Kluntjesmord in Carolinensiel

Ostfrieslandkrimi

Rolf Uliczka


ISBN: 978-3-95573-951-5
1. Auflage 2019, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2019 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag.

Anmerkung des Autors: Es handelt sich bei dem Ostfrieslandkrimi »Kluntjesmord in Carolinensiel« um eine frei erfundene Geschichte. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Gesellschaften, Behörden, Vereinen oder Örtlichkeiten wären rein zufälliger Natur. Lediglich das Strandrestaurant Wattkieker und die Cliner Quelle in Carolinensiel, das Café am Yachthafen in Bensersiel sowie einige Orte der Handlungen sind zum Teil real, aber im Zusammenhang mit der frei erfundenen Geschichte ausschließlich fiktiv eingebunden.

Inhalt

Prolog

 

Wo war Linda? Hatte sie sich vielleicht schon zu Bett gelegt? Das war eigentlich nicht ihre Art. Und schon gar nicht so früh am Abend. Zumindest hätte sie ihm noch Gute Nacht gesagt. Aber wahrscheinlich nahm sie noch zur Entspannung ein Bad.

Leise klopfte Sogi an die Badtür. Es war keine Musik zu hören und es kam auch keine Antwort. Vorsichtig öffnete er die Tür. Wohliger Kerzenduft umfing ihn und das Licht der Kerzen verbreitete eine gemütliche Atmosphäre. Die Badewanne war fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Aber warum war das so dunkel?

Sogi schaltete die Deckenbeleuchtung an. Dann traf es ihn wie ein Schlag. Das Dunkle im Wasser war Blut. Von Linda ragten nur die Knie ein wenig seitlich links und rechts aus dem Wasser heraus. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was hier geschehen war. Dann stürzte er auf die Wanne zu, griff in das Wasser, wo sich Lindas Schultern befinden mussten. Als er sie hochzog, sah er sofort: Hier kam jede Hilfe zu spät. Verzweifelt ließ er sie los und sie sank ins Wasser zurück.

Aufgrund der bereits abgekühlten Wassertemperatur schätzte er, dass sie schon über eine Stunde so gelegen haben musste. Und er hatte unten versucht, seinen Kummer in Whisky zu ertränken! Das Aus der Firma. Der Räumungsbefehl. Der Selbstmord seines besten Freundes und Compagnons. Theo!

Linda! Er hätte es verhindern können – und er hätte es verhindern müssen! Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Er wusste, er müsste Notarzt und Polizei verständigen. Aber er war wie gelähmt. Und dann entdeckte er den Schriftzug, der mit Lippenstift auf den Spiegel über den beiden Waschbecken geschrieben war: »Wir sehen uns drüben, mein geliebter Sogi. Und bring die Kinder mit, ich habe es nicht geschafft. In ewiger Liebe Linda.«

Und auf einmal wusste er, was zu tun war. Er verschloss die Badezimmertür von außen, damit nicht inzwischen eines der Kinder aufwachen und vielleicht ihre Mutter im Bad finden würde. Im Schlafzimmer nahm er aus Lindas Nachtschränkchen eine Tablettenschachtel und machte sich damit auf den Weg nach unten in die Küche. Dort löste er jeweils drei Tabletten in drei Gläser mit Fruchtsaft auf. Dann ging er, um seinen Kindern das Getränk zu bringen.

»Das solltet ihr unbedingt trinken, damit ihr keine schlimmen Albträume bekommt. Das hat die Mami vorhin nur vergessen«, sagte er zu Tim, nachdem dieser schlaftrunken die Augen geöffnet hatte.

»Wieso bringt uns das Mami nicht?«

»Sie musste sich mit schlimmer Migräne hinlegen. Das kennst du ja bei ihr, da braucht sie absolute Ruhe.«

Nachdem der Junge getrunken hatte, murmelte er noch irgendetwas Unverständliches und war dann bereits wieder ins Land der Träume zurückgekehrt.

Auch Lea fragte nach ihrer Mutter. Nachdem er sie ebenfalls beruhigt und sie getrunken hatte, schlief sie auch gleich wieder selig ein.

