Für meine Eltern
Books on Demand
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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© 2009 Peter Schön
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8482-8051-3
Vorwort
Das Ereignis
Die Wahrheit
Erste Erfahrungen im Krankenhaus
Erste Gefühle
Ungeliebter, geliebter Rollstuhl
Wieder gehen können
Erstmals draußen
Wieder zu Hause
Verbissenheit
Berufliche Orientierung
Abschied vom Krankenhaus
Ein neuer Anfang
Studium und Selbständigkeit
Wieder einleben
Gemeinsamkeit
Das größte Glück
Ein neues Zuhause
Berufliche Anfänge
Berufliche Karriere
Alltag
Urlaubsreisen
Rückschlag
Rollstuhlfahrer
Die Letzten ihrer Art
Vor mehr als dreißig Jahren hatte ich einen unverschuldeten Verkehrsunfall. Seitdem bin ich querschnittgelähmt und Rollstuhlfahrer. Mein Leben musste ich den völlig neuen Lebensumständen anpassen. Dennoch möchte ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen.
Die Idee zu diesem Buch entstand nach dem Attentat auf den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Jahre 1990. Durch einen Pistolenschuss in den Rücken erlitt er eine Querschnittlähmung. Ich schrieb ihm einen Brief und schilderte meine Situation und Erfahrungen. Über sein sehr persönliches Antwortschreiben habe ich mich sehr gefreut.
Erst heute habe ich Zeit und Muse, alle Gedanken, die ich mir über das einschneidendste Ereignis meines Lebens und dessen Folgen gemacht habe, niederzuschreiben.
Dieses Buch trägt stark autobiographische Züge. Bei meinen Schilderungen beziehe ich mich in erster Linie auf meine Situation als Rollstuhlfahrer. Hervorheben möchte ich, dass jeder Fall verschieden ist. Viele von meinen Erfahrungen und Ratschlägen können daher nicht uneingeschränkt auf andere Personen und Rollstuhlfahrer übertragen werden. Ich kann mich nur auf das beziehen, was ich selbst erlebt habe und wie ich zu meiner persönlichen Situation stehe.
Ein junger Wehrpflichtiger verabschiedet sich Sonntagabends von Eltern und Freundin und macht sich auf den Weg in seine Kaserne, die er nach zweieinhalbstündiger Autofahrt erreichen möchte – wie auch an den Sonntagen zuvor. Bis zu dieser Stelle eigentlich nichts Ungewöhnliches. Geschieht dies doch nach jedem Wochenende tausend Mal in Deutschland.
Ich machte mich also wie gewohnt mit meinem voll getankten »VW Käfer« auf, um meiner Pflicht, dem Vaterland zu dienen, nachzukommen. Wie immer hatte ich die eine oder andere Marschverpflegung, von Mutter liebevoll eingepackt, dabei und eine Tasche voll frisch gewaschener Bundeswehrklamotten.
Es war der 5. September 1976.
Auf dem Weg zu meinem Bundeswehrstandort hatte ich mich mit zwei Kameraden verabredet, die ich abholte. Wir leisteten unseren Wehrdienst in derselben Kompanie ab. Zusammen zu fahren hieß auch, die Kosten gemeinsam tragen. Ungefähr zwei Kilometer vor der Kaserneneinfahrt stand eine Telefonzelle, von der aus ich nach der Fahrt immer kurz zu Hause anrief, um Bescheid zu geben, dass ich gut angekommen sei. An diesem Abend aber blieb der Anruf aus.
Unweit besagter Telefonzelle wurde unsere Fahrt jäh beendet. Als wir eine kleine Steigung der Bundesstraße hochfuhren, kam uns ein anderes Fahrzeug, ebenfalls ein »Käfer«, auf dem Dach schlitternd entgegengerutscht. Ich konnte dieses Auto erst sehen, als es bereits unmittelbar vor uns war, denn wir trafen uns ziemlich genau auf dem Scheitelpunkt des Hügels. Es hatte sich aufgrund zu hoher Geschwindigkeit bereits mehrmals überschlagen, prallte jetzt mit voller Wucht auf die Haube meines Fahrzeuges und rollte über uns.
