SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche
Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und
Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7390-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5785-8 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg
© 2017 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
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Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Hintergrund: iStock.com/JohnGollop, Möwen: shutterstock.com,
Illustrationen: Kathrin Spiegelberg
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Vorwort
Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Leseempfehlungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die Bösewichte sind zur Rechenschaft gezogen worden, die Guten feiern den Anbruch fröhlicherer Zeiten, so endet mein Roman Wie Möwen im Wind, wie es sich für eine schöne Geschichte gehört. Lady Charlotte Greenwold wird zur rechtmäßigen Erbin des Landsitzes »Birch Hollow« (Birkenmulde) an der Küste Cornwalls ernannt und krönt die Wende ihres Schicksals mit der Umbenennung des Landguts in »Birch Heights« (Birkenhöhe) und der Heirat mit ihrer großen Liebe, Jake Fenton. Das dunkelste Kapitel in der Geschichte des Anwesens Birch Hollow ist zu Ende, seine Bewohner dürfen wieder aufatmen.
Als eine Leserin fragte, was wohl aus dem kleinen Jungen Eduard geworden sei, dem unehelichen Sohn des selbst ernannten Erben Malcolm Forsythe-Drake, beschloss ich, dieser Frage in der Fortsetzung Die Rückkehr des Erben nachzugehen. Meine Gedanken führten mich von der Küstenidylle Cornwalls in die dunklen Gassen Londons, wo Elend und Ausbeutung an der Tagesordnung waren. Historischer Hintergrund für diesen Band sind die Armenhäuser in den Großstädten Englands, die durch die industrielle Revolution entstanden waren. Verwahrloste Kinder waren den Grausamkeiten jener Anstalten schutzlos ausgeliefert und verarmten jungen Frauen blieb oft kein anderer Broterwerb übrig als die Arbeit in einem Bordell. Erst langsam wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Reformen eingeleitet, durch die das Los der Armen verbessert werden sollte. Trotzdem brachten es ruchlose Vorsteher der Armenhäuser fertig, auch diese Fortschritte zum eigenen Vorteil zu nützen, so wie Mr Creek in der Geschichte.
Leser von Möwen im Wind werden die Charaktere wiedertreffen, die sie im ersten Buch kennen und lieben gelernt haben. Die Hauptrolle im Geschehen übernehmen jedoch neue Figuren, allen voran Elinor, die halb blinde Tochter der Greenwolds, ihr Kindermädchen Marie und der seit Langem verschwundene Junge Eduard. Vorkenntnisse aus dem ersten Roman sind nicht notwendig, um den zweiten Band zu verstehen.
Nicola Vollkommer
Reutlingen, im Mai 2017
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Deshalb liege ich wohl richtig in meiner Annahme, dass ich nur noch wenige Tage zu leben habe …
Der Schreiber legte seine Schreibfeder auf den Tisch und lehnte sich zurück, seine Arme hinter seinem Kopf verschränkt. Er blickte zum Fenster hinaus, durch dessen staubige Scheiben ein paar fahle Lichtstrahlen von der Gaslaterne ihren Weg durch den Nieselregen in den dunklen Raum fanden. Neben einem Papierbogen, der auf dem Tisch lag, flackerte das Licht einer einzigen Kerze. Der Mann bückte sich wieder nach vorne über den Tisch, tauchte seine Feder in das Tintenfass hinein, ungeachtet der schwarzen Tropfen, die auf den Tisch und auf seine Jacke spritzten, und kratzte weiter auf dem Papier. Sein üppiger Oberkörper war in eine grüne Weste hineingezwängt, die bessere Zeiten gekannt hatte. Dunkle, zusammengezogene Augenbrauen, die wie ein Dach über zwei kleinen, blinzelnden Augen hingen, stachen aus einem aufgedunsenen Gesicht heraus. Seine Haut glänzte rötlich im Kerzenschein. Blonde Haarsträhnen, feucht von Schweiß, guckten unter einer dreckigen Schlafmütze hervor. Mehrere leere Weingläser lagen auf der Tischfläche verstreut.
Der Regen verwandelte sich in Sturzfluten; die Wolken schütteten ihren angestauten Ärger auf die Dächer der Großstadt hinaus, um auch die verborgensten Winkel Londons in ihrer Niedertracht bloßzustellen. Die Straßenränder rächten sich. Rinnsteine, die sonst mit Kot und den verwesenden Leichen von Ratten verstopft waren, spuckten ihren Unrat auf das Kopfsteinpflaster. Alles, was sich auf den schmuddeligen Straßen bewegte, suchte Deckung. Streunende Hunde und Katzen kauerten sich in Hauseingängen und unter verlassenen Fuhrwerken. Menschen hockten in den Winkeln von verfallenen Hütten, die wie aufgestapelte Kisten die engen Straßen säumten. Fensterläden, die lose in den Angeln hingen, schlugen gegen die Hauswände. Noch saß die frostige Luft des vergangenen Winters zwischen den feuchten Mauern der Häuser. Noch gewährten die brüchigen Hausdächer jedem eisigen und stürmischen Unwetter Einlass, das über London fegte. Die warmen Strahlen eines anbrechenden Frühlings hatten ihre Mühe, diesen widerlichen Fleck Englands zu erreichen.
Der Schreiber füllte einen zweiten Briefbogen mit hastig geschriebenen Sätzen. Er schien weder das tobende Gewitter zu bemerken noch den trägen Nieselregen, der darauf folgte und der wie eine feuchte Decke über der müden Stadt schwebte. Er blickte von seinem Papier hoch, nahm die Kerze in die Hand und hielt sie zum Fenster hoch. Nur das laute Triefen von den Dächern, das Platschen auf dem Kopfsteinpflaster und das gelegentliche Bellen eines Straßenhundes waren zu hören. Er erschrak kurz, als das Grölen eines Betrunkenen die Geräusche des Wassers übertönte. Es folgte ein Gurgeln, Stöhnen und Spucken. Der Briefschreiber rümpfte die Nase, griff nach der Flasche, die auf dem Tisch stand, neigte seinen Kopf nach hinten und kippte sich den Inhalt in einem Zug in den offenen Mund. Er schmatzte, rieb sich die Augen, hielt die Kerze zum Papier hin und bewegte seine Lippen, während er die Worte las, die er geschrieben hatte:
Ich hoffe, durch dieses Schreiben einen endgültigen Strich unter unseren Familienzwist zu ziehen und den von mir verursachten Ärger mit ins Grab zu nehmen.
Seine Gesichtsmuskeln verzerrten sich zu einem breiten, krummen Grinsen. Er legte Kerze und Papier wieder auf den Tisch und kritzelte die Worte In tiefer, dankbarer Verbundenheit und seinen Namen unter das Geschriebene.