Nach etwa einer Stunde trug Sogi seine schlafenden Kinder nach unten in die Garage und setzte sie hinten auf die Rückbank seines Wagens. Er hatte bereits einige Vorbereitungen getroffen. Dann setzte er sich hinter das Steuer, startete den Motor und schloss die Autotür. Auch ihn begann jetzt die Müdigkeit durch die Schlaftabletten und den Alkohol zu übermannen. Seine letzten Gedanken waren die Worte seiner Frau auf dem Spiegel im Bad, und den Rest würden die Abgase besorgen, die über zwei Schläuche von den beiden Auspuffrohren ins Innere des Autos geleitet wurden.

 

1. Kapitel

Fast 5 Jahre später

 

Im malerischen Kutterhafen von Neuharlingersiel war die alljährliche Regatta der hiesigen Granatfischer gestartet. Das Rennen um das begehrte »Blaue Band« wurde wie in jedem Jahr gemeinsam vom dortigen Fischerverein und dem Kurverein organisiert.

In diesem Jahr sorgte die Sonne bei wolkenlosem Himmel für sehr angenehme Temperaturen und der laue Ostwind für die nötige Erfrischung. Die Boote näherten sich in voller Fahrt der Hafeneinfahrt. Die bunten Wimpel und Fähnchen der festlich geschmückten Boote, die mit ihrem Kiel eine weiße Gischtwelle vor sich herschoben, flatterten im Wind. Aber auch die berühmte Piratenflagge durfte zur Freude der Kinder natürlich nicht fehlen.

Der Duft von gebratenem Fisch sorgte für gehörigen Appetit und die Seemannslieder des Shanty-Chores für die maritime Stimmung. Melanie Jäger schaute auf die Uhr. Eigentlich sollte ein Beamter ja pünktlich sein. Sie hatte schon Probleme, ihren vereinbarten Treffpunkt neben dem Wahrzeichen des Kutterhafens von Neuharlingersiel, den beiden Granat-Fischern in ihrem stummen Zwiegespräch, zu behaupten.

Es war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, ausgerechnet diesen Platz als Treffpunkt zu vereinbaren. Und dann auch noch gerade zu der Zeit, als die Regatta ihren Höhepunkt erreichte. Melanie, eine Wittmunderin, Mitte vierzig, war auf der Suche nach einer verlässlichen Partnerschaft. Das Schicksal hatte es bisher nicht so richtig gut mit ihr gemeint.

Dabei hatte alles vor Jahren so vielversprechend für sie angefangen. Ausbildung zur Bürokauffrau und sogar die Heirat des gut aussehenden Sohnes ihres Chefs, worum sie manche ihrer ehemaligen Schulkameradinnen beneidet hatte. Kurz darauf kündigte sich bereits Nachwuchs an. Aber dann passierte es. Hochschwanger hatte sie einen Autounfall und verlor bei einer Not-OP ihr Kind. Seitdem konnte sie auch keine Kinder mehr bekommen.

Ihr Mann hatte sie einige Jahre danach zu allem Übel auch noch wegen einer anderen verlassen, mit der er inzwischen außerehelich ein Kind gezeugt hatte. In der Firma ihres Schwiegervaters wollte sie nicht mehr arbeiten und suchte sich eine neue Stelle. Dann die Scheidung. Ihr Selbstwertgefühl und ihr Verhältnis zu Männern hatten einen gehörigen Knacks bekommen.

Die Folge waren unzählige einsame Stunden. Obwohl sie schnell wieder einen neuen Job gefunden hatte, zog sie sich privat in ein Schneckenhaus zurück. Sie setzte, wie sicher schon so manche Frau in einer ähnlichen Situation, ihren Kummer und ihre Verzweiflung in Pfunde um. Sie versuchte zwar mit Diätplänen aller Art dagegen anzukämpfen, allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Dennoch war sie, obwohl sie bereits etwas barocke Formen angenommen hatte, immer noch eine recht attraktive Frau.

Pfunde hin oder her, hatte sie sich ihre positive und sympathische Ausstrahlung bewahrt. Halblange blonde Naturlocken, blaue Augen, die allerdings seit ihrem Unglück etwas an Glanz verloren zu haben schienen. Auch wenn das Gesicht etwas voller geworden war, zeigte es doch sehr ebenmäßige und ansprechende Züge. An männlichen Avancen mangelte es ihr daher eigentlich nicht. Was aber durch ihre Verbitterung keinen rechten Zugang zu ihren realen Wahrnehmungen erhielt.