Zur damaligen Zeit waren die Dachverstrebungen und Rollbügel der Autos in ihrer Festigkeit und Stabilität noch nicht so massiv wie heute, schon gar nicht bei einem »Käfer«, wobei ich diesen liebeswerten Autotyp hier keinesfalls in ein negatives Licht stellen möchte.
Die Folge des Aufpralls war, dass die Dachkonstruktion genau über meinem Kopf nachgab und mein gesamter Oberkörper aus dem Fenster der Fahrertür gedrückt wurde. Zwar konnte mich der Sicherheitsgurt noch davor bewahren durch die Frontscheibe zu fliegen, nicht aber, dass ich mit meinem Kopf das Fenster links von mir einschlug und ich somit halb aus der Tür hinaushing. Während das Gewicht des Daches meinen Kopf und meine Schultern nach links drückte, wurde mein restlicher Körper durch den Sicherheitsgurt – der zweifelsohne mein Leben rettete – weiterhin im Sitz festgehalten. Ich war zwischen Lenkrad und Sitz eingeklemmt. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass der gesamte Sitz aus seiner Verankerung riss, was mein Eingeklemmtsein noch mehr verschlimmerte. Nachdem mein Fahrzeug buchstäblich überrollt worden war, kam das andere Auto erst weit hinter uns zum Liegen.
Ich selbst habe von alldem keine Erinnerung mehr. Auch fehlt mir ein Stück Zeitspanne vor dem eigentlichen Aufprall. Dies ist ein Phänomen, welches bei Unfällen mit schweren Verletzungsfolgen häufig vorkommt. Von meinen Kameraden weiß ich, dass ich kurz vor dem Aufprall noch »Achtung« gerufen habe, wohl als ich die Katastrophe auf uns zukommen sah. Für eine echte Reaktion war es aber bereits zu spät.
Wie mir weiter berichtet wurde, kam unmittelbar nach dem Unfall zufälligerweise einer unserer Vorgesetzten, ein Fähnrich, vorbei. Er reagierte völlig konfus, wohl weil ich halb aus dem Auto hing und aus einer Platzwunde am Kopf stark blutete. Er versprach umgehend Hilfe zu holen, fuhr los, kam dann aber nicht mehr zurück. Wie ich später hörte, ist er planlos in der Gegend herumgefahren, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
Da sich der Unfall auf einer recht wenig befahrenen Straße ereignete, dauerte es wieder eine Weile bis der nächste Autofahrer kam und anhielt. Dieser verständigte dann die Polizei und den Rettungsdienst.
Die ebenfalls herbeigerufene Feuerwehr musste das Dach meines Autos aufschneiden, um mich zu befreien. Durch den Lärm und das Gezerre an meinem Körper kam ich kurz zu mir. Ich habe dann sofort gesagt, ich könne meine Beine nicht bewegen. Dann verlor ich wieder das Bewusstsein. Als man mich dann mit dem inzwischen herbei georderten Hubschrauber in das nächste Krankenhaus nach Bad Kissingen flog, erlangte ich das Bewusstsein zum zweiten Mal. Ich erinnere mich noch sehr genau, dass ich den mitfliegenden Arzt anflehte, er möge meinen Kopf ein Stück anheben, ich hätte sehr große Schmerzen im Rücken. Als er dies tat, habe ich wegen des plötzlichen, stechenden Schmerzes laut geschrieen. Dann fehlen mir wieder einige Stunden. So habe ich nicht mitbekommen, dass ich im Krankenhaus Bad Kissingen nur sehr kurz war und sofort weiter in die Uniklinik nach Würzburg geflogen wurde.