»Das Siegel besorgen wir uns morgen, dann haben wir die erste Etappe unseres Abenteuers hinter uns«, sagte er laut. Mit einem Funkeln in den Augen faltete er den Brief und steckte ihn in einen Umschlag, den er in eine Schublade unter dem Tisch legte. Danach knöpfte er seinen Samtrock zu, zog halblange Schnürstiefel über seine Strümpfe, ohne diese festzubinden, blies die Kerze aus und schlurfte aus dem Raum.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
»Diese verflixte Wolle! Sie bringt mich ins Grab!« Harriet warf ihr Strickzeug auf den Küchentisch, verschränkte die Arme und betrachtete ein Knäuel verworrener Wollsträhnen, das neben ihrem angefangenen Werk lag. »Einmal blicke ich in die falsche Richtung, Franny, und die Wollfäden verheddern sich wie von alleine. Die Strähnen zu entwirren, dauert eine Ewigkeit.«
»Wie alles Böse in der Welt«, antwortete Franny, die am anderen Ende des Tisches Geschirrtücher sortierte und aufeinanderlegte. »Einmal blickt man weg und das Leben verheddert sich. Und es dauert eine Ewigkeit, es wieder zu entwirren.«
Sie erhob sich und wühlte in einer Schublade nach einem Zündholz. »Jetzt zünden wir die Kerze an, Harriet, damit du deine Wolle wenigstens sehen kannst und nicht mehr so grimmig dreinschauen musst. Dieses Abendlicht ist nichts für müde Augen. Den ganzen Tag Brühe kochen, Fleisch anbraten und Kartoffeln schälen und dann abends noch stricken. Du bist nicht mehr die Jüngste und solltest hin und wieder an dich denken.«
»An mich denken?«, empörte sich Harriet, die ihr Strickzeug wieder in die Hand genommen hatte. »Wie verwerflich. Wenn Nachwuchs im Haus erwartet wird, dann wird gestrickt, Alter hin oder her.«
Plötzlich hielt sie inne. Sie legte das Strickzeug auf den Tisch und wandte ihren Kopf zur Tür hin. »Hat es geklopft oder spielen meine Ohren Streiche?«
»Irgendwas habe ich auch gehört«, sagte Franny.
»Das wird der Junge vom Dorf sein, Franny. Er holt Kräuter für seine kranke Mutter. Lady Charlotte hat getrocknete Minze und Petersilie zusammengeschnürt. Auf dem Regal über dem Herd.«
Franny holte die Kräuter, zog den Türriegel zurück und schob das Bündel durch den offenen Spalt. »Das nächste Mal kommst du um eine Zeit, in der anständige Leute auf den Beinen sind, mein Junge.« Sie hielt mitten im Satz an und öffnete die Tür weit. »Du lieber Himmel … was … wer in aller Welt bist du?«
Im düsteren Licht der Abenddämmerung war die zierliche Gestalt einer Frau zu sehen, deren Kopf unter einer großen Kapuze verborgen war. »Lady Charlotte Greenwold? Ich muss dringend mit Ihnen reden!« Die Stimme war heiser, dringlich und hechelte. Zwei zitternde Hände schauten unter dem schwarzen Umhang hervor.
»Du irrst dich, Mädchen. Ich bin nicht Lady Greenwold und ich versichere dir, Lady Greenwold erwartet keinen Besuch. Nicht zu dieser verfluchten Stunde und bestimmt nicht an der Tür zum Gemüsegarten. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
Die Frau klammerte sich mit beiden Händen am Türgriff fest. »Wenn es jetzt nicht passt, komme ich morgen wieder, Ma’am!«
»Morgen hat Lady Greenwold auch keine Zeit. Nimm um Gottes willen die Hände von der Tür! Da kann ja wohl jeder wie ein Gespenst aus dem Nebel aufsteigen und nach der Lady des Hauses verlangen! Wenn du nicht loslässt, hole ich den Wachmann vom Dorf.«
Bevor Franny die Tür zuziehen konnte, warf die Frau, die sich mit einer Hand immer noch am Griff festhielt, ihre Kapuze nach hinten. Das Licht, das durch die Tür schien, offenbarte blasse Gesichtszüge und eine Stirn, in der blaue Adern durch eine hauchdünne Haut schimmerten. Aus einem hohlwangigen Gesicht starrten große Augen, in denen Tränen schimmerten.
»Ich heiße Marie.«
»Schön zu wissen, dass du einen Namen hast. Es gibt eine Unterkunft für Durchreisende in Sedgeworth, Marie. Durch Hipperclove hindurch, an der Küste entlang, zwanzig Minuten zu Fuß.«
Franny drückte ihre Hände gegen die Schulter der fremden Frau, schob sie nach hinten in den Garten und sprang in die Küche zurück. Sie schlug die Tür hinter sich zu, schob den Riegel vor und drückte ihren Rücken gegen die Innenseite, als ob sie Angst hätte, dass die Frau magische Kräfte besitzen und durch die geschlossene Tür hineindringen könnte.
»So kratzbürstig, Franny?«, fragte Harriet, die ihren Kampf mit der Wolle wieder aufgenommen hatte. »Du hattest versprochen, das Wort ›verflucht‹ nicht mehr zu sagen. Du rufst den Zorn Gottes auf uns hernieder.«
»Der liebe Gott weiß, wie ich es meine, Harriet.«
»Du hättest der Dame wenigstens eine Brotkruste in die Hand drücken können.«
»Dann kommt sie erst recht wieder. Im Dorf wird ihr jemand etwas zuwerfen, abgemagert, wie sie aussieht.«
Harriet schüttelte nur den Kopf. Franny zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter auf die Tür und kehrte zum Tisch zurück. »Ha! Brauchst nicht so mitleidig tun, Harriet. Leg dir ein dickeres Fell zu. Sie ist nicht die Erste und wird nicht die Letzte sein, die Gefälligkeiten bei Lady Greenwold sucht.«
Sie zündete eine zweite Kerze an und setzte sich zu Harriet an den Tisch. »Jetzt hast du genug Licht, um deine rebellische Wolle in geordnete Bahnen zu lenken, Harriet! Blau und rosa gemischt. So darf es ein Junge oder ein Mädchen werden. Ich ahne, dass Lord Jake gerne einen Jungen hätte.«
Harriet kratzte mit einer Stricknadel auf dem Tisch herum und blickte hoch. »Woher willst du wissen, dass Lady Charlotte die Frau abgewiesen hätte, Franny?«
»Dir geht die Frau immer noch im Kopf herum, Harriet, stimmt’s? Genau das ist das Problem. Du bist wie Lady Charlotte. Sie kann nicht einmal einen Hund von der Tür weisen. Es streunen in letzter Zeit seltsame Gestalten in der Gegend herum. Die Grenzen zu Birch Heights sind undicht, Lady Charlotte ist fahrlässig mit ihrer Großzügigkeit, irgendwann geht etwas schief. Gestern musste ich mit meinen rheumatischen Händen Zentner von Kartoffeln schleppen, nur weil Mrs Madisons Mann das Bein gebrochen hat und sie ihren Jungen schickte, um Hilfe zu holen. Lady Charlotte würde den Teufel selber zu Tisch bitten, wenn er um Almosen betteln würde!«
Die beiden Frauen arbeiteten in Ruhe weiter. Plötzlich klopfte es wieder, dieses Mal an der anderen Tür, die zum Hauptteil des Herrenhauses führte.
»Du lieber Himmel, kann eine Frau keine zwei Minuten Wolle bearbeiten, ohne dass jemand was von ihr will?«, schimpfte Franny.