Und so war sie nach ihrer Scheidung schon in einige weitere Enttäuschungen mit Männern hineingeschlittert. Eine alte Freundin, über die sie auch an die neue Arbeitsstelle gekommen war, hatte ihr mal gesagt: »Mit deinem Misstrauen und deinen schlechten Gedanken zerstörst du von vornherein jede positive Aura, in der eine neue Beziehung entstehen könnte.« Nach ihrer eigenen Wahrnehmung lag es allerdings in erster Linie an der mangelnden Verlässlichkeit und Ehrlichkeit der potenziellen Partner. Der Seitensprung mit Folgen ihres Ex-Ehemannes hatte sich tief in ihre Seele eingebrannt.

Dem Argument ihrer Freundin konnte sie immerhin entgegenhalten, dass bisher alle Männer, denen sie nach ihrer Trennung begegnet war, im Grunde nur das eine von ihr gewollt hatten. Einer wollte, wie sich herausgestellt hatte, mit ihr sogar seine Ehefrau betrügen. Trotzdem hatte sie es auf gutes Zureden ihrer selbst ernannten Partnerschaftsberaterin noch einmal über ein Single-Portal versucht und dort Kontakt mit einem geschiedenen Beamten, Helge Beckmann, aufgenommen, der aus Frankfurt stammte und seit einiger Zeit hier bei einer Behörde arbeitete. Auf den Bildern und in seinen Chats hatte er einen netten und sympathischen Eindruck auf sie gemacht. Sie hatten sich noch nicht persönlich getroffen, bisher nur über das Portal ausgetauscht und sich jetzt zum ersten Mal bei der Kutter-Regatta in Neuharlingersiel verabredet.

Wo bleibt er denn nur?, fragte sich Melanie, um sich dann gleich selbst die Antwort zu geben, dass er ja wohl das erste Mal hier in Neuharlingersiel bei der Regatta sein würde und daher sicher wegen des großen Andrangs Probleme hatte, rechtzeitig zum Treffpunkt zu kommen. Sie hätte ihn vielleicht vorher darauf hinweisen sollen, schalt sie sich selbst.

Und dann sah sie ihn. Und auch er hatte sie trotz des Gedränges bereits entdeckt – ­denn die Kleinsten waren sie beide nicht – und ihr zugewinkt. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, obwohl es ja nun wirklich nicht das erste Date dieser Art war. Aber er hatte es ihr bereits sehr angetan und sie war schon sehr gespannt, ob er auch live würde überzeugen können. Vom Äußeren her hätte er mit seinen dunkelbraunen Haaren und dem dunklen Teint durchaus auch Südländer sein können. Sie hatte sich extra eine leichte nicht zu enge weiße Bluse und einen sommerlichen halblangen, geblümten, weit fallenden Rock angezogen. Das betonte ihre Figur, ohne sie einzuengen. Sie hasste es, wie eine Wurst in der Pelle auszusehen.

Höflich, aber zielstrebig bahnte er sich seinen Weg zu ihr, was bei dem Gedränge, gerade am Kopf der Kaianlage, schon eine besondere Herausforderung war. So hatte sie noch einige Augenblicke Zeit, um ihn zu beobachten und auf sich wirken zu lassen. Er hingegen war durch das Gedränge in Anspruch genommen. Sie stellte fest, dass sein gepflegtes Äußeres mit der modernen Kurzhaarfrisur voll den Bildern aus den Chats entsprach. Da hatte sie auch schon so manchen Fake kennengelernt, mehr Schein als Sein. Auch das unifarbene hellblaue kurzärmelige Hemd sprach für einen guten Geschmack.

Schließlich stand er vor ihr. Artig distanziert gab er ihr die Hand und überreichte ihr eine in Cellophan verpackte rote Rose. »Hallo«, sagte er, »schön, dass wir uns jetzt persönlich kennenlernen. Aber mit so einem Auftrieb habe ich nicht gerechnet, sonst wäre ich schon viel früher hier gewesen. Sorry.«

»Moin«, antwortete sie, »freut mich, dass du es trotz Hindernissen überhaupt geschafft hast, den Weg hierher zu finden. Vielen Dank für das Blümchen. Ich schlage vor, dass wir noch das Einlaufen der Kutter abwarten und uns dann ein ruhigeres Plätzchen suchen.« Ihre letzten Worte gingen fast in der Lautsprecheransage unter, in der die Ankunft der ersten Kutter ankündigt wurde.

