube, ich verstehe eure gutturale Sprache. Ich bin Quintus Fabius, Zenturio des Sternenschiffs Malleus Jesu. Wer seid ihr, und was macht ihr in dieser Provinz? Und was für ein Kauderwelsch sprecht ihr da? Germanisch, nicht wahr? Zweifellos kommt ihr aus dem äußeren Germanien. Ich hatte schon mit solchen wie euch zu tun. Nun? Was habt ihr dazu zu sagen?«
Der Bursche sprach ein paar Worte zu seiner Begleiterin und trat vor. Er wirkte unerschrocken. Immerhin breitete er jedoch die Hände aus, bemerkte Quintus, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
Gnaeus Junius schloss keuchend zu Quintus auf. Als Quintus sich umschaute, sah er, dass ein kleiner Trupp von Legionären dem optio gefolgt war, so wie es den Vorschriften entsprach. »Du bist außer Atem, Gnaeus. Verdopple die Dauer deiner täglichen Ertüchtigungsphase für den Rest des Monats.«
»Danke, Herr. Glaubst du wirklich, dass sie aus dem äußeren Germanien kommen? Nun ja, du müsstest es wohl wissen.«
»Wieso das denn, Gnaeus Junius? Von Geburt an spreche ich ein reineres Latein als du! Aber mein Vater stammte aus Germania Inferior und meine Mutter aus Belgica, und das bedeutet für Leute wie dich, ich könnte ebenso gut transrhenus sein, nicht wahr?«
»Natürlich nicht, Herr.«
»Wir sind nicht alle Mondanbeter und Bärenficker, weißt du.«
»Ich bin erleichtert, das zu hören, Herr.«
»Und meine Vorfahren haben gekämpft wie die Löwen. Roms Legionen mussten uns bis zur Küste des Mare Suevicum treiben, bevor wir unterworfen wurden.«
»Worauf du schon früher hingewiesen hast, Herr.«
»Also versuch nicht, mir zu schmeicheln, Gnaeus Junius.«
»Herr …«
»Du bist nämlich sehr schlecht darin …«
»Herr. Der Eindringling macht da etwas mit seinem Rucksack.«
Quintus sah, dass der Mann sich von seiner Begleiterin abgewandt hatte und diese gerade den Rucksack auf seinem Rücken öffnete. Quintus und Gnaeus zogen sofort ihre ballistae, ihre Handfeuerwaffen. Quintus hörte, wie der Anführer des Trupps hinter ihm mit leiser Stimme barsche Befehle gab.
Als der Fremde die Reaktion der Römer sah, breitete er seine leeren Handflächen erneut weit aus und rief wieder etwas.
»Wir sollten uns auf sie stürzen«, meinte Quintus.
»Gib ihnen noch einen Moment, Herr«, sagte Gnaeus. »Sie sprechen wieder. Diese Sprache klingt wirklich ziemlich germanisch. Aber weißt du, ich könnte schwören, dass ich eine dritte Stimme höre, weder die des Mannes noch die der Frau.«
Quintus schaute sich wachsam um. Die beiden Fremden waren allein. »Dein Gehör ist entweder besser als meins, optio, oder schlechter.«
»Als käme sie aus dem Rucksack des Mannes …«
»Ein Bauchredner? Aber wir sind hier weit von jedem Jahrmarkt entfernt. Ich finde solche Tricks nicht amüsant.«
Die Frau schloss nun den Rucksack. Offenbar hatte sie das Gesuchte gefunden. Sie hielt zwei kompakte Klümpchen aus einer glatten, weißen Substanz in der Hand, die wie kleine Marmorkiesel aussahen.
»Was immer das sein mag«, sagte Gnaeus leise, »es ist auf jeden Fall zu klein für eine Waffe.«
»Wer zieht jetzt voreilige Schlüsse?«
Die Frau reichte ihrem Begleiter eines der Klümpchen. Beide hatten ein wachsames Auge auf die Römer und bemühten sich offenkundig, dafür zu sorgen, dass Quintus’ Männer alles sehen konnten, was sie taten. Behutsam drückten sie sich jeweils ein Klümpchen ins Ohr.
Und als der Mann wieder sprach, stellte Quintus zu seiner Überraschung fest, dass er seine Worte verstehen konnte.