Ein stämmiger, dunkelhaariger Mann erschien mit einem lachenden Gesicht an der Tür.
»Ach du bist es, Dickon. Ich helfe Harriet, dann komme ich gleich.«
»Ich rufe dich, sobald meine Füße im Bett gewärmt werden müssen, meine Liebe!«, antwortete Dickon. »Lady Charlotte braucht dich dringender. Lady Elinor schlägt um sich und verlangt nach einem zweiten Abendgetränk!«
Durch die offene Tür drang das ferne Geschrei eines Streitgesprächs. Franny warf Harriet einen bedeutsamen Blick zu und legte die Wolle in den Korb. »Ich gehe hoch, Harriet. Ein zweites Abendgetränk gibt es nicht, dafür aber klare Worte. Schon wieder ein freier Abend im Eimer. Ich bin gleich wieder da!«
Dickon hielt die Tür auf und folgte seiner Frau die Steintreppe hoch. Das Geschrei wurde lauter.
»Diese bockige Ziege soll eines Tages Lady von Birch Heights werden? Tolle Aussichten!« Franny begleitete jede Silbe mit einem stampfenden Fuß auf der nächsten Stufe der Treppe.
»Mit etwas Glück hat der Storch dieses Mal einen Jungen mitgebracht«, antwortete Dickon. »Damit wäre das Problem zumindest gelöst.«
Franny warf einen Blick nach hinten über ihre Schulter und verdrehte die Augen. »Willst du andeuten, dass nur ein Junge Birch Heights richtig führen kann, Dickon?«
»Ich deute nichts an, Franny. Hab aber Nachsehen mit Lady Elinor. Sie ist erst zehn und trägt ein hartes Schicksal. Ich möchte nicht wissen, wie du herumtoben würdest, wenn du blind wärst.«
»Erst zehn? In dem Alter habe ich mühelos einen ganzen Haushalt geführt. Ordentlich, fleißig und mit einem Blick für das Notwendige. Auch blind hätte ich das geschafft. Allerdings war ich abends zu müde, um so spät noch ein Getränk zu verlangen und meine Mutter anzubrüllen!«
Dickon klopfte seiner Frau mitfühlend auf die Schulter und sprang zur nächsten Treppe, die zu den Räumen der Bediensteten führte. Dort hatten Franny und Dickon ihr bescheidenes Zuhause. Er grinste, als eine laute Stimme aus einem der nahe gelegenen Räume ertönte.
»Ich hasse Franny, ich hasse Dickon, ich hasse Harriet, ich hasse alle!«
»Langsam, langsam, Elinor. Bald bekommst du eine neue Gouvernante, dann wird alles gut.«
Das war Lady Charlottes Stimme. Das Geschrei wurde lauter. Franny klopfte an die Tür. Sie hörte schnelle Tritte, die Türklinke bewegte sich und Lady Charlotte stand im Türrahmen. Ihre hellbraunen Haare hingen lose um ihr Gesicht, Spuren von Tränen waren auf ihren blassen Wangen zu sehen und die Ärmel ihres Nachthemds waren hochgekrempelt.
»Franny, schon wieder findest du mich ungeschminkt, verzweifelt und völlig aufgelöst vor. Elinor tobt wie eine Wildkatze. Lord Jake kommt erst morgen wieder. Ich bin erschöpft und habe mindestens sechs weitere graue Haare gezählt, als ich heute Abend meine Haube losgebunden habe.«
»Mylady, seien Sie dankbar, dass Sie die grauen Haare noch zählen können. Ich finde auf meinem Kopf kaum Haare, die nicht grau sind. Ganz zu schweigen von meinen stöhnenden Knochen. Bald brauche ich drei Männer, die meinen schweren Körper die Treppe hochschleppen. Und wenn ich etwas über Ihre Tochter sagen darf … «
»Du sagst, was du willst, ob du darfst oder nicht!«
»Ein zweites Abendgetränk ist das Letzte, was das Kind braucht!«
Lady Charlotte zog die Tür hinter sich zu und führte Franny zurück zur Treppe. Hier war Elinors Geschrei nicht mehr so laut zu hören. »Sobald wir eine neue Gouvernante haben, bist du deiner Verantwortung für Elinor entledigt und kannst dich ganz dem Haushalt widmen. Wir holen Jungen und Mädchen aus dem Dorf, um im Haus und im Park mitzuhelfen. Dann kannst du die Füße öfter hochlegen. Dickon bekommt so viele freie Tage, wie er möchte, als Lohn für seine Arbeit unter den Felsen.«
Franny tippte mit dem Fuß auf den Boden. »Ist es Ihnen etwa nicht aufgefallen, dass Ihre Tochter kein großes Interesse an einer Gouvernante hat, Mylady?«
»Sie bekommt eine, ob sie Interesse hat oder nicht. Hier setze ich mich durch.«
»Na so was. Wird auch Zeit. Das Kind braucht eine feste Hand.«
»Ich hatte auf deine feste Hand gehofft, Franny.«
»Es gibt elterliche Pflichten, die man nicht auf andere abwälzen kann, Mylady. Wenn Sie nur mehr Zucht …«
»Bitte, Franny«, sagte Charlotte. »Ich brauche nicht schon wieder eine Predigt über Zucht.« Sie griff Franny an beiden Armen. »Liebe Franny, du bist für uns mehr als eine Haushälterin. Du gehörst zur Familie. Ich leide darunter, dass du so überlastet bist. Wir tun etwas dagegen. Hab bitte Geduld.«
Franny seufzte. »Ich habe Geduld, Mylady.«
Ihre Stimme wurde sanfter. »Wenn es nur so bleiben würde, wie es jetzt ist, wäre es zu verkraften, Mylady. Aber der Besuch der Stadtkinder im Frühsommer? Die Idee ist nobel, aber die Kräfte reichen nicht aus. Mein Rheuma wird nicht besser. Ich komme mir manchmal vor wie eine alte Frau. Harriet ist bald blind wie eine Fledermaus.«
»Das habe ich an der Suppe bemerkt«, sagte Charlotte.
»Sie werden es an vielen Sachen merken, wenn es so weitergeht, Mylady. Harriet braucht mich in der Küche lieber heute als morgen. Sie selber sind in anderen Umständen und müssen sich schonen.«
Charlotte ließ ihre Hände wieder fallen und ihr Gesicht hellte sich auf. »Auch daran haben wir gedacht, Franny. Es kommen weniger Kinder als zunächst geplant. Nur fünfzehn. Beschluss von Lord Jake. Vier Buben, elf Mädchen. Für drei Wochen. Nicht hundert Kinder für den ganzen Sommer, wie ich es wollte.«
»Gott sei Dank, dass wenigstens Lord Jake ein Gehirn zwischen den Ohren hat!«, antwortete Franny trocken.
Das Geschrei aus dem Kinderzimmer hatte aufgehört.
»Sie ist ruhig. Vielleicht ist sie aus Versehen eingeschlafen. Du kannst gehen, Franny. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
»Bleibt nur zu hoffen, dass die Herrschaften eine Gouvernante finden, die es mit dem Wildfang aufnehmen kann«, bemerkte Franny, als sie in die Küche zurückkehrte.