Nachdem die bunt geschmückten Fischerboote ihren Platz im Hafen gefunden hatten, beschlossen die beiden, nach Carolinensiel zur Cliner Quelle zu fahren, um dort in Ruhe Tee zu trinken und sich in einem persönlichen Gespräch besser kennenzulernen. Melanie war mit ihrer Freundin nach Neuharlingersiel gekommen und hatte sie über Handy informiert, dass sie mit Helge zurückfahren würde. Und so machten sie sich in Helges Wagen auf den Weg nach Carolinensiel.

Dort war wie erwartet wesentlich weniger Betrieb und sie fanden in der Cliner Quelle sogar auf der Außenterrasse noch einen Platz unter einem der Sonnenschirme. »Ist das jedes Jahr so ein Auftrieb?«, fragte Helge. »Ich war zwar regelmäßig hier an der Wattenmeerküste im Urlaub, aber immer in der Nebensaison, da ich selbst ja keine Kinder habe und somit nicht auf die Schulferienzeit angewiesen war wie mancher meiner Kollegen.«

»Bei der Kutter-Regatta und auch bei anderen Events dieser Art in den Küstenorten hier ist das meistens so. Das hängt natürlich auch immer ein bisschen vom Wetter ab. Wobei die meisten Urlauber es so halten wie die Ostfriesen: Schlechtes Wetter gibt es nicht, nur falsche Kleidung. Aber schönes Wetter lockt automatisch auch noch zusätzlich Tagesgäste aus dem Umland an, wodurch es in den Orten, die gerade große Veranstaltungen durchführen, natürlich schon mal etwas eng werden kann.«

»Das hätte ich mir eigentlich auch denken können«, zeigte sich Helge ein wenig reumütig. »Jedenfalls war das mal ein tolles Erlebnis. Insofern bedauere ich es nicht, dass wir uns gerade da im Hafen getroffen haben. Die bunt geschmückten Fischerboote waren tolle Fotomotive. Ich glaube, da sind mir mit meinem Handy ein paar ganz gute Schnappschüsse gelungen.«

Kaum hatten sie ihre Kuchen- und Getränkebestellung aufgegeben, da konnte sich Melanie die Frage nicht verkneifen: »Hast du dir das Kännchen Ostfriesentee mit Kluntjes und Sahne jetzt nur aus Solidarität mir gegenüber bestellt?«

»Nein«, antwortete Helge lachend. »Hat dich das verwundert, dass ein Hesse Ostfriesentee mit Kluntjes und Sahne trinkt?«

»Allerdings. Ist schon etwas ungewöhnlich.«

»Ich hatte dir ja schon erzählt, dass ich regelmäßig in Ostfriesland Urlaub gemacht habe. Und das ostfriesische Teezeremoniell hatte es mir von Anfang an angetan. Wenn der heiße Tee den Kandis leise zum Knacken bringt und die mit dem speziellen Löffelchen hineingehobene Sahne sich in kleinen Wölkchen ausbreitetet, das hat schon etwas ganz Besonderes. Das war auch in meinem Frankfurter Büro schon so etwas wie mein Markenzeichen geworden. Es hatte bereits die Runde gemacht, und das nicht nur bei meinen Kollegen: Wenn man sich mit Helge Beckmann gutstellen will, dann serviert man ihm einen leckeren Ostfriesentee mit Kluntjes.«

Nachdem die beiden ihr Stück Kuchen gegessen und ihren Tee getrunken hatten, machten sie sich zu Fuß auf den Weg zum Strand nach Harlesiel. Sie wollten dort einen Strandspaziergang machen und dann später zum Abendessen beim Wattkieker einkehren. Nun hatten sie nicht nur Zeit und Gelegenheit, sich persönlich auszutauschen, sondern konnten auch noch einen tollen Ausblick auf die glänzende Wasseroberfläche bis hin zu den Inseln Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge genießen. Erst ab etwa achtzehn Uhr würde die Tide wechseln und das Wasser beginnen abzulaufen.