Meinen beiden Kameraden ist bei dem Unfall nichts wirklich Ernsthaftes passiert. Der eine schlief gerade auf der Rückbank und wurde beim Aufprall gegen den Vordersitz geschleudert. Er hat eine Gehirnerschütterung davongetragen. Meinem Nachbarn auf dem Beifahrersitz ist überhaupt nichts passiert. Unser Fahrzeug wurde hauptsächlich auf der linken Seite überrollt, wo ich saß. Der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeuges, ein Angehöriger der US-Armee, hat den Unfall nicht überlebt. Er wurde aus seinem Auto hinausgeschleudert. Später wurde festgestellt, dass er neben zuviel Alkohol auch Drogen konsumiert hatte.
Erst spät in der Nacht wollte die Polizei meine Eltern telefonisch über die Ereignisse informieren. Unglücklicherweise waren sie an diesem Abend aus, und so konnte man nur meine 15jährige Schwester erreichen. Ihr wurde mitgeteilt, dass ich verunglückt sei und schwer verletzt im Krankenhaus läge. Die Eltern mögen sobald als möglich zurückrufen. Für meine kleine Schwester war es eine große Belastung mit dieser Information auf die Eltern warten zu müssen. Als diese schließlich bei der Polizei anriefen, unterrichtete man sie kurz über den Unfall mit dem Hinweis, ich sei mittlerweile außer Lebensgefahr. Dies war der Beginn einer sehr schweren Zeit für meine Familie.
Nachdem ich realisiert hatte, dass ich in einem Krankenhaus auf irgendeiner Intensivstation lag, wusste ich das zunächst nicht richtig einzuordnen. Ich wollte von meinem Bett aufstehen. Das funktionierte aber irgendwie nicht. Erst jetzt bemerkte ich die Infusionsnadel in meinem Arm, und dass meine Hände verbunden waren. Auch schien ich irgendwelche Verbände an meinem Kopf zu haben. Doch das Seltsamste war, dass ich von der Brust abwärts überhaupt nichts spürte. Ich legte meine Hand auf Brustkorb und Bauch und überlegte, warum man mir wohl ein Fell dorthin gelegt hätte. Erst nach einer ganzen Weile begriff ich, dass ich meine eigene Brustbehaarung zwar mit meinen Händen spürte, das »Gegengefühl« jedoch gänzlich fehlte. Ich spürte meinen Körper von den Brustwarzen abwärts überhaupt nicht mehr.
Die Schwestern und Pfleger, welche sich ständig um mich herum aufhielten, gaben mir auch keine Antwort auf die Frage, was mit mir los sei. Dass bei einer Querschnittlähmung meist die Sensibilität, also das Gefühl in ganzen Körperbereichen verloren geht, wusste ich damals nicht. Ich hatte mich nie damit beschäftigt.
Noch mehr beunruhigte mich, dass mehrmals täglich zwei Pfleger an mein Bett kamen und mir ein langes, flexibles Kunststoffrohr in den Penis einführten um meine Blase zu entleeren. Das Schlimmste dabei war, dass ich absolut nichts davon spürte. Immer wieder kamen Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und, wie ich später erfuhr, auch Medizinstudenten an mein Bett und fragten mich nach meinem Befinden. Ob ich dies oder jenes an meinen Beinen spürte und an welcher Stelle genau die Sensibilität aufhörte.
Nach genau zwei Tagen setzte sich ein Arzt mit ernster Miene an mein Bett. Ich erinnere mich noch genau an seine Worte: »Herr Schön, Sie sind querschnittgelähmt, Sie werden nie mehr laufen können, Sie werden immer auf den Rollstuhl angewiesen sein.« Ich brachte danach keinen Ton heraus. Rollstuhl, davon hatte ich schon mal gehört, natürlich auch schon welche gesehen. Ich hatte im Fernsehen einmal eine Sendung über Behinderte gesehen, die im Rollstuhl saßen. Sollte ich ab jetzt auch dazugehören?
