Herstellung und Verlag
Books on Demand GmbH Norderstedt
ISBN 9783755718666
© 2021 Michael Weischede
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte bleiben vorbehalten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über www.dnb.de abrufbar.
Senecas Briefe an seinen Freund Lucilius gehören zu den wenigen Texten der lateinischen Literatur, die auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches nicht in Vergessenheit gerieten. Während die meisten Publikationen der Antike erst in der Renaissance „wiedergeboren“ wurden, fanden die Epistulae morales ad Lucilium bis in unsere Zeit hinein durchgängig eine interessierte Leserschaft. Aus diesem Grund herrscht auch heute kein Mangel an Übersetzungen der Briefe. Es erschien mir deshalb wenig sinnvoll, eine weitere hinzuzufügen, ohne einen gesonderten Schwerpunkt zu setzen. Ich habe mich deshalb ganz bewusst für ein möglichst text- und wortgetreues Vorgehen entschieden und mich dabei, soweit es ging, an die Wortvorschläge der gängigen Lexika gehalten (Georges, PONS, Stowasser, Langenscheidt usw.). Vor allem Schülern sollte es auf diese Weise leichter fallen, die Übersetzung aus dem Lateinischen nachzuvollziehen und bei Bedarf mit ihren eigenen Bemühungen zu vergleichen.
Der lateinische Textteil stammt aus verschiedenen Internetquellen, wobei das Augenmerk auf der Gemeinfreiheit lag. Er ist also nicht editiert, und ich habe mir zudem erlaubt, ihn hier und da an meine stilistischen Vorlieben anzupassen. Für ein ernsthaftes wissenschaftliches Arbeiten ist er dementsprechend nicht geeignet. Er soll lediglich aufzeigen, auf welcher Grundlage die Übersetzung erfolgte.
Soweit mir meine Motivation für dieses Projekt nicht abhanden kommt, werde ich nach und nach alle 20 Bücher mit den Briefen an Lucilius übersetzen und veröffentlichen. Bei meiner eher gemächlichen Arbeitsweise kann das allerdings einige Zeit dauern ...
Dortmund im Oktober 2021
Seneca Lucilio suo Salutem,
(1) Moleste fero decessisse Flaccum, amicum tuum, plus tamen aequo dolere te nolo. Illud, ut non doleas, vix audebo exigere; et esse melius scio. Sed cui ista firmitas animi continget nisi iam multum supra fortunam elato? Illum quoque ista res vellicabit, sed tantum vellicabit. Nobis autem ignosci potest prolapsis ad lacrimas, si non nimiae decucurrerunt, si ipsi illas repressimus. Nec sicci sint oculi amisso amico nec fluant; lacrimandum est, non plorandum.
(2) Duram tibi legem videor ponere, cum poetarum Graecorum maximus ius flendi dederit in unum dumtaxat diem, cum dixerit etiam Niobam de cibo cogitasse? Quaeris unde sint lamentationes, unde immodici fletus? Per lacrimas argumenta desiderii quaerimus et dolorem non sequimur sed ostendimus; nemo tristis sibi est. O infelicem stultitiam! Est aliqua et doloris ambitio.
Seneca grüßt seinen Lucilius,
(1) Es betrübt mich, dass dein Freund Flaccus gestorben ist; trotzdem will ich nicht, dass du mehr als angemessen trauerst. Dass du [gar] nicht trauern sollst, ein solches werde ich kaum zu verlangen wagen; und doch weiß ich, dass es besser wäre. Aber wem wird diese Standhaftigkeit des Herzens zuteil außer demjenigen, der bereits weit über das Schicksal hinaus emporgetragen wurde? Auch ihm wird dieses Geschehnis einen Stich versetzen, aber nur einen Stich. Uns hingegen, obgleich wir uns zu Tränen haben hinreißen lassen, kann verziehen werden, wenn sie nicht über die Maßen geflossen sind, wenn wir sie von uns aus zurückgedrängt haben. Die Augen sollten beim Verlust des Freundes weder ohne Tränen noch triefend nass sein; es darf geweint werden, nicht gejammert.
(2) Ich scheine dir ein hartes Gebot aufzuerlegen, obgleich der größte der griechischen Dichter für nicht mehr und nicht weniger als einen Tag das Recht eingeräumt hat, sich weinend zu beklagen, obgleich er versichert hat, dass selbst Niobe an Speise dachte? Du willst wissen, woher die Wehklagen stammen, woher der maßlose Tränenstrom? Mit den Tränen suchen wir Beweise für unsere Sehnsucht zu gewinnen und wir fügen uns nicht dem Schmerz, sondern wir zeigen ihn; niemand ist für sich [selbst] in Trauer. Ach, die Unglück bringende Torheit! Sogar im Kummer findet sich manch eine Eitelkeit.