Melanie berichtete von dem Autounfall, der ihr ganzes Leben veränderte, und den daraus entstanden Folgen, auch in Bezug auf ihre Ehe. Über solche Details hatten sie sich in ihren bisherigen Chats noch nicht ausgetauscht. Da wollte Melanie erst einmal einen persönlichen Eindruck von ihrem Chatpartner gewinnen. Helge machte auf sie einen vertrauenserweckenden Eindruck, und so sagte sie ihm auch, dass sie sich seit ihrer Trennung weitgehend zurückgezogen habe, was zum Teil ja auch tatsächlich stimmte. Jedenfalls vermied sie es, von ihren schlechten Erfahrungen bei Dates wie dem heutigen zu berichten.

Helge erzählte von seiner gescheiterten Ehe. Er meinte, das hätte wohl in erster Linie daran gelegen, dass für beide Ehepartner die Karriere im Vordergrund stand. Da sei für das Ausleben einer Zweisamkeit einfach zu wenig Raum gewesen. Melanie gab ihm zu verstehen, dass sie zwar einen guten Job als Büroangestellte, aber keine Ambitionen und keinen Ehrgeiz für das Erreichen einer Spitzenposition habe.

»Das wären doch schon mal ganz gute Voraussetzungen für uns beide«, ging Helge sachlich darauf ein. »Mit meiner Versetzung nach Wittmund habe ich gerade erst wieder eine Stufe auf der Karriereleiter genommen. Also vom Einkommen her sicher eine gute Voraussetzung für ein angenehmes Leben zu zweit.«

»Was machst du denn eigentlich genau?«, wollte Melanie wissen. »Bisher hast du ja nur rausgelassen, dass du Beamter im gehobenen Dienst bist.«

»Ich will es mal so sagen: Die meisten steuerpflichtigen Bundesbürger sehen mich lieber von hinten als von vorne und am allerliebsten überhaupt nicht, weder zu Hause noch in ihren Büros«, antwortete er lachend.

»Ah, ich verstehe. Du bist beim Finanzamt. Und was machst du da genau?«

»In Frankfurt war ich Betriebsprüfer im Außendienst. Hier bin ich als Sachgebietsleiter der Vorgesetzte von solchen Prüfern.«

»Auweia, dann waren wohl deine Mitarbeiter erst vor einiger Zeit bei uns in der Firma im Einsatz. Mein Chef war ganz schön angenervt, um es mal vorsichtig auszudrücken. Jedenfalls hat er zum Schluss gesagt: ›Wenn der mir noch mal unter die Augen kommt, weiß ich nicht, was passiert‹. Und ich fürchte, der meinte das ernst. Um was es da genau gegangen ist, da habe ich keine Ahnung. Es muss meinen Chef aber wohl viel Geld gekostet haben, denn er meinte, das hätte ihn fast um seine Existenz und uns um unseren Arbeitsplatz gebracht.«

»Also, zu irgendwelchen Steuerfällen kann, darf und will ich konkret nichts sagen. Aber grundsätzlich ist für viele Bürger Steuerzahlung ein lästiges Übel, dem sich mancher versucht zu entziehen. Und wenn sie dann von einem Kollegen ertappt werden, dann sind natürlich nicht sie selbst schuld an ihrer Misere, sondern der Prüfer, der sie der Steuerhinterziehung überführt hat. Das kennen wir, das gehört nun mal zu unserem Job. Da braucht man schon ein dickes Fell.«

»Ich kann mir bei meinem Chef aber nicht vorstellen, dass der ein Steuerhinterzieher ist«, versuchte Melanie ihren Chef in Schutz zu nehmen.

»Das will ich damit auch gar nicht sagen, manchmal ist es auch Unwissenheit und Gedankenlosigkeit. Das Ergebnis ist für den Staat das gleiche, es werden ihm – und damit für seine hoheitlichen Aufgaben zum Wohle der Allgemeinheit – Steuereinnahmen vorenthalten. Jedenfalls ist mir in meiner gesamten Zeit als Prüfer noch kein Fall untergekommen, wo nichts falsch gewesen wäre, sei es absichtlich oder durch Unkenntnis vom Steuerpflichtigen herbeigeführt. Insofern haben gerade meine Kollegen und ich für den Staat eine sehr wichtige Funktion zu erfüllen, die der Dienstherr auch mit einer gewissen Machtfülle ausstattet.«