»Ist die Übersetzung korrekt? Könnt ihr mich verstehen?«
»Er spricht Lateinisch«, hauchte Gnaeus. »Ein ziemlich gestelztes, förmliches Latein.«
»Wenn sie die ganze Zeit schon Lateinisch sprechen konnten«, knurrte Quintus, »weshalb haben sie uns dann auf Germanisch angeredet?«
»Vielleicht konnten sie es nicht«, versuchte Gnaeus zu erklären. »Vielleicht sprechen diese Klümpchen in ihren Ohren für sie. Mir ist nämlich so, als hörte ich da eine Spur Germanisch hinter den lauteren lateinischen Wörtern … Womöglich ist es auch der kleine Kerl im Rucksack auf dem Rücken des Mannes, der Lateinisch kann.«
»Und der für die anderen beiden den Bauchredner gibt, oder wie? Deine Fantasie geht mit dir durch, optio.«
»Das ist eine seltsame Situation, Herr. Vielleicht brauchen wir da Fantasie.«
»Wenden wir uns wieder der Realität zu.« Quintus steckte seine Waffe in die Schlaufe an seinem Gürtel und trat vor, die zu Fäusten geballten Hände in die Hüften gestemmt. »Worin besteht eure Mission?«
Die Fremden wechselten Blicke. »Wir haben keine Mission. Wir sind …« – und hier stockte der Sprecher, als suchte er nach einem präzisen Begriff – »… wir sind Kundschafter.« Die beiden nahmen die weißen Kügelchen aus den Ohren und unterhielten sich kurz in ihrer eigenen Sprache.
»Kundschafter? Für welche Armee? Seid ihr Brikanti, Xin oder Römer? An welchen Kaiser entrichtet ihr eure Steuern?«
»Die Brikanti haben keinen Kaiser, Herr«, sagte Gnaeus leise.
»Halt den Mund.«
Jetzt ergriff die Frau das Wort. »Unserem Sprecher fehlt das richtige Wort. Wir sind …« – ein weiteres Zögern – »… Philosophen. Wir sind durch die … die Tür gekommen …«
»Die Luke«, sagte Gnaeus.
»Ja, also schön, die Luke. Wir sind hergekommen, um zu entdecken, was hier ist, auf dieser Welt. Nicht als Teil einer militärischen Streitmacht.«
»Sie sagen, sie sind Forschungsreisende, Herr.«
Quintus grunzte. »Dann lügen sie. Römer erforschen nichts, ebenso wenig wie Alexander es getan hat – nicht zu irgendeinem abstrakten Zweck. Römer entdecken, vermessen, erobern.«
»Aber das sind keine Römer, Herr.«
»Welchem Kaiser dient ihr?«, wiederholte Quintus.
Die Fremden wechselten einen Blick. »Wir dienen keinem Kaiser. Unsere Provinz ist unerobert.« Erneut schauten sie bei der Übersetzung unsicher drein.
Quintus lachte spöttisch. »Nichts auf Terra ist ›unerobert‹, außer den Eiswüsten des Südens. Überall flattern Fahnen – irgendjemandes Fahnen zumindest, und mehr als eine, falls dort gerade ein Krieg stattfindet.«
Die Frau versuchte es erneut. »Wir kennen keinen der Namen, die du erwähnt hast. Keinen der Staaten.«
»Dann könnt ihr nicht von Terra kommen«, sagte Gnaeus.
Die Frau sah ihn offen an. »Nicht von eurem Terra.«
Gnaeus machte große Augen.
Quintus war verblüfft und frustriert. »Was soll das heißen? Vielleicht ist euer Land erobert worden und verschwunden, wie das Königreich der Juden. Vielleicht wurde euer Volk versklavt.«
»Nein«, sagte die Frau mit fester Stimme. »Wir sind keine Sklaven.« Sie schien einen Moment lang zu lauschen. »Na schön, KolE. Ich werde es hervorheben. Wir sind frei geboren.«
»Mit wem sprichst du da?«, fragte Gnaeus. »Wer ist … Colles? Collius?«
»Wir sind frei geboren«, wiederholte die Frau. »Fremde für euch, Fremde an diesem Ort, aber dennoch frei geboren. Wir bitten um euren Schutz.«
»Schutz?« Quintus klopfte sich auf den Brustharnisch. »Für wen haltet ihr mich, für einen vicarius, einen Bibelgelehrten? Ihr habt also keine Nationen. Ihr habt keine Besitzer. Habt ihr Namen? Du?« Er tippte die Frau mit einem Finger an.