Harriet blickte hoch von den Wollsträngen, die sie um die Hand wickelte. »Ruhig?«, fragte sie.
»Schneller als gestern«, antwortete Franny. Sie setzte sich hin und begutachtete Harriets Fortschritte mit der Wolle.
»Ich muss immer noch an die arme Frau an der Tür denken, Franny«, fing Harriet noch einmal an. »Ich habe Angst, dass wir die falschen Leute auf die Straße setzen.«
»Die richtigen kommen wieder. Diese kommt bestimmt nicht wieder.«
»So wie du mit ihr umgegangen bist, auf keinen Fall.«
»Gönn deiner Wolle eine Pause, Harriet. Bei Tageslicht lässt es sich besser stricken. Bis Lady Charlotte die kleinen Strümpfe braucht, geht die Sonne noch einige Male auf und unter.«
»Recht hast du«, stimmte Harriet zu. »Bringen wir diesen müden Tag zum Abschluss. Er hatte genug Sorgen, morgen kommen neue.«
»Sag das bloß nicht, Harriet. Du forderst das Schicksal heraus.«
Beide waren aufgestanden und hatten begonnen, Wolle und Stricknadeln zusammenzupacken.
»Das Schicksal treibt, was es will, Franny, ob wir es herausfordern oder nicht.«
Franny blies die Kerzen aus, zog den Spitzenvorhang am Fenster zur Seite und warf einen Blick in den Garten, der in Dunkelheit verhüllt war. »Ich muss Frederik sagen, dass er seinen Spaten vergessen hat«, murmelte sie, bevor sie ein letztes Mal prüfte, ob die Tür auch wirklich fest verriegelt war.
Draußen schlich eine verhüllte Figur an der Außenmauer des Gemüsegartens entlang, wartete, bis das Licht in der Küche erloschen war, und huschte über die weite Rasenfläche des Parks. Sie verschwand im Waldgestrüpp am anderen Ende des Rasens. Dort trennte eine Gruppe von Birken das Anwesen von der gewölbten Steinbrücke, die über den Fluss zum nahe gelegenen Dorf Hipperclove führte.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
»Beweg deinen Hintern, du Miststück, und rasch!«
Dass heute kein guter Tag sein würde, hatte Eduard vor Sonnenaufgang geahnt, als er mit einer Ohrfeige geweckt worden war. Etwas brodelte in der Seele des Mannes, den er »Vater« nannte.
»Mit leerem Magen geht die Arbeit schneller, Junge. Kein Frühstück!!«
Das hatte für Eduard Vorteile. Wenigstens würde er sich nicht übergeben müssen. Er warf eine abgenützte Filzjacke über seine Schultern und schob seine Arme in die Ärmel, während er hinter seinem Vater hertrottete. Sie verließen ein hohes, verfallenes Reihenhaus, über dessen Eingang ein Schild mit den Worten Drake & Birch Bestatter an einer einzigen Schraube befestigt war und in dessen staubigem Schaufenster schwarze Tücher über Särgen und Kisten in verschiedenen Längen und Größen hingen. Ein dichter Nebel hatte sich auf die Gassen Londons gelegt und verhüllte die oberen Stockwerke der Häuser in einen milchigen, weißen Dunst. Eduard sank bis zu den Knöcheln in den Schlamm, der durch das Gewitter in der Nacht angeschwemmt worden war.
Der Leichenbestatter schleppte einen Holzkarren hinter sich her, auf dem der Name Drake & Birch in der gleichen Schriftart wie auf dem Schild blass zu erkennen war. Die Holzräder rumpelten und spritzten auf allen Seiten Dreck hoch. Eduard versuchte, mit den großen Schritten seines Vaters mitzuhalten. Er stolperte durch die gewundenen Gassen hinter dem Karren her, bis sein Vater an einer schmalen Tür anhielt. Dort ließ er den Karren stehen, zerrte Eduard durch den offenen Eingang und zog ihn mit sich, drei Holztreppen hinauf bis zu einer Tür, die im Schatten des Treppenhauses kaum zu erkennen war.
»Was sträubst du dich so, du elender Lausbub? Rein mit dir!«
Ein mörderischer Gestank schlug Eduard entgegen, als er durch die Tür strauchelte: Fäulnis, Kot, verwestes Fleisch von Tieren oder Menschen. Er presste eine Hand über Mund und Nase und suchte mit der anderen nach etwas Festem, woran er Halt finden konnte. Das einzige Licht im Raum kam aus einem hohen Fenster, das mit einer alten Wolldecke halb zugedeckt war. Die Stille war beklemmend. Kein Geräusch war zu hören außer einem gelegentlichen Wassertropfen, der in einen Eimer unter dem Fenster platschte. Ein Holzbrett am Boden knarrte laut, als Eduards Vater mit festen Schritten den Raum ablief. Eine Ratte huschte vorbei und verschwand in einem Loch in der Wand. Eduard atmete tief durch und stützte sich am Türrahmen. Zwei Haufen von Lumpen waren in dem schwachen Licht, das vom Fenster kam, an zwei Wänden gerade noch sichtbar.
»Mir wurde eine gemeldet«, brummte Eduards Vater. »Niemand hier, der bezahlt. Wir halten es kurz.« Er wandte sich Eduard zu. »Auf, los, an die Arbeit, fang mit der da an!«
Er deutete auf die entfernteren Lumpen und wandte sich dem Haufen zu, der direkt neben der Tür lag.
Eduard wusste, was er zu tun hatte. Er überquerte auf Zehenspitzen den Raum. Er streckte seine zitternde Hand aus und zog die Decke blitzschnell weg, aus der ein verfilztes Haarbüschel herauslugte. Ein Käfer rannte über seinen Ärmel, er zuckte mit einem Schrei zusammen. Er zwang sich, das Gesicht anzuschauen, das unter der Decke lag. Zwei Zähne ragten über eine blau angelaufene Unterlippe hinaus. Zwei Wangenknochen stachen beinahe durch die Haut. Das Gesicht war eingefallen und totenblass.
Plötzlich schrie Eduard auf und sprang rückwärts nach hinten, in Richtung Tür. »Vater, er hat sich bewegt. Er lebt noch! Ich schwöre es!«
Er stolperte über die Türschwelle und sank stöhnend und hustend zu Boden, wo er sein Gesicht gegen die Bretter fallen ließ, seine Hände über dem Kopf zusammenlegte und wie gelähmt kauerte. Sein Vater schritt energisch auf ihn zu, packte ihn am Kragen, erteilte ihm eine Ohrfeige und schleppte ihn zurück zu der durchgelegenen Matratze, auf der die leblosen menschlichen Überreste lagen.