Ich verdrängte diesen Gedanken und wollte nichts davon wissen. Immer wieder versuchte ich im Bett meine Beine zu bewegen und meinte auch oft, sie bewegten sich tatsächlich. Ein Blick unter die Bettdecke aber überzeugte mich vom Gegenteil. Es ist seltsam, aber wenn man während der ersten Zeit die Zehen in gewohnter Weise zum Beispiel im Rhythmus einer Musik zu bewegen versucht, erhält man vom Gehirn die Nachricht: »OK, alles klar. Zehen bewegen sich wie gewohnt«. Schaut man dann aber an seinem Körper hinunter und es bewegen sich weder Beine, noch Füße, noch Zehen auch nur einen Millimeter und nicht die geringste Muskelbewegung ist festzustellen, kann man das am Anfang nicht begreifen.
Ein Krankenpfleger erzählte mir, dass er eine Fraktur, also einen Bruch der Wirbelsäule hatte, allerdings mit nur kleineren »Ausfällen« an den Beinen. Damit ist gemeint, dass er geringe Motorik- und Sensibilitätsverluste wie »taube Stellen« hatte. Durch intensives Training aber wäre alles wieder zurückgekommen. Es gäbe in Deutschland spezielle Rehabilitationszentren, in denen man gezielt trainieren könne, um solche »Ausfälle« wieder rückgängig zu machen.
Das war die große Hoffnung für mich, meine große Chance. Ich war mir absolut sicher, dass ich durch konsequentes Training wieder laufen könne. Ich wollte alles daran setzen, in einem solchen Zentrum hart an mir zu arbeiten.
Nach genau einer Woche in der Uniklinik wurde ich – wieder per Hubschrauber – in eine weitere Klinik nach Koblenz geflogen. Diese hatte eine so genannte »Querschnitt-Station«. Ich versprach der Krankenschwester zum Abschied, dass ich in einem Jahr wiederkäme und wir beide Walzer tanzen würden – ich kam nie mehr zurück.
Ich war bisher noch nie längere Zeit in einem Krankenhaus gewesen. Nun sollten es zehn Monate werden.
Zunächst lag ich sechs Wochen in einem Drehbett. Eine Reihe von Elektromotoren ermöglichen, dass der Patient in drei unterschiedlichen Positionen liegen kann. Auf der linken Seite, auf dem Rücken und auf der rechten Seite. Gedreht wird alle drei Stunden – auch nachts. Der Querschnittgelähmte soll sich nicht wund liegen. Er spürt ja nicht, wenn er zu lange auf einer Stelle liegt. Außerdem kann er sich zunächst noch nicht selbst umdrehen und entsprechend bewegen.
Das Pflegepersonal bettet die Patienten der gesamten Station auf diese Weise um. Häufig können sie gerade wieder von vorne anfangen, wenn der letzte gedreht ist. Manchmal kommt bei den Patienten zusätzlich noch ein kleines Malheur dazwischen ..., denn auch das merkt man nicht, man riecht es höchstens nach einer Weile.
Bereits vom ersten Tag an beginnt die Krankengymnastik. Die gelähmten Beine und Füße werden durchbewegt, um die Durchblutung zu verbessern und Gelenkversteifungen vorzubeugen. Parallel zu jeder passiven Bewegung muss der Patient versuchen, aktiv mitzumachen. Es könnte ja sein, dass ein Nervenstrang in der Wirbelsäule dadurch gewissermaßen reaktiviert werden kann.
Es ist ein im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreibbares Gefühl, wenn man sieht, dass seine Beine auf und ab bewegt, die Füße massiert werden, man aber absolut nichts davon spürt. Ebenso kurios ist, wenn man nachts aufwacht, weil man gedreht werden muss und die Krankenschwester das Bein, welches aus dem Bett heraushängt wieder hineinlegt mit der Bemerkung es sei schon ganz kalt, ohne dass man irgendetwas davon gespürt hat oder spürt.