(3) 'Quid ergo?', inquis, 'obliviscar amici?' Brevem illi apud te memoriam promittis, si cum dolore mansura est: iam istam frontem ad risum quaelibet fortuita res transferet. Non differo in longius tempus quo desiderium omne mulcetur, quo etiam acerrimi luctus residunt: cum primum te observare desieris, imago ista tristitiae discedet. Nunc ipse custodis dolorem tuum; sed custodienti quoque elabitur, eoque citius quo est acrior desinit.
(4) Id agamus ut iucunda nobis amissorum fiat recordatio. Nemo libenter ad id redit quod non sine tormento cogitaturus est, sicut illud fieri necesse est, ut cum aliquo nobis morsu amissorum quos amavimus nomen occurrat; sed hic quoque morsus habet suam voluptatem.
(5) Nam, ut dicere solebat Attalus noster, 'sic amicorum defunctorum memoria iucunda est quomodo poma quaedam sunt suaviter aspera, quomodo in vino nimis veteri ipsa nos amaritudo delectat; cum vero intervenit spatium, omne quod angebat exstinguitur et pura ad nos voluptas venit.'
(6) Si illi credimus, 'amicos incolumes cogitare melle ac placenta frui est: eorum qui fuerunt retractatio non sine acerbitate quadam iuvat. Quis autem negaverit haec acria quoque et habentia austeritatis aliquid stomachum excitare?'
(3) „Was nun also", wendest du ein, „soll ich nicht mehr an den Freund denken?" Du stellst ihm ein kurzes Andenken bei dir in Aussicht, wenn es [nur] zusammen mit dem Kummer fortbestehen wird: alsbald lässt eine zufällige Begebenheit deine Miene zu einem Lächeln übergehen. Ich vertröste nicht auf die allzu lange Zeit, durch die all die Sehnsucht gelindert wird, durch die selbst die heftigsten Ausbrüche von Trauer sich legen: sobald du es unterlässt, auf dich [selbst] zu achten, wird dieser äußere Schein der Traurigkeit vergehen. Im gegenwärtigen Augenblick hältst du selbst deinen Kummer aufrecht; aber auch demjenigen, der ihn aufrechterhält, wird er entgleiten, und er endet desto schneller, je heftiger er ist.
(4) Lass uns darauf hinarbeiten, dass die Erinnerung an diejenigen, die wir verloren haben, angenehm wird. Niemand kommt gerne auf etwas zurück, woran er nicht ohne Qual denken kann, so wie unabänderlich ein dieses geschehen wird, dass uns der Name der Verlorenen, die wir geliebt haben, mit manch bitterer Empfindung entgegentritt; aber auch diese bittere Empfindung besitzt ein eigenes Vergnügen.
(5) Denn, wie unser Attalus zu sagen pflegte, „das Andenken an die verstorbenen Freunde ist auf eine Weise angenehm, wie manche Früchte angenehm bitter sind, wie uns sogar die Bitterkeit an einem allzu alten Wein erfreut; wenn allerdings ein längerer Zeitraum dazwischentritt, wird alles ausgelöscht, was uns beunruhigt hat, und eine heitere Freude stellt sich bei uns ein."
(6) Wenn wir ihm glauben, „heißt an die unversehrten Freunde zu denken, sich an Honig und Kuchen zu laben: der Gedanke an diejenigen, die waren, erfreut nicht ohne eine gewisse Bitterkeit. Wer jedoch würde bestreiten, dass auch das, was an Schärfe und etwas an Herbheit besitzt, den Magen erfreut?"
(7) Ego non idem sentio: mihi amicorum defunctorum cogitatio dulcis ac blanda est; habui enim illos tamquam amissurus, amisi tamquam habeam.
Fac ergo, mi Lucili, quod aequitatem tuam decet, desine beneficium fortunae male interpretari: abstulit, sed dedit.
(8) Ideo amicis avide fruamur quia quamdiu contingere hoc possit incertum est. Cogitemus quam saepe illos reliquerimus in aliquam peregrinationem longinquam exituri, quam saepe eodem morantes loco non viderimus: intellegemus plus nos temporis in vivis perdidisse.
(9) Feras autem hos qui neglegentissime amicos habent, miserrime lugent, nec amant quemquam nisi perdiderunt? Ideoque tunc effusius maerent quia verentur ne dubium sit an amaverint; sera indicia affectus sui quaerunt.