»Und wenn?«, brüllte er. »Dann hatte ich doch recht, dass ich nur für die eine Leiche bestellt war. Du hältst hier Wache, ich richte den Toten da drüben. Wenn die erbärmliche Gestalt hier bis nachher mausetot ist, nehmen wir sie auch mit.«
Eduard klammerte sich ans Bein seines Vaters. »Ich kann nicht mehr, Vater! Lass mich draußen warten! Ich will nicht mehr Tote abholen! Gib mir eine andere Arbeit!«
»Jetzt reicht es aber, du faules Mistvieh!!«
Die nächste Ohrfeige war so scharf, dass sie Eduard auf den Boden warf. Noch eine und dann noch eine. »Meinst du, ich habe mir diese Arbeit freiwillig ausgesucht, Junge? Häh?«
Sein Ton wurde auf einmal leiser. »Wenn du eine bessere Zukunft haben willst, dann tue, was ich dir sage. Es ist nicht für immer.«
Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Zitternd am ganzen Leib, richtete Eduard seinen Blick wieder auf das gespenstische Gesicht, das im Schatten vor ihm lag. Er schluckte und beugte sich über die Matratze. »Lieber einem Schrecken ins Gesicht schauen, als es hinter dem Rücken zu haben«, tröstete er sich.
Er hielt sich die Hand über den Mund, um nicht wieder schreien zu müssen. Die Augenlider des Kranken zuckten. Auf einmal verschwanden sie und zwei weit aufgerissene Augen starrten zur Decke, Schaum bildete sich vor dem Mund. Der Kranke versuchte, seinen Kopf aufzurichten und etwas zu sagen. Eine Sekunde lang blickte er Eduard direkt in die Augen. Anstatt zu reden, fing er an, wie ein Irrsinniger zu kichern und zu husten. Plötzlich sank er stöhnend nach hinten, warf einen Arm auf die Decke, drehte seinen Kopf zur Seite und wurde still. Sein Mund hing offen, dunkler Schaum tröpfelte auf den Boden, seine Augen waren immer noch offen. Den toten Ratten, die an der Wand lagen, sah er auf grauenhafte Weise ähnlich.
Der Bestatter hatte die erste Leiche in ein graues Tuch eingewickelt, das in fernen Urzeiten weiß gewesen war, holte aus seiner Tasche ein zweites Tuch und wickelte die andere Leiche ein. Zu zweit trugen sie zuerst die eine und dann die andere die schmale Treppe hinunter und legten sie in den Holzkarren.
»Wir suchen den Raum noch einmal ab!«, rief der Leichenbestatter. Er zog Eduard die Treppe wieder hinauf in die verkommene Hütte, riss die Türen von Schränken und Schubladen auf, warf einen Blick unter die Matratzen und prüfte, ob alle Fußbodenbretter festgenagelt waren.
»Steck deinen dummen kleinen Kopf in den Herd hinein, ob da Geldsäcke sind«, befahl er und redete weiter zu sich selber, während er die Wände abklopfte. »Man weiß nie, auf welcher Beute bettelarme Leute liegen, wenn die Maden in ihre Leichen hineinkrabbeln, auch wenn sie den Winter über keinen Krümel gegessen haben. Schade, keine Bezahlung, aber die Leichen könnten mir dienlich sein. Immerhin.«
Sie verließen das Elendsquartier, ohne einen Fund gemacht zu haben. Die Schränke und Schubladen blieben offen, und die Lumpen, in denen die Bewohner gelegen hatten, lagen verstreut auf dem Boden. Letzte übel riechende Reste eines Lebens, das keiner würdigen würde, und eines Sterbens, das keiner betrauern würde.
Bis die Glocken der St.-Pauls-Kathedrale neunmal schlugen und die Luft vom Poltern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster und von den Stimmen der Käufer und Verkäufer auf dem Markt in Monkton Gardens hallte, hatte der Bestatter die zwei klapperdürren Leichen mit Wasser abgespritzt und sie in Grabtücher eingewickelt.
Zwei Tage später lag ein neuer Sarg auf dem langen Tisch im Ausstellungsraum von Drake & Birch, wo die letzte Wache für die Toten gehalten wurde – oder vielmehr nicht gehalten wurde, weil Drake & Birch meist für Armenbegräbnisse zuständig war. Der Sarg war zugenagelt und mit einem kleinen bronzenen Schild versehen, auf dem die Worte standen: »Sir Malcolm Forsythe-Drake, gestorben am …«
Der Bestatter stand daneben. Er musterte die Kiste und fuhr mit einer Hand über das Holz und das Schild.
Danach zog er seinen Mantel an, setzte einen Hut auf, griff nach dem Koffer, der neben ihm auf dem Boden stand, und marschierte zur Tür hinaus. Es nieselte draußen. Eine feuchte, klebrige Decke hing über der Stadt, ein giftiger Dampf stieg aus den Rinnen am Straßenrand, in denen das Abwasser aus den brüchigen Häusern langsam Richtung Themse floss. Er warf einen Blick in beide Richtungen, zog die Tür zu und hängte ein Schild an den Türgriff: »Inhaber verstorben, Bestattungsinstitut bis auf Weiteres geschlossen.«
Er winkte eine Kutsche herbei. »Blanche House«, rief er dem Postillion zu und stieg ein.
Der Postillion grinste und nickte. Die Pferde wieherten und die Räder setzten sich in Bewegung.
»Gründliche Arbeit hast du geleistet!«, rief Dickon.
»Hast du was gesagt?«, rief Frederik zurück.
Dickon winkte als Antwort mit der Hand und stieg langsam die Steintreppe hinauf. Mit der anderen Hand hielt er eine Laterne in die Höhe.
Der unterirdische Gang, durch den die zwei Männer liefen, gehörte zu einem Labyrinth von Höhlen, die unter den hohen Küstenfelsen vom Anwesen Birch Heights zum Meer führten. Das Donnern der Wellen unter den Felsen war so ohrenbetäubend, dass selbst hartgesottene Höhlengänger immer wieder ängstlich um sich blickten in der Erwartung, jede Sekunde von tobenden Wassermassen überrollt zu werden.
Dickon blies die Kerze aus, als die Männer sich dem Höhleneingang näherten. Ein Strahl des Tageslichts warf einen gelbbraunen Schimmer auf die alte Steintreppe. Mulden in den Stufen waren die einzig verbliebenen Zeugen von Mönchen, die diesen Weg in früheren Zeiten als Zugang zu unterirdischen Lagern am Meer benützt hatten, bevor die ersten Herren von Birch Heights diesen Teil der Cornwallküste in Besitz nahmen.
Frederik klopfte mit der Hand auf ein Holzgeländer, das beide Seiten der Steintreppe säumte. Der Lärm der Wellen war inzwischen nur noch aus der Ferne zu hören. »Kaum zu glauben, dass sich jahrelang Mörder und Schmuggler hier herumgetrieben haben«, sagte er mit zusammengepressten Lippen.