»Da müsstest du dich mal mit meinem Chef unterhalten. Der schimpft darauf, dass deine Kollegen ausgerechnet bei kleinen mittelständischen Unternehmen die Sau rauslassen, wie er es ausdrückte. Dabei sind gerade die doch das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Und bei den großen Konzernen kuscht das Finanzamt, obwohl die sogar Milliarden – quasi nach außen hin fast legal – ins Ausland verschieben.«

»Ich glaube, wir sollten das Thema wechseln, denn dazu können wir Beamte hier vor Ort nichts sagen. Wir machen unseren Job, wie der Gesetzgeber, die Regierung und unsere Vorgesetzten es von uns verlangen. Auf die große Politik haben wir genauso wenig unmittelbaren Einfluss wie du oder dein Chef. Aber ich weiß, dass das ein beliebtes Stammtischthema ist.«

Die beiden hatten gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Bei den heutigen Temperaturen war ein Fußbad im Watt sehr willkommen gewesen und hatte für etwas Abkühlung gesorgt. Für Melanie war das einfach, sie brauchte nur ihre Sandalen abzustreifen und schon konnte sie durch das Wasser waten. Helge hingegen hatte bei den engen Hosenbeinen seiner hellen Leinenhose schon ein wenig Probleme, diese hochzuziehen. Auch seine schicken Sneaker sollten wohl eher nicht mit dem Wattwasser in Berührung kommen. Sie hatten vor ihrem Strandspaziergang einen Tisch beim Wattkieker bestellt und wollten nicht unpünktlich sein. Daher machten sie sich bald auf den Weg dorthin. Als sie ankamen, war bereits das Fisch-Buffet eröffnet und sie ließen sich die maritimen Köstlichkeiten schmecken, die sie beide so liebten.

Auf dem Heimweg nach Wittmund fragte Melanie: »Was hast du denn morgen vor? Ich wollte eigentlich mit einer Freundin einen Tag in Spiekeroog am Strand verbringen.«

»Dabei wäre ich wahrscheinlich eher fehl am Platz, außerdem habe ich morgen eine Verabredung mit einem ehemaligen Kollegen aus Frankfurt, der hier gerade Urlaub macht. Aber sonst wäre ein Tag am Strand sicher eine gute Idee und Gelegenheit, sich noch etwas besser kennenzulernen.«

»Ich glaube, meine Freundin hätte durchaus Verständnis dafür gehabt, wenn ich statt mit ihr lieber mit dir fahren würde. Dafür hätte sie dir, wie ich sie kenne, sicher auch ihre bereits bezahlte Buchung abgetreten. Sie kennt meine Geschichte und hat mich sogar ermutigt, es noch mal mit diesem Single-Portal zu versuchen.«

Als sie das Haus, in dem Melanie zur Miete wohnte, erreicht hatten, stieg Helge aus, um ihr die Autotür aufzumachen und beim Aussteigen behilflich zu sein. Uhhi, dachte Melanie, so etwas gibt es noch. Sie konnte sich nicht erinnern, wann das ein Mann bei ihr zum letzten Mal gemacht hatte. Jetzt fehlt es nur noch, dass er mir zum Abschied die Hand küsst, ging ihr durch den Kopf. Das machte Helge allerdings dann doch nicht, stattdessen gab er ihr zum Abschied einen angedeuteten Kuss auf die Wange.

Für Melanie eine völlig neue Erfahrung. Die meisten Dates hatten bisher mit dem Versuch der Männer geendet, anschließend bei ihr im Bett zu landen. Sie winkte ihm noch nach, bevor sie dann ins Haus ging. Warum hatte sie ihn bloß nicht reingebeten? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wäre es ihr bei ihm sogar recht gewesen, wenn der Abend – vielleicht noch nach einem kleinen Sekt – in ihrem Bett geendet hätte. So würde sie sich aber bis zum nächsten Samstag gedulden müssen. Noch vorhin hatten sie sich für einen gemeinsam Tag von Harlesiel aus auf Wangerooge verabredet. Helge wollte die Online-Buchung für die Überfahrt und den Strandkorb für sie beide übernehmen.

Aber nicht selten kommt es leider anders, als man denkt.