Wie auf der Röntgenaufnahme meiner Wirbelsäule zu sehen war, wurde der fingerdicke Nervenstrang, den die Wirbelsäule schützend umgibt nicht durchtrennt, sondern wohl nur kurz »abgedrückt«. Die Ärzte erklärten mir das anhand eines Bildes: Ich solle mir einen Gartenschlauch vorstellen, der an einer Stelle abgeknickt sei, das Wasser könne deshalb nicht mehr durchlaufen – abgeknickt also, nicht ganz durchtrennt. Das bedeutete, die Möglichkeit bestand, dass sich bestimmte Nervenpartien nach einer gewissen Zeit erholen und ihre alte Funktion wieder aufnehmen können – der Gartenschlauch könnte wieder Wasser durchlaufen lassen. Hier sah ich einen Ansatz und eine Möglichkeit, wieder laufen zu können. Ein Leben im Rollstuhl war für mich unvorstellbar.
Ich stamme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Rüdesheim am Rhein in Hessen. Natürlich war man dort über meinen Unfall und dessen Folgen informiert. Meiner Mutter, die mehrmals in der Woche die 120 km fuhr, um mich zu besuchen, wurden von Bäcker und Metzger alle möglichen Leckereien mitgegeben, verbunden mit lieben Grüßen.
Meine Freundin Gudula kannte ich zu diesem Zeitpunkt erst recht kurz. Sie war es, die mich immer wieder drängte, der Realität ins Auge zu schauen. Ich selbst wollte es nicht wahr haben, dass sich mein Leben von nun an unter völlig anderen Bedingungen abspielen sollte.
Bei ihren Eltern habe in der schweren Anfangszeit niemals Resignation oder gar Pessimismus verspürt. Ganz im Gegenteil. Sehr oft wurde ich auch von ihnen besucht und unterstützt. Weit weg von zu Hause bekam ich diese sehr kritische Zeit für meine Familie und insbesondere auch für meine Freundin und deren Familie nur bedingt mit.
Bei den Besuchen an meinem Krankenbett sprühte man immer sehr großen Optimismus aus. Keine Zweifel über einen positiven Krankheitsverlauf wurden geäussert. Hinter den Fassaden sah es sicherlich ganz anders aus. Dies zu wissen, hätte mich damals aber nicht weitergebracht.
Welche Tragödien habe ich in Sachen Familie, Beziehung, Partnerschaft und Ehe während meines Krankenhausaufenthaltes erlebt. Patienten wurden eingeliefert mit der Diagnose: Komplette Querschnittlähmung. Manchmal war sogar die Halswirbelsäule betroffen. Das bedeutet, dass Arme und Hände auch nicht mehr oder nur eingeschränkt aktiv bewegt werden können – nicht selten die Folge von Kopfsprüngen in unbekannte, flache Gewässer.
Manche Patienten bekamen am Anfang unregelmäßig Besuch, der dann mehr und mehr nachließ, bis schließlich niemand mehr kam. Bei anderen ließ sich nie jemand blicken. Es hieß dann, die Verwandten und Bekannten könnten es nicht ertragen, den Verunglückten so zu sehen. Häufig wurde die Scheidung noch während des Krankenhausaufenthaltes eingereicht. Dabei hilft einem Menschen gerade in einer der schwierigsten Phasen seines Lebens, wenn er weiß, dass liebe Menschen da sind, die das Leid mit ihm teilen, denen er sich mitteilen kann, die Optimismus ausstrahlen. Dies ist wesentliche Voraussetzung für einen positiven Verlauf jeder weiteren Entwicklung.