»War Zeit, dass wieder frische Luft in die Höhlen hineindringt«, antwortete Dickon. »Lady Charlotte will unter die unrühmliche Vergangenheit ihrer Familie einen Schlussstrich ziehen und hofft, dass das Getrappel von Kinderfüßen in den Höhlen dazu beiträgt. Laut meiner Franny versinkt Lady Charlotte nach wie vor immer wieder in tiefe Grübeleien und quält sich mit der Vorstellung, dass ihr Vater ein Mörder war und dass ihre geliebte Schwester unter den Opfern der letzten Schiffsplünderung war.«
Frederik senkte seinen Blick und schüttelte den Kopf. »Ob man so eine Vorstellung jemals ganz aus dem Gedächtnis verbannen kann?«
Als Antwort zeigte Dickon mit der Hand auf die Felswand. »Mich schaudert, wenn ich daran denke, dass hier die Toten aus den Schiffen aufgestapelt waren. Diejenigen, die dann die Toten nach und nach je nach Phase der Zersetzung in eine Höhle weiter hinten tragen mussten, damit der Gestank nicht nach außen dringen konnte, beneide ich nicht um ihre Tätigkeit. Auch wenn der alte Greenwold sie vielleicht gut dafür bezahlte.«
»An solche Grausamkeiten erinnerst du, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?«
»Ich erzähle nur Tatsachen, Frederik. Bist du nicht auch stolz auf unser Werk? Schließlich haben wir mit dem neuen Holzgeländer an der Treppe und der Befestigung der unteren Wege nicht nur einen sicheren Zugang zum Strand gebaut, sondern auch ein paar Gespenster verscheucht und einen gruseligen Friedhof in einen Kinderspielplatz verwandelt. Ich bin glücklich darüber, dass die dunklen Hallen nach Seetang und Möwenkot duften und die Natur ihr Hoheitsgebiet zurückerobert hat. Lady Charlotte kann von Kinderscharen träumen, die am Strand spielen, anstatt von den grausamen Taten ihrer Väter geplagt zu sein.«
Die Männer traten durch die offene Tür eines alten Turms heraus, der einzige Überrest des Klosters, das früher hier gestanden hatte. Vom Licht der Sonne geblendet, warfen sie einen Blick zurück. Die Stufen waren in Dunkelheit gehüllt.
»Wie in einer anderen Welt ist es dort unten«, flüsterte Frederik, »eine Welt, die immer noch ihre Geheimnisse hütet.«
Dickon nickte. »Sag so was ja nicht in Hörweite meiner Franny, sonst wittert sie wieder Einbrecher von allen Seiten.«
»Die Frau, die gestern Abend vor der Tür stand, ist sie wieder aufgetaucht?«
»Gott sei Dank, nein. Meine Franny hat sie gründlich weggejagt. Ich habe meine Frau selten aufgebrachter gesehen.«
Sie drehten sich von dem Höhleneingang weg und blickten in die andere Richtung. Kaum ein Mensch blieb auf dieser Anhöhe stehen, ohne schweigend innezuhalten. Im Tal unter ihnen schmiegten sich die Mauern von Birch Heights in sanfte Rasenflächen. Die drei Flügel des Herrenhauses, aus verschiedenen Epochen stammend, sahen aus, als ob sie zufällig zusammengewürfelt wären. Die angelegten Gärten um das Haus herum ergaben ein Bild von gepflegter Schönheit, während das Gestrüpp, das den Park umsäumte, die willkürliche Handschrift einer sich selbst überlassenen Waldlandschaft trug. Entlang der Berghänge am fernen Rand des Parks reihten sich Weinstöcke in schnurgeraden Linien aneinander, wie Soldaten, die auf den Marschbefehl warteten. Tausende von winzigen Knospen an den Weinreben trotzten dem Grau der Hügel mit einem Schimmer von Grün. Schon jetzt waren die Grasflächen mit Farbtupfern in Lila, Weiß, Gelb und Blau übersät. Sie sahen aus wie kleine Edelsteine, die eine Gartenfee freudig hingeschleudert hatte, bevor sie im Schatten der riesigen Eichen wieder verschwunden war. Wiesenschaumkraut und Buschwindröschen, Schlüsselblumen und Vergissmeinnicht breiteten sich wie ein Flickenteppich am Fuß des Hügels aus, auf dem die Turmruine stand. Nicht mehr lange und die Fliederbüsche, die den Birkenwald am Rande des Parks säumten, würden in Weiß und Lila erstrahlen.
Frederik und Dickon schlenderten den Berghang hinunter auf ein kleines Lattentor in einer alten Steinmauer zu. Auf der anderen Seite der Mauer lagen Haufen von Sträuchern und Zweigen.
»Die Wiese habe ich freigeräumt«, sagte Frederik. »Hier bauen wir die Wrackteile auf.«
Dickon durchmaß die Fläche mit langen Schritten. »Ein Mann für alles bist du, dazu noch einer mit Köpfchen«, grinste er. »Nicht nur hochgewachsen, stark und gut aussehend. Ich bin beeindruckt!«
»Und ich bin von deinen Schmeicheleien weniger beeindruckt, Dickon. Wir holen das alte Schiff aus der Fischerhöhle und bauen es hier wieder auf. Ein Paradies für Kinder. Sobald ich die Felswand zur Fischerhöhle von innen durchbrochen habe, können wir über der Hochwasserlinie eine Anlegestelle für ein Fischerboot errichten.«
Dickon blieb stehen und ließ seinen Blick über die Wiese schweifen. »Lord Jake werden die Augen leuchten. Seitdem er im Armenhaus in Plymouth war, denkt er Tag und Nacht an das Schicksal der Waisenkinder. Die Zustände in den Häusern sind elend. Die Kinder bekommen eine Brühe zu essen mit Knochenresten, die kein Hund fressen würde, und müssen vierzehn Stunden am Tag arbeiten. Kein Wunder, dass der kleinste Husten sie umhaut und sie wie die Fliegen sterben.«
»Ein Wunder, dass sie überhaupt hierherkommen dürfen«, erwiderte Frederik. »Ob es ihnen wirklich hilft, ein Stück Paradies zu erleben und danach in die Hölle zurückzukehren?«
Dickon antwortete mit einem Achselzucken. »Wenn sie Glück haben, nehmen sie ein Stück Paradies mit, wenn sie wieder gehen.«
Sie liefen durch den Birkenhain zum Rand des Parks und blieben an einer Kreuzung stehen, an der der Weg nach rechts über die gewölbte Brücke in Richtung Dorf und der andere über den Rasen zum Haupteingang von Birch Heights führte. Frederik hob seine Kappe mit einer Hand und klopfte Dickon mit der anderen auf die Schulter.
»Ich gehe nach Hipperclove, Dickon. Bis morgen.«
»Und ich erfahre von meiner Franny, welche Entgleisungen die junge Lady Greenwold sich heute erlaubt hat, danach falle ich nach diesem langen Tag nur noch ins Bett. Danke nochmals für jeden Sandsack, jedes Holzbrett, jeden Spatenstich.«
Frederik winkte, drehte sich auf dem Absatz um und lief zur Brücke hin.
Nachdem er den Fluss überquert hatte, hörte Frederik plötzlich ein aufgeregtes Wortgefecht, das aus der Richtung kam, aus der er gekommen war. Er blieb stehen. Dickons Stimme, laut und zornig, wechselte sich mit den schrillen Worten und schluchzenden Klagen einer Frau ab.
»Ist da was?«, rief Frederik in den Wald zurück. Er drehte sich um und eilte über die Brücke wieder in den Birkenhain zurück. Die Stimmen wurden lauter.