(10) Si habemus alios amicos, male de iis et meremur et existimamus, qui parum valent in unius elati solacium; si non habemus, maiorem iniuriam ipsi nobis fecimus quam a fortuna accepimus: illa unum abstulit, nos quemcumque non fecimus.
(7) Ich hege nicht dieselbe Überzeugung: ich habe eine liebevolle und zärtliche Erinnerung an die verstorbenen Freunde; ich habe sie nämlich besessen, als ob ich sie verlieren werde, ich habe sie verloren, als ob ich sie [weiter] besitzen würde.
Handle also, mein Lucilius, wie es deinem Gerechtigkeitssinn angemessen ist, höre auf, die Gunst des Schicksals als ungünstig zu deuten: es hat genommen, aber auch gegeben.
(8) Wir sollten uns deswegen leidenschaftlich an den Freunden erfreuen, weil es ungewiss ist, wie lange [uns] dies zuteilwerden kann. Lass uns daran denken, wie oft wir sie zurückgelassen haben, um uns für einen langen Auslandsaufenthalt auszuschiffen, wie oft wir sie nicht gesehen haben, obwohl wir an demselben Ort verweilten: wir werden einsehen, dass wir zu ihren Lebzeiten einen allzu großen Teil der Zeit vergeudet haben.
(9) Kannst du aber diejenigen ertragen, die Freunde gänzlich gleichgültig behandeln, sie [dafür] äußerst unglücklich betrauern, und irgendjemand nur lieben, wenn sie ihn verloren haben? Und daher trauern sie dann übertrieben, weil sie fürchten, dass es Zweifel geben könnte, ob sie geliebt haben; sie suchen sich verspätete Beweise ihrer Zuneigung zu verschaffen.
(10) Wenn wir andere Freunde haben, machen wir uns um diese entweder schlecht verdient oder wir meinen, dass sie als Ersatz für den einen, der zu Grabe getragen wurde, nicht bedeutsam genug sind; wenn wir keine besitzen, haben wir an uns selbst ein größeres Unrecht begangen, als wir vom Schicksal empfangen haben: einen einzigen [Freund] hat es sich genommen, wir uns jeden, den wir uns nicht gemacht haben.
(11) Deinde ne unum quidem nimis amavit qui plus quam unum amare non potuit. Si quis despoliatus amissa unica tunica complorare se malit quam circumspicere quomodo frigus effugiat et aliquid inveniat quo tegat scapulas, nonne tibi videatur stultissimus? Quem amabas extulisti: quaere quem ames. Satius est amicum reparare quam flere.
(12) Scio pertritum iam hoc esse quod adiecturus sum, non ideo tamen praetermittam quia ab omnibus dictum est: finem dolendi etiam qui consilio non fecerat tempore invenit. Turpissimum autem est in homine prudente remedium maeroris lassitudo maerendi: malo relinquas dolorem quam ab illo relinquaris; et quam primum id facere desiste quod, etiam si voles, diu facere non poteris.
(13) Annum feminis ad lugendum constituere maiores, non ut tam diu lugerent, sed ne diutius: viris nullum legitimum tempus est, quia nullum honestum. Quam tamen mihi ex illis mulierculis dabis vix retractis a rogo, vix a cadavere revulsis, cui lacrimae in totum mensem duraverint? Nulla res citius in odium venit quam dolor, qui recens consolatorem invenit et aliquos ad se adducit, inveteratus vero deridetur, nec immerito; aut enim simulatus aut stultus est.
(11) Daher hat derjenige, der nicht mehr als einen lieben konnte, den einen nicht einmal allzu sehr geliebt. Wenn irgendeiner, der durch den Verlust eines einzigen Hemdes entkleidet wurde, sich lieber laut beklagen möchte, als zu überlegen, wie er der Kälte entfliehen und irgendetwas finden könnte, dass seinen Rücken verhüllt, würde dir das etwa nicht ausgesprochen töricht erscheinen? Den du liebtest, hast du zu Grabe getragen: suche einen zu gewinnen, den du lieben kannst. Es ist besser, wieder einen Freund zu erwerben, als zu weinen.
(12) Ich weiß, dass das, was ich hinzufügen werde, bereits sehr abgenutzt ist, trotzdem werde ich es nicht deswegen außer acht lassen, weil es [schon] von allen gesagt wurde: mit der Zeit gelangt selbst einer, der nicht mit dieser Absicht spielte, zu einem Ende der Trauer. Als schändlichstes Heilmittel der Trauer gilt bei einem verständigen Menschen jedoch ein Ermatten des Trauerns: lieber will ich, du gibst die Trauer auf, als du von ihr aufgegeben wirst; und höre möglichst bald auf, das zu tun, was du, selbst wenn du es willst, nicht lange tun kannst.