»Ich heiße Stephanie Karen Kalinski.«
»Und du?«
Der Mann grinste beinahe unverschämt. »Yuri Eden.«
Quintus warf Gnaeus einen Blick zu. »Was hältst du davon? ›Stephanie‹ klingt griechisch – durchaus respektabel. Aber ›Yu-ri‹ – skythisch? Hunnisch?«
»Ihre Namen sind ebenso exotisch wie ihre Erscheinung, Herr«, sagte Gnaeus leise.
»Also, mir reicht es jetzt. Wir haben noch eine Menge zu tun, bevor die Malleus Jesu diesen trostlosen Planeten verlassen kann – zum Beispiel müssen wir bei den Veteranen für Ordnung sorgen und ihre colonia auf Vordermann bringen. Ich habe keine Zeit für philosophische Rätsel. Entwaffne sie, nimm sie als Sklaven – finde eine Verwendung für sie, falls sie überhaupt zu irgendetwas zu gebrauchen sind. Und wenn nichts mit ihnen anzufangen ist, finde einen Weg, sie ohne größeren Aufwand zu beseitigen.«
Gnaeus sah unglücklich aus, aber er nickte. »Ja, Herr.«
Die Frau trat abrupt vor. »Quintus Fabius. Du machst einen Fehler, wenn du uns wegschickst. Wir können euch nützlich sein.«
Er lachte. »Wie denn? Für eine Konkubine bist du zu alt, für eine Kämpferin zu schlaff und zu weich – kannst du vielleicht kochen?«
Sie tippte sich an den Kopf. »Wir besitzen Wissen. Wissen, über das ihr nicht verfügt.«
»Da könnte sie recht haben, Herr«, sagte Gnaeus hastig. »Wir wissen immer noch nichts über diese Leute oder darüber, wie sie hierhergekommen sind. Die Griechen haben ein Sprichwort: ›Wissen ist die mächtigste Waffe.‹«
Quintus grunzte verächtlich. »Eine Phrase, die sich garantiert irgendein glatzköpfiger Philosoph ausgedacht hat, als römische Legionäre zum ersten Mal mit gezücktem Schwert in seine Heimatstadt marschiert sind.«
»Er hat recht«, sagte die Frau. »Es wäre unverantwortlich von dir, uns für nutzlos zu erklären, solange du nicht sicher bist, dass …«
»Unverantwortlich?«, brüllte Quintus. »Willst du dich erdreisten, mir zu sagen, wie ich meine Pflichten zu erfüllen habe, Frau?«
Aber Kalinski gab nicht nach. »Wir könnten zum Beispiel Kenntnisse über einen gemeinsamen Feind besitzen, die für euch interessant wären.« Sie überlegte. »Einen Feind Roms, stärker und listiger als die Xin und die …«
»… die Brikanti«, soufflierte Gnaeus.
»Von welchem Feind sprichst du?«, fragte Quintus.
Sie deutete auf die Anlage hinter ihr. »Ich spreche von denen, die möchten, dass diese Luken gebaut werden, um den Weg zu den Sternen zu überbrücken. Und die zu diesem Zweck die Geschicke mächtigerer Reiche als eures Roms manipulieren …«
Doch nun schien der Mann, Yuri Eden, von irgendetwas abgelenkt zu werden. Scheinbar ohne auf das Gespräch zu achten, trat er einen Schritt vor.
Die Legionäre reagierten. Sie zogen ihre Waffen und scharten sich um ihren Befehlshaber. Auch Quintus machte Anstalten, seine ballista zu ziehen.
Doch Gnaeus legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten, und zeigte zum Himmel. »Es ist der Sonnenaufgang, Herr. Er verwirrt ihn.«
Remus stieg empor, der zweite Stern dieses Doppelsystems, heller als Luna oder Venus, heller als jeder Stern am Himmel Terras. Überall verdoppelten sich die Schatten. Romulus behielt seinen Platz am Himmel dieser Welt stets bei, aber Remus wanderte, er folgte einem komplizierten sichtbaren Weg, den selbst die arabischen Mathematiker des Schiffes nur mit Mühe hatten nachvollziehen können.
Und von dem vor Anker liegenden cetus kam ein Läufer herbeigeeilt. »Zenturio! Wir haben eine Meldung über einen Aufstand in der colonia bekommen. Die Männer sind im Getreidespeicher und drohen, die principia niederzubrennen …«
»Was, schon wieder?« Quintus hob den Kopf zum Himmel und stieß ein weiteres Gebrüll aus. »Vater Jesu Christi, warum ärgerst du mich so? Komm mit, optio.« Steifbeinig marschierte er zum cetus zurück.
Yuri Eden schaute verzückt zu, wie die zweite Sonne aufging.