»Dies ist ein privates Grundstück, Miss. Verschwinden Sie! Sofort!«
»Reden Sie nicht so barsch mit mir, Sir! Ich will nur einmal mit Lady Charlotte sprechen!«
Frederik erreichte die Lichtung. Die zarte Gestalt einer Frau stand vor Dickon. Sie hatte die Kapuze ihres Mantels nach hinten geworfen. Ihre zierlichen Gesichtszüge waren nass von Tränen und dünne, verfilzte Fransen hellbrauner Haare hingen ihr in die Augen. Sie strich sich die Haare ungeduldig aus der Stirn und griff Dickons Arm. Dickon sprang zurück.
»He, he, langsam, Miss!«, rief er und schob sie von sich. »Alles, was hier läuft, läuft über mich. Wenn Lady Charlotte Sie nicht bestellt hat, dann gehen Sie auch nicht hin. So einfach ist das.«
»Sagen Sie mir nur, wo ich Lady Charlotte finde, Sir. Ich will nur ein paar Minuten mit ihr sprechen, dann gehe ich wieder, wenn sie es so will. Ich verspreche es.«
Dickon packte die Frau am Arm, führte sie zur Brücke und zeigte auf den Weg, der ins Dorf führte. »Für was halten Sie sich eigentlich, Miss? Mitten auf dem Waldweg tauchen Sie plötzlich auf wie ein Gespenst und wollen unangemeldet ins Herrenhaus hineinstürmen, dessen Wächter und wichtigster Bediensteter ich seit Jahren bin. Im Dorf gibt es Gasthäuser, in denen man für ein paar Pfennig übernachten kann. Wer Arbeit sucht, findet bestimmt eine Bauersfrau, die froh ist, wenn jemand ihr die Möhren schält und die Kinder hütet. Leben Sie wohl.«
Die Frau klammerte sich an Dickon. Frederik, der bis dahin nur zugeschaut hatte, griff sie von hinten an den Schultern und zog sie sanft, aber fest, aus Dickons Armen.
»Dickon, geh zurück ins Haus. Du bist müde und Franny wartet. Ich kümmere mich um das Mädchen. Sie ist krank. Ich bringe sie ins Dorf zu Frau Earling. Dort bekommt sie wenigstens ein Bett für diese Nacht.«
»Ich bin dir sehr verpflichtet, Frederik!«
Dickon hob seine Kappe, verdrehte die Augen und marschierte davon. Die junge Frau hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben. Ihre Schultern bebten. Frederik legte seine Hand auf ihren Arm und erschrak, als er fühlte, wie dünn er war. Sie nahm eine Hand vom Gesicht und stöberte in ihrer Rocktasche, zog ein dreckiges Taschentuch heraus und rieb damit Augen und Nase. Aus mageren Wangen, die rot vom Weinen waren, starrten große tränennasse blaue Augen. Es war schwierig zu sagen, wie alt sie war. Ihre Kleider waren alt und verblichen, die Säume ihres Rocks von Schlamm und Grasresten verkrustet.
»Kommen Sie mit«, sagte Frederik.
Er führte sie zur Brücke, erleichtert, dass sie dem Druck seiner Finger nachgab und mit seinen Schritten mithielt.
»Hören Sie auf zu weinen und sagen Sie Ihren Namen!«
»Ich bin Marie«, schniefte sie.
»Und wo kommen Sie her, Marie?«
»Das kann ich nicht sagen!«
Frederik schüttelte den Kopf. Sie liefen auf der anderen Seite der Brücke am Fluss entlang und näherten sich dem Dorf. Frederik beschleunigte seine Schritte, als Passanten stirnrunzelnde Blicke in seine Richtung warfen. Er wollte niemandem Erklärungen liefern, warum er mit einer fremden Frau, die nicht sagen konnte, was sie wollte und woher sie kam, durchs Dorf wanderte. Das war ein klarer Fall für Lydia Earling.
Es kam anders.
»Du willst behaupten, Dickon, dass diese Frau seit gestern krank, verwahrlost und auf Haut und Knochen abgemagert auf meinem Anwesen herumläuft – und keiner sieht die Notwendigkeit, mich davon in Kenntnis zu setzen?« Lady Charlotte Greenwold erhob sich von dem Stuhl, auf dem sie an ihrem Sekretär gesessen hatte, stemmte ihre Hände in die Hüften und heftete einen feurigen Blick auf den Diener, der von einem Fuß auf den anderen trat und auf den Boden starrte.
»Mylady, wir wissen nicht, wer sie ist und woher sie kommt. Sie gab uns keine Auskünfte.«
»Ihr habt euch nicht sehr darum bemüht, es herauszufinden, Dickon.«
»Sie hat uns einen Schrecken eingejagt, Mylady. Sie ist verwirrt. Von Sinnen. Und es sind in den vergangenen Tagen immer wieder seltsame Gestalten an der Tür erschienen. Wir wollten … ich meine, Frederik hatte die Idee, sie zu Frau Earling zu bringen.«
Charlottes Gesichtszüge entspannten sich. »Ihr habt es gut gemeint. Ihr konntet nicht ahnen, dass Lydia Earling krank im Bett liegt. Gott sei Dank war ich gerade zu der Stunde bei ihr zu Besuch, als Frederik die Fremde brachte, und konnte die arme Wanderin auffangen und hierherbringen. Sie konnte kaum noch gehen vor lauter Schwäche.«
Dickons Kinnlade fiel herunter. »Hierher, Mylady? Sind Sie sicher?«
Charlotte trat zum Fenster und blickte auf den Rasen. »Ja, Dickon. Ich bin mir sicher. Das Mädchen ist weder verwirrt noch von Sinnen, aber sie muss etwas Grauenhaftes erlebt haben. Unseren Namen hatte sie von irgendjemandem gehört. Sie suchte uns, bis sie uns fand. Wochenlang, so wie sie aussieht. Gerne würde ich wissen, von wem sie über uns wusste, aber das hat noch Zeit.«
Sie blieb am Fenster stehen und ihre Augen schweiften in die Ferne. Es war eine Weile still im Raum, bis sie sich vom Fenster abwandte und Dickon anschaute. »Ich schätze deine Mühe um unsere Sicherheit, Dickon. Danke.«
»Mylady, verzeihen Sie meine deutliche Redeweise. Mein inneres Gefühl führt mich manchmal auf Irrwege. Frannys aber nicht. Uns beiden kribbelt es im Bauch, wenn wir diese Frau nur anschauen. Und wenn es uns beiden im Bauch kribbelt, dann horchen wir auf die innere Stimme, Mylady, aber flugs.«
»Ich habe vor eurem gemeinsamen Bauchkribbeln große Achtung«, antwortete Charlotte. »Aber manchmal muss ich auf meine innere Stimme hören. Wir füllen ihren Magen mit gesunder Kost, schicken sie mit einem dicken Stück Seife in die Badewanne und behalten sie hier für die Nacht. Morgen sehen wir weiter und suchen so bald wie möglich nach einer Unterkunft im Dorf. Bis wir wissen, wer sie ist.«
Erleichterung machte sich auf Dickons Gesicht breit.
»Du kannst gehen«, sagte Charlotte schließlich.