Bereits auf der Intensivstation standen meine Eltern, Geschwister und Freundin an meinem Bett, natürlich in Tränen aufgelöst, unsicher und verzweifelt, denn sie kannten im Gegensatz zu mir den ärztlichen Befund. Dieses Gemeinschaftsgefühl in verzweifelten und scheinbar ausweglosen Situationen gibt eine Geborgenheit und Wärme, die nur der nachvollziehen kann, der dies schon einmal durchlebt hat. Meinen Eltern kann ich heute in etwa nachempfinden, was sie damals emotional durchlebt haben müssen. Ich werde ihnen niemals im Leben das zurückgeben können, was sie in dieser ersten schweren Zeit für mich getan haben.
So hatte ich das große Glück, ein intaktes Umfeld zu haben. Täglich wurde ich von Verwandten und Freunden besucht, die teilweise sehr lange Anfahrwege auf sich nahmen, um ein paar Stunden, häufig nur ein paar Minuten bei mir sein zu können und mir die Zeit und auch die Sorgen zu vertreiben. Onkel und Tante aus Mannheim nahmen mehrmals pro Woche gut 300 km Fahrstrecke auf sich, um mir eine Kleinigkeit, meist ein Buch, vorbeizubringen. Einmal um Mitternacht hörte ich laute Stimmen auf dem Flur. Es stellte sich heraus, dass es ein Freund war, der es bisher zeitlich nicht einrichten konnte, mich zu besuchen.
Bei den Besuchen meiner Eltern drückte mir mein Vater zum Abschied immer noch einmal kurz den Fuß, so als wenn man jemandem die Hand gibt. Die Geste sollte Trost und Ansporn zugleich sein: »Mach weiter so, trainiere Deine Beine, es wird schon werden«.
An diesem Tag aber, es waren ungefähr fünf Wochen seit dem Unfall vergangen, war ich regelrecht erschrocken, denn ich glaubte, die Berührung an meinem Fuß zu spüren. Ich bat ihn gleich, nochmals zu drücken und diesmal vernahm ich ganz bewusst ein weit entferntes Kribbeln im linken großen Zeh.
Welch ein Augenblick war das für mich. Wir fielen uns überglücklich in die Arme. Ich konnte wieder etwas in meinem Fuß spüren, wenn auch nur sehr undeutlich – war das ein neuer Anfang?
Im Laufe der nächsten Tage wiederholten wir diese »Tests« immer und immer wieder. Ich musste die Augen schließen und sagen in welchem Augenblick mein Vater meinen Zeh berührte. Am Anfang meinte ich häufig etwas wahrzunehmen, wo nichts war, aber nach und nach wurde meine Trefferquote besser.
Schließlich zogen sich die neu gewonnene Sensibilität und das Gefühl vom großen Zeh über den ganzen Fuß, das linke Bein, das rechte Bein, und weitere Körperteile, deren Existenz ich seit Wochen gar nicht mehr spürte. Ich freute mich unbeschreiblich, dass ich wieder wusste, in welcher Position meine Beine lagen, und dass sie mir manchmal auch wehtaten. Das Schmerzempfinden setzt eine besondere Sensibilität voraus. Das Weiterleiten des Schmerzreizes durch die Wirbelsäule ins Gehirn zeigte, dass noch einige wichtige Nervenstränge im Rückenmark funktionstüchtig waren oder die Funktionstüchtigkeit wieder zurückgekommen war. Der abgeknickte Gartenschlauch ließ wieder etwas Wasser für das Gießen der Blumen durch.
Auch die Ärzte zeigten sich sehr interessiert, dämpften meine Hoffnung aber und versuchten mir klarzumachen, dass es nicht unbedingt so positiv weiter gehen müsse. Ich ignorierte deren Bedenken mehr oder weniger und schaute voller Enthusiasmus nach vorn. Auch redete ich mir ein, dass es ab jetzt ausschließlich von der Intensität meiner Rehabilitation, also meines Trainings abhing, ob ich wieder laufen könne.