Sie schaute in den Spiegel, der an der Wand hing, und schob einige lose hellbraune Haarsträhnen unter ihre Haube. »Vergiss bitte nicht, Dickon, dass ich nicht mehr das drahtige kleine Mädchen mit den Zöpfen bin, das du erzogen hast.«
»Sie sehen in meinen Augen keinen Tag älter aus als damals, Mylady. Und ich fühle mich heute genauso verantwortlich für Sie wie damals.«
»Ich danke dir für das Kompliment, aber ich bin trotzdem die Herrin von Birch Heights und habe hier das Sagen.«
»Verstehe, Mylady.«
Er verneigte seinen Kopf, drehte sich um und verließ den Raum.
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Ein eigenartiger Geruch begrüßte Eduard, als er den Raum betrat. Erst nach einigen Sekunden fiel ihm auf, dass er von einer Zigarre kam, die auf dem Rand eines Aschenbechers schwelte. Der Vorsteher des Armenhauses blickte von seinem Schreibtisch hoch.
»Ach, Eduard. Komm herein, Junge, und setz dich hin. Minna, lass uns allein. Hol seine Sachen vom Beerdigungsunternehmen und lass sie an der Treppe.«
»Sofort, Mr Creek.«
»Moment, ich begleite dich hinaus. So einem koketten Blick kann auch der anständigste Mann nicht widerstehen.«
Er erhob sich, legte einen Arm um die junge Hotelbedienstete, die Eduard zum Armenhaus gebracht hatte, und tänzelte mit ihr zur Tür.
Eduard setzte sich auf den Holzstuhl, auf den Mr Creek gedeutet hatte, und blickte um sich. Der Raum war spärlich möbliert. Alles schien einen grauen Anstrich zu haben, obwohl ein roter Samtvorhang am Fenster hing, ein grüner Teppich den Boden bedeckte und zwei gelb überzogene Stühle hinter dem Schreibtisch standen. Er las die Worte Edel Mélange auf der Zigarrenschachtel, die offen auf dem Schreibtisch lag.
Aus dem Geflüster im Gang wurde zunächst Gekicher, dann Schweigen, gelegentlich unterbrochen von Grunzen und Schmatzen.
»Hör auf, du wildes Kätzchen«, erklang Mr Creeks Stimme hinter der halb offenen Tür.
Eduard fing an, die Zigarren laut zu zählen. Zwei Schichten, das wären zweimal zehn. Eine fehlte. Das wären neunzehn Zigarren. Er zählte noch einmal, lauter, um nicht hören zu müssen, was sich hinter der Tür abspielte. Als die Tür plötzlich zufiel und Mr Creek wieder im Raum stand, schreckte er auf.
»So, jetzt zu dir, mein Junge.« Der Vorsteher zupfte seine Jacke zurecht, ging zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich hin. Nicht nur alles in dem Raum wirkte grau. Auch Mr Creek selbst. Seine Jacke war blau, seine Strümpfe grün, aber trotzdem wirkte er grau. Er war groß und hager und hatte spärliche, dunkelgraue Haare, die mit Resten einer anderen Farbe durchsetzt waren – mit welcher, das war schwer zu erkennen. Seine schmalen Gesichtszüge mit ihrer pockennarbigen Haut sahen ebenfalls grau aus, obwohl seine Wangen jetzt knallrot waren. Er setzte eine Brille auf die Nase, räusperte sich, legte seine Finger aneinander und schaute Eduard durch seine zusammengekniffenen Schlitzaugen an.
»Herzlich willkommen in Hoddington Place, mein Junge«, fing er an, »dem fortschrittlichsten Armenhaus in ganz London, wenn nicht in ganz England, auch wenn der Anlass deines Aufenthalts hier kein fröhlicher ist. Du musst tapfer sein, mein Junge. Dass dein lieber, fürsorglicher Papa gestern nicht nach Hause zurückgekehrt ist, wird dir nicht entgangen sein.«
Eduard musste kurz überlegen, wen Mr Creek mit dem »lieben, fürsorglichen Papa« meinte. »Sie meinen meinen Vater?«
»Deinen Vater meine ich in der Tat«, antwortete Mr Creek.
Nein, es war Eduard nicht aufgefallen, dass sein Vater nicht nach Hause gekommen war. Er blieb öfters nachts weg. Und stolperte betrunken und fluchend am nächsten Vormittag in die zwei schäbigen Zimmer über dem Bestattungsinstitut, die er mit seinem Sohn teilte. Mehr war ihnen nicht geblieben, da sein Vater das kleinere Vermögen, das er einmal hatte, vertrunken und verspielt hatte. Eduard war froh, wenn sein Vater betrunken war. Dann schlief er länger und die Ohrfeigen und Schläge blieben aus.
Mr Creek stand auf und lief hinter seinem Schreibtisch hin und her. Er hob immer wieder einen Finger, als wollte er anfangen zu reden, hielt aber inne, schüttelte den Kopf und lief weiter. Eduard rutschte vorwärts und rückwärts auf seinem Stuhl. Mr Creek schien vergessen zu haben, dass er da war. Doch dann drehte er sich schlagartig um und sprach weiter.
»Kurzum, Eduard. Er ist tot. Er wird nicht mehr zurückkommen. Ich bedaure zutiefst, dir das mitteilen zu müssen.« Er legte seine Hand auf Eduards Schulter, ließ sie dort und drückte die Schulter immer fester nach unten. Wie eine Kralle, deren eiserne Spitzen sich in Eduards Haut eingraben wollten und ihn nie wieder loslassen würden.
»Wir haben alle unsere Lasten im Leben zu tragen, mein Sohn.« Die Rede klang feierlich, künstlich, geprobt. »Aber die Zeit heilt alle Wunden. Sein Tod kam schneller als erwartet.«
Endlich war die Hand wieder weg. Eduard fand schließlich seine Stimme wieder. »Mein Vater wusste, dass er sterben wird?«
»Er war krank, mein Junge, schwer krank. Aus Rücksicht auf dich wollte er dir nichts sagen. Er war nie einer, der an sich selber dachte, dein Vater. ›Eduards Wohl muss immer an erster Stelle sein‹, so sprach er. ›Der Junge ist erst dreizehn und verliert schon seinen Vater.‹ Das waren fast seine letzten Worte.«
Eduard hatte das Gefühl, er sollte mehr nach den Umständen vom Tod seines Vaters fragen, wunderte sich aber, wie wenig ihn das interessierte. Mr Creek ersparte ihm die Mühe.
»Er wurde auf offener Straße entdeckt. Gestern Nachmittag. Er war zusammengebrochen. Starb allein. Keiner hielt seine Hand oder redete ihm tröstende Worte zu.«
Mr Creek drehte wieder seine Runden hinter dem Schreibtisch. »Auch für mich ist es schwer zu ertragen. Nicht nur für dich als seinen Sohn.«
Eduard starrte ihn entsetzt an.
»Du erschrickst, mein Junge. Ich auch. Dein Vater war für mich mehr als ein Bekannter. Er war ein Freund. Er holte nach jeder Seuche die Leichen der Kinder ab – Gottes Friede sei auf ihnen. Gerade durch diese traurige Aufgabe entstand eine innige Freundschaft, die ich vermissen werde. Wenn es für mich schon so erschütternd ist, wie erschütternd muss es erst für dich als sein einziges Kind